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Ein explosives Buch öffnet ein neues Kapitel der Beschäftigung mit Paul Celan. Zum 50. Todestag Celans am 20. April wirft Helmut Böttiger einen ganz neuen Blick auf den Dichter und räumt mit vielen Mythen und Vorurteilen rund um Celan auf. Von den Rechten, die ihn faszinierten, abgelehnt; von Linken bewundert, die ihn missverstanden. An kaum einem deutschsprachigen Autor zeigen sich die Verwerfungen der Nachkriegszeit deutlicher als an Celan. Während mit Heidegger, Jünger et al. die konservativen Vertreter des Deutschen Geists Celan ablehnten, waren dessen Verehrer Böll, Grass, Enzensberger dem Dichter fremd. Auf Knüppelpfaden und Holzwegen war er unterwegs, der Ausnahmedichter Paul Celan. Bis heute ist das Bild, das man sich von ihm macht, geprägt von Missverständnissen, falschen Vorstellungen und heroischen Romantisierungen. Zum "Schmerzensmann" und in die Rolle des "jüdischen Opfers" stilisiert; wurde der Dichter auf vertrackte Weise ein "ideales Vehikel für die allgemeine Verdrängung", so Helmut Böttiger, seine Todesfuge avancierte zum Schulgedicht, der Rest des Werks trat dagegen zurück. Dass Celans Suche nach einer neuen dichterischen Sprache ihn paradoxerweise (vergeblich) die Nähe von Ernst Jünger, des von Celan "Denk-Herrn" genannten Martin Heidegger oder sogar Figuren wie Rolf Schroers suchen ließ, während er mit der Sprach Haltung seiner Förderer Böll und Grass wenig anfangen konnte, wurde dabei oft übersehen oder passte nicht ins Bild. Helmut Böttiger zeichnet Leben und Werk Celans auf dem Hintergrund des literarischen Betriebs seiner Zeit. Heraus kommt dabei ein ganz neuer Blick auf Celan.
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Seitenzahl: 207
Helmut Böttiger
Celans Zerrissenheit
Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist
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Die Rezeption der Todesfuge und der Nachruhm
Paul Celan war ein Dichter und kein Heiliger. Er ist eines der besten Beispiele dafür, wie sehr sich die öffentliche Vorstellung einer Person von ihrer realen Biografie lösen kann. Celan wird gemeinhin mit etwas Höherem verbunden, mit reiner Poesie und Sprachmagie, die das existenzielle Leiden transzendiert, und das prägt sein Bild bis heute. Des Öfteren berief er sich programmatisch auf Friedrich Hölderlin, mit dem er viele Gemeinsamkeiten hatte. Dabei fällt unter anderem auf, dass beide Dichter von äußerst entgegengesetzten Interessengruppen vereinnahmt wurden. Hölderlin galt einerseits als Parteigänger der Französischen Revolution, mit den radikalen Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, andererseits aber beanspruchten ihn deutsche Nationalisten als vaterländischen Sänger. Celan wiederum wird als ein hochpolitischer Geschichtszeuge gelesen, dessen Werk in ästhetisch konsequenter Weise den Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten aus jüdischer Perspektive thematisiert – aber gleichzeitig sehen viele in ihm einen deutschsprachigen Dichter, der am zeitlos ästhetisierten Ton eines Stefan George oder Rainer Maria Rilke orientiert ist und sich über die gemeine Alltagssprache und bloße Weltanschauungen erhebt. Solch unterschiedliche Zuweisungen entstehen offenbar besonders dann, wenn etwas Absolutes, Sphärisches, Überirdisches im Raum zu stehen scheint.
Je weniger man über Celan wusste, desto mehr wurde er zu einer Ikone. Doch je mehr man seitdem über Celans Leben erfahren hat, desto verwirrender werden die Versuche, ihm gerecht zu werden. Er bezeichnete sich selbst als einen Linken, manchmal sogar als einen Kommunisten, aber er verehrte Martin Heidegger, der anfangs ein fanatischer Parteigänger der Nationalsozialisten gewesen war, und suchte auch die Nähe zu Ernst Jünger und dessen völkisch-rechtem Umfeld. Diese Neigungen widersprechen offensichtlich dem Bild, das man sich von Celan am liebsten machen würde. Der Ehebriefwechsel mit seiner Frau Gisèle zeigt den Dichter als sensiblen, zärtlichen, die Familie als Halt und Anker empfindenden Ehemann, aber parallel dazu tauchen immer mehr Zeugnisse darüber auf, wie viele Geliebte er hatte und wie bohémienhaft-bindungslos sein Alltag sein konnte. Über seine psychische Erkrankung wurde lange geschwiegen, und über ihre Eigenarten weiß man immer noch wenig – einen ersten paranoiden Schub erlitt er Ende Dezember 1962, als er während der Skiferien Passanten angriff und auf der Heimreise im Zug seiner Frau ein gelbes Tuch vom Hals riss, weil es ihn an einen gelben Judenstern erinnerte.[1] Es liegt nahe, dass die Größe seines Werks, die einzigartige sprachliche Leistung seiner Gedichte viel mit diesen konkreten Lebensbedingungen zu tun hat, mit widersprüchlichen Momenten. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man diese ernst nimmt und ihn nicht zum unantastbaren mythischen Dichter stilisiert. Celan bezog sich immer wieder eindringlich auf die »Wirklichkeit« und wandte sich entschieden gegen rein sprachliche Operationen im luftleeren Raum, gegen »das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial«.[2]
Nachdem Celan im April 1970 in seinem fünfzigsten Lebensjahr den Freitod in der Seine gesucht hatte, entstand um ihn in kürzester Zeit jedoch eine ganz eigene Aura. Unzählige wissenschaftliche Aufsätze, Dissertationen und Habilitationen erschienen über ihn, Celan avancierte innerhalb weniger Jahre zu einem der am häufigsten interpretierten Lyriker überhaupt, zu einer Paradedisziplin der Germanistik. Das hatte sicher sehr viel damit zu tun, dass er schwierig zu verstehen war und dass man über seine Biografie kaum etwas erfahren konnte: Er lud deshalb dazu ein, diverse wissenschaftliche Begriffsinstrumentarien an ihm auszuprobieren. Sein Leben erschien noch Jahrzehnte nach seinem Tod in ein geheimnisvolles Dunkel getaucht. Er stammte aus dem fernen, am östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs gelegenen und jüdisch geprägten Czernowitz, einer Vielvölkerstadt, die nach dem Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden und nach dem Zweiten Weltkrieg der »Geschichtslosigkeit anheimgefallen« war, wie es Celan in einer seiner seltenen öffentlichen Äußerungen formuliert hatte.[3] Das Czernowitzer Lebensgefühl und die dort vermittelten Haltungen konnten kaum mehr nachvollzogen werden. An ihre Stelle trat ein magischer Zauber, eine Art paradiesischer Unschuld vor dem Eintritt in die brutale Zeitgeschichte, deren realer politischer Hintergrund oft gar nicht näher thematisiert wurde – er erschien eher als ein gewaltiges Schicksal, als eine von unfassbaren Kräften verhängte Menschheitskatastrophe.
Celan wurde sofort als der repräsentative Dichter dafür erkannt, und daraus entstand auch eine spezifische Form der Sakralisierung. Was man wusste, war, dass seine Eltern von den Nazischergen verschleppt und in einem ukrainischen Lager umgebracht worden waren. Dass er Verfolgung und Krieg als Jude überlebt hatte, wurde mit seinen Gedichten in eins gesetzt. Die Todesfuge[4] ist mittlerweile das berühmteste und am meisten verbreitete deutschsprachige Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts. Man verband Celan spätestens nach seinem Tod untrennbar mit diesem Gedicht. Es wurde schnell zur Pflichtlektüre an den Schulen und fand sich in allen Lesebüchern, es stand allgemeingültig für das Grauen in den Konzentrationslagern, aber gleichzeitig auch für die Möglichkeiten, dieses Grauen zu »bewältigen«, wie der dazu passende didaktische Fachausdruck lautete. Das Besondere war, dass Celan dabei als ein Dichter gelesen wurde, der ein existenzielles Leiden zum Ausdruck gebracht habe, das über das konkrete Zeitgeschehen doch auch noch hinausgehe – und dass er sich in seiner ästhetisch bis in die höchsten Sphären vordringenden Sprache über die Niederungen der kruden Realität hinwegsetze. Hans Egon Holthusen schrieb 1954, die Todesfuge sei »reine Dichtung«, »ohne eine Spur von Reportage, Propaganda und Räsonnement«.[5] Er gab damit eine Richtung vor, der erstaunlich viele Rezipienten folgten.
Celans großer Ruhm kam erst nach seinem Tod. Zu seinen Lebzeiten waren die Reaktionen auf seine Dichtung keineswegs einhellig. Zu sehr merkte man, dass es hier trotz aller als surrealistisch eingestuften Bilder um etwas akut Verdrängtes ging. Zwar schrieb Helmuth de Haas über den Debütband Mohn und Gedächtnis aus dem Jahr 1952 im kurzlebigen Periodikum Neue literarische Welt, Celans Ton bleibe »haften«, »weil auch die Sprache mundfrisch und beinahe kantilenisch ist; sie ist beginnlich rein«.[6] Parallel dazu aber urteilte der damals bekannte Kritiker Curt Hohoff in seinem Buch über »moderne Literatur« 1954: »Metaphorisch ist alles überladen, unverständlich, grammatisch spannunglos.«[7] Und der Band Sprachgitter, den heute viele als Celans wichtigste Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache ansehen, führte zum Beispiel Inge Meidinger-Geise 1959 in ihrem Buch über Perspektiven neuer Dichtung dazu, die »lyrische Haltung in sich gefangener Menschen« anzuprangern.[8]
Als der bedeutsamste Moment der frühen Ablehnung von Celans Gedichten wird mittlerweile reflexhaft die Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 genannt, das einzige Treffen dieser erst gegen Ende der fünfziger Jahre bedeutsam werdenden Schriftstellervereinigung, an dem Celan teilnahm. Das verkennt die literarischen Verhältnisse der Fünfzigerjahre in erstaunlichem Ausmaß und ist wohl vor allem dem veränderten Erkenntnisinteresse der achtziger und neunziger Jahre zuzuschreiben. Es ist längst belegt, dass die Mehrheit in der Gruppe 47 Celan keineswegs ablehnte. Im Gegenteil, diese Tagung bedeutete für Celan den Durchbruch im deutschen Literaturbetrieb. Hevorzuheben ist aber, dass er parallel dazu äußerst empfindlich auf Verrisse kulturkonservativer Publizisten alter deutscher Schule reagierte, die – und das ist kein bloßer Zufall – gleichzeitig auch aggressive Gegner der Gruppe 47 waren. Die beiden einflussreichsten Kritiker dieser Art waren Hans Egon Holthusen und Günter Blöcker. Beide ignorierten die biografischen Hintergründe Celans, blendeten die politische Dimension des Massenmords an den europäischen Juden programmatisch aus und knüpften gleichzeitig an antisemitische Stereotype an.
Holthusen, der mit seinem Essayband Der unbehauste Mensch Anfang der fünfziger Jahre ein Bestsellerautor war, rezensierte Celan mehrfach. Bei Mohn und Gedächtnis rügte er das »wild blühende Chaos der Metaphern« sowie »Abirrungen ins Grillenhafte und Wunderliche«[9], und Die Niemandsrose bot ihm 1964 den Anlass dafür, Celans Gedichte als »ein dunkel raunendes, meist trocken-brüchiges, aber von Fall zu Fall auch zu pathetischen O-Rufen aufschwellendes Parlando in sogenannten freien Versen« zu charakterisieren. Die »Mühlen des Todes« bei Celan – eine damals gebräuchliche Wendung, die den Konzentrationslagern galt (so trug Billy Wilders Dokumentarfilm über die Konzentrationslager den Titel Die Todesmühlen) – war für Holthusen eine »in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher«.[10] Und Günter Blöcker schrieb einen Verriss von Sprachgitter, der weitreichende Folgen hatte. Blöcker sprach ihm die Zugehörigkeit zum eigentlichen deutschen Sprachraum ab. Er attestierte dem Dichter, dass er »der deutschen Sprache gegenüber eine größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen« habe: »Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade dadurch oftmals verführt, im Leeren zu agieren.«[11]
Hier wird auf altbekannte perfide Weise auf Celans Judentum angespielt. Es war vor allem diese Blöcker-Kritik, die Celan äußerst zusetzte und einer der Auslöser für seine psychische Erkrankung war. Er wandte sich Hilfe suchend an Freunde und Bekannte aus dem Literaturbetrieb wegen dieser Kritik, schrieb sie dafür auf der Schreibmaschine ab und verschickte sie. Wenn man nach Belegen danach sucht, welchem Unverständnis Celan in der Bundesrepublik ausgesetzt war, welch arroganter Zurückweisung und einem höhnischen Bescheidwissertum, dann ist der Artikel von Günter Blöcker dafür das herausragendste Zeugnis. Blöcker war 1939 zunächst Soldat gewesen, danach aber von 1942 bis 1945 Dramaturg bei der Ufa-Filmgesellschaft in Berlin. Diese Prägungen sind in seiner Rezension deutlich spürbar. Celans Band Sprachgitter kommt immer wieder auf die deutschen Verbrechen in der Nazizeit zurück, es gibt eindeutige Verweise auf eine jüdische Perspektive – aber das Charakteristische dabei ist, dass Celan die vorgegebene Wirklichkeit nicht eins zu eins übersetzt, sondern nach einer Sprache sucht, die der Erfahrung durch die Konzentrationslager gerecht wird. Das besonders Schmerzhafte für Celan war, dass Blöcker diese Dimension seiner Gedichte vollkommen ignorierte. Er schrieb: »Celans Metaphernfülle ist durchweg weder der Wirklichkeit abgewonnen noch dient sie ihr.« Blöcker bezog das sogar direkt auf Gedichte, die die Vernichtungslager der Nazis thematisieren, wie Engführung oder die vorangegangene Todesfuge: Das seien »eher kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren, die nicht voll zum Klang entbunden sind«.[12]
Es ist in diesem Zusammenhang von Belang, dass Blöckers Celan-Rezension in Ton und Haltung mit einer Polemik übereinstimmt, die er am 26. Oktober 1962 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte: Die Gruppe 47 und ich. Er positionierte sich hier, und die Eitelkeit dieser Selbststilisierung ist dabei unverkennbar, als einen großen Einzelnen gegen »Vereinsmeierei« und gegen »Mannbarkeitsriten« wie bei »gewissen primitiven Völkerstämmen«. Anfangs wehrte er sich herablassend gegen »die Vorstellung, die Gruppe 47 spiele in meinem Denken und Schreiben eine so große Rolle, dass da überhaupt so etwas wie eine tiefergehende Gegnerschaft entstehen könnte«. Der ganze nachfolgende Artikel steckt jedoch so offensichtlich voller Ressentiments, dass sich diese Pose unfreiwillig verräterisch ausnimmt. Blöcker sprach von einem »demagogischen Clan« und von »Meinungsterror«.[13]
Es ist dieser alte deutsche Überlegenheitsgestus, die Verachtung seines Herkommens, die Celan besonders zusetzte. Allerdings hatte er in konservativen und meinungsbildenden Kreisen von Anfang an auch Bewunderer. Sie rühmten seine bilderreiche Sprache und registrierten etwas Außerordentliches. Das Ungewöhnliche von Celans Poesie fiel in den Anfangsjahren der Bundesrepublik durchaus auf, und man versuchte, es mit den gegebenen, eher beschränkten Möglichkeiten einzuordnen oder abzuwehren. Repräsentativ sind Äußerungen wie die des Dichterkollegen Heinz Piontek. Er sprach von »poésie pure, zaubrische Montage«: »die Wirklichkeit« werde »in die Geheimschrift der Poesie transponiert«.[14] In der Phase um den Büchnerpreis 1960 wurde Celans Bedeutung für die zeitgenössischen Beobachter offenkundig. Danach jedoch, anlässlich seiner letzten, sich über die üblichen sprachlichen Übereinkommen konsequent hinwegsetzenden Gedichtbände, überwog erkennbar die Ablehnung. Das Times Literary Supplement erkannte im Gedichtband Fadensonnen von 1968 eine »esoteric Geheimsprache whose associations are known to the poet alone«[15], und der Westberliner Tagesspiegel merkte an, dass hier »die übliche Interpretationskunst« versage und man geneigt sei, sich »auf übliche Ablehnungsklischees wie Manierismus, Montage, Wortmischung ohne Sinn« zurückzuziehen.[16] Ende der sechziger Jahre bildete das als Urteil über Celans Lyrik fast so etwas wie einen allgemeinen Konsens. Mit seinem Tod 1970 änderte sich das grundlegend, wie auf einen Schlag.
Man konnte dabei auf jene Lesarten zurückgreifen, die eine Mythisierung Celans längst vorbereitet hatten. Von Anfang an versah man in bestimmten Kreisen diesen Dichter mit höheren Weihen, mit Attributen der Zeitlosigkeit. Die zeitgenössischen Rezensenten und kritischen Einordner erwähnten, wenn überhaupt, die konkreten lebensgeschichtlichen Erfahrungen Celans eher pflichtschuldig und übergingen sie ansonsten. Die Ästhetik dieses Schriftstellers jedoch wurde gelegentlich wie ein Hochamt zelebriert und – Belegstellen dafür ließen sich vermeintlich einfach finden – in die Nähe der Tradition einer Kunstreligion gerückt. Ein »deutscher Geist«, der unantastbar über den Verhängnissen der Zeitgeschichte schwebe, war der bevorzugte Anhaltspunkt für die postnationalsozialistischen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Er stand für etwas Höheres und war ein ideales Vehikel für die allgemeine Verdrängung. Seine Konjunktur – das ist mittlerweile weitgehend vergessen und von der Erfolgsgeschichte der Gruppe 47 überdeckt worden – währte bis weit in die sechziger Jahre hinein. Da Celan keine explizit politischen Texte schrieb und sich den Tagesdiskursen sowie der Alltagssprache bewusst entzog, schien er sehr dafür geeignet zu sein, vor diesem Hintergrund gelesen werden zu können, vor einer letztlich immer unantastbar scheinenden deutschen Kultur- und Geistestradition. Dass er sich auf Rilke, auf Trakl und auch auf Stefan George bezog, war unverkennbar. Nach seinem Tod stand zudem die Aura des deutschen Dichtergenies zur Verfügung, das, von seinen unmittelbaren Zeitgenossen unabhängig, einsam und verkannt an seinem Werk schafft. Die psychischen Gefährdungen Celans, von denen man gerüchteweise wusste, schienen genau dazu zu passen.
Die Literaturwissenschaft widmete sich sprachlichen Referenzmaschinerien, verband mit Celan ontologische Fragestellungen und verortete ihn in einer höheren Sphäre als der konkreten historischen Situation, in der er sich bewegte. So stieß Silvio Vietta in einer der ersten längeren germanistischen Arbeiten auf etwas, was er den »traumtransparenten Nachtraum« bei Celan nannte.[17] Der Heidegger-Schüler Otto Pöggeler sprach von »Existenz«, von »Geworfenheit« und von »Abgrund«, und es ist bezeichnend, dass er 1962 in seiner ausführlichen Abhandlung über Celans Büchnerpreisrede die »Luft, die wir zu atmen haben«, nicht mit Auschwitz in Verbindung brachte – genauso, wie er das von Celan bei Büchner prononciert hervorgehobene Datum des »20. Jänner« nicht im Zusammenhang mit der Wannseekonferenz 1942 und der dort beschlossenen »Endlösung der Judenfrage« sah.[18] Auch der große Linguist Harald Weinrich, und das ist charakteristisch, urteilte 1968 im Sinne einer Legitimationsstrategie für sein gerade erst im Aufstieg begriffenes Fach über Celans Gedichte: »Sie können nicht welthaltig sein, weil sie worthaltig sein wollen.«[19]
Celan wurde immer wieder mit einer »absoluten Poesie« in Verbindung gebracht, und das war leider sogar in der ersten Arbeit der Fall, die die üblich gewordenen Lesarten Celans zu durchbrechen versuchte. Sie erschien 1976, stammte von Marlies Janz und trug den beinahe etwas verzweifelten Titel Vom Engagement absoluter Poesie.[20] Die Verdienste dieses Buches sind größer als seine Mängel, doch die vorherrschenden Töne blieben andere. Celan schien ein geeignetes Objekt dafür zu sein, literaturpolitische Fragen im Sinne der Werkimmanenz zu verhandeln, gerade in der ideologisch hochaufgeladenen Zeit um und nach 1968, und wurde dadurch zum Inbegriff reiner Kunst in trivialisierter und politisierter Gegenwart. 1970 verglich Gerhard Neumann in einem Aufsatz über die »absolute Metapher« Celan mit Stéphane Mallarmé und operierte dabei bedeutungsvoll mit heideggerschen Begrifflichkeiten. Die »moderne Metapher« sei mittlerweile »ihres trivialen Eigentlichkeitsgrundes beraubt und zu einer neuen Eigentlichkeit umfunktioniert«, heißt es da, und das führt zu der Konsequenz: »Sie entfaltet ihre Bedeutungsmöglichkeit weitgehend im reinen Wortbezirk.«[21] Celan, so folgerte Neumann, werte »dieses Alleinsein der Sprache als ein Versagen«, doch in ihrem »Verweisungscharakter«, in ihrem »›leeren‹ Verweisen«, werde sie »sich ihrer Uneigentlichkeit bewusst«.[22]
Jener »reine Wortbezirk«: Dies ist der Bereich, in den Celans Dichtung immer wieder verwiesen wurde. Und deswegen fühlte sich auch die Linguistik herausgefordert, die existenzielle Problematik in eine Zeichenproblematik zu überführen. Winfried Menninghaus schrieb 1980, auf dem Höhepunkt der germanistischen Celan-Auslegungs-Höhenflüge: »Celans ›Sprechen‹ (…) versteht sich selbst gerade in dem, worin es die arbiträr-instrumentelle Referentialität transzendiert und nicht-signifikative ›Präsenz‹ und ›Gestalt‹ ist, als Auseinandersetzung mit und ›Richtung‹ auf eine (noch nicht existierende) ›Wirklichkeit‹.«[23]
Das einzige Feld, das daneben als Bezugspunkt diente, war Celans Judentum, vor allem dessen religiöse Dimension. Dies ist allerdings eine der diffizilsten Sphären, wenn man sich der Poesie Celans nähert. Anfangs spielte sein Judentum für Celan eine eher untergeordnete Rolle, er wehrte sich sogar offensiv gegen den strenggläubigen Vater. Erst durch die nationalsozialistische Verfolgung begann seine jüdische Identität für ihn entscheidend zu werden, allerdings nicht in einem religiösen Sinn. In Paris hat er noch Mitte der fünfziger Jahre das allzu sichtbare Auftreten der Frommen rund um die Synagoge in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bedauert und als lästig empfunden.[24] Es ist aber offenkundig, dass sich Celan zugleich verstärkt mit jüdischen Traditionen und mit jüdischer Mystik beschäftigte. Spätestens seit seinem Band Die Niemandsrose nehmen seine Gedichte dezidiert und unüberlesbar darauf Bezug. Dennoch ist es verfehlt, ihn von vornherein und ausschließlich als jüdischen Dichter definieren zu wollen; die durchaus inspirierenden Parallelen zu Franz Kafka sind auch bei diesem Thema zu erkennen.[25] Das literarische Bezugssystem und das Assoziationsnetz Celans, seine Poetologie und die Entwicklung des Werks weisen über die jüdische Kultur auch hinaus.
Sein primärer Bezugspunkt war die deutschsprachige Literatur, und zwar in einer Form, die der Kunst höhere Weihen verlieh und sie durchaus neben die althergebrachten Formen der Religion stellte. Celans Nennung von Rudolf Borchardts Ode mit dem Granatapfel gleich zu Beginn seiner Bremer Dankesrede war weitaus mehr als eine bloße Huldigung Rudolf Alexander Schröders, des Bremer Borchardt-Freundes.[26] Deshalb sind zum Beispiel die häufig herangezogenen Celan-Analysen von Jean Bollack problematisch, der prononciert aus der jüdischen Perspektive spricht und so anlässlich von Celans Besuch der Schwarzwaldhütte Martin Heideggers alles ausklammert, was auf Celans Nähe zu Heidegger hinweist und die Ambivalenz von Celans Gedicht Todtnauberg negiert.[27] Bollacks Autorität liegt dabei in einer persönlichen Nähe zu Celan, deren Intensität allerdings umstritten ist.[28]
Die Gestalt, die Celan nach seinem Tod in groben Zügen annahm, wird am deutlichsten im Titel der ersten, groß angelegten Biografie, die der US-Amerikaner John Felstiner verfasste: Paul Celan: Poet, Survivor, Jew – also: Dichter, Überlebender, Jude.[29] Diese drei Kategorisierungen stehen für den Autor als Grundlage seines Verständnisses gleichwertig nebeneinander. Felstiner deutet Celan existenziell-religiös. Ästhetische Fragen spielen kaum eine Rolle, und in dieser Form ist die Festlegung Celans auf die Erfahrung der Shoah deshalb verkürzt. An seinen Bukarester Freund Petre Solomon unterzeichnete Celan am 12. März 1948 mit: »Dein ehrlicher Freund und trauriger Dichter teutonischer Zunge Paul«[30], und dabei schwingt eine sprachliche Dimension mit, die für Celan wesentlich ist. Er hat sie dem Schweizer Redakteur Max Rychner gegenüber im selben Jahr mit den folgenden Worten vermittelt: »(…) ich weiß, wieviel ich den Kulturen, durch die ich gehen musste, verdanke, aber ich hätte es doch gerne gehört, was meine Gedichte den Menschen bedeuten, in deren Sprache sie geschrieben sind.«[31] Die radikalen Konsequenzen Celans gerade im Umgang mit der deutschen Sprache, seine anarchischen und wilden Aspekte werden bei Felstiner in ihrer poetologischen Einzigartigkeit nie eingehender verhandelt, ihre biografischen Spuren übergangen. Das ist ein aufschlussreiches Symptom.
Eine bestimmte Stilisierung von Celans Person steht auch heute noch im Vordergrund. Er avancierte, vor allem durch die Todesfuge, schnell zum Inbegriff des jüdischen »Opfers« schlechthin. Im allgemeinen Verständnis galt er immer als eine Art Märtyrer und wurde in dieser Weise verehrt. Als Katalysator dafür wirkte auch der groß angelegte Dokumentationsband, den die als Nachlassbeauftragte eingesetzte Germanistin Barbara Wiedemann im Jahr 2000 vorlegte: Paul Celan – Die Goll-Affäre.[32] Dieses verdienstvolle dickleibige Buch rückt den Plagiatsvorwurf Claire Golls in den Mittelpunkt von Celans Leben. Es handelte sich um eine der perfidesten, hinterhältigsten Intrigen in der deutschen Literaturgeschichte. Celan hatte den elsässisch-jüdischen Dichter Yvan Goll in dessen letzter Lebensphase Anfang der fünfziger Jahre in Paris kennengelernt. Es kam zu einem vertraulichen, kollegialen Austausch. Celan, der noch keinen »offiziellen« Gedichtband hatte (seinen 1948 im Wiener Verlag A. Sexl erschienenen Gedichtband Der Sand aus den Urnen, in dem die Todesfuge erstmals abgedruckt war, hatte Celan wegen zahlreicher Druckfehler einstampfen lassen), gab Goll frühe Texte von sich zu lesen und nahm auch den Auftrag an, Goll-Gedichte zu übersetzen. In der Dokumentation ist minutiös nachzulesen, wie Claire Goll, die Witwe, das Spätwerk ihres Gatten im Nachhinein manipulierte und behauptete, Celan habe von Yvan Goll abgeschrieben. Sie verhinderte die Publikation von Celans Goll-Übersetzungen, verwendete sie aber für ihre eigenen und gab aus Golls Nachlass Gedichte unter dem Namen Traumkraut heraus, in denen sie nicht fertiggestellte Texte Golls mit Motiven aus Celan-Gedichten anreicherte. Celan musste das im Innersten treffen: Für ihn war Deutsch seine Muttersprache, und seine Gedichte waren das Einzige, womit er sich seiner Herkunft und seiner Identität versichern konnte. Deshalb empfand er die Verleumdungen Claire Golls als existenzielle Bedrohung.
Das Buch über die »Goll-Affäre« listet alle Details der Plagiatsintrigen Claire Golls auf und zeichnet vor allem die Folgen nach, die sie in der deutschsprachigen Presse hatten. Der Fall ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie sich die Mechanismen der Medien verselbstständigen können. Trotz aller aufklärerischen Wirkungen hat dieses Buch aber auch eine etwas zwiespältige Note. Die Goll-Affäre und der Antisemitismus der frühen Bundesrepublik bilden hier einen einzigen Sog. Die Analyse gerät dabei zu undifferenziert, denn jede negative Kritik über Celan wird automatisch mit Antisemitismus assoziiert und der Goll-Affäre zugeordnet. Ohne die notwendige Distanz wird dabei das gesamte Celan-Bild automatisch auf eine schwierige Opferrolle zentriert, die auf paradoxe Weise zur Identifikation einlädt.
Celan galt Ende der fünfziger Jahre unbestreitbar als ein bedeutender zeitgenössischer Autor. Er erhielt in kurzen Abständen den Preis des Bundesverbands der deutschen Industrie, den Bremer Literaturpreis und dann 1960 im Alter von vierzig Jahren den Büchnerpreis – dass sich jüngere Kollegen zum Teil konkurrenzlerisch an ihm rieben, gehört zu den Begleiterscheinungen literarischer Öffentlichkeit. Es gab Rezensenten, die reflexhaft, wie es bei Literaturkritikern allzu häufig der Fall ist, eine verständlichere und einfachere Sprache forderten. Weder in den Kontext der Goll-Affäre noch in den des Antisemitismus gehören unter anderem auch die Artikel des jungen, auf sich aufmerksam machen wollenden Lyrikers Peter Rühmkorf, in denen er aus einer unbedingt zukunftsgerichteten Perspektive heraus Celan kritisiert: »und so gesellt sich denn dem kühlen Entzücken an manchem eisfarbenem Bilde und der kunstvollen Tonlosigkeit der Sprachmelodie immer wieder der Ärger über den altbekannten Chiffrenreigen.« Celan hat sich in diesem (durchaus diskussionswürdigen) Text Rühmkorfs über das »lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen«, der 1962 in dem von Hans Werner Richter herausgegebenen Sammelband Bestandsaufnahme erschienen ist, folgenden Halbsatz angestrichen: »Denn obwohl Celan sicher als Ausnahme nicht nur unter dichtenden Zeit-, sondern auch Artgenossen anzusprechen ist (…)«[33] Die Herausgeberin vermerkt dazu in einer Fußnote: »PC assoziiert hier Begriffe wie ›Artgemeinschaft‹ und ›artfremd‹ und sieht auch hier, und wohl nicht ganz zu Unrecht, Anzeichen für einen Antisemitismus von links.«[34]
Der Einschub »und wohl nicht ganz zu Unrecht« hat es in sich. Denn die Herausgeberin identifiziert sich hier mit Celan in politisch unhaltbarer Weise und verlässt die Haltung neutraler wissenschaftlicher Distanz. Was Rühmkorf mit den »Zeit-« und »Artgenossen« meinte, ist eindeutig dem Fortgang seines Satzes zu entnehmen: »(…) und obwohl bei ihm gemeinhin überzeugt, was man bei anderen zeitgenössischen Zeitflüchtern von Poethen bis Demus, von Raeber bis zu Atabay nur als ein modisches Make-Up empfindet (…), vermag man doch bestimmte Schwächen und Mankos nicht zu übersehen.«[35] Das heißt: Rühmkorf meinte mit »Artgenossen« in seiner typischen Wortspielweise eindeutig »Genossen in artibus«, die Kollegen, die Lyriker, die er ironisch über die »Zeitgenossen« stellte. Dass die Herausgeberin Rühmkorf hier des Antisemitismus bezichtigt, wiegt angesichts ihres sonstigen wissenschaftlichen Duktus schwer. Der eigentlich über alle Zweifel erhabene (und 1993 ebenfalls mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete) Rühmkorf spürte: Hier lauerte seinerseits ein Rufmord, denn einige Zeitungen hatten den Vorwurf bereits aufgegriffen. Er fühlte sich genötigt, einen offenen Brief zu schreiben, in dem er sich gegen die »nicht nur fahrlässigen, sondern böswilligen Unterstellungen« wehrte. Er empfinde »sie als Hakenkreuzschmierereien an meiner Haustür«. Die Wissenschaftlerin habe von seiner »politischen Sozialisation keine Ahnung« und betreibe »denunziatorischen Wirrsinn«: »Gehen Sie in sich und prüfen Ihr eigenes Vokabular, ehe Sie anderen Leuten die Wörter im Mund herumdrehen.«[36]
Den Begriff »Antisemitismus von links« gab es 1959 noch gar nicht, er entwickelte sich erst nach 1968 und war gerade um das Jahr 2000 sehr virulent, als Die Goll-Affäre erschien. Darauf bezieht sich die Herausgeberin insgeheim. Generell fällt die Tendenz auf, alles auszuschließen, was jener Typisierung Celans widersprechen könnte, die einer fast religiös anmutenden Bewunderung den Weg ebnet. Der Dichter selbst hat sich zu seinen Lebzeiten mehrfach gegen solch eine Form der Opferrolle gewehrt.
Celan hat viele Facetten. Einige Phasen seines Lebens kann man durchaus mit überraschend anderen Konnotationen verbinden: die Zeit der surrealistischen Wortspiele mit Dichterfreunden in Bukarest etwa oder die ersten Jahre in Paris, mit Zügen von etwas Freizügigem, Streunendem, Fraueneroberndem. Das Rauschhafte, die Prägung durch osteuropäische Traditionen wie Gesang und Tanz, gehört auch zu Celan. Zu Gisela Dischner sagte er einmal: »Die Leute erschrecken immer, wenn ich lache. Ich bin doch schließlich der tragische Dichter.«[37]