Die Gruppe 47 - Helmut Böttiger - E-Book

Die Gruppe 47 E-Book

Helmut Böttiger

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Beschreibung

Die Gruppe 47 ist zu einem Markenzeichen geworden. Jeder nimmt Bezug auf diese von Hans Werner Richter 1947 ins Leben gerufene lose Schriftstellervereinigung. Jeder hat eine Vorstellung von ihrer Wirkung. Helmut Böttiger legt nun den ersten umfassenden Überblick über die Geschichte dieser Institution vor, die unseren Literaturbetrieb erfunden und die politische Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands mitgeprägt hat. Bei näherer Betrachtung wird aber klar: Vieles von dem, was man zu wissen glaubt, verkehrt sich ins Gegenteil. Die Gruppe 47 war erstaunlich pluralistisch; Paul Celan hatte ihr seinen Erfolg zu verdanken; und wenn es eine Symbolfigur für die Mechanismen der Gruppe 47 gibt, heißt sie viel eher Hans Magnus Enzensberger als Günter Grass. Durch die Auswertung vieler bisher unbekannter Dokumente und Gespräche mit Zeitzeugen entsteht ein lebendiges Bild der Frühgeschichte der BRD: von den Schwierigkeiten, die Prägungen durch den Nationalsozialismus abzustreifen, bis zu einem neuen, prekären Wechselspiel zwischen Literatur, Markt und Mediengesellschaft, das bis heute anhält. Es ist an der Zeit, die Ursprünge kennenzulernen!

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Helmut Böttiger

Die Gruppe 47

Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb

Deutsche Verlags-Anstalt

Inhalt

Einleitung Literatur zwischen Markt, Macht und Medien

Vorspiel Die Hex vom Bannwaldsee

1 »Wir harren, Christ, in dunkler Zeit.«

Die allgemeine literaturpolitische Situation im Nachkriegsdeutschland

2 »Ausgespuckt von der Weltgeschichte.«

Die diffuse Frühzeit der Gruppe

3 Die Krieger-Kaste und der Kupfergeschmack des Champagners

Die zweite Tagung im November 1947 in Herrlingen

4 »Wacht auf, eure Träume sind schlecht!«

Günter Eich als Symbolfigur der Gruppe 47

5 Unverwüstliche Abc-Schützen

Richter, Andersch und die Vernetzungen in den Medien

6 Fräulein Kafka

Aichinger, Bachmann, Celan: Ein unvermutet neues Abc

7 Mit Bausch und Bogen

Die kurze Episode der Zeitschrift Die Literatur und die Rolle der Emigranten

8 »Das Volk hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen!«

Die Zeitschriften Akzente und Texte und Zeichen sowie die großen Außenseiter Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt

9 Einmal muss das Fest ja kommen

Die Tagung am Cap Circeo und eine ungeahnte neue Emigrationsbewegung

10 »Um deine Hüften kringeln sich Lianen.«

Raus aus dem Urwald: Die Gruppe 47 feiert ihr zehnjähriges Bestehen und betritt Neuland

11 Mit Kuhglocke und Hirschgeweih geht die Nachkriegszeit zu Ende

Günter Grass macht die Gruppe 47 zur zentralen Instanz im bundesdeutschen Literaturbetrieb

12 Riesensärge, Riesenzwerge

Die Geschichte von Gisela Elsner und Klaus Roehler

13 »Er spricht über dich wie über eine neue Krankheit.«

Der Siegeszug der Kritik

14 Bei einem wirklichen Ärmel wieder herauskommen

Westberlin als Hauptstadt der deutschen Literatur

15 »Geheime Reichsschrifttumskammer«

Die Spiegel-Affäre als Weichenstellung für die Gruppe 47

16 Hase Igel Enzensberger

Der Weg des »Chefideologen« der Gruppe 47

17 »Es riecht nach Markenartikel.«

Die deutsche Literatur-Nationalmannschaft gastiert im schwedischen Sigtuna

18 Lebensläufe

Das Jahr 1965: Zwischen Sozialdemokratie und jungen hungrigen Autoren

19 Beschreibungsimpotenz

Die Geburt der Popliteratur aus dem Geist der Gruppe 47: Princeton, 1966

20 Historische Gummiknüppel

Knallkörper und Pulvermühle: Die letzten Tage

21 Ein anachronistisches Monstrum

Auf Frühling folgt Winter: Das schier endlose Weiterleben der Gruppe 47

Anhang

Dank

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Tagungen

Personenregister

Einleitung

Literatur zwischen Markt, Macht und Medien

Ein Gespenst geht um im deutschen Literaturbetrieb – das Gespenst der Gruppe 47. Obwohl sie seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr existiert, geistert sie noch immer durch die Debatten: mal als Popanz, mal als Vorbild, mal als abschreckendes Beispiel. Was es mit ihr auf sich hatte, wissen die meisten allenfalls noch durch Gerüchte und meinungsstarke Thesen. Großen Einfluss auf die Art und Weise, wie über diese Autorenvereinigung gesprochen wird, hat zudem die Tatsache, dass einige ihrer Protagonisten im Grunde bis heute den literarischen Diskurs bestimmen. Wenn Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki oder Martin Walser auftreten oder anderweitig ihre Ansichten kundtun, findet das immer noch den stärksten Widerhall in den Medien. Sie sind Debattenkönige, Auslöser für Streitgespräche und Artikelserien. Sie mögen polarisieren, aber ihnen gehört immer noch die Aufmerksamkeit. Man wendet sich von ihnen ab, längst hat man Haltungen der Ablehnung oder der Verachtung kultiviert, aber ihre Namen sind nach wie vor Markenzeichen. Noch als 80- bis 90-Jährige schaffen sie es eher, im Mittelpunkt zu stehen, als die meisten Protagonisten der Autorengenerationen danach. Der Verdacht liegt nahe, dass sie die Mechanismen ihrer öffentlichen Wirkung bei der Gruppe 47 gelernt haben. Denn dort wurde die Literatur zum Betrieb, die Gruppentagungen waren eine Art Praktikum für rhetorische Mittel, für moderne Kommunikationstechniken, für die Praxis der Vernetzung, noch ehe überhaupt die Begriffe dafür gefunden wurden.

Die Ausgangsbedingungen hätten nicht idealer sein können: Man traf sich einmal, nur in den Anfängen auch zweimal im Jahr, drei Tage lang, und diese drei Tage waren der Katalysator des literarischen Lebens. Es gab keinerlei Konkurrenzveranstaltungen, keine Festivals oder sonstige Events – alles konzentrierte sich auf die jeweilige Tagung der Gruppe 47. Deshalb liegt es nahe, genauer hinzusehen, wie sich hier der Literaturbetrieb verdichtete, wie hier all das entwickelt wurde, was heute als selbstverständlich gilt – vor allem auch alle Aspekte der Medialisierung und Kommerzialisierung von Literatur. Es ist nicht überraschend, dass es eine Vielzahl von Studien und Analysen über die Gruppe 47 gibt. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrem Ende 1967 war sie ein viel diskutierter Gegenstand. Sie erzeugte eine unübersehbare Flut von wissenschaftlichen und von populären Arbeiten. Dabei wurde die immense Bedeutung der Gruppe für das gesellschaftliche und literarische Leben der Bundesrepublik als gegeben vorausgesetzt, man sezierte fieberhaft die diversesten Einzelaspekte. Merkwürdigerweise gibt es aber bis heute keine umfassende Gesamtdarstellung dieser Gruppe und ihrer Geschichte. Es mehren sich zwar polemische Zuspitzungen, aber neben der notwendigerweise gerafften Rowohlt-Monografie von Heinz Ludwig Arnold und seinem eher wissenschaftlich-systematisch ausgerichteten Göttinger »Text + Kritik«-Projekt existiert bisher kaum ein größer angelegter Versuch, die Gruppe 47 als Gesamtes zu betrachten. Dabei wäre es an der Zeit, die historische Distanz zu nutzen und die Gruppe 47 als hochinteressantes Phänomen nachzuzeichnen, als ein wichtiges Kapitel der Literaturgeschichte, ohne sofort in Parteigängertum oder hämische Ablehnung zu verfallen. Die Mitschnitte der Gruppendiskussionen, die in den Rundfunkarchiven liegen, wie auch die verdienstvolle Edition des Briefwechsels des Gruppenchefs Hans Werner Richter, die Sabine Cofalla 1997 vorgelegt hat, bieten schon seit geraumer Zeit eine solide Grundlage dafür.

Am entrücktesten ist mittlerweile wohl die gesellschaftliche Funktion, die die Gruppe gehabt hat und die heute vor allem mit der Person von Günter Grass identifiziert wird – mit jener Art moralischer Instanz, die er für sich in Anspruch nimmt. Man assoziiert mit der Gruppe 47 automatisch etwas sozialdemokratisch Leitartikelhaftes. Es blieb bei den Tagungen der Gruppe allerdings bis zum Schluss so, dass in den Diskussionen nur konkret über die gelesenen literarischen Texte verhandelt wurde. Es war ein Tabu, allgemein zu werden oder gar das engere Feld des Literarischen zu verlassen. Ein ironisches Statement Helmut Heißenbüttels, das oft zitiert wird, schien sich vor allem gegen eine dominierende sozialdemokratische Moral zu richten: »Versuchte man, den Durchschnitt aller Stile der Autoren der ›Gruppe 47‹ zu bilden, käme der von Siegfried Lenz heraus.«1

Dabei war das vor allem ein listiger Versuch Heißenbüttels, von der Funktion abzulenken, die die Gruppe für ihn selbst gehabt hat. Denn er war seit 1955 bei den Tagungen dabei und galt früh als eine Art Maskottchen der Gruppe – als experimenteller Autor, der zum Teil komische und groteske Wirkungen erreichte. Heißenbüttel galt bald als der Vorzeigeautor der modernen, mit der Sprache als Material operierenden Poesie und nutzte dies auch, wie seine Aussage zeigt, offensiv als exklusives Markenzeichen – die Gruppe 47 aber war das einzig mögliche Forum für ihn. Es gab kein anderes für jemanden mit seinem Profil. Es ist durchaus von einem gewissen Aussagewert, wenn Joachim Kaiser in seinem Bericht über die Tagung im schwedischen Sigtuna 1964, die allgemein als der Höhepunkt der Außenwirkung der Gruppe 47 angesehen wurde, den Satz schrieb: »Heißenbüttel schloß die Sigtuna-Tagung triumphal ab.«2

Günter Grass war zwar durch seinen überragenden Erfolg mit der Blechtrommel der berühmteste Autor der Gruppe, aber durch ihn und durch den vor allem einem reportagehaften Realismus verpflichteten Gruppeninitiator Hans Werner Richter wurde überdeckt, dass sich bald ganz andere Tonlagen entwickelt hatten. Grass, Richter und die wenigen verbliebenen alten Getreuen um den Chef befanden sich schon zu Beginn der sechziger Jahre ästhetisch in der Defensive. Das geschah nicht nur durch das »Maskottchen« Heißenbüttel, sondern vor allem durch Autoren wie Peter Weiss, Reinhard Lettau, Jürgen Becker oder auch Alexander Kluge. Kluge, Mitautor des »Oberhausener Manifests« des jungen deutschen Films 1962, wurde von Richter noch im gleichen Jahr zur Gruppentagung in Berlin eingeladen und war von diesem Zeitpunkt an einer der profiliertesten Autoren auf den Tagungen; er stand, neben seinen ungewohnten und die Normen sprengenden Collage-Texten, auch für die frühe Verbindung zum Film. Dass mit Hubert Fichte, Peter O. Chotjewitz oder Peter Handke auch die ersten deutschen Pop-Autoren vertreten waren und heftig diskutiert wurden, sei hier nur am Rande vermerkt.

Die Gruppe 47 war immer widersprüchlich und heterogen. Sie war weit mehr als ihr Gründer Hans Werner Richter und kann in den in ihr vertretenen literarischen Positionen keineswegs mit ihm gleichgesetzt werden. Richter selbst hielt sich seit Mitte der fünfziger Jahre weitgehend mit ästhetischen Urteilen zurück und fungierte nur noch als Organisator, Herbergsvater und Diskussionsleiter. Dabei bekannte er manchmal auch, dass er mit den Texten, die die literarische Bedeutung der Gruppe 47 erst ausmachen sollten, nicht so viel anfangen konnte – Texte, die mit der unmittelbaren Aufarbeitung der Generations- und Kriegserfahrung seiner Altersgruppe nichts mehr zu tun hatten. Doch Richter und auch Grass stehen, je mehr die konkreten Kenntnisse über die wahren Abläufe verschwinden, umso stärker im Mittelpunkt der Urteile. Ein typisches Beispiel ist das Bonmot vom »sozialdemokratischen Realismus«, das Martin Mosebach in einer Rede vom September 2011 bei der Schwedischen Akademie in Stockholm verwendete.3 Das ist zwar hübsch pointiert, geht aber an den Texten, die in der Gruppe 47 in den fünfziger und sechziger Jahren als die zentralen diskutiert wurden, völlig vorbei. Dass sich in der Entwicklung der Gruppe 47 die Entstehung eines spezifischen bundesdeutschen Literaturbetriebs abzeichnete, lag nicht zuletzt daran, dass hier zum ersten Mal wichtige neue literarische Stimmen zu vernehmen waren. Die ästhetischen Auseinandersetzungen, die auf den Tagungen geführt wurden, die Positionen, die dabei aufeinanderprallten, sind ein wichtiges kulturgeschichtliches Zeugnis für die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik. Selbst beim Umgang mit Schriftstellern wie Heimito von Doderer, Albert Vigoleis Thelen oder Paul Celan, die mittlerweile oft pauschal als Kronzeugen für die Beengtheit und Kurzsichtigkeit der Gruppe 47 genannt werden, muss das Urteil weitaus differenzierter ausfallen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird.

Zu einem eigenen Mythologem hat sich mittlerweile der Auftritt von Paul Celan bei der Frühjahrstagung 1952 an der Ostsee entwickelt. Oft kolportiert worden ist eine unsägliche Attacke Hans Werner Richters, die sich in der Rezeption schnell verselbständigt hat. Dieses Thema ist sehr komplex. Hier sei aber schon darauf hingewiesen, dass das Hauptproblem für Celan keineswegs die Gruppe 47 war. Außer Blick geraten ist in späteren Darstellungen, dass Celan genau registrierte, woher die aggressivsten Angriffe gegen seine Lyrik und seine Person kamen: von jenen einflussreichen Kritikern nämlich, die so etwas wie das Establishment darstellten und gleichzeitig als die heftigsten Gegner der Gruppe 47 in Erscheinung traten. Zwei Namen sind hier vor allem zu nennen: zum einen Günter Blöcker, dessen antisemitischer Verriss des Gedichtbands Sprachgitter 1959 zum wichtigsten Katalysator in Celans Verhältnis zum deutschen Literaturbetrieb wurde.4 Zum anderen Hans Egon Holthusen: Er veröffentlichte in den sechziger Jahren einen zweiten folgenschweren Verriss Celans voller Ressentiments und mit einem engstirnigen Lyrikverständnis.5

Die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit zeigten sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik überall – sosehr man sie auch zu verdrängen versuchte. Auch die Mitglieder der Gruppe 47, so unbeteiligt sich die meisten wähnten, waren davon geprägt. Man muss die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Autorenvereinigung sehr ernst nehmen: Sie durchlief sehr widersprüchliche Prozesse. Durch die marktbeherrschende Stellung der Gruppe 47 in den sechziger Jahren geriet aus dem Blick, dass sie bis Mitte der fünfziger Jahre eher unbedeutend war. Da herrschte noch eine ganz andere Stimmung, eine Form von »Hochkultur«, die dem »deutschen Geist« als etwas unbeschädigt Gebliebenem huldigte und in der religiöse Metaphern eine Hauptrolle spielten. Die Autoren, um die es damals hauptsächlich ging, hießen Hans Carossa, Ernst Wiechert, Werner Bergengruen, Stefan Andres oder Rudolf Alexander Schröder. Auf allen Feldern war die personelle Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus unverkennbar, in der Politik wie in der Literatur. Offen nationalistische und antisemitische Töne waren im gesellschaftlichen Alltag bis hinauf in Ministerränge und die Führungsgremien der Akademien nichts Ungewöhnliches. Und auch die Anfänge der Gruppe 47 waren von jener deutschen Sprache durchdrungen, die der Nationalsozialismus bis ins Detail geprägt hatte. In der von Alfred Andersch und Hans Werner Richter gegründeten Zeitschrift Der Ruf, die so etwas wie die Keimzelle der Gruppe 47 darstellt, spürt man diese Einflüsse deutlich, und gerade in der Person von Alfred Andersch sind noch lange Zeit verschiedenste Einflüsse virulent: Er verehrte Ernst Jünger genauso wie Jean-Paul Sartre oder amerikanische Romanciers im Stile William Faulkners oder Thomas Wolfes.

Die Gruppe 47 war jedoch eines der wenigen Foren – und für Literatur im Grunde das einzige –, das abseits der offiziellen Sprachregelungen und Ressentiments neue Formen von demokratischer Öffentlichkeit einübte. Wie schwierig dieser Prozess war, kann man nur erkennen, wenn man sich die Rahmenbedingungen vergegenwärtigt. Im Umgang mit dem eigenen Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus zeigten sich die Unterschiede am deutlichsten. Frank Thiess zum Beispiel, ein völkisch-nationalistischer Bestsellerautor der damaligen Zeit und einer der dominierenden Literaturfunktionäre, stilisierte sich als großes Naziopfer, während Günter Eich als einer von wenigen der in Deutschland Verbliebenen von Anfang an zugab, kein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Auch in der Gruppe 47 waren die spezifisch deutschen Traumata, Ideologien und Verdrängungen anzutreffen. Bei den trotzig-selbstgefälligen älteren »inneren Emigranten« wie bei den jungen Landsern der Gruppe 47 gab es zudem eine prekäre Gemeinsamkeit: nämlich einen Affekt gegen die Emigranten, die vor den Nazis ins Ausland geflohen waren. Doch auch in diesem Punkt ist die Entwicklung in der Gruppe 47 nicht auf einen Nenner zu bringen. Richter lud zum Beispiel Walter Mehring, mit dem er ästhetische Gemeinsamkeiten hatte, durchaus zu einer Gruppentagung ein – es war aber ausgerechnet der blutjunge, von der Kritischen Theorie Adornos affizierte Joachim Kaiser, der den Emigranten Mehring dann während der Gruppendiskussion verprellte. Dass Richter die Emigranten fast programmatisch von der Selbstfindung der jungen, noch völlig unbekannten Gruppe 47 ausschloss, lag zum einen am Generationsunterschied, zum anderen an einer unterschiedlichen Definition der Rolle des Schriftstellers. Die Entwicklung der Beziehung Hans Werner Richters zum namhaften und in den Medien gut vernetzten Hermann Kesten ist durchaus symptomatisch. Ernst zu nehmen sind dabei die Erfahrungen, die Richter während seines eigenen, knapp einjährigen Exils in Paris Mitte der dreißiger Jahre gemacht hatte: Die Selbstzerfleischung der demokratischen und linken Kräfte, die Kämpfe der Emigranten untereinander wirkten auf ihn abschreckend; er hatte einen Affekt gegen die polemischen Usancen am Ende der Weimarer Republik.

Hier lag auch sein Hauptmotiv dafür, weshalb die Gruppe 47 auf eine rein literarische Diskussion beschränkt sein sollte. Paradoxerweise trug aber gerade ihre gesellschaftspolitische Funktion erheblich zu ihrer Wirkung bei. Es wirkt im Rückblick fast zwangsläufig, dass diese 1967 überholt schien; die Gruppe 47 hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Zweck erfüllt. Was sie aus heutiger Sicht aber immer noch aktuell macht, ist ihr Anteil an der Ausformung des literarischen Marktes. Dies war ein Aspekt, den Richter am Anfang nicht so recht überblickte, obwohl er als hochbefähigter Funktionär und Taktiker die Bedeutung der Medien erkannte und früh begann, Netzwerke zu knüpfen. Der literaturpolitische Erfolg der Gruppe 47, der mit Grass’ Blechtrommel-Auftritt 1958 furios begann, überrollte Richter jedoch förmlich – kurz vorher hatte er noch daran gedacht, sich von der Literaturszene zurückzuziehen und sich ausschließlich gesellschaftspolitischen Tätigkeiten wie der außerparlamentarischen Opposition und dem »Kampf gegen den Atomtod« zu widmen. Als gewiefter Aktivist erkannte er dann allerdings sofort die Möglichkeiten, die der wachsende Einfluss der Gruppe 47 auch auf allgemeine bundesdeutsche Debatten und auf die eigene Rolle als Multiplikator mit sich brachte.

Die Erfindung des bundesdeutschen Literaturbetriebs, die aus anfangs intern geführten Werkstattgesprächen heraus geschah, ist das, was in allererster Linie von der Gruppe 47 geblieben ist. Hier wurden Literatur und Medien zueinander in Bezug gesetzt, hier entwickelten sich die Mechanismen von Erfolg und Misserfolg, von öffentlicher Resonanz. Und von daher ist es auch weniger Günter Grass, der als personifiziertes Symbol für die Gruppe 47 stehen könnte, sondern viel eher Hans Magnus Enzensberger. Ohne die Bühne der Gruppe 47 hätte sich Enzensberger nicht so virtuos seine unverwechselbare Medienpraxis aneignen können. Er stieß bereits 1955, als 25-Jähriger, dazu, und hier konnte er direkt umsetzen, was er schon früh in der Theorie als das wichtigste Pfund des zeitgenössischen Schriftstellers erkannt hatte: den Umgang mit der Öffentlichkeit. Er setzte dabei Zeichen, die bis heute in den Feuilletons gelten, er lieferte mit seinen Selbstdarstellungen, seinen Volten, seinen Debattenbeiträgen als Avantgardist des Zeitgeistes ständig die Maßstäbe für das Agieren bundesdeutscher Intellektueller. Enzensberger war zwar früh geprägt von der Kritischen Theorie Adornos, wollte aber dessen Analyse der »Kulturindustrie« nicht kampflos hinnehmen, sie war ihm zu »kulturpessimistisch«. Seine forcierte Auseinandersetzung mit dem, was er in Fortführung von Adorno »Bewusstseinsindustrie« nannte, hatte den Sinn, die Medien benutzen zu lernen, »sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen«6 und sie im Sinne des Autors zu instrumentalisieren. Enzensberger wurde so zum Rollenvorbild für heutige Kulturjournalisten. Er witterte über Jahrzehnte hinweg immer als einer der Ersten, was in der Luft lag, und ist bis heute unumstritten ein Häuptling des Getümmels. In Enzensberger hatte die Gruppe 47 literaturpolitisch ihren besten Schüler.

In der Gruppe 47 und in ihrem Umfeld erlebte man zum ersten Mal, dass Literaturtreffen zu »Events« werden konnten. Die von Walter Höllerer nach 1960 in Westberlin veranstalteten Lesereihen, unter anderem in der Kongresshalle, gingen in die Offensive und brachten eine neue Dimension in die Vermittlung und Rezeption von Literatur: Hier war zum ersten Mal das Fernsehen dabei, hier wurden neue Formen der Präsentation erprobt, hier ließen sich Autoren öffentlich von Moderatoren befragen – etwas, was damals noch sehr ungewohnt und gewöhnungsbedürftig war. Der Literaturbetrieb erlebte eine unvorhergesehene Konjunktur.

Von diesem widersprüchlichen Prozess soll im Folgenden berichtet werden. Nach dem Ende der Gruppe 47, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, gab es in den Feuilletons ein immer wiederkehrendes Ritual, nämlich die Frage: Brauchen wir wieder eine Gruppe 47? Das Ende dieser Institution hinterließ im Betrieb eine große Lücke, es existierte ein merkwürdiger Phantomschmerz, und alle paar Jahre wiederholte sich diese Diskussion, oft mit einem Pro- und Kontra-Artikel als Vorläufer des heutigen Debattenfeuilletons. Marcel Reich-Ranicki inszenierte den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bewusst in Anknüpfung an die Traditionen der Gruppe 47, Günter Grass organisierte den von ihm gestifteten Alfred-Döblin-Preis in Form von Werkstattlesungen und -diskussionen originalgetreu im Sinne Hans Werner Richters, und noch 1995 erschien ein Band mit »55 Fragebögen zur deutschen Literatur«, in dem zeitgenössische Schriftsteller gefragt wurden: »Brauchen wir eine neue ›Gruppe 47‹?«7 Ungefähr zur selben Zeit veröffentlichte der Autor Hermann Kinder eine Streitschrift, in der die Gruppe 47 als Modellfall dafür beschrieben wurde, wie die Platzhirsche des Literaturbetriebs die nachkommenden Autoren förmlich erdrückten – auch lange nach ihrem Ableben schien sie immer noch existent zu sein.8

Das vorliegende Buch braucht indes an den emotionalen Auseinandersetzungen um die Gruppe 47 keinen Anteil mehr zu haben. Es beschreibt die Gruppe 47 aus einem mittlerweile unverkennbaren Abstand heraus – als ein historisches Phänomen, mit all seinen wichtigen und zum Teil auch zwiespältigen Folgen. Natürlich war dieses Phänomen unmittelbar zeitverhaftet und ist keineswegs direkt anschlussfähig an heutige literarische Praktiken. Aber einen gewissen Nachhall gibt es gelegentlich immer noch. So stellte Sibylle Lewitscharoff, eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen, 2011 in einer Fernsehdiskussion über Filmausschnitte von der Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1963 fest: Diese Schriftsteller seien damals »wirklich davon durchdrungen gewesen, dass das Wort Gewicht hat, dass es überhaupt so etwas wie moralische Hintergrundprinzipien des Schreibens gibt«. Und: »Die Zeit ist vorangeschritten. Das kann man im Übrigen bedauern. Als Schriftsteller ist es ja nicht schön, in Systeme, die unglaublich multipel und divers sind, hineinzuschreiben. Wenn ich die Wahl hätte, offen gestanden: Ich wär lieber da dabei …«9

Die Frage, ob man eine neue Gruppe 47 braucht, stellt sich heute schon lange nicht mehr. Aber manchmal taucht sie unvermutet wieder auf, wie ein Gespenst, von Mythen befrachtet, heftig attackiert oder nostalgisch verklärt. Insofern lohnt es sich durchaus, noch einmal genauer hinzuschauen: noch einmal zu fragen,was es mit dieser Gruppe auf sich hatte, die die Literaturgeschichte der Bundesrepublik so nachhaltig geprägt hat.

1 Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Helmut Heißenbüttel am 13.6.1976 in Göttingen. Tonbandmitschnitt

2 Joachim Kaiser: Von der Gruppe 47 zu 491. In: Süddeutsche Zeitung, 26.9.1964

3 Martin Mosebach: Fräulein Laura wollte niemand hören. Rede über den deutschen Roman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.9.2011

4 Günter Blöcker: Gedichte als graphische Gebilde. In: Der Tagesspiegel, 11.10.1959

5 Hans Egon Holthusen: Das verzweifelte Gedicht. »Die Niemandsrose« – nach vier Jahren ein neuer Lyrikband von Paul Celan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.1964

6 Hans Magnus Enzensberger: Bewusstseinsindustrie. In: ders.: Einzelheiten. Frankfurt am Main 1962, S. 15

7 Joachim Leser/Georg Guntermann (Hg.): Brauchen wir eine neue Gruppe 47? 55 Fragebögen zur deutschen Literatur. Bonn 1995

8 Hermann Kinder: Der Mythos von der Gruppe 47. Eggingen 1991

9 Literatur im Foyer. 3sat, 5.7.2011

Vorspiel

Die Hex vom Bannwaldsee

Dort, wo die Gruppe 47 gegründet wurde, steht heute ein Campingplatz. Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel, das ein gutes Dutzend unbekannter Schriftsteller nach vielen Mühen im September 1947 erreichte und das im Briefkopf als »Gut Bannwaldsee« firmierte, ist ein niedriger, knapp zweistöckiger Bau mit sehr schrägen Wänden unter dem Dach. Heute wohnt dort die Betreiberin des Kiosks, der die Camper am Bannwaldsee versorgt, und es ist sorgsam mit einem Holzzaun versehen. Damals allerdings muss das Haus einen ganz anderen Eindruck gemacht haben, es stand völlig allein am See, wie eine Villa, und die Bewohnerin wohnte dort ebenfalls allein. Noch viele Jahre später geisterte sie als die »Hex vom Bannwaldsee« durch die Dorfgespräche im benachbarten Schwangau – eine geheimnisvolle, fremdartige Frau, die irgendwie künstlerisch tätig zu sein schien und mit den Leuten im Ort kaum etwas zu tun hatte. Selbst über ihr Geburtsjahr schwankten die Angaben – 1910 oder doch 1903? –, aber die hochgewachsene Frau hatte im Jahr 1947 offenkundig etwas Jugendlich-Altersloses an sich und löste ungewisse Ängste und Abwehrmechanismen aus. Sie fuhr mit wehenden langen Haaren auf einem Motorrad herum; sie lackierte ihre Fingernägel mit roter Farbe; sie trug ziemlich ausgefallene Kleider und, was in dieser Zeit und in dieser Gegend für eine Frau noch äußerst ungehörig war, lange Hosen, dazu viel und auffälligen Schmuck. Und die Männergeschichten, die sie in den Wirtshausgesprächen zwangsläufig haben musste, entfalteten naturgemäß ihre Eigendynamik.

Im Juli 1947 traf Ilse Schneider-Lengyel bei einem Schriftstellertreffen auf einem Adelssitz im oberbayerischen Altenbeuern unter anderem Hans Werner Richter, dem die ganze Veranstaltung nicht gefiel – man müsse so etwas anders machen, jünger, kritischer. Fraglich war für ihn nur der Ort – in der Nachkriegs- und Besatzungszeit galt es zu improvisieren. Für Ilse Schneider-Lengyel war es keine Frage, dass dieses Treffen bei ihr stattfinden könnte: Sie besaß das Haus am See samt Grundstück, und sie hatte auch die Fischrechte, was für die Verpflegung äußerst notwendig sein würde. 1945 war ihr Vater, ein bayrischer Oberforstmeister, gestorben. Sie hatte alles geerbt und war an den Bannwaldsee bei Füssen gezogen – nach einigen Jahren ethnologischer und künstlerischer Studien. Das »Andersartige«, das in den wenigen Erinnerungen an diese Frau immer wieder auftaucht, hat auch etwas mit ihrer Biografie zu tun: Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten floh sie aus Berlin nach Frankreich und bewegte sich dort in den Kreisen der surrealistischen Bewegung.

Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee, ungefähr zur Zeit des Geschehens

© Bayerische Staatsbibliothek München (Ana 372)

Ihre erste künstlerische Ausbildung erhielt sie in den zwanziger Jahren an der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins in Berlin.10 Dort entwickelte sie ein ausgeprägtes Interesse für das Fotografieren von Kunstwerken, besonders von Skulpturen. Daneben studierte sie Kunstgeschichte und Ethnologie, fand Kontakt zu den Protagonisten des Bauhauses und lernte dabei den ungarisch-jüdischen Architekten und Maler Lászlo Lengyel kennen, den sie heiratete. Im Pariser Exil arbeitete sie als Fotografin für Zeitschriften, veröffentlichte aber auch etliche Kunstbände: über kultische Masken etwa, über griechische Terrakotten oder Michelangelo, Donatello und Rodin. Nach der Besetzung Frankreichs änderte sich die Pariser Kunstszene spürbar. Ilse Schneider-Lengyel kam immer öfter an den elterlichen Bannwaldsee und trennte sich schließlich auch von ihrem Ehemann. Ein Gerücht besagt, sie habe ihm sogar eine neue Frau besorgt.

Im Nachlass von Hans Werner Richter befindet sich eines ihrer künstlerischen Hauptwerke: Die Welt der Maske, 1934 im Piper-Verlag in München erschienen – ein weit gespanntes Panorama der menschlichen Verfremdungs- und Verstellungsrituale, über alle Kontinente hinweg, das vor allem von den vielen überraschenden Abbildungen lebt. Die Widmung an Richter überrascht weniger durch ihre Formulierung – »Für Hans Werner Richter herzlichst die Verfasserin, September 1948« –, sondern durch ihre Form: handschriftlich ausgeführte Druckbuchstaben, penibel geradlinig, fast wie mit einer Schablone geschrieben; eine unpersönlich wirkende, objektivierende Schrift. Und die Gedichte, die sie auf dem Schriftstellertreffen am Bannwaldsee vortrug, wirkten ebenfalls wie aus einer anderen Welt. 1952 erschien ihr Lyrikbändchen September-Phase in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe »studio frankfurt«, in der fast gleichzeitig auch das Debüt Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann herauskam. Im Almanach der Gruppe 47, der 1962 auf dem Höhepunkt des Einflusses dieser Schriftstellervereinigung veröffentlicht wurde, findet sich als erstes der fünf abgedruckten Gedichte Schneider-Lengyels das folgende:

Wort

sprechunfähig fliegen die hexen aus den häusernder eisenriegel der hütten kommt aus dem boden man schütze sich gegen die hauchlosen liderder wenn-wölfe das wort ist ein unerklärlichesgeräusch krank wurde der mensch daran

Nur von fern scheinen die »hexen« dieses Gedichts eine Reaktion auf die Zuschreibungen der unmittelbaren Nachbarn Ilse Schneider-Lengyels zu sein, der Bauern in Schongau. Das Ganze ist viel eher ein Spiel, das die Autorin aus dem Paris der Surrealisten mitgebracht hat und für das im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit jede Grundlage und jegliches vorstellbare Umfeld fehlten. In der Nullnummer der nie erschienenen Zeitschrift Der Skorpion, die Hans Werner Richter in dieser Zeit konzipierte, schreibt Schneider-Lengyel über »Jean Paul Sartre, den Surrealismus und die Antisartristen«, und sie stellt fest, dass der Surrealismus »sich sartriert« habe: »Die Heideggersche Philosophie hat in Frankreich rostrote Blüten getrieben. Ein Herbst war bereits angebrochen. Dieser Herbst lag im Sturm zwischen einer zerstörten Wahrheit und einer noch nicht vorhandenen: Tabula rasa.«11

Masken, Bücher und Bilder bestimmten das Haus dieser schwer greifbaren, exotischen Frau, wie in mehreren Schilderungen nachzulesen ist. Und dass sie ihr Motorrad in jedem neuen Frühling mit einer neuen Farbe lackierte, irritierte die Füssener Landbevölkerung genauso, wie ihre surrealistischen Gedichte die Gruppe 47 irritierten: Sie nahm an den ersten sechs Treffen der Gruppe teil und dann noch einmal 1957. Als ferne Erinnerung geisterte sie auch durch die spätere Gruppengeschichte. Nicolaus Sombart war bereits am Bannwaldsee dabei: »Es hatte uns begrüßt eine grazile, dunkelhäutige Frau mit etwas schräggestellten Augen und dichtem, langem, schwarzem Haarschopf, in den ein buntgewebtes Band geflochten war. Eine Zauberin, wie sich herausstellte, der es gelang, diesen wilden Haufen, der da in ihr Reich hereinbrach, mit einem sanften, mysteriösen Lächeln zu bändigen. Sie hätte Melusine heißen müssen. (…) Sie war völlig anders als wir alle, eine für unsere damaligen Maßstäbe ganz undeutsche Erscheinung, ein Wesen, das einer fremden kosmopolitischen Kultursphäre angehörte. Sie war eine Frau ohne festen Wohnsitz und ohne feste Identität, flüchtig, heimatlos, unfassbar, undinenhaft.«12

Der avantgardistische Zeitschriftenmacher und Kleinverleger Rainer M. Gerhardt, der mit seiner Anknüpfung an die US-amerikanische Avantgarde seiner Zeit weit voraus war und ein radikal modernistisches Literaturkonzept verfolgte, annoncierte in seiner Reihe »galerie ubu« als Nummer 2 Indianische Malerei, »herausgegeben von Ilse Schneider-Lengyel«, und 1954 kündigte er von derselben Herausgeberin eine Veröffentlichung an, die einfach Puppen hieß. 1957, als sie zum letzten Mal bei der Gruppe 47 erschien, nahm der Berliner Kurier noch einmal Notiz von ihr: »eine begabte Übersetzerin von Negerlyrik, Bewunderin der wilden Tiere und des Dschungel und Trägerin von exotischem Schmuck, mit dem sie, reich versehen, auch jetzt wieder erschienen war«.13 Doch danach taucht Ilse Schneider-Lengyel in der Literaturgeschichte nicht mehr auf.

In den sechziger Jahren besuchte sie mehrfach der junge, 1948 in Pfronten geborene Gerhard Köpf, der in Füssen aufs Gymasium ging – für einen versprengten, einsamen Literaturinteressierten in der näheren Umgebung barg die Existenzform Ilse Schneider-Lengyels gerade in dieser Zeit offenkundig ein großes Versprechen. In seinem Debütroman Innerfern aus dem Jahr 1983 beschreibt Köpf die Begegnung mit der fremden, anziehenden, andere Lebenswelten verkörpernden Frau, seiner »Jugendfreundin«, wie er sie rückblickend nennt. Und obwohl er seine Erinnerungen fiktiv einbettet – Ilse Schneider-Lengyel wird im Roman zur Kunstfigur »Karlina Piloti« –, gewinnt die reale Vorlage immer wieder deutliche Konturen: »Karlina trägt eine auffallend bunte, mit großem Fischgrätenmuster versehene Hose, deren untere Beine vom Knie an weit ausgestellt sind. Bügelfalte ist keine mehr da. An der Naht baumeln dafür links und rechts winzige Glöckchen, die bei jeder Bewegung, bei jedem der schnellen Schritte, einen fremden Klang hören lassen. Sie habe diese Hose, auf die hin man sie gelegentlich anspreche, aus Mexiko mitgebracht, daher auch die mexikanischen Stickereien, die mir erst jetzt auffallen. Ich finde die Kleidung einfach toll, großartig, überdies höchst riskant in dieser Gegend. Die Roana, ein ponchoähnliches Tuch mit kurzen Fransen, aus braungrauer Lamawolle mit unauffälligem Mäandermuster, das sie um die Schultern geworfen trägt, stamme aus Bolivien. Dazu ein andermal mehr.«14

Am 2. September 1947, eine Woche vor dem Treffen, schreibt Hans Werner Richter an Ilse Schneider-Lengyel: Wenn es ein oder zwei Personen mehr als die vorgesehenen zehn werden sollten, seien er und ein von ihm vielleicht mitgebrachter »Dr.« vom Münchner Rundfunk »bereit, irgendwo auf dem Fußboden oder Heuboden zu schlafen. Das wird wahrscheinlich allen Teilnehmern wenig ausmachen.«15 Und er erinnert sich im Nachhinein in verwischten schwarz-weißen Sprachbildern, wie die Teilnehmer der Tagung von München aus zum Bannwaldsee reisten – man trieb im oberbayrischen Weilheim, weil es dort keinen Zug für die Weiterfahrt gab, einen alten Lkw mit Holzvergaser auf, der mehr schaukelte als fuhr, und saß auf der offenen Tragefläche.

Als man endlich am Ziel angekommen war, sprang Isolde Kolbenhoff sofort nackt in den See, worauf sich einige der zukünftigen Dichter schamhaft umdrehten, wie die Teilnehmerin Freia von Wuehlisch in ihren Tagebuchnotizen festhielt, andere dagegen mit »Wohlgefallen« der »jungen Venus« nachblickten.16 Die ländliche Umgebung, Schloss Neuschwanstein und Schloss Hohenschwangau fast im Blickfeld, muss auf die Beteiligten sehr stimulierend gewirkt haben. Maria Friedrich, die Ehefrau des späteren dtv-Verlegers Heinz Friedrich, hat als Einzige über dieses erste Treffen der Gruppe 47 in der Presse berichtet: in einer kurzlebigen Frankfurter Gazette namens Die Epoche, und zwar unter ihrem Mädchennamen Maria Eibach. Ilse Schneider-Lengyels Anwesen wird dort nicht von ungefähr als »Fischgut« bezeichnet. Denn die Fische waren in dieser ausgehungerten Zeit vor allem für die Großstädter ein herausragendes Erlebnis. Walter Kolbenhoff erinnert sich etliche Jahre später: »Am Bannwaldsee angekommen, sahen wir das Haus, in dem wir alle schlafen sollten, ein einsam am See gelegenes kleines Haus. Wie wir die Nacht verbracht haben, weiß ich nicht, die meisten schliefen auf dem Boden, Richter als Häuptling natürlich kriegte ein Bett. Aber wir schliefen auf dem Boden. Dann kam das zweite Problem. Schlecht ausgeschlafen, hungrig, immer noch müde, wollten wir frühstücken. Was? Da hatte Frau Schneider-Lengyel für gesorgt, die war schon um vier Uhr aufgestanden, auf’n See rausgerudert und hatte Hechte und Barsche, und ich weiß nicht, wie die Fische heißen, gefangen. Die wurden gebraten, dann aßen wir jeder ein Stück Fisch, das war das erste Frühstück der Gruppe 47.«17 Und Hans Werner Richter, aus Bansin auf der Ostseeinsel Usedom, spricht wiederholt von den Hechten, die er als eine »Delikatesse« empfand – eine »ungewohnte, langentbehrte Mahlzeit«: »Noch bestand die tägliche Ration aus 1800 Kalorien, noch hatten viele wenig und oft nichts zu essen, noch war die Zeit der Reichsmarkscheine, die keinen Wert mehr besaßen, aber noch war auch alles ungeklärt, und niemand wußte, wohin der Weg morgen oder übermorgen führen würde.«18

Die Gastgeberin fuhr nicht nur morgens um vier Uhr auf den See hinaus, um Fische zu fangen. Sie brachte auf ihrem alten Motorrad auch einen Sack Kartoffeln, den sie schwarz in Füssen besorgt hatte. Und Maria Friedrich geb. Eibach schrieb gegen Ende ihres kurzen Artikels: »Als es fast wieder Tag wurde, las Schneider-Lengyel ihre surrealistischen Gedichte und brachte mit ihnen einen eigentümlichen Faktor in den Arbeitskreis hinein. Sie vermittelte dem erstaunten Ohr schillernde Eindrücke, die noch lange nachzuschwingen vermochten.«19 Eine Erkenntnis jedenfalls war eindeutig: Während der zwei Tage am Bannwaldsee entwickelte sich eine Dynamik aus Lesen, Kritisieren und Sprechen, eine Mischung aus dem Barackenleben gerade erst vergangener Zeiten und dem bohemeartigen Vorgefühl eines kommenden Lebens. Der intensive Austausch schien auch durch die Abgeschiedenheit der Szenerie erst so richtig möglich geworden zu sein. Die Entrücktheit der Kunst- und Lebenswelt von Ilse Schneider-Lengyel konnte als Maßstab dienen – sie trat so zwar nicht mehr in Erscheinung, aber Hans Werner Richter suchte für die folgenden Treffen immer wieder solche entlegenen Orte, mitten in der Provinz, abseits der großen Städte aus. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1948, fand das dritte Treffen der jetzt »Gruppe 47« genannten Vereinigung in Jugenheim an der Bergstraße statt, und Richter notiert auf einem späteren Blatt, dass vor allem diese Frühjahrstagung in der Pfalz für ihn die Erinnerung an eine unwiederholbare Boheme wachrufe, trotz der Kritik, die dabei an ihm als Autor geübt wurde: »eine Tagung, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann: bohemehaft, schlampig, getragen von dem überschäumenden Lebensgefühl der ersten Nachkriegsjahre, mit den Hoffnungen dieser Zeit (…)«.20

Ruth Rehmann, die in den fünfziger Jahren zur Gruppe 47 stieß, beschreibt in ihrem autobiografisch geprägten Roman Ferne Schwester aus dem Jahr 2009 in einigen atmosphärisch sehr dichten Passagen, woraus sich dieses Bohemegefühl speiste. Die 1922 geborene Autorin lässt ihre Heldin, eine Sängerin, nach Kriegsende durch Deutschland streifen, und in Heidelberg stößt sie bei der Jobsuche auf ein Bartrio, die »Students«, die von der US-Army angeheuert werden, in »für US-Offiziere reservierten Etablissements« aufzutreten: »Kein Vorher, kein Nachher, keine Tiefe, nichts Gemeinsames außer ein paar Stunden Musik in einem der Wirklichkeit abgehobenen, ausgepolsterten Raum, in dem bei sanfter Beleuchtung gegessen, getrunken, getanzt wird, während draußen der Curfew die Straßen leerfegt. (…) Draußen, in der großen Unordnung zwischen Nicht-mehr-Krieg und Noch-nicht-Frieden, haben sie nichts miteinander zu tun. Jeder muss sehen, wie er zurechtkommt. Das Ineinanderstürzen von Endkriegs-Chaos und Besatzerordnung bringt irrwitzige Formen und Situationen hervor, darunter, wie Ostereier versteckt, Momente märchenhafter Leichtigkeit, in denen alles, alles möglich erscheint.«21

Ilse Schneider-Lengyel mit Fischreuse am See

© Bayerische Staatsbibliothek München (Ana 372)

Das passt zu dem Ton, den Gerhard Köpf in seiner Erinnerung an Ilse Schneider-Lengyel aufnimmt, die exotische Künstlerin am Bannwaldsee: »Sie erzählt von den Masken, erklärt und deutet, berichtet von Reisen und vom Fotografieren, welches sie eine Kunst nennt, die höchste Geduld fordere. Um die Eigenart der Maskenkunst zu begreifen, höre ich, müsse ich das pantomimische Element besonders beachten: Innenbewegung und Spannung, gröber und leiser schwingend, an- oder abschwellend, seien wichtig, der Rhythmus bringe durch Spannung und Lösung formale Ordnung in die Gesichtszüge.« Und sie zeigt ihre Fotografien von Tänzerinnen auf griechischen Terrakotten: »Karlina Piloti spannt einen Bogen, auf dessen einer Seite ihr Motorrad, auf der anderen die grazilen Bewegungen der Tänzerinnen stehen. Geschwindigkeit und Flug, Bewegung und Anmut, höre ich sie schwärmen.«22

Bis 1950 war diese Exotin bei den Treffen der Gruppe 47 fast immer die einzige Frau. Doch sehr schnell stellte sich heraus, dass sie eine Außenseiterin blieb. Albrecht Knaus etwa schrieb in der Neuen Zeitung über die Frühjahrstagung 1950 in Inzigkofen: »Ilse Schneider-Lengyels Übersetzungen von Dichtungen australischer, indonesischer und amerikanischer Naturvölker riefen die erste ernste Diskussion über das Problem solcher Unternehmungen hervor. Ihre Erzählung ›Der Nomade‹, ein Prosastück von einer unheimlichen Dichte, aus einer höchst fragwürdigen Vorstellungswelt stammend, die etwa an Illustrationen von Max Ernst erinnert, war ebenfalls umstritten.«23

Ilse Schneider-Lengyel musste das Haus 1958 verkaufen, an einen Fabrikanten, der ab und zu kam und das Erdgeschoss in Beschlag nahm, während der ursprünglichen Besitzerin das Obergeschoss mit den Dachschrägen blieb. Irgendwann verliert sich ihre Spur. Dass sie 1972 im psychiatrischen Landeskrankenhaus auf der Insel Reichenau im Bodensee starb, ist die letzte fassbare Nachricht.

10 Biografische Angaben nach Auskunft von Peter Braun, Universität Jena

11 Zit. nach: Der Skorpion. Reprint. Göttingen 1991

12 Nicolaus Sombart: Pariser Lehrjahre 1951–1954. Hamburg 1995, S. 254

13 Zit. nach: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Ein Handbuch. Bericht, Kritik, Polemik. Neuwied 1967, S. 126

14 Gerhard Köpf: Innerfern. Roman. Frankfurt am Main 1983, S. 59

15 Zit. nach: Der Skorpion. Reprint 1991

16 Zit. nach: Jürgen Schutte (Hg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Katalog zur Ausstellung in der Akademie der Künste. Berlin 1988

17 Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Reinbek 2004, S. 34 f.

18 Hans Werner Richter: Bruchstücke der Erinnerung. In: Literaturmagazin 7: Nachkriegsliteratur, hg. von Nicolas Born und Jürgen Manthey. Reinbek 1977, S. 135 f.

19 Lettau (Hg.): Die Gruppe 47, S. 23

20 Zit. nach einem Typoskript aus den siebziger Jahren. HWR-Archiv, Berlin

21 Ruth Rehmann: Ferne Schwester. Roman. München 2009, S. 55

22 Köpf: Innerfern, S. 54

23 Lettau (Hg.): Die Gruppe 47, S. 53

1 »Wir harren, Christ, in dunkler Zeit.«

Die allgemeine literaturpolitische Situation im Nachkriegsdeutschland

Der französisch-elsässische Germanist Robert Minder war sichtlich verblüfft, als er im Jahr 1952 die aktuellen westdeutschen Lesebücher untersuchte: »Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher in die Hände, er dächte: Ein reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahrhunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.«24

Robert Minder war beileibe kein Polemiker. Er hielt einfach fest, was die Atmosphäre dieser Zeit ausmachte, was tonangebend war. Und in den ersten Jahren nach 1945 stand die soeben zurückliegende, industriell aufgerüstete Barbarei keineswegs im Vordergrund. Von der Erfahrung eines Zivilisationsbruchs durch die Nazis war kaum etwas zu spüren, es gab wenig Spuren, die auf eine deutsche Schuld hindeuteten. Die wichtigsten unter den deutschen Schriftstellern waren vor den Nationalsozialisten geflohen und lebten immer noch im Exil. Doch auch im NS-Staat waren literarische Texte geschrieben worden. Und deren Autoren waren alle noch da.

Sie traten nach der Währungsreform 1948 wieder in den Mittelpunkt, als nicht mehr ausschließlich die Besatzungsmächte die literarischen Neuerscheinungen lizenzierten und finanzierten. Die blühende Zeitschriftenszene der unmittelbaren Nachkriegsjahre verwelkte nach 1948 sofort. Die Generation der etwa 50- bis 70-Jährigen beherrschte jetzt die Zeitungen und den Buchmarkt. Sie nahm nahezu geschlossen eine »innere Emigration« für sich in Anspruch. Viel ist nun von den »Dämonen« die Rede, von der »dunklen Zeit«, von »Heimsuchung«. Gertrud von le Fort dichtete: »Die Schuld ist ausgeweint.«25 Als der größte zeitgenössische Lyriker galt Rudolf Alexander Schröder. Er war der Repräsentant der deutschen Gegenwartsliteratur und hielt fast jeden feierlichen Festvortrag. Am Silvesterabend 1951 wurde seine »Hymne an Deutschland« anlässlich der Neujahrsansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss in den Rundfunkanstalten gesendet, die nach dessen Willen auch die neue Nationalhymne werden sollte, und die erste Zeile enthält schon das ganze Credo: »Land des Glaubens, deutsches Land.« Schröders religiöse Dichtung drückte das deutsche Selbstgefühl um 1950 ideal aus. Seine Geistlichen Gedichte bestimmten die Feuilletons und waren ein Bestseller:

Wir harren, Christ, in dunkler Zeit. Gib deinen Stern uns zum Geleit auf winterlichem Feld. Du kamest sonst doch Jahr um Jahr!Nimm heut auch unsre Armut wahrin der verworrnen Welt.26

Am wichtigsten war den Deutschen der deutsche »Geist«, der trotz des Hitlerregimes immer noch existiere. Das sahen die Emigranten naturgemäß etwas anders. Irmgard Keun schrieb 1947 in einem Brief aus Deutschland nach New York: »Der ganze Boden in Deutschland stinkt nach Mord und Leichen, und nun zieht sich ein Schleim von Frömmigkeit darüber hin. In der Ostzone beten sie anders herum.«

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