Cevdet und seine Söhne - Orhan Pamuk - E-Book

Cevdet und seine Söhne E-Book

Orhan Pamuk

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Beschreibung

Istanbul im Jahr 1905: Cevdet fährt mit der Kutsche kreuz und quer durch die Stadt und wird mit verschiedenen Konfessionen, Nationalitäten, Weltanschauungen und sozialen Verhältnissen konfrontiert. Er versucht, sich über seine Identität und über seine Zukunft klar zu werden. Dreißig Jahre später stehen Cevdets drei Kinder im Mittelpunkt, für die sich alles verändert hat: die Zeitrechnung, die Kleidung, die Schrift, die Gesellschaft, das ganze politische System. Eindringlich und stimmungsvoll schildert Pamuk in seinem großen Familienepos Aufstieg und Fall einer Dynastie. Orhan Pamuk führt in seinem Debüt-Roman durch drei Generationen einer Familie und zeichnet zugleich den Weg der Türkei in die Moderne.

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Hanser E-Book

Orhan Pamuk

CEVDET

UND SEINE SÖHNE

Roman

Aus dem Türkischen

von Gerhard Meier

Carl Hanser Verlag

Die türkische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel Cevdet Bey ve Oğulları bei Karacan in Istanbul.

ISBN 978-3-446-25171-7

© İletişim Yayıncılık A. Ş., 1982, 1995

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2011/2015

Schutzumschlag:

Peter-Andreas Hassiepen, München

Umschlagmotiv © 1999, Iletisim Yayinlari

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

ERSTER TEIL

  1   Am Morgen

  2   Muslim und Kaufmann

  3   Die Jungtürken

  4   Die Apotheke

  5   Das alte Viertel

  6   Das Mittagessen

  7   Im Paşa-Konak

  8   Über Zeit, Familie und Leben

  9   Ein Steinhaus in Nişantaşı

10   Der Wunsch des Kranken

11   Intelligente und Dumme

12   Nacht und Leben

ZWEITER TEIL

  1   Ein junger Eroberer in Istanbul

  2   Das Feiertagsessen

  3   Am Nachmittag

  4   Alte Freunde

  5   Noch ein Heim

  6   Was soll man mit seinem Leben anfangen?

  7   Vor dem Aufbruch

  8   Die Frauen in Beyoğlu

  9   Ein Tag geht zu Ende

10   Ein Brief aus dem Osten

11   Ein Sonntag in Beşiktaş

12   Onkel und Neffe

13   Um die Hand anhalten

14   An der frischen Luft

15   Der Dichteringenieur bei der Verlobung

16   Ehrgeizig und verlobt

17   Ein halbes Jahrhundert Kaufmannsleben

18   Die Beerdigung

19   Die Hitze und das Baby

20   Warum sind wir so?

21   Eine Kneipe in Beşiktaş

22   Tagebuch I

23   Wieder ein Bayram

24   Der Sturm

25   Das Zimmer von Rastignac

26   Der Morgen des ersten Tages

27   Der Dichter in Beyoğlu

28   Zum Zeitvertreib

29   Tagebuch II

30   Zwei Musikliebhaber

31   Ein Erwachen?

32   Kaufmannssorgen

33   Die Stimme des Herzens

34   Das Festbankett

35   Immer die gleichen öden Diskussionen

36   Auf nach Heybeliada

37   Die Gleise werden verlegt

38   Der letzte Abend

39   Herbst

40   Ankara

41   Eine Tochter der Republik

42   Im Haus des Abgeordneten

43   Der Staat

44   Hoffnungen eines Abgeordneten

45   Ein Reformschriftsteller

46   Unter Nationalisten

47   Überdruss

48   Ein verzagter Abgeordneter

49   Familie, Moral etc.

50   Wieder in Istanbul

51   Die Reise

52   Immer noch auf der Suche

53   Mit den jungen Leuten zusammen

54   Zeit und echter Mensch

55   Die Beschneidung

56   Das Verhör

57   Die Quallen

58   Sonntag

59   Zusammenbruch?

60   Tagebuch III

61   Ein Spektakel

62   Alles gut

DRITTER TEIL

  1   Ein Tag beginnt

  2   Das Apartmenthaus in Nişantaşı

  3   Die Schwester

  4   Ein Freund

  5   Das Telefon

  6   Das Essen

  7   Zusammen

  8   Das alte Tagebuch

  9   Leben – Kunst

10   Ein Lob auf das Dahinfließen der Zeit

Nachwort

ERSTER TEIL

1

AM MORGEN

»Der Nachthemdärmel, mein Rücken … Die ganze Klasse … Und die Laken … Herrje, das ganze Bett ist klatschnass! Alles ist nass, und ich bin aufgewacht!« dachte Cevdet. Es war wirklich alles nass, so wie er es gerade geträumt hatte. Grummelnd drehte er sich im Bett herum und dachte erschrocken an seinen Traum zurück, in dem er in der Knabenschule von Kula vor seinem Lehrer gesessen hatte. Dann fuhr er von seinem nassgeschwitzten Kopfkissen hoch. »Genau, wir saßen vor dem Lehrer, und in der ganzen Schule stand uns das Wasser bis zu den Knien. Aber warum? Ach ja, weil es von der Decke herabtropfte! Das salzige Wasser lief mir über Stirn und Brust und verteilte sich im ganzen Raum. Der Lehrer zeigte mit seinem Stock auf mich und rief: Alles nur wegen diesem Cevdet!« Ihn schauderte bei der Vorstellung, wie der Lehrer ihn so anprangerte und die anderen Schüler sich zu ihm umdrehten und ihn vorwurfsvoll ansahen, insbesondere sein zwei Jahre älterer Bruder, dessen Blick voller Verachtung war. Doch der Lehrer, der manchmal die gesamte Klasse durchprügelte, ohne mit der Wimper zu zucken, und der einen Schüler mit einer einzigen Ohrfeige bewusstlos schlagen konnte, kam merkwürdigerweise doch nicht, um ihn wegen des herabtropfenden Wassers zu bestrafen. »Ich war anders als die anderen, ich war allein, und sie verachteten mich«, dachte Cevdet. »Aber keiner wagte es, mich auch nur anzurühren, obwohl doch die ganze Schule mit Wasser voll lief!« Plötzlich wirkte der Alptraum nur noch wie eine nette, harmlose Erinnerung. »Ich war allein und anders als sie, aber sie trauten sich nicht, mich zu bestrafen.« Beim Aufstehen fiel ihm ein, wie er einmal aufs Schuldach gestiegen war und dabei Ziegel zerbrochen hatte. »Wie alt war ich damals? Sieben? Jetzt bin ich siebenunddreißig und verlobt, und bald werde ich heiraten.« Ganz aufgeregt wurde er beim Gedanken an seine Verlobte. »Ja, bald heirate ich, und dann … Aber was trödele ich da herum! Es ist bestimmt schon spät!« Er eilte zum Fenster und sah zwischen den Vorhängen durch. Es herrschte ein seltsam nebliges Licht draußen. Die Sonne war jedenfalls schon aufgegangen. Kopfschüttelnd besann er sich darauf, dass er ja neuerdings eine Uhr hatte: Nach alttürkischer Zeit war es halb eins. »Jetzt aber Beeilung!« brummte er und eilte auf die Toilette.

Während er sich wusch, verbesserte sich seine Laune. Beim Rasieren fiel ihm der Traum wieder ein. Ihm stand ein Besuch im Konak von Şükrü Paşa bevor, weshalb er den neuen, blitzsauberen Anzug anlegte, ein Hemd mit gestärktem Kragen und eine Krawatte, die ihm besonders elegant erschien. Schließlich setzte er den Fes auf, den er für die Verlobungsfeier eigens hatte aufbügeln lassen. Er besah sich in dem kleinen Tischspiegel, doch obwohl der Anblick ihn überzeugte, legte sich ein leichter Schatten über seine Seele. Dass er so aufgeregt war, wenn er in schicker Kleidung zum Konak seiner Verlobten fuhr, musste doch etwas Lächerliches an sich haben. Ein wenig wehmütig schlug er die Vorhänge zurück. Die Minarette der Şehzadebaşı-Moschee waren in Nebel gehüllt, aber die Kuppel war gut sichtbar. Die Laube im Garten nebenan erschien ihm grüner denn je. »Es wird wohl heiß werden heute.« Unter der Laube leckte sich ausgiebig eine Katze. Ihm fiel etwas ein, und er streckte den Kopf zum Fenster hinaus: Ja, das Coupé stand schon vor dem Haus. Die Pferde wedelten mit dem Schwanz, und der Kutscher rauchte, während er auf Cevdet wartete. Dieser nahm seine Zigaretten, sein Feuerzeug und die Brieftasche an sich, steckte seine Uhr nach einem letzten Blick darauf ein und verließ das Zimmer.

Die Treppe ging er so polternd hinunter wie immer. Und wie immer stand daraufhin gleich Zeliha am Treppenabsatz und eröffnete ihm lächelnd, sein Frühstück stehe bereit.

Cevdet versuchte, sich mit einem hingebrummten »Keine Zeit, muss sofort weg!« an der alten Frau vorbeizudrücken, aber sie protestierte: »Aber doch nicht ungefrühstückt!« Und als sie seine unentschlossene Miene sah, lief sie gleich in die Küche.

Cevdet sah ihr verzagt hinterher, aber davonstehlen konnte er sich nicht mehr. Er überlegte, wie er die Frau nach seiner Heirat loswerden könnte. Sie war eine weitläufige Verwandte von ihm, und die beiden lebten zusammen wie Mutter und Sohn. Als er neun Jahre zuvor das Haus in Haseki gekauft hatte, hatte er sie zu sich genommen, in der Annahme, sie würde sich weniger in sein Leben einmischen als die viel näheren Verwandten, die er in der Gegend hatte. Zeliha war arm und alleinstehend, und dafür, dass sie Cevdet den Haushalt besorgte und für ihn kochte, durfte sie in dem kleinen vierzimmrigen Holzhaus das Erdgeschoss bewohnen. Cevdet sah wieder einmal, wie wohnlich sie sich dort eingerichtet hatte. »Wie soll ich sie nur dazu bewegen, dass sie von mir wegzieht?« Nach der Heirat konnte sie nicht bei ihm bleiben, denn in dem Eheleben, dass er sich ausmalte, war für eine solche Frau kein Platz. So wie er sich die Sache vorstellte, musste er danach zum Hauspersonal ein distanziertes Verhältnis haben, und eine Art Mutter-Sohn-Beziehung ziemte sich da nicht mehr. Zeliha ahnte das wohl. Da sie über die bevorstehende Heirat und den Umzug auf die andere Seite des Goldenen Horns Bescheid wusste, war sie in letzter Zeit besonders eifrig um Cevdet bemüht. Nun kam sie mit einem Teller in der Hand aus der Küche geeilt.

»Einen Kaffee brauchst du doch auch, Junge. Warte, ich –«

»Ich habe wirklich keine Zeit!« unterbrach Cevdet sie. Lächelnd nahm er das Marmeladenbrot vom Teller, das ihn anstrahlte wie der junge Tag. Er lächelte auch wieder, als er der Frau dafür dankte. Beim Hinausgehen aber wurde ihm schmerzlich bewusst, dass es kein liebevolles Lächeln war, sondern ein mitleidiges, weil er sich von der Frau ja trennen musste. Um nicht grußlos zu gehen, drehte er sich noch einmal um und sagte: »Es kann spät werden heute abend«, aber sein Gewissen wurde dadurch nicht leichter.

Als er auf das Coupé zuging, fiel ihm der Traum wieder ein: »Ich bin eben anders als die anderen, aber keiner bestraft mich dafür!« Das brachte ihn wieder ins Lot. Kaum aber erblickte er den Kutscher, war es um seine gute Laune schon wieder geschehen. Wie alle Kutscher, die über das Privatleben ihrer Kunden gut auf dem laufenden sind, sah der Kerl ihn nämlich an, als wollte er sagen: »Tja, Freundchen, ich weiß ganz genau, was du den ganzen Tag so treibst und was in dir vorgeht!« Cevdet lächelte auch ihn an und fragte ihn nach seinem Befinden. Dann hieß er ihn in sein Geschäft in Sirkeci fahren, setzte sich in die Kutsche und biss in sein Marmeladenbrot.

Das Coupé rüttelte zwischen den Holzhäusern von Vefa hindurch. Das Fahrzeug, das in so einem Viertel ganz besonders auffiel, hatte Cevdet für drei Monate angemietet, da es ihm für die Verlobungs- und die Hochzeitsfeier standesgemäß erschien. Als er zwei Monate zuvor erfahren hatte, dass Şükrü Paşa einwilligte, ihm die Hand seiner Tochter zu geben, war er sogleich nach Feriköy geeilt, wo so stattliche Kutschen vermietet wurden, und mit einem Vermieter über drei Monate handelseinig geworden. Beim Haus des Paşas wollte er nicht mit einer gewöhnlichen Mietskutsche vorfahren, aber der Kauf eines Coupés war mit seinen kaufmännischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, denn zusammen mit der Entlohnung des Kutschers und den Stallkosten hätte er sich übernommen. Er biss wieder von seinem Brot ab. Er liebte Marmelade. »Aber diesen Wagen hier länger als drei Monate zu behalten wäre auch verrückt!« dachte er. »Bei der Miete! Langfristig wäre ein Kauf natürlich doch besser … Aber dann müsste ich mich bei den Ausgaben im Laden einschränken. Was soll ich also tun? Diese Hochzeit kommt mich teuer zu stehen, aber das ist nun mal alles notwendig.« Er blühte wieder auf bei dem Gedanken an seine Heirat, an das neue Leben, von dem er jahrelang geträumt hatte, an das Haus, das er kaufen würde, an die nun zu gründende Familie und an seine Verlobte, deren Gesicht er erst zweimal gesehen hatte. Ihm kam zwar in den Sinn, dass viele der Passanten ihn wohl verachteten, weil er mit einem so protzigen Gefährt unterwegs war, aber seiner guten Laune tat das keinen Abbruch. Wieder biss er in sein Brot. »Wenn mich so etwas bekümmern würde, wäre ich doch erst gar nicht Kaufmann geworden!« dachte er. »Und weil sie eben vor derlei zurückschrecken, trauen sich Muslime nicht, Handel zu treiben … Aber ich bin anders! Hm, und wenn meine Frau nun eine solche Kutsche will?« Wieder dachte er voller Genugtuung an seine Verlobte und an sein künftiges Leben. Es gefiel ihm, Nigân, die er doch erst zweimal gesehen hatte, in Gedanken als seine Frau zu bezeichnen. Der Weg führte nun abwärts, und sanft schaukelte die Kutsche hin und her. »Wenn mein Geschäft das hergibt, dann kaufe ich eben eine Kutsche, Liebling!« murmelte er und stopfte sich den letzten Bissen Brot in den Mund. Dann sah er auf seine Finger wie ein Kind, das plötzlich nichts mehr zu essen in der Hand hat. »Diese Heirat wird wohl alles verschlingen, was ich habe!«

Die Kutsche war an der Hohen Pforte vorbei fast bis an den Bosporus hinuntergefahren und nun in eine Seitengasse eingebogen. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und es herrschte wieder grelles Sommerlicht. Cevdet schwitzte in seiner Kutsche. »Es wird wohl furchtbar heiß! Was werde ich heute anfangen? Ich muss so schnell wie möglich das Geschäftliche erledigen, und dann schaue ich vielleicht bei meinem Bruder vorbei.« Der Gedanke an seinen Bruder, der in einer Pension in Beyoğlu krank daniederlag, löste bei Cevdet Unbehagen aus. »Und mit Fuat wollte ich zu Mittag essen. Er ist ja aus Saloniki zurück. Und am Nachmittag fahre ich nach Nişantaşı, zum Konak von Şükrü Paşa!« Er war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, seine Verlobte vielleicht ein drittes Mal zu Gesicht zu bekommen. »Dann sehe ich mir das Haus an, das der Makler gefunden hat.« Cevdet hatte beschlossen, mit seiner Frau nach Nişantaşı oder Şişli zu ziehen. »Dann fahre ich in den Laden zurück. Viel werde ich mich dort nicht aufhalten können … Was ist eigentlich für ein Tag heute? Montag!« An den Fingern zählte er ab: Vor drei Tagen war auf Sultan Abdülhamit beim Freitagsgebet ein Attentat verübt worden, und genau zwei Wochen zuvor hatte seine Verlobung stattgefunden. »Seit siebzehn Tagen bin ich verlobt!« dachte er. Die Kutsche hielt vor dem Laden.

Als Cevdet den Laden erblickte, wurde sein durch das Geschüttle etwas eingeschläferter Geschäftsgeist sogleich wieder wach. »Die Bestellung für die Farben muss noch geschrieben werden. An wen werde ich wohl die defekten Lampen los? Wenn Eskinazi seine Schulden nicht heute zurückzahlt, dann sage ich ihm …« Er unterbrach sich und sprach beim Übertreten der Schwelle die Eröffnungsformel des Korans. »Ich werde von Eskinazi zweihundert Lira mehr verlangen, und wenn er darauf eingeht, stunde ich ihm das Geld einen Monat länger.« Streng grüßte er einen der beiden Lehrlinge. Den anderen, den er gerne mochte, weil er fleißig und genügsam war, lächelte er an. Dann wandte er sich wieder dem ersten, allzu verträumten Lehrling zu.

»Bestell mir meinen Kaffee! Und eine Pastete dazu!«

Dann ging er wie jeden Morgen eiligen, nervösen Schrittes auf seinen Schreibtisch zu und nahm daran Platz. Er warf rasche Blicke um sich, wie auf der Suche nach irgendeinem Vergehen, das zu ahnden wäre. Dann sah er, dass wie immer seine Zeitung auf dem Schreibtisch lag, der Moniteur d’Orient, den alle Kaufleute abonniert hatten, weil er gut über das Geschäftsleben informierte, und der überdies von Nutzen für das Französische war. Er kam etwas zur Ruhe. Gewohnheitsmäßig blickte er zuerst auf das Datum: 24 Juillet 1905; nach dem alten Kalender war das der 11. Juli 1321. Dann ging er die Schlagzeilen durch. Er erfuhr das Neueste über das Attentat auf den Sultan. Dann kam etwas über den Russisch-Japanischen Krieg, aber das interessierte ihn nicht weiter. So blätterte er um zu den Börsennachrichten und fand dort auch zwei Meldungen vor, die für ihn von Bedeutung waren. Im Anzeigenteil erfuhr er, dass der Eisenhändler Dimitri sein Lager auflöste; er musste also in Schwierigkeiten stecken. Panayot, der wie Cevdet mit elektrischen Geräten und Eisenwaren handelte, machte Reklame für seine neueste Ware. Kurz erwog Cevdet, selbst so eine Anzeige aufzugeben, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder. Als er auf die Annonce einer Theatertruppe stieß, die ihr neues Programm im Odeon ankündigte, musste er wieder an seinen schwerkranken Bruder denken, dessen Freundin eine armenische Schauspielerin war. Um seinen Bruder zu vergessen, aß er die Pastete, die inzwischen gebracht worden war, trank seinen Kaffee und nahm sich schwerfällig lesend einen neuen Artikel vor. Wie jedesmal bei der Lektüre der Zeitung seufzte er über die vielen französischen Wörter, die er nicht kannte. Und wie jedesmal dachte er an all die Mühe, die er aufs Französischlernen verwendet hatte, und an das Geld, das ihn sein Privatlehrer gekostet hatte. Zusammen mit ihm hatte er im Lehrbuch das in einfachen Sätzen geschilderte Alltagsleben einer französischen Familie gelesen und sich dabei immer selbst nach einer solchen schönen Familie und einem solchen Haus gesehnt. Daran erinnerte er sich gern, und mit seinem von der ersten Zigarette des Tages leicht umnebelten Geist stellte er sich wieder vor, dass auch er bald ein Leben führen würde wie jene französische Familie. Als er den Artikel zur Hälfte durchhatte, kam er zu dem Schluss, zuviel Zeit damit zu verlieren. Daher legte er den Moniteur beiseite und stand auf. Die Pastete war verzehrt, der Kaffee getrunken, die erste Zigarette geraucht, und auch aufs Nachrichtenlesen war die nötige Zeit verwandt worden. Nun fühlte er in sich genügend Kraft, Anspannung und inneres Gleichgewicht, um sich der Arbeit des Tages zu widmen. Sein Rechnen und Sorgen waberte nun nicht mehr nur so dahin wie in den ersten Minuten nach dem Erwachen, und es loderte auch nicht verzehrend wie soeben noch, sondern nun brannte es, wie das im Kopf eines Kaufmanns nun mal zu sein hatte: wie ein starkes, doch unter Kontrolle gebrachtes Feuer. »So, als erstes gehe ich mit Sadık noch einmal die Bücher durch!«

Sadık war Cevdets Buchhalter, zehn Jahre jünger als er, doch wirkte er, als seien sie gleichaltrig. Cevdet ging zu ihm in das Zwischenstockwerk und unterhielt sich eine Weile mit ihm. Als er feststellte, dass sich zwischen den bis Donnerstag eingehenden Geldern und den fällig werdenden Krediten eine kleine Lücke auftat, beschloss er, von Eskinazi seine Schulden einzufordern.

Dann ging der zu den Verkäufern hinunter und sprach mit dem Albaner mittleren Alters, der dort die Leitung innehatte. Cevdet zeigte auf einen mit Farbtöpfen, Lampen und allerlei Zeug vollgestellten Ladentisch und erklärte, die Kunden hätten es gerne, wenn alles einen aufgeräumten Eindruck mache. Der Albaner wusste gar nicht, wie ihm geschah, und versuchte sein Ordnungsprinzip zu verteidigen. Daraufhin stellte sich Cevdet selbst hinter den Ladentisch, räumte strengen Blickes dieses und jenes auf und bediente sogar um des Vorbilds willen einen Kunden. Nachdem er sich sicher war, die Angestellten mit diesem unprätentiösen Gebaren hinreichend beeindruckt und beschämt zu haben, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, von dem er alles überblicken konnte.

Er machte sich daran, bezüglich einer Farbbestellung einen Brief zu schreiben, und war auch gleich, rapide und routiniert, bei der Hälfte angekommen, als ihm wieder einmal einfiel, wie angebracht es doch wäre, für dergleichen einen Schreiber anzustellen. Doch hätte das schon wieder eine neue Ausgabe bedeutet. »Wo mich doch diese Heirat schon so viel kostet!« Da kam der Wächter des etwa zweihundert Schritt entfernten Firmenlagers und meldete, die riesigen Kisten mit den neuen Lampen seien einfach nicht ins Lager hineinzubekommen, und er sorge sich, dass etwas kaputtgehen könne. Verärgert stand Cevdet auf. Er ging auf und ab und ordnete schließlich an, die Kisten alle öffnen und leeren zu lassen. Das war zwar höchst unpraktisch, da die Lampen anschließend nach Anatolien gesandt werden sollten, aber anders war es nun einmal nicht zu bewerkstelligen. Als Cevdet den Wächter wieder los war, schrieb er seinen Brief zu Ende und lamentierte dabei innerlich, wie sehr es ihm doch an Zeit und an Geld mangele. Wem sollte er nur die defekten Lampen verkaufen? Am besten war es wohl, sich darüber mit Fuat zu beraten, seinem Kaufmannskollegen, auf dessen Klugheit und Freundschaft er viel gab. Hastig sah er auf die Uhr: bald halb zwei. Er verließ den Laden und machte sich auf den Weg zu Eskinazi.

2

MUSLIM UND KAUFMANN

Kaum war er aus dem Laden, stellte er erfreut fest, dass die ersten Hürden des Tages schon genommen waren, noch dazu ohne größere Kraftanstrengung, und dass alles seinen gewohnten Gang ging. Unbemerkt von seinem Kutscher, der unter einem Baum mit einem Kollegen ein Schwätzchen hielt, ging er in Richtung Sultanhamam. Der Laden Eskinazis war kaum sechshundert Schritt entfernt. Unterwegs überlegte er, wie er Eskinazi die Sache darlegen und wieviel mehr er für eine Stundung der Schulden verlangen sollte. Dabei grüßte er immer wieder zu anderen Kaufleuten hinüber, und diese gaben ihm mit ihren Blicken und ihrem Lächeln zu verstehen, wie interessiert und verwundert sie zur Kenntnis nahmen, dass sich da ein Muslim unter sie gemischt hatte. Die Blicke besagten: »Schau, schau, da haben wir jetzt einen Kaufmann mit Fes auf dem Kopf! Deinen Mut und deine Entschlossenheit können wir nur bewundern!« Und so wie Cevdet grüßend zurückblickte, hieß das: »Ich weiß schon, was ihr über mich denkt, und ich weiß auch, von welchem Schlag ich bin!« Kurz vor Eskinazis Laden rief ihm einer der vorwiegend jüdischen und griechischen Kaufleute aus seinem Geschäft heraus zu: »Oh, Lampen-Cevdet! Wie elegant Sie heute sind!«

Um zu zeigen, dass er Sinn für Humor hatte, gab Cevdet zurück: »Elegant bin ich doch immer!« Errötend fiel ihm dann aber ein, warum er sich so feingemacht hatte.

Kaum hatte er den Laden betreten, in dem Eskinazi Baumaterial und Haushaltsartikel verkaufte, erkannte er an der legeren Atmosphäre und der Unbekümmertheit der Lehrlinge, dass der Chef nicht anwesend war, und er ärgerte sich. Einer der Lehrlinge erklärte ihm, wegen Nebels habe der Stadtdampfer von den Prinzeninseln her Verspätung. Cevdet fiel wieder ein, dass Eskinazi die Sommermonate auf Büyükada verbrachte. Er seufzte. Zwischen all den jüdischen, griechischen und armenischen Händlern fühlte er sich doch manchmal mutterseelenallein.

Er beschloss, nicht auf dem gleichen Weg zurückzugehen, sondern über die Hauptstraße. Die Betriebsamkeit dort würde ihn auf andere Gedanken bringen. »Dieses Außenseitertum setzt mir doch manchmal zu! Wie viele Muslime gibt es denn schon, die es so wie ich zum wohlhabenden Kaufmann gebracht haben? In ganz Sirkeci und Mahmutpaşa gibt es außer meinem Laden gerade mal das Stoffgeschäft von diesen Leuten aus Saloniki, den neuen Laden von Fuat und die Apotheke von Ethem Pertev. Und der erfolgreichste davon bin ich. Ich stehe allein da.« Er schwitzte in seiner warmen Kleidung. »In dem Traum war es genauso. Ich gegen alle anderen. Und meine Stirn war ganz nass.« Vergeblich kramte er nach einem Taschentuch. »Na ja, um so etwas wird sich bald meine Frau kümmern!« sinnierte er, doch selbst der Gedanke an seine Heirat und sein künftiges Familienleben war ihm jetzt kein rechter Trost. »Was habe ich getan, um so ganz anders zu sein als die anderen? Ich habe gearbeitet. Ständig gearbeitet, ohne an etwas anderes zu denken, mit nichts anderem im Sinn als der Vergrößerung meines Geschäfts!« Erfreut sah er an einer Ecke einen Saftverkäufer. »Und der Erfolg hat mir recht gegeben …« Er ließ sich ein Glas Saft geben und trank es hastig aus. Das tat ihm gut. Es war doch alles nur wegen dieser fürchterlichen Hitze. Da sprach ihn jemand an.

»Na, Cevdet, wie geht’s denn so?«

Es war Doktor Tarık, ein Freund seines Bruders aus der Zeit der militärischen Medizinhochschule. Wie alle Freunde seines Bruders hatte er Cevdet wegen der großen Ähnlichkeit zuerst mit Nusret verwechselt und sah nun eher enttäuscht drein. Er fragte Cevdet nach seinem Bruder; ob er denn genesen sei von seiner Krankheit. Nachdem er erfahren hatte, was ihn interessierte, sagte er mit unverhohlen herablassendem Lächeln: »Und was treibst du so? Immer noch Kaufmann, was?« Und mit einem hingeworfenen Abschiedsgruß verschwand er in dem Menschengewimmel von Sirkeci.

»Kaufmann! Ja, Kaufmann!« dachte Cevdet und ging weiter in Richtung Laden. »Was hätte ich denn sonst machen sollen? Militärarzt so wie er konnte ich ja nicht werden …« Er erinnerte sich an seine Kindheit und seine frühe Jugend. Sein Vater war ein kleiner Beamter in Kula gewesen. Cevdet hatte die Knabenschule besucht, von der er in der Nacht geträumt hatte. Dann wurde der Vater nach Akhisar versetzt, ein wegen seiner Lage an der Eisenbahn aufblühendes Städtchen. Dort ging Cevdet auf die höhere Schule. Den Sommer über trieb er sich allein in den Gärten herum, in denen kernlose Weintrauben und Feigen angebaut wurden. Die Lehrer sagten, sowohl Cevdet als auch Nusret seien sehr begabt. Ihr Vater Osman führte das auf die Intelligenz der Mutter zurück. Er liebte seine kluge Frau sehr, und als sie schwer erkrankte, ersuchte er wegen der besseren Behandlungsmöglichkeiten um eine Versetzung nach Istanbul. Dem Gesuch wurde nicht stattgegeben, worauf der Vater den Dienst quittierte und mit der Familie nach Istanbul zog. Er brachte seine Frau in einem Krankenhaus unter und machte in Haseki eine Holzhandlung auf. Ein Jahr später ging Nusret auf die militärische Medizinhochschule, und so musste ein halbes Jahr darauf, als nicht die Mutter, sondern der Vater plötzlich starb, Cevdet sich sowohl um die Holzhandlung als auch um die immer noch kranke Mutter kümmern. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr betrieb er das Holzgeschäft weiter in Haseki, dann verlegte er sein Lager nach Aksaray, wo er mit Fünfundzwanzig ein kleines Eisenwarengeschäft eröffnete, mit dem er ein Jahr später nach Sirkeci umzog. Im gleichen Jahr starb die Mutter, und Nusret überließ seinen Anteil an der Erbschaft Cevdet und flüchtete sich nach Paris. Im Jahr darauf brach Cevdet die Beziehungen zu seinen Verwandten in Haseki ab und kaufte ein Haus in Vefa. »Militärarzt wie er konnte ich ja schließlich nicht werden!« dachte er wieder. »Mir tat sich der Weg des Kaufmanns auf, und den bin ich stur gegangen und habe dabei vollbracht, was keiner sich sonst traute. Hätte es mir an Mut gefehlt, so wäre ich immer noch ein kleiner Holzhändler in Haseki!« Beim bloßen Gedanken an seine Verwandten und Bekannten in Haseki und an das ganze Leben in dem Viertel wurde ihm ganz blümerant. »Ich bin vor ihnen weggelaufen. Mit ihnen zusammen wäre ein Kaufmannsleben gar nicht möglich gewesen.« Von weitem sah er seinen Laden. Das Coupé stand unter einem Baum. »Mein Laden!« murmelte er. Seinen größten Erfolg sah er gar nicht einmal im Wechsel vom Holz- zum Eisenwarenhandel, sondern in seinem Einstieg ins Lampengeschäft, den er vor fünf Jahren vollzogen hatte. Seit er das Privileg innehatte, die Stadtverwaltung von Istanbul und die Dampfschiffahrtsgesellschaft als Alleinlieferant mit Lampen zu versorgen, hieß er in Geschäftskreisen nur noch »Lampen-Cevdet«. Der Gedanke daran erfüllte ihn wieder mit Stolz. Seine Firma war seither auf das Vierfache angewachsen. Dass er in der Stadtverwaltung hatte jedermann schmieren müssen, gab der Sache zwar einen unangenehmen Beigeschmack, schmälerte aber keineswegs seinen Erfolg. Schmunzelnd erinnerte er sich wieder an seinen Traum: »Tja, was soll ich machen, mich bestraft eben keiner …« Ihm fiel auch wieder Zeliha ein, die ihn am Morgen auf dem Treppenabsatz abgepasst hatte: »Was soll ich machen, was soll ich machen, so ist eben das Leben!« Er fühlte sich von einem unsichtbaren Panzer umgeben, der ihn unangreifbar machte. Da sah er das Ladenschild über der Tür:

CEVDET UND SÖHNE

EINFUHR – AUSFUHR – EISENWAREN

Mit seiner Ausfuhrtätigkeit hatte er noch nicht begonnen, und Söhne hatte er auch noch keine, aber beides würde noch werden. Als er über die Schwelle trat, dachte er: »Das Geld von Eskinazi habe ich jetzt doch nicht! Ich muss noch mal mit Sadık die Konten durchgehen. Und überlegen, was ich mit den defekten Lampen anfangen soll … Wie spät ist es eigentlich? Zu nichts hat man Zeit! Im Lager muss ich auch mal nach dem Rechten sehen. Nicht, dass die alles kaputtschlagen … Was will denn der Knirps da?«

Ein kleiner Junge hielt ihm einen Briefumschlag hin. »Das schickte Ihnen Mademoiselle Çuhacıyan!«

»Mademoiselle Çuhacıyan?« dachte er. Erst wusste er gar nicht, wer das sein sollte. Irgend etwas ließ ihn erröten. Er gab dem Jungen ein Trinkgeld. Da fiel ihm wieder ein, dass es sich um die armenische Freundin seines Bruders handelte. Aufgeregt riss er den Umschlag auf und las:

»Lieber Cevdet, Ihr Bruder Nusret ist sehr krank. Gestern abend ist er in Ohnmacht gefallen. Heute morgen ist er einigermaßen bei sich, aber in sehr schlechter Verfassung. Wenn Sie bald kommen und nach ihm sehen würden, wäre das eine große Freude für ihn. Sagen Sie ihm aber bitte nicht, dass ich Ihnen diesen Brief geschrieben habe …«

»Sehr krank, jaja, sehr krank!« murmelte Cevdet. »Bei meiner Mutter hieß es das auch immer, aber gestorben ist sie deshalb noch lange nicht.« Er steckte den Umschlag ein. »Die wollen mir doch nur wieder Geld abknöpfen … Dabei habe ich überhaupt keine Zeit!« Als er sah, wie der auf eine Antwort wartende Junge ihn anstarrte, schämte er sich plötzlich. »Vielleicht geht es ihm wirklich ganz schlecht? Was fährt mir nur alles durch den Kopf? Was bin ich für ein Mensch geworden?« Nervös ging er im Laden auf und ab. »Mein Bruder liegt im Sterben.«

Er gab dem Jungen noch mal ein Trinkgeld und schickte ihn fort. Dann besprach er sich mit dem albanischen Verkäufer und mit Sadık. Er merkte, dass er konfuses Zeug redete und die beiden sich wunderten. »Mein Bruder liegt im Sterben!« dachte er. Er war aufgeregter, als er das von sich erwartet hätte. »Ich muss mich beruhigen.« Er stieg in das Coupé und wies den Kutscher an, nach Beyoğlu zu fahren.

An der Galatabrücke hielten sie an, und der Kutscher entrichtete die Mautgebühr. An der zum Goldenen Horn gewandten Seite der Brücke plärrte wie immer der Limonadenverkäufer. Um die Pfirsiche des Obstverkäufers daneben schwirrten Fliegen herum. In der Ferne, vor der Werft von Kasımpaşa, waren Schiffswracks, schief im Wasser liegende Kähne und verrostete Pontons zu sehen. Das Coupé fuhr wieder an. Der Morgennebel hatte sich gelichtet, und über der Brücke stand ein strahlender, nur von wenigen zaghaften Wölkchen punktierter Himmel. Ein Raddampfer, den Cevdet wiedererkannte, die Suhulet, fuhr vom Goldenen Horn aufs Marmarameer hinaus. Mitten auf dem Deck standen ein stattlich gebauter Mann mit einem breiten Hut und eine Frau mit unverschleiertem Gesicht, blickten aufs Meer und hielten dabei ihre beiden in Matrosenanzüge gekleideten kleinen Söhne an der Hand. »So eine Familie!« dachte Cevdet. Neben einem Mast standen zwei Männer mit Fes und beobachteten die Familie ebenfalls. »So eine Familie!« Lastträger mit Schulterhölzern eilten an Herren mit Fes und Krawatte vorbei. Ein anderes Dampfschiff, das Cevdet kannte, nämlich die Sahilbent, fuhr auf die Brücke zu. Kinder lehnten am Brückengeländer und sahen zu dem Schiff hinunter. In seinen ersten Monaten in Istanbul war Cevdet auch hierhergekommen und hatte sich am Meer und den Brücken satt gesehen, an den eleganten Kutschen und dem Gewimmel der Leute. Damals gab es noch keinen Kai in Sirkeci. »Damals … Vor zwanzig Jahren!« Als Cevdet einfiel, dass er zum erstenmal mit seinem Bruder hierhergekommen war, versetzte es ihm wieder einen Stich.

Er zog den Brief der Armenierin aus der Tasche und überflog ihn noch einmal. Er sollte Nusret gegenüber den Brief nicht erwähnen. Die Frau liebte seinen Bruder sehr, doch wenn sie noch an solche Kleinigkeiten dachte, konnte es nicht ganz so schlimm um ihn stehen. Cevdet schämte sich nun, dass er zuvor noch gemeint hatte, der Brief sei nur ein Trick, um ihm Geld zu entlocken. »Warum will sie dann, dass ich den Brief nicht erwähne? Weil mein Bruder dagegen war, mir Bescheid zu sagen!« Der Bruder war Cevdet nicht grün, ja verachtete ihn sogar wegen seiner Lebensführung und seiner Auffassungen. Dennoch nahm er Geld von ihm an, hätte ihn aber am liebsten dabei nicht sehen müssen, so dass er sich bei jedem ihrer Treffen furchtbar genierte und jedesmal auch Cevdet mit immer schlimmeren Beleidigungen in Verlegenheit zu bringen suchte. Da Cevdet nur allzugut wusste, wie schwer es ihnen fiel, sich gegenüberzusitzen, besuchte er seinen Bruder nur selten. Ihre Zusammenkünfte liefen meist so ab, dass sie sich erst ein wenig unterhielten und Cevdet dann irgendwann mahnte, wenn sein Bruder seine Krankheit endlich loswerden wolle, dann müsse er unbedingt ins Krankenhaus, worauf der Bruder stets entgegnete, Krankenhäuser seien nur dazu da, um die Leute schneller ins Grab zu bringen, wie er als Arzt schließlich am besten wisse, und dann schwiegen sie sich eine Weile an, bis Cevdet schließlich diskret einen Umschlag mit Geld daließ und ging. Cevdet las nun noch einmal den Brief der Armenierin und dachte dann darüber nach, inwiefern die Krankheit seines Bruders der ihrer verstorbenen Mutter glich.

Beide waren an Tuberkulose erkrankt. Bei der Mutter hatte sich das Leiden über viele Jahre hingezogen, in ständigem Auf und Ab. Beim Bruder hatte sich die Krankheit zum erstenmal vor drei Jahren bemerkbar gemacht, als er noch in Paris war. Die Mutter hatte fortwährend geklagt und ihrer Umgebung das Leben schwergemacht; darin war der Bruder ihr durchaus ähnlich. Sowohl Mutter als auch Bruder waren stark abgemagert; als Cevdet seinen Bruder zum erstenmal wiedergesehen hatte nach der Rückkehr aus Paris, war er regelrecht erschrocken. Während die Mutter ärztliche Anweisungen strikt befolgte, hatte der Bruder für Ärzte nichts als Spott übrig; schließlich war er selber einer. Darüber hinaus war er Alkoholiker und hatte außerdem die Angewohnheit, sich gegen alles und jedes aufzulehnen. »Er hat eben nie auf sich aufgepasst!« Cevdet liebte seinen Bruder und konnte ihm nicht richtig böse sein, selbst wenn jener ihn noch so sehr verachtete und schalt. Als Kinder spielten sie gemeinsam Verstecken und Himmel und Hölle. Zum Frühlingsfest fuhr man aufs Land und aß Lamm und Helva. Die Mädchen teilten sich in zwei Gruppen auf und spielten »Brautabholen«, und dazu sangen sie. Um Akhisar herum waren herrliche Gärten und Weinberge. »Ach, früher!« Das Coupé war oben beim Tunnel angelangt und fuhr nun auf Galatasaray zu. Vor dem Optikergeschäft Verdoux blieb es plötzlich stehen. Cevdet beugte sich hinaus. Weiter vorne war ein Landauer umgekippt und blockierte die Fahrbahn. Resigniert schaute sich Cevdet um, las die Ladenschilder und beobachtete die Leute.

Aus dem Friseurladen des berühmten Petro kam gerade ein Mann mit Hut heraus. Zwei Christinnen standen vor dem Schaufenster von Jean Botter, über den es hieß, er sei der Schneider des Kronprinzen Reşat. Bei Decugis, der mit Silber und Kristallwaren handelte, glänzte es nur so aus dem Laden heraus. Nicht weit davon war die Konditorei Lebon. Als Cevdet das Schild des Gemischtwarenhändlers Dimitrokopulo und damit eines weiteren Nichtmuslimen sah, überkam ihn wieder das Einsamkeitsgefühl, das ihn schon am Morgen geplagt hatte. Um davon loszukommen, versuchte er sich wieder in Erinnerungen an die Kindheit zu flüchten, an die Gärten von Akhisar. »Ich gehöre weder zu den einen noch zu den anderen!« Der Wagen fuhr wieder los. »Wenn es wenigstens meinem Bruder gutginge und er mich nicht so verachten würde … Was ist heute nur los mit mir?« Seinen Traum empfand er nun als ungutes Erlebnis. Unter all den Schulkameraden hatte ihn am bösesten sein Bruder angeschaut. »Warum sieht er nur so auf mich herab? Weil er sich für einen Jungtürken hält!«

Mit den Jungtürken war Nusret bei seinem ersten Parisaufenthalt in Kontakt gekommen. Er hatte zunächst die Medizinhochschule mit dem Rang eines Hauptmanns beendet und dann zwei Jahre lang im Krankenhaus Haydarpaşa als Assistenzarzt gearbeitet. Danach war er in diversen Krankenhäusern in Anatolien und Palästina im Einsatz gewesen. Dass er von Stelle zu Stelle gereicht wurde, war vermutlich seinem unverträglichen Charakter und seiner Aufmüpfigkeit geschuldet. In dem Jahr, in dem Cevdet in Aksaray seine Eisenwarenhandlung eröffnete, erwirkte Nusret seine Versetzung nach Istanbul und heiratete ein Mädchen, das die Verwandten in Haseki für ihn ausgesucht hatten. Zwei Jahre später verließ er die schwangere Frau und ging nach Paris. In der Familie und unter den Leuten, mit denen Cevdet nun nichts mehr zu tun hatte, wurde diese Flucht nach Paris auf die Lektüre der seltsamen Zeitschriften zurückgeführt, die Nusret ständig zu Hause las. Stundenlang habe er über der Zeitung Mizan gebrütet, in der der Historiker Murat sich schwelgend über die Französische Revolution ausließ. Nusret selbst führte als Grund für seine Reise wie selbstverständlich eine Fachausbildung zum Chirurgen an. Cevdet dagegen hatte mitbekommen, dass Nusret nicht einmal mit ansehen konnte, wie ein Huhn geschlachtet wurde, und vermutete daher, der Bruder habe es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Die alte innere Unruhe hatte ihn wohl dazu veranlasst, nach vier Jahren Paris wieder heimzukehren, sich scheiden zu lassen, mit dem Trinken anzufangen, auf den Sultan zu schimpfen, wieder nach Paris zu gehen, sich dort unter den Jungtürken so weit hervorzutun, wie das einem Alkoholiker eben möglich war, und danach, hungrig und arbeitslos, wieder nach Istanbul zurückzukehren. Doch obwohl Cevdet so dachte, war er sich durchaus bewusst, dass sein Bruder ihm in mancher Hinsicht überlegen war und den Leuten herzlicher und vertrauenswürdiger erschien. Das erklärte sich Cevdet damit, dass sein Bruder eben keinerlei Verantwortung auf sich nahm. Er selbst dagegen war ein ordentlicher Mensch, der nie davor zurückscheute, Verantwortung zu übernehmen, und sei es auch nur für sich selbst und sein eigenes Leben. Wenn er sich auch dieser Gedanken ein wenig schämte, so sagte er sich doch: »Ich trage Verantwortung, und ich habe ein Ziel im Leben! Er dagegen ist unbelehrbar und hat nichts anderes als Radau im Kopf!«

3

DIE JUNGTÜRKEN

Das Coupé bog in die Gasse ein, in dem sich das Hotel Savoie befand, und hielt ein paar Minuten später vor einem zweistöckigen alten Steinhaus. Cevdet wurde die Tür von der Pensionswirtin geöffnet, die ihm ehrerbietig Platz machte und dabei einen verstohlenen Blick auf die Kutsche draußen warf. Dann ging sie Cevdet auf der Treppe hinterher und nutzte die Gelegenheit, um über seinen Bruder herzuziehen: Er sei zu laut, belästige die anderen Pensionsgäste, und trotz seiner Krankheit führe er sich sittenwidrig auf. Cevdet, der immer Angst hatte, die Frau werde den Bruder aus der Pension hinauswerfen, nickte nur zu allem. »So schlimm kann es also nicht stehen um ihn!« dachte er. Rasch war er oben an der Tür und klopfte an.

Wie erwartet, machte die Armenierin auf. Wie jedesmal, wenn Cevdet sie sah, errötete er. Um das zu überspielen, tat er so, als fiele ihm gerade wieder etwas ein, und mit gedankenvoller Miene trat er ins Zimmer.

»Wie geht es ihm?« fragte er, und da sah er seinen Bruder auch schon halb aufrecht im Bett liegen. »Gar nichts hat er!« dachte Cevdet.

»Ach, du bist es? Wo kommst du denn her?« rief Nusret aus.

Cevdet versuchte aus der Stimme seines Bruders etwas über seinen Gesundheitszustand herauszuhören. Lächelnd ging er zu Nusret und hielt ihm die Wange zum Kuss hin.

»Tuberkulosekranke küsst man nicht!« sagte Nusret, aber er ließ es geschehen. Gnädig sozusagen.

»Wie geht es dir?« fragte Cevdet und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.

»Wie bist du auf den Gedanken gekommen, mich zu besuchen?« Misstrauisch sah Nusret seine Freundin an. »Hast du ihn etwa gerufen?«

»Wieso sollte ich das? Er ist von allein gekommen!« Sie hatte eine sanfte, melodische Stimme.

»Man muss mich doch zu einem Besuch bei dir nicht extra rufen!« sagte Cevdet. Schuldbewusst errötete er, wie so oft in Gegenwart seines Bruders. »Wie geht es dir? Was macht deine Krankheit?«

Nusret wandte sich verärgert zu seiner Freundin. »Du hast ihn herbestellt! Jetzt fragt er schon das zweitemal, wie es mir geht! Warum denn?«

»Nusret!« wimmerte Mari. Um ihn zu beruhigen, stand sie auf und ging zu ihm hin. Sie deckte ihn ordentlich zu und sagte dann zu Cevdet: »Es geht Ihrem Bruder nicht gut. Gestern abend stand es ganz schlecht um ihn, er ist sogar in Ohnmacht gefallen. Jetzt macht er einen guten Eindruck, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen!«

»Von wegen, überhaupt nichts fehlt mir!« rief Nusret. Er wollte noch weitersprechen, bekam aber keine Luft mehr und konnte nur noch mit vorwurfsvollen Blicken um sich werfen.

Cevdet fragte Mari: »Haben Sie keinen Arzt gerufen?«

»Es braucht keinen Arzt!« brachte Nusret mühsam heraus. »Gibt es einen besseren Arzt als mich? Ärzte sind Menschenfeinde!«

Mari sah Cevdet an, als wollte sie sagen: Was soll ich nur tun?

Cevdet dachte: »Dann muss eben ich einen Arzt rufen!« Unter Maris Blicken wurde er ganz verlegen. Die Frau war vielleicht nicht direkt eine Schönheit, aber doch hübsch. Er fragte sich, wie sein kranker und mittelloser Bruder, der dazu noch Alkoholiker war, an solch eine Frau herangekommen war. Er sah sich ein wenig in dem Zimmer um: Auf einem Tisch standen Waschschüsseln, Teller und Gläser, die sichtlich oft benutzt wurden und blitzblank waren. In einer Ecke lag ein Stapel frisch gebügelter Laken und Hemden. Wände, Fenster, Möbel, alles in dem Zimmer wirkte peinlich sauber. Man kam sich weniger in einem Krankenzimmer vor als vielmehr bei wohlhabenden Leuten, die in Erwartung von Gästen ihre Wohnung geputzt hatten. In Cevdet erwachte wieder das Sehnen nach einem Leben mit Frau und Kindern in einem gepflegten Heim, und als er die Armenierin ansah, wurde er sogleich wieder rot. Nusret atmete indessen schwer. Es war Cevdet, als füllten der Bruder und seine Freundin das Zimmer vollständig aus, so dass er selbst ganz überflüssig war. Beim Anblick der Armenierin ging ihm durch den Kopf, dass er nie im Leben die Liebe so einer Frau, ja überhaupt irgendeiner Frau würde gewinnen können.

»Hast du Ziya mal wiedergesehen?« fragte ihn sein Bruder. Ziya war Nusrets neunjähriger Sohn, den er bei Verwandten in Haseki untergebracht hatte.

»Nein«, erwiderte Cevdet verwundert. Sein Bruder wusste doch, dass er nie nach Haseki fuhr. Die Verbindung der beiden Brüder zu Haseki wurde einzig und allein durch Zeliha aufrechterhalten. In letzter Zeit hatte Cevdet von der Frau nichts Neues über Ziya gehört.

»Ich überlege, ob ich den Jungen nicht zu seiner Mutter aufs Dorf schicken soll«, sagte Nusret. »Aber nein, lieber nicht! Soll er besser hierbleiben. Hier lebt er zwar unter Dummköpfen, aber doch wenigstens in der Stadt, nicht wahr?« Er rang eine Weile nach Atem und sagte dann: »Wir haben alle beide den Kontakt zu unseren Verwandten in Haseki aufgegeben. Aber nicht aus dem gleichen Grund. Ich, weil ich ihnen nicht zur Last fallen wollte, und du, damit sie dir nicht zur Last fallen!« Wieder brauchte er Zeit, um zu Atem zu kommen. Dann blitzte in seinem Gesicht wieder jener vorwurfsvolle Ausdruck auf, den Cevdet nur allzugut kannte.

»Neulich sollst du mit einem Coupé gekommen sein! Ist das deins?«

»Es ist nur gemietet.«

»Gibt es jetzt solche Droschken?«

»Nein, ich habe das Coupé für drei Monate gemietet«, sagte Cevdet verlegen.

»Eine von diesen Angeberkutschen! So wie man einen Gehrock mietet, hast du also jetzt eine Kutsche gemietet, was?« Schmunzelnd sah er zu Mari.

Cevdet fühlte sich nichtswürdig.

Mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen sagte Nusret: »Bist ja so elegant heute!« Ohne Cevdets Antwort abzuwarten, sagte er zu Mari: »Ich habe dir doch erzählt, dass er sich mit der Tochter eines Paşas verlobt hat, oder?« Und zu Cevdet: »Wie ist sie denn so? Ist sie ein guter Mensch?«

»Ja!«

»Woher willst du das wissen? Wie oft habt ihr euch denn gesehen?«

Cevdet fühlte von Stirn und Nacken den Schweiß herunterlaufen und stand auf. Er kramte nach einem Taschentuch, bis ihm wieder einfiel, dass er keines einstecken hatte. Er setzte sich wieder. »Zweimal«, murmelte er.

»Zweimal also? Ihr habt euch zweimal gesehen, und da weißt du schon, dass sie ein guter Mensch ist! Habt ihr denn miteinander gesprochen dabei?«

Cevdet rutschte ungemütlich auf seinem Stuhl herum.

»Ob ihr miteinander gesprochen habt, frage ich dich! Woher weißt du, dass sie ein guter Mensch ist? Worüber habt ihr geredet?«

»Na ja, unterhalten haben wir uns.«

»Jetzt genier dich doch nicht so!« platzte es aus Nusret heraus. »Es ist doch nicht deine Schuld, wenn du nicht mit ihr geredet hast. Das kommt einfach von diesen verdammten Traditionen, von dem dreckigen, schlechten Leben hier! Weißt du, was ich damit meine? Weißt du, was das hier für eine Welt ist? Nichts weißt du und nickst einfach mit dem Kopf! Dir kann das gleiche passieren! Aber nein, du bist ja nicht so einer! Du hast bald eine Familie … Aber so eine Frau wie die da wird dich nie lieben!«

Gleichzeitig sahen beide zu Mari hin. Cevdet war nun klar, dass diese Scham und dieser Schweiß kein Ende nehmen würden, solange er vor seinem Bruder saß.

»Jetzt werd doch nicht ständig blass oder rot!« sagte Nusret. Er deutete auf Mari: »Sie gefällt dir, was? Du bist ja ganz hingerissen von ihr!«

»Nusret! Bitte!« rief Mari, aber besonders verlegen schien sie nicht zu sein. Sie strahlte einen gelassenen Stolz aus.

»Du gefällst ihm wirklich. Er ist ganz fasziniert!« sagte Nusret lächelnd zu Mari. »Weil du ihm so europäisch vorkommst. Mein Bruder bewundert nämlich alles, was aus Europa kommt. Mit einer Ausnahme …« Er hielt inne, als suchte er das richtige Wort. »Mit Ausnahme der Revolution!« Er drehte sich zu Cevdet um. »Weißt du, was Revolution bedeutet? So eine richtige Revolution mit Blutvergießen und Guillotine? Ach, was sollst du davon schon wissen! Das einzige, was du kennst und liebst, ist doch nur …« Er sprach es nicht aus, sei es, weil er keine Luft mehr bekam, oder weil er nicht so deutlich werden wollte. Dann aber rieb er in bezeichnender Weise Zeigefinger und Daumen aneinander.

Cevdet hielt es nicht mehr aus. Es war schlimmer als in seinem Traum. Er stand auf, tat zwei taumelnde Schritte auf seinen Bruder zu und wimmerte: »Nusret, ich liebe dich doch! Was ist denn los mit uns beiden?«

Zum erstenmal seit Jahren widerfuhr ihnen so etwas. Cevdet war alles unendlich peinlich. Lächelnd blickte er Mari an. »Warum habe ich jetzt das gemacht?« dachte er dann. »Mein Gott, wie ich schwitze!« Es war wirklich schlimmer als im Traum.

Da mühte sich Nusret, seinen Oberkörper aufzurichten, fiel aber sogleich zurück auf das Kissen. Als er es noch einmal versuchte, bekam er einen Hustenanfall. Seiner Kehle und seinen Lungen entfuhr ein entsetzliches Röcheln. Ohne etwas tun zu können, sah Cevdet voller Schreck und Scham dabei zu, wie sein Bruder sich wand. Mari setzte sich neben Nusret und hielt ihn an den Schultern. Um nur irgend etwas zu tun, beschloss Cevdet, das Fenster aufzumachen. Da kam sein Bruder gerade wieder etwas zur Ruhe.

»Nein, mach nicht auf!« rief er Cevdet zu. »Ich will nicht, dass der ganze Dreck hier hereinkommt! Die niederträchtige, elende Luft da draußen und die furchtbare, despotische Dunkelheit sollen mir nicht ins Zimmer herein!« Er redete nun wie in Trance. »Niemand macht das Fenster auf! Solange nicht meine Heimat vor dem Dunkel errettet wird wie Frankreich und Sultan Abdülhamit stürzt und alles hell und sauber und ehrlich ist, macht mir niemand dieses Fenster auf!« Wieder bekam er einen Hustenanfall und schlotterte am ganzen Leib.

Cevdet fiel in seiner Verlegenheit nichts anderes ein, als seinem Bruder das Kopfkissen aufzuschütteln und den zu Boden gerutschten Bettzipfel aufzuheben. Da raunte ihm Mari ganz aufgeregt zu: »Ein Arzt! Holen Sie uns bitte einen Arzt! Ich kann es nicht, weil er mich nicht lässt!«

»Gut!« flüsterte Cevdet. Dann schlich er sich schnell aus dem Zimmer, um seinem hustenden Bruder nicht noch einmal in die Augen sehen zu müssen. Kaum war die Tür hinter ihm zu, hörte er seinen Bruder rufen: »Wo will er denn hin? Etwa einen Arzt holen? Was soll ein Arzt da ausrichten? Ich brauche keinen Arzt!«

4

DIE APOTHEKE

Draußen auf der Straße dachte Cevdet: »Er stirbt! Wenn nicht heute, dann morgen oder spätestens in ein paar Tagen!« Er erschrak über seine Gedanken und versuchte sich zu beruhigen. »Vielleicht ist es ja auch gar nicht so schlimm. Wie oft haben wir solche Krisen bei unserer Mutter durchgemacht!« Der Kutscher stand rauchend da und musterte ihn mit typischem Kutscherblick. »Aber mein Bruder weiß, dass er bald stirbt. Deshalb sagt er ja so furchtbare Sachen!« Er wollte an die beschämende Szene nicht mehr zurückdenken. »Wo finde ich jetzt nur einen Arzt?« Er bog von der Gasse in die Hauptstraße ein. »Wo ist die nächste Apotheke? Das vorne ist die Kanzukapotheke. Und da ist die von Klonaridis!«

Trotz der Hitze war die renommierte Straße, die vom Tunnel bis zum Taksimplatz führte, wie üblich voller Menschen. Cevdet hastete dahin, als würde, falls er zu spät käme, sein Bruder sterben und er selbst dafür verantwortlich gemacht. Am liebsten wäre er regelrecht gelaufen, aber das kam ihm doch übertrieben vor, und auch so rempelte er schon genügend Leute an. Die ruhig ihrem Tagesgeschäft nachgehenden Menschen wichen dem Mann, der sich bei dieser Hitze rempelnd zwischen sie drängte, so gut es ging aus und taxierten ihn mit schläfriger Neugier.

In der Apotheke traf Cevdet den Apotheker Matkoviç und seinen dicken Lehrling an.

»Ist der Doktor da?«

»Der ist beschäftigt«, erwiderte der Apotheker und deutete nach hinten.

»Ich kann aber nicht warten!« brummte Cevdet und riss die Tür zum Untersuchungszimmer auf, ohne sich um die Patienten zu kümmern, die wartend davorsaßen.

Drinnen beim Arzt war eine Frau mit ihrem Kind. Der Arzt hatte dem Jungen einen Löffel in den Mund gesteckt. Beim Anblick der aufgerissenen Tür runzelte der Arzt die Stirn und zog den Löffel wieder heraus.

»Warten Sie bitte draußen!«

»Es ist dringend, Herr Doktor!«

Der Arzt steckte dem Jungen erneut den Löffel in den Mund. »Sie sollen bitte warten, habe ich gesagt!« Dann sagte er zu der Frau etwas auf französisch.

»Es steht aber schlimm!« brachte Cevdet noch heraus, doch als er mit ansah, wie der Arzt sich um den kranken Jungen kümmerte, glaubte er plötzlich selbst nicht mehr, dass sein Bruder sterben würde. Nur um nicht warten zu müssen, sagte er noch: »Ganz schlimm!«

»Ich komme ja gleich. Aber warten Sie jetzt!«

Cevdet ging hinaus. Erst wollte er sich zu den anderen Wartenden setzen, aber dann ließ er es und ging in der Apotheke umher. Schließlich zog er sich in eine Ecke zurück und rauchte nervös. Der Apotheker mischte nach einem Rezept Pülverchen zusammen, und sein Lehrling wog etwas ab. Dann füllte der Apotheker das Gemisch in eine Flasche und reichte sie einem Herrn mit Hut. Ein Mann mit stattlichem Bauch betrat die Apotheke und fragte jovial nach Champagner. Der Apotheker wies den Mann, anscheinend einen Stammkunden, lächelnd auf eine Ecke, in der Champagnerflaschen zu einer Pyramide angeordnet waren. Daneben stand eine weitere Pyramide mit Mineralwasserflaschen. Bevor der dicke Mann seine Wahl traf, las er die Etiketten mit der Seelenruhe von jemandem, der über Zeit und Geld verfügt: Evian, Vittel, Vichy, Apollinaris. Es kam Cevdet in den Sinn, dass die aus dem weit entfernten Frankreich importierten Mineralwasser, der Champagner und die Tobler-Schokolade, die auf einem Tischchen lag, auch von Eskinazi konsumiert wurden, der am Morgen wegen des Nebels Verspätung gehabt hatte. »Und die Paşas in ihren Konaks tun sich auch daran gütlich! Und was mache ich? Ich arbeite, und ich werde heiraten. Mein Bruder ist krank, aber sterben wird er nicht, blendend geht es ihm. Die Armenierin. Für Liebe habe ich vor lauter Arbeit keine Zeit. Dieses lästige Warten! Was steht da auf dem Schaufenster? Ich kann es auch spiegelverkehrt lesen: Ausländische Präparate … Osmanische Präparate.« Der fröhliche dicke Mann wählte seine Flaschen aus und ließ sie zurücklegen; sein Diener werde sie dann abholen. »Jetzt geht er nach Hause, und dann trinkt er diese Sachen. Alle zusammen essen und trinken sie und amüsieren sich … Wenn ich einmal verheiratet bin, werde ich auch … Ethem-Pertev-Tonikum, Krem Pertev … Wann ist denn der Doktor endlich fertig? Sobald die Tür aufgeht, gehe ich hinein … Atkinson- Kölnisch-Wasser … Katran-Hakkı-Ekrem-Hustensaft. Hünyadi-Yanoş-Abführmittel … Als kleiner Junge hatte ich einmal Durchfall, dass ich schon meinte, ich müsste sterben. Das nahm aber keiner richtig ernst. Und wenn ich tatsächlich gestorben wäre? Nein! Endlich geht die Tür auf!«

Cevdet stürzte hinein und stieß dabei die Frau und den Jungen an. Ohne selber daran zu glauben, sagte er: »Es steht ganz schlimm! Beeilen Sie sich bitte, sonst stirbt er vielleicht!«

Der Arzt wusch sich in einer Ecke die Hände. »Wer stirbt? Und wo?«

»Hier ganz in der Nähe, in einer Pension! Gehen wir gleich hin, es ist gar nicht weit!«

»Kann der Patient nicht hierherkommen?« fragte der Arzt. Mit einem fast unsinnig weißen Handtuch trocknete er sich ausgiebig die Hände ab.

»Kann er nicht. Er liegt im Sterben. Aber vielleicht stirbt er ja nicht. Es sind nur ein paar Schritte! Gehen wir am besten gleich hin …«

»Na schön«, brummte der Arzt. »Lassen Sie mich wenigstens meine Tasche mitnehmen!«

Der Arzt vertröstete die wartenden Patienten auf später und ging hinter Cevdet auf die Straße hinaus. Unterwegs fragte er nach dem Zustand des Kranken. Cevdet erzählte von den Hustenanfällen, und da er nichts weiter zu berichten hatte, nannte er einfach den Namen der Krankheit: Tuberkulose. Da setzte der Arzt ein Gesicht auf, als sei er hinters Licht geführt worden, doch war es mit seinem Unmut gleich wieder vorbei: Anscheinend war er im Grunde froh um den Anlass, dem Behandlungszimmer eine Weile zu entrinnen. Er sah sich im Vorübergehen die Auslagen an, musterte Passanten und kaufte sich in einem Geschäft Zigaretten. An Tuberkulose sterbe man nicht so plötzlich, dozierte er und erzählte, wie bei einem früheren Patienten von ihm der Krankheitsverlauf ein ständiges Auf und Ab gewesen sei. Einmal sah er neugierig einer Frau nach, dann fragte er Cevdet nach seinem Beruf und konnte seine Überraschung nicht verbergen, es mit einem Kaufmann zu tun zu haben. Als sie schon in die Gasse einbiegen wollten, traf er an der Ecke einen Bekannten, den er sogleich umarmte. Dann unterhielten die beiden sich lebhaft in einer Sprache, die Cevdet für Italienisch hielt. Cevdet sah auf die Uhr: Viertel nach drei.

Schließlich kamen sie in der Pension an. Auf der Treppe klagte der Arzt über die Hitze, dann machte ihnen Mari die Tür auf.

»Ich will keinen Arzt, macht die Tür wieder zu! Das Dunkel soll hier nicht herein!« rief Nusret.

Der Arzt betrat hinter Mari das Zimmer und schielte schon mal zu dem grummelnden Kranken hinüber. Er stellte seine Tasche ab und wandte sich dann Mari zu, sah sie eindringlich an und sagte bewegt: »Je vous reconnais, Mademoiselle Çuhacıyan!« Plötzlich küsste er ihr die Hand, und als er gravitätisch den Kopf wieder hob, sagte er, diesmal allerdings auf türkisch: »Ich habe Sie in der Glücklichen Familie bewundert!«

»Wer ist denn das? Was ist los?« knurrte Nusret. Als er den Arzt lächelnd auf sich zugehen sah, sagte er: »Ihr habt mir da keinen Doktor gebracht, sondern einen Clown!«

Unbeeindruckt fragte der Arzt: »Was fehlt uns denn?«

»Sterben tue ich, an Tuberkulose!«

»Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte der Arzt und setzte sich zu Nusret ans Bett.

»Weil ich selber Arzt bin! Außerdem braucht es dazu gar keine Untersuchung. Tuberkulose in meinem Stadium erkennt jeder Arzt auf den ersten Blick. Sehen Sie sich doch mal mein Gesicht an, wie hohlwangig ich bin. Haben Sie an der zivilen Hochschule studiert?«

Der Arzt lächelte gleichmütig und sagte: »Soso, Kollegen sind wir also!«

»Ob zivil oder militärisch: Nach dem Medizinstudium werden die Klugen Revolutionäre und die Dummen Ärzte!« rief Nusret.

»Ich habe ja nie behauptet, klug zu sein!« erwiderte der Arzt und sah lächelnd Mari an, denn sie erschien ihm wohl als die einzige, die seine Nachsicht auch zu schätzen wusste.

»Was sind Sie eigentlich, Jude oder was?«

»Ich bin Italiener«, sagte der Arzt. Dann hielt er den Kopf an Nusrets Brust und machte Anstalten, ihm die Hemdknöpfe zu öffnen. »Sie gestatten doch?«

»Hören Sie auf! Was soll denn das? Fassen Sie mich nicht an!« rief Nusret. Dann sah er aber Maris wütendes Gesicht. »Ist ja schon gut, reg dich nicht auf! Aber Sinn hat das keinen!« Dann wandte er sich an Cevdet: »An dich habe ich eine Bitte. Komm mal her. Du musst mir was versprechen. Ich will meinen Sohn noch einmal sehen. Bringst du ihn mir?«

»Aus Haseki?«

»Ja, aus Haseki. Fahr dort hin und bring mir Ziya. Er ist dort bei einer gewissen Zeynep, das ist eine Tante von ihm oder so etwas. Die musst du finden und den Jungen hierherbringen.«

»Jetzt gleich?« murmelte Cevdet.

»Ja, jetzt gleich! Sofort! Ich weiß, wie peinlich dir das ist, da hinzufahren, aber tu es bitte trotzdem. Wenn du mir schon den Arzt hergeschleppt hast, dann tu bitte auch das für mich. Damit ich den Jungen ein letztes Mal …«

Der Arzt holte gerade sein Stethoskop aus der Tasche und warf ein: »Einen sterbenden Eindruck machen Sie aber nicht gerade! Sie haben kräftige Lungen!«

»Sparen Sie sich Ihr Ärztegewäsch! Tun Sie Ihre Arbeit und kassieren Sie Ihr Geld! Cevdet, kannst du ihn bitte bezahlen? Mehr verlange ich dann nicht mehr von dir!«

Auf dem Weg zur Tür ließ Cevdet auf einem Tischchen neben einem kaputten Aschenbecher zwei Goldstücke. Es freute ihn, dass Mari das sah.

»Mach schnell!« rief sein Bruder. »Wenigstens nützt deine Angeberkutsche jetzt mal zu was!«

5

DAS ALTE VIERTEL

Schuldbewusst ging Cevdet die Treppe hinab. Er gab dem Kutscher als Fahrziel Haseki an und stieg in das Coupé ein. Schwitzend zündete er sich eine Zigarette an. Als der Wagen zu schaukeln begann und draußen vor dem Fenster die Bilder an ihm vorbeidefilierten, kam er – auch mit Hilfe der Zigarette – wieder einigermaßen zu sich. »Warum muss das alles so sein? Und warum bin ich so?« In seinem Kopf lief noch einmal ab, was sich seit dem Morgen zugetragen hatte. Er fragte sich, ob sein Bruder wirklich bald sterben würde. Die Mutter hatte bis kurz vor ihrem Tod immer geklagt, dass es demnächst mit ihr zu Ende gehe, doch in der letzten Woche war sie plötzlich ganz anders gewesen und hatte erklärt, sie fühle sich jetzt besser, und auf einmal war sie tot. Sein Bruder hielt jedenfalls nach wie vor an seiner groben Art fest. Cevdet errötete beim Gedanken an jene schamlosen Reden. Als Nusret ihn gefragt hatte, wie oft er seine Verlobte schon gesehen habe, hatte er mitleidig lächelnd Mari angeblickt. Und als es um die Mietkutsche ging, war es das gleiche gewesen. Wahrscheinlich lachte sein Bruder ihn jetzt noch aus. Cevdet fragte sich, ob die Armenierin dabei auch mitlachte. »Sie mag ja hübsch und anziehend sein, aber hingerissen bin ich keineswegs von ihr! Wie kann er so etwas behaupten? Er hat überhaupt kein Schamgefühl. Außerdem kann ich so eine Frau doch gar nicht bewundern, weil sie keine Frau zum Heiraten ist, sondern eine Schauspielerin, die jeden Abend von Hunderten von Männern angestarrt wird. Und wie der Doktor ihr die Hand geküsst hat! Wie machen sie das bloß? Sie beugen sich vor, küssen die Frau auf die Hand, und danach machen sie so unbefangen weiter wie eh und je. Wie schaffen sie das? Sie sind eben nicht wie wir. Christen!« Cevdet fragte sich, warum er seinem Bruder nicht zeigen konnte, dass er ihn gern hatte und seine Überzeugungen begriff. »Weil ich keine Zeit habe! Wegen des Geschäfts komme ich zu nichts anderem.« Er dachte wieder an die Worte seines Bruders zurück. »Seit er in Paris war, passt ihm hier gar nichts mehr.« Die Kutsche fuhr knarrend über die Holzbohlen der Brücke. Cevdet blickte auf das alte Istanbul, die Kuppeln, das wie tot daliegende Goldene Horn. »Nichts ist ihm mehr recht zu machen! Alles findet er schlecht und verachtenswert. Mich verachtet er auch, aber ich habe Verständnis für ihn!« Er las das Schild auf der anderen Brückenseite: »Die besten Zigarren und Zigaretten, Erzeugnisse der Tabakregie: Tabakhändler Angelidis.« Er zündete sich noch eine Zigarette an und versank im Dunst seiner Gedanken.

Als er vom Kutschenfenster aus die Beyazıtmoschee und daneben das Kriegsministerium sah, dachte er freudig an seine Kindheit zurück. Mit seinem Bruder war er damals oft hierhergekommen. Wenn den Ramadan über im Innenhof der Moschee das Volk sich um die Verkaufsstände drängte, konnte man mit etwas Glück eine wichtige Persönlichkeit sehen. Cevdet bekam damals seinen ersten Minister zu Gesicht. »Der Handelsminister Ahmet Fehmi Paşa war das wohl? Wie lange ist das jetzt her? Achtzehn, neunzehn Jahre? Nusret hatte gerade sein Medizinstudium begonnen, und der Vater lebte noch.« Traurig dachte er an jene Zeit zurück. Er arbeitete damals mit dem Vater zusammen, schnitt Holz und schichtete es auf, und abends war er so müde, dass er nach dem Essen sogleich einschlief. »Ich wollte aber kein tumber Mensch sein, der allein mit seiner Körperkraft arbeitet. Studieren wollte ich und reich werden!« Es freute ihn, dass er an jene Zeit nicht voller Wehmut zurückdachte. »Trotzdem: Damals mochten sich die Leute noch. Mich mochten sie auch. Und ich bin vor ihnen davongelaufen!« Und genau zu diesen Menschen musste er nun zurück. Ihm graute davor. »Vielleicht erkennen sie mich ja nicht mehr. Und wenn doch, dann werden sie mich verachten. Obwohl, vielleicht auch nicht. Mit meiner Kleidung und dem Coupé kann ich Eindruck schinden. Ach, wird das alles peinlich sein!« Er malte sich aus, was ihm widerfahren konnte. »Sie denken bestimmt, ich sei ein undankbarer Kerl, der sich etwas Besseres dünkt. Warum ist nur alles so geworden?« Die Kutsche fuhr am Finanzministerium vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten die Geldwechsler und Wucherer ihre Büros. Wer mit seinem Gehalt nicht auskam, ließ es sich dort vorzeitig auszahlen, zu horrenden Zinsen. Den Gewinn, den die Wucherer einstrichen, hielt Cevdet für unanständig und geradezu widerwärtig. »Alles wegen des Geldes!« dachte er. »Ich bin vereinsamt dadurch! Nur wegen des Geldes! Keiner hat sich etwas getraut, nur ich, und ich habe Geld verdient! Nun verachten sie mich, weil sie finden, ein Muslim solle keinen Handel treiben!« Schwitzend dachte er wieder an die beschämenden Szenen, die ihn erwarteten.