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Osman, Architekturstudent aus Istanbul, verfällt einem rätselhaften Buch und zugleich der wunderschönen jungen Frau Canan, in deren Hand er das Buch zum ersten Mal gesehen hat. Als Canan plötzlich verschwindet, begibt sich Osman auf die Suche nach ihr und nach der Welt, die das Buch beschreibt. Teils Road novel, teils metaphysischer Krimi, erzählt der Roman von der Suche nach dem Sinn des Lebens.
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Seitenzahl: 470
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Hanser E-Book
Orhan Pamuk
Das neue Leben
Roman
Aus dem Türkischenvon Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 1994unter dem Titel Yeni Hayat beiIletişim Yayınları in Istanbul.
ISBN 978-3-446-25233-2
© Orhan Pamuk 1994
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 1998/2016
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von Daniel Josefsohn / DIE ZEITmagazin, März 1998
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Für Şeküre
»... die andern haben ja das nämliche gehört,
und keinem ist so etwas begegnet.«
Novalis, Heinrich von Ofterdingen
Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich. Auf den ersten Seiten schon bekam ich die Kraft dieses Buches innerlich so stark zu spüren, daß ich glaubte, mein Körper habe sich von Tisch und Stuhl, wo ich saß, gelöst und abgehoben. Aber trotz dieses Gefühls schien ich fester als eh und je mit meinem ganzen Sein und allen Fasern meines Körpers auf dem Stuhl am Tisch zu sitzen, und das Buch bewies seine ganze Wirkung nicht nur in meinem Geist, sondern in allem, was mich zu mir selbst machte. So kraftvoll war die Wirkung, daß ich meinte, mir sprühe beim Lesen aus den Seiten dieses Buches Licht entgegen, ein Licht, das meinen Verstand vollkommen stumpf und im gleichen Moment überaus glänzend werden ließ. Und mir kam der Gedanke, ich würde neu und anders werden in diesem Licht, und ich ahnte, es würde mich auf einen anderen Weg führen, dieses Licht, und ich nahm in diesem Licht die Schemen eines Daseins wahr, das ich später kennenlernen, mit dem ich vertraut sein würde. So saß ich am Tisch, wußte mit einem Zipfel meines Verstandes, daß ich dort saß, schlug die Seiten um und las immer neue Wörter auf immer neuen Seiten, während sich mein Leben veränderte. Aber die Hilflosigkeit, die ich nach einer Weile empfand, das Gefühl, kaum bereit zu sein für das, was mich erwartete, ließ mich mein Gesicht instinktiv abwenden von den Seiten, als wolle ich mich vor der Kraft schützen, die dem Buch entströmte. Da sah ich mit Schrecken, daß sich die Welt um mich herum von A bis Z verwandelt hatte, und verspürte eine bis dahin ungeahnte Einsamkeit. Ganz so, als sei ich allein geblieben in einem Land, dessen Sprache, Gewohnheiten und geographische Lage mir fremd waren.
Die Ratlosigkeit, die aus dem Gefühl des Alleinseins entstand, brachte mich plötzlich dem Buch noch näher. Es würde mir zeigen, was ich in diesem neuen Land, in das ich unverhofft hineingestolpert war, tun und lassen mußte, was ich zu glauben wünschte, was ich sehen, welchen Weg mein Leben nehmen wollte. Jetzt las ich das Buch, während ich Seite für Seite umblätterte, wie einen Wegweiser durch ein wildes, fremdes Land. Hilf mir, wollte ich sagen, hilf mir, damit ich das neue Leben finde, ohne Schaden zu nehmen. Doch ich wußte auch, daß dieses neue Leben aus den Wörtern des Wegweisers bestand. Einerseits versuchte ich beim Lesen jedes einzelnen Wortes, meinen Pfad zu finden, andererseits erfand ich selbst voller Staunen jedes einzelne jener Wunder der Phantasie, die mich dazu bringen sollten, meinen Weg zu verlassen.
Unterdessen lag das Buch auf dem Tisch und sprühte mir sein Licht ins Gesicht, doch schien es die ganze Zeit lang einer der wohlbekannten Gegenstände in meinem Zimmer zu sein. Und während ich voller Freude und Staunen dem vor mir liegenden neuen Leben, der Existenz einer neuen Welt entgegensah, spürte ich auch, daß dieses Buch, das mein Leben so unglaublich verändern sollte, eigentlich ein ganz normaler Gegenstand war. Und während mein Verstand allmählich seine Fenster und Türen den Wundern und Ängsten der neuen Welt öffnete, die mir die Wörter versprachen, dachte ich noch einmal über den Zufall nach, der mich zu diesem Buch geführt hatte, doch es blieb an der Oberfläche meines Verstandes, ohne tiefer einzudringen. Beim Weiterlesen schien mir die Hinwendung zu diesem Gedanken einer gewissen Angst zu entspringen – war doch die neue Welt, die mir das Buch eröffnete, so fremd, so seltsam und verwirrend, daß ich das Bedürfnis hatte, irgend etwas absolut Konkretes, Gegenwärtiges zu spüren, um nicht gänzlich in jener Welt verschüttet zu werden. Denn ich fürchtete mehr und mehr, in meiner Umgebung nichts mehr so vorzufinden, wie es gewesen war, wenn ich den Blick vom Buch lösen und mein Zimmer, meinen Schrank und mein Bett betrachten und einen Blick aus dem Fenster werfen würde.
Minuten und Seiten folgten einander, in der Ferne fuhren Züge, ich hörte meine Mutter aus dem Haus gehen und viel später zurückkommen; ich hörte das stete Dröhnen der Stadt, die Klingel des Yoghurtverkäufers, der an der Tür vorüberging, und die Automotoren und vernahm all die bekannten Geräusche als fremde Laute. Ich glaubte für einen Moment, es regne draußen, doch es war das Geschrei von seilspringenden Mädchen. Ich glaubte, das Wetter kläre sich auf, doch es klopften Regentropfen an mein Fenster. Ich las die nächste Seite, die übernächste, las weitere Seiten und sah das Licht, das über die Schwelle des anderen Lebens sickerte, sah mir bisher Unbekanntes und Bekanntes, sah mein eigenes Leben, sah den Weg, den mein Leben nun wohl nehmen würde...
Während ich nach und nach die Seiten umblätterte, drang eine Welt in mein Gemüt, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewußt, keine Vorstellung, keine Ahnung gehabt hatte, und nistete sich dort ein. Viele mir bis jetzt bewußte und vertraute Dinge verwandelten sich in Kleinigkeiten, die keine Beachtung verdienten, unbekannte Dinge aber kamen aus ihrem Versteck hervor und sandten mir Signale zu. Wäre ich bei der Lektüre des Buches nach ihnen gefragt worden, so hätte ich wohl nichts über sie sagen können, denn ich erkannte beim Lesen, daß ich allmählich auf einem Weg ohne Umkehr war, ich spürte, daß mein Interesse für einige Dinge, die ich hinter mir ließ, erlosch, doch ich war so aufgeregt, so neugierig auf das vor mir offen liegende neue Leben, daß mir einfach alles, was existierte, der näheren Betrachtung wert schien. Als mich Neugier und Begeisterung so richtig packten und meine Beine zu schaukeln begannen, verwandelten sich Reichtum, Fülle und Vielfalt dessen, was auf mich zukam, in meinem Innern zu etwas, was mich erschreckte.
Mit Erschrecken sah ich in dem Licht, das mir aus dem Buch entgegenströmte, schäbige Räume, rasende Autobusse, müde Menschen, verblaßte Lettern, vergessene Ortschaften und gescheiterte Existenzen und Gespenster. Es ging um eine Reise, ständig ging es darum, alles war eine Reise. Ich sah einen Blick, der mir überall auf dieser Reise folgte, der an den unmöglichsten Orten vor mir aufzutauchen schien, dann wieder verschwand und sich suchen ließ, weil er verschwand, ein sanfter Blick, längst geläutert von Schuld und Sünde... Ich wünschte, dieser Blick sein zu können. Ich wünschte, in jener Welt zu sein, die dieser Blick sah. Ich wünschte dies so sehr, daß ich daran glauben wollte, in jener Welt zu leben. Nein, daran zu glauben war nicht nötig, ich lebte ja schon dort. Nachdem ich nun einmal dort lebte, mußte natürlich auch das Buch von mir sprechen.Und dies war so, weil jemand meine Überlegungen bereits vor mir gedacht und aufgezeichnet hatte.
Auf diese Weise wurde mir klar, daß es etwas ganz anderes sein mußte, was man mir in Worten zu verstehen gab. Hatte ich doch von Anfang an geahnt, daß dieses Buch für mich geschrieben worden war! Das war auch der Grund, warum mich jedes einzelne Wort des Textes im Innersten traf. Nicht, weil es wundervolle Wörter und brillante Ausdrücke waren, sondern weil mich das Gefühl gepackt hatte, das Buch spreche von mir. Woher dieses Gefühl kam, konnte ich nicht ergründen. Vielleicht aber fand ich’s heraus und vergaß es wieder, denn ich versuchte, zwischen Mördern, Unfällen, Toten und Zeichen des Verlustes meinen Weg zu finden.
So verwandelten sich beim Lesen und Weiterlesen meine Anschauungen in die Wörter des Buches und die Wörter des Buches in meine Anschauungen. Meine vom Licht geblendeten Augen konnten die Welt im Buch und das Buch in der Welt nicht mehr voneinander unterscheiden. Es war, als sei eine einzige Welt, alles Existierende, jede mögliche Farbe und Sache in dem Buch unter den Wörtern enthalten, und dennoch ließ ich während des Lesens glücklich und erstaunt alle nur erdenklichen Dinge in meinem eigenen Verstand Wirklichkeit werden. Lesend begriff ich, was mir das Buch zunächst flüsternd, dann hämmernd und schließlich mit rigoroser Gewalt zeigte und was wohl seit Jahren in den Tiefen meines Gemüts geruht hatte. Das Buch hob einen Schatz, der sich jahrhundertelang vergessen auf dem Grunde des Meeres befunden hatte, und ich wollte dem, was ich unter Zeilen und Wörtern entdeckte, erklären, daß es jetzt auch mir gehöre. Und irgendwo auf den letzten Seiten wollte ich sagen, dies hier sei auch mein Gedanke gewesen. Als ich später ganz und gar in die Welt des Buches eingetaucht war, sah ich zwischen Dunkelheit und Dämmerung, einem Engel gleich, den Tod hervortreten. Meinen eigenen Tod...
Auf einmal begriff ich, daß mein Leben unvorstellbar reich geworden war. In jenem Augenblick hatte ich keine Furcht davor, beim Betrachten der Umwelt, der Gegenstände, meines Zimmers oder der Straßen nicht das zu sehen, was das Buch beschrieb, mich bewegte nur die Angst, von dem Buch getrennt zu sein. Mit beiden Händen hielt ich es fest und sog, wie nach dem Lesen der Bildergeschichten in meiner Kindheit, den Geruch von Papier und Druckerschwärze ein, der aus den Seiten drang. Es war der gleiche Geruch.
Ich stand auf, ging zum Fenster, lehnte meine Stirn an das kalte Glas und schaute hinaus auf die Straße, ganz so wie in meinen Kindertagen. Der Lastwagen, der fünf Stunden zuvor, als ich am Nachmittag das Buch auf den Tisch gelegt und zu lesen begonnen hatte, am Bürgersteig gegenüber vorgefahren war, stand nun nicht mehr dort, man hatte Spiegelschränke, schwere Tische, Ständer, Kartons und Stehlampen abgeladen, und in der leeren Wohnung auf der anderen Seite war eine neue Familie eingezogen. Da es noch keine Vorhänge gab, konnte ich im Licht einer starken, nackten Glühbirne ein Elternpaar in mittleren Jahren, einen Sohn und eine Tochter in meinem Alter beim Abendessen vor dem Fernseher erkennen. Die Haare des Mädchens waren dunkelblond, der Fernsehschirm war grün.
Eine Zeitlang schaute ich den neuen Nachbarn zu; mag sein, das Zuschauen gefiel mir, weil sie neu waren; und das schien mir irgendwie Schutz zu bieten. Ich mochte der Tatsache, daß sich meine altvertraute Umwelt ganz und gar verändert hatte, nicht ins Auge sehen, doch weder waren die Straßen die alten Straßen noch mein Zimmer mein altes Zimmer, noch meine Mutter oder meine Freunde die gleichen Menschen, das wurde mir jetzt klar. Es mußte etwas wie Feindseligkeit, etwas Bedrohliches und Angsterweckendes an allem sein, das ich aber nicht genau benennen konnte. Ich zog mich einen Schritt vom Fenster zurück, wandte mich jedoch nicht wieder dem Buch zu, das vom Tisch her nach mir rief. Dort hinter mir, auf dem Tisch, da wartete das auf mich, was mein Leben aus der Bahn warf. Ich konnte ihm ruhig den Rücken kehren, der Anfang aller Dinge lag dort, zwischen den Zeilen des Buches, und ich würde von jetzt an jenen Weg beschreiten.
Die Trennung von meinem bisherigen Dasein ist mir wohl für einen Augenblick so schrecklich erschienen, daß ich, wie alle Menschen, deren Lebensweg durch eine Katastrophe unweigerlich verändert wird, Trost in der Vorstellung zu finden suchte, mein Leben würde auch weiterhin in seiner alten Bahn verlaufen und der Unfall, die Katastrophe oder was auch immer das Erschreckende war, sei gar nicht geschehen. Doch ich spürte das Vorhandensein des Buches, das hinter mir auf dem Tisch noch immer aufgeschlagen dalag, so stark, daß ich mir ein Weiterleben wie bisher einfach nicht mehr vorstellen konnte.
In diesem Zustand verließ ich mein Zimmer, und als mich meine Mutter später zum Abendessen rief, setzte ich mich wie ein Neuling, der sich einer noch fremden Umgebung anpassen möchte, an den Tisch und bemühte mich, eine Unterhaltung mit ihr zu führen. Der Fernseher war eingeschaltet, Kartoffeln mit Hackfleisch, Lauch in Olivenöl, grüner Salat und Äpfel als Nachspeise standen auf dem Tisch. Meine Mutter erwähnte die neuen Nachbarn, die gegenüber eingezogen waren, lobte mich dafür, daß ich den ganzen Nachmittag gearbeitet hatte, sprach über Geschäfte und Einkäufe, über den Regen, die Fernsehnachrichten und den Nachrichtensprecher. Ich liebte meine Mutter, sie war eine schöne, liebenswürdige, sanfte und verständnisvolle Frau, und ich fühlte mich schuldig, weil ich das Buch las und eine andere Welt als die ihre betreten hatte.
Wenn doch das Buch für jedermann geschrieben wäre, dachte ich einerseits, dann würde das Leben nicht so unerträglich hart und rücksichtslos weitergehen wie bisher. Andererseits war die Idee, dieses Buch sei nur für mich allein geschrieben worden, absurd für einen logisch denkenden Studenten des Ingenieurwesens, wie ich es war. Wie aber sollte dann alles wie bisher weitergehen können? Schon der Gedanke, das Buch sei etwas Geheimnisvolles, nur für mich Erfundenes, jagte mir Angst ein. Ich wollte meiner Mutter helfen, als sie später das Geschirr spülte, wollte sie berühren, wollte jene Welt in meinem Innern in das Jetzt und Hier übertragen.
»Laß nur, ich mache das schon, mein Lieber«, sagte sie.
Eine Zeitlang saß ich vor dem Fernseher. Ich hätte mich vielleicht in die dort gezeigte Welt hineinversetzen, vielleicht auch den Fernseher mit einem Fußtritt explodieren lassen können. Es war jedoch unser Fernseher in unserer Wohnung, dem ich zuschaute, eine Art Gott, eine Art Lampe. Ich schlüpfte in mein Jackett und zog die Straßenschuhe an.
»Ich gehe aus«, erklärte ich.
»Wann kommst du zurück?« fragte meine Mutter. »Soll ich auf dich warten?«
»Warte nicht. Sonst schläfst du vor dem Fernseher ein.«
»Hast du in deinem Zimmer das Licht ausgemacht?«
So ging ich hinaus, ging durch das Stadtviertel, in dem ich seit zweiundzwanzig Jahren lebte, durch die Straßen meiner Kindheit, als seien es Straßen voller Gefahren in einem fremden Land. Vielleicht gibt es ja auch einige Dinge, die aus der alten in die neue Welt herübergekommen sind, redete ich mir zu, während ich die feuchte Dezemberkälte einem Windhauch gleich auf meinem Gesicht spürte. Das würde sich jetzt zeigen, wenn ich durch die Straßen, über die Gehsteige ging, die mein Dasein zu dem meinen machten. Plötzlich wollte ich laufen.
Ich ging mit schnellen Schritten die dunklen Gehsteige entlang, zwischen riesigen Mülltonnen und Schlammpfützen hindurch, und erkannte mit jedem Schritt das Wirklichwerden einer neuen Welt. Auf den ersten Blick waren die Platanen und Pappeln meiner Kinderzeit noch die gleichen Platanen und Pappeln, doch die Kraft der Erinnerungen und Assoziationen, die ich mit ihnen verband, war verschwunden. Ich sah die müden Bäume an, die wohlbekannten zweistöckigen Gebäude, die schmuddligen Apartmenthäuser, deren Errichtung ich als Kind vom Fundament und der Kalkgrube bis zu den Dachziegeln verfolgt und in denen ich später mit den neuen Freunden gespielt hatte, nicht wie feste Bestandteile meines Daseins, sondern wie Fotografien, von denen ich nicht mehr wußte, wann und wo sie aufgenommen worden waren. Obwohl ich sie an ihren Schatten, ihren hellen Fenstern, den Bäumen in ihren Gärten oder auch den Lettern und Zeichen an ihren Eingängen erkannte, spürte ich nichts von der Wirkung der mir bekannten Dinge. Die alte Welt war dort, vor mir, neben mir, in den Straßen, war um mich herum vorhanden in den mir vertrauten Schaufenstern der Krämerläden, den noch brennenden Lichtern der Çörek-Backstube auf dem Bahnhofsplatz von Erenköy, den Kisten des Obst- und Gemüsehändlers, den Schubkarren, der Konditorei Leben, den schäbigen Lastwagen, den Schutzplanen und den dunklen, müden Gesichtern. Ein Stück von meinem Herzen war zu Eis erstarrt vor all diesen Schatten, die unter den Lichtern der Nacht leicht vibrierten. Das Buch trug ich bei mir, als würde ich eine Schuld verbergen. Ich wünschte, all diesen bekannten Straßen, die mich zu mir selbst machten, der Melancholie der nassen Bäume, den Neonlettern und den Lampen der Grünzeughändler und Schlachterläden, die sich in den Pfützen auf den Gehsteigen und auf dem Asphalt spiegelten, zu entfliehen. Ein leichter Wind wehte, Wasser tropfte von den Zweigen, ich hörte ein dumpfes Dröhnen und hielt das Buch für eine mysteriöse Gabe, die mir verliehen worden war. Angst packte mich, und ich wollte unbedingt mit jemandem sprechen.
Es war das Café Jugend auf dem Bahnhofsplatz, in das ich flüchtete, wo sich abends noch immer einige meiner Freunde aus dem Viertel verabredeten und dann hängenblieben, dem Fußballspiel im Fernsehen zuschauten oder miteinander Karten spielten. Am hinteren Tisch saß ein Student, der im Schuhgeschäft seines Vaters arbeitete, mit einem anderen Freund aus der Nachbarschaft zusammen, einem Fußballspieler der Amateurliga. Sie unterhielten sich lebhaft im Schein des schwarzweißen Fernsehlichts. Vor ihnen sah ich Zeitungen liegen, die Seiten durch das Lesen und Wiederlesen zerknittert, sah zwei Teegläser, Zigaretten und eine Flasche Bier, die sie vom Krämer gekauft und auf dem Sitz eines Stuhls versteckt hatten.Ich wollte unbedingt mit jemandem reden, lange und ausführlich, vielleicht sogar stundenlang, doch war mir sofort klar, daß es mit ihnen nicht möglich sein würde. Plötzlich überfiel mich eine Traurigkeit, die mich fast zum Weinen brachte, doch ich schüttelte sie stolz ab – den, der in meine Seele schauen durfte, würde ich mir nur unter jenen Schatten auswählen, die in der Welt des Buches lebten.
So war ich fast überzeugt davon, ganz und gar Herr meiner eigenen Zukunft zu sein, doch ich wußte genau, nun war es das Buch, das mich beherrschte. Es hatte sich nicht nur wie ein Geheimnis und eine Sünde in mir eingenistet, sondern mich auch in eine Stummheit getrieben, wie man sie im Traum erlebt. Wo waren sie, die mir glichen, mit denen ich reden konnte, wo war das Land, in dem ich den Traum finden konnte, der zu meinem Herzen sprach, wo waren die anderen, die das Buch gelesen hatten?
Ich überquerte die Bahngleise, tauchte ein in die Seitenstraßen und zertrat die abgefallenen gelben Blätter, die auf dem Asphalt klebten. Auf einmal wurde ich zuversichtlich: Wenn ich immer so weiterliefe, ganz schnell weiterliefe, ohne anzuhalten, wenn ich auf Reisen ginge, dann könnte ich, so schien es mir, zu der Welt im Buch gelangen. Das neue Leben, dessen Leuchten ich in mir spürte, lag irgendwo in der Ferne, vielleicht in einem unerreichbaren Land, doch ich ahnte, daß ich ihm reisend näher kommen oder zumindest mein altes Leben hinter mir lassen konnte.
Als ich zum Ufer kam, war ich erstaunt über die tiefe Schwärze, in der sich das Meer zeigte. Wieso war mir nie zuvor das Dunkle, Harte und Erbarmungslose der nächtlichen See aufgefallen? Also schienen auch die Dinge eine Sprache zu besitzen, und dank der vorübergehenden Lautlosigkeit, in die mich das Buch hineingezogen hatte, begann ich jetzt, diese Sprache zumindest ein wenig zu verstehen. Ich fühlte plötzlich die Schwere des leise Wellen schlagenden Meeres in mir, genauso wie ich bei der Lektüre des Buches die Begegnung mit meinem eigenen unausweichlichen Tod gespürt hatte, doch es war nicht das Gefühl »Jetzt ist alles zu Ende«, das man wohl beim wirklichen Sterben empfindet, es waren im Gegenteil aufkeimende Neugier und die Unruhe eines Menschen am Anfang eines neuen Lebens.
Ich ging den Strand entlang, auf und ab. Als kleiner Junge war ich mit meinen Freunden aus dem Viertel nach den Südweststürmen hierhergekommen, und wir hatten zwischen den vom Meer haufenweise angetriebenen Konservendosen, Kunststoffbällen, Flaschen, Plastiksandalen, Wäscheklammern, Glühbirnen und Kunststoffpuppen nach irgend etwas gesucht, nach einem magischen Gegenstand aus einem Schatz, nach einem leuchtenden Objekt, nagelneu und gänzlich unbekannt. Für einen Augenblick war’s mir, als könne ich irgendeinen ganz normalen Gegenstand der alten Welt auswählen und ihn bei näherer Betrachtung mit meinem vom Licht des Buches erhellten Blick in das magische Etwas verwandeln, nach dem wir in meinen Kindertagen gesucht hatten. Aber gleichzeitig packte mich die Angst, das Buch habe mich in der Welt mutterseelenallein gelassen, so stark, daß ich glaubte, die finstere See werde plötzlich anschwellen und mich verschlingen.
Ich geriet in Panik und lief rasch davon, aber nicht, um mit jedem Schritt das Entstehen einer neuen Welt zu erkennen, sondern um so bald wie möglich in meinem Zimmer mit dem Buch allein zu sein. Im Laufschritt begann ich, mich als ein Wesen zu sehen, das aus dem Lichtstrom des Buches geformt war. Und das beruhigte mich wieder.
Ein guter Freund meines Vaters, gleichaltrig und wie er selbst viele Jahre bei der staatlichen Eisenbahn beschäftigt, hatte sich bis zum Inspektor hochgearbeitet und für das Eisenbahnmagazin Aufsätze über die Leidenschaft des Reisens mit dem Zug geschrieben. Er hatte nebenbei eine Serie, »Der neue Tag – Kinderabenteuer«, gezeichnet, betextet und herausgegeben. Tage, an denen ich Onkel Rıfkıs Geschenke, Pertev und Peter oder Kamer in Amerika, las und nach Hause gerannt war, um mich in eines der Bücher zu vertiefen, hatte es viele gegeben, doch alle diese Kinderbücher kamen stets zu einem Schluß. Wie im Kino standen dort immer die vier Buchstaben »Ende«, und beim Lesen hatte ich nicht nur die Grenzen des Landes erkannt, in dem ich zu sein wünschte, sondern mir war auch schmerzlich bewußt geworden, daß jenes zauberhafte Reich nur ein vom Eisenbahner Onkel Rıfkı erfundener Ort war. Dieses Buch aber, zu dem es mich jetzt in höchster Eile nach Hause trieb, damit ich es nochmals las, enthielt nur Wahres, das wußte ich, und deshalb bewahrte ich es in meinem Innern, deshalb erschienen mir die nassen Straßen, die ich im Laufschritt durchmaß, unwirklich und wie Teile einer unliebsamen Hausaufgabe, die man mir zur Strafe aufgebrummt hatte. Kam’s mir doch so vor, als erkläre das Buch, warum ich auf dieser Welt existierte.
Ich hatte die Bahngleise überquert und lief an der Moschee vorbei, da sah ich eine Pfütze und wollte sie überspringen, doch mein Fuß blieb hängen, ich stolperte und fiel auf dem schmutzigen Asphalt der Länge nach hin.
Rasch stand ich wieder auf und wollte weiterlaufen, als ein bärtiger Alter, der mich hatte stürzen sehen, sagte: »Du wärst ja fast gefallen, meinJunge, ist dir etwas passiert?«
»Ja«, sagte ich. »Mein Vater ist gestern gestorben.Heute haben wir ihn begraben. Er war ein Scheißkerl, hat immer gesoffen, meine Mutter geschlagen, wollte uns hier nicht haben. Ich habe jahrelang in Viranbağ gelebt.«
Wie war ich eigentlich auf den Ort Viranbağ, den »Trümmergarten«, gekommen? Vielleicht begriff auch der Alte, daß nichts von dem, was ich sagte, der Wahrheit entsprach, doch ich hielt mich plötzlich für äußerst klug. War es der Lüge wegen, die mir herausgerutscht war, oder des Buches wegen oder, viel einfacher, wegen des zunehmend törichter dreinschauenden Mannes? Das wurde mir nicht klar, aber ich redete mir zu: »Nur keine Angst, geh schon! Die andere, die Welt im Buch, das ist die wahre Welt!« Doch ich fürchtete mich.
Warum?
Weil ich von dem gehört hatte, was andere durchmachen mußten, nachdem sie wie ich ein Buch gelesen hatten und ihnen ihr Leben entglitten war. Mir waren Geschichten von Leuten bekannt, die in einer Nacht Die Grundsätze der Philosophie gelesen, jedes Wort darin für richtig befunden und sich am nächsten Tag der Neuen Avantgarde der revolutionären Proletarier angeschlossen hatten, drei Tage später bei einem Bankraub erwischt worden waren und für zehn Jahre einsaßen. Ich kannte auch andere Leute, die nach einer Lektüre wie Der Islam und die neue Moral zum Beispiel oder Der Verrat der Verwestlichung eines Nachts von der Kneipe zur Moschee gegangen waren und auf den eiskalten Teppichen, umweht von Rosenwasserdüften, begonnen hatten, geduldig auf ihren in fünfzig Jahren fälligen Tod zu warten. Und wieder andere kannte ich, die sich von Büchern wie Die Freiheit der Liebe oder Ich erkannte mich selbst hatten mitreißen lassen. Diese gehörten zwar vorwiegend zu den Menschen, die an die Sterne glaubten, aber auch sie erklärten voller Überzeugung: »Dieses Buch hat in einer einzigen Nacht mein ganzes Leben verändert!«
Es war eigentlich nicht diese Misere schrecklicher Möglichkeiten, was mich ängstigte, sondern es war die Furcht vor der Einsamkeit. Ich fürchtete mich, das Buch in meiner Torheit womöglich falsch verstanden zu haben, oberflächlich zu sein oder aber nicht sein zu können, also nicht so sein zu können wie jeder andere, oder an Liebe zu ersticken oder das Geheimnis aller Dinge zu wissen und lebenslang zu versuchen, dieses Geheimnis denen beizubringen, die es überhaupt nicht wissen wollten, und mich damit lächerlich zu machen, ins Gefängnis zu kommen, als Verrückter zu erscheinen und schließlich begreifen zu müssen, daß die Welt noch grausamer war, als ich angenommen hatte, und nie zu erreichen, daß hübsche Mädchen mich jemals liebten. Wenn das, was im Buch stand, wahr und das Leben so sein sollte, wie ich’s dort gelesen hatte, wenn so eine Welt möglich war, warum gingen dann immer noch alle in die Moschee, saßen träge und schwatzend im Kaffeehaus herum und hockten jeden Abend um diese Zeit vor dem Fernseher, um nicht vor Langeweile zu platzen, war das nicht absolut unverständlich? Diese Menschen zogen nicht einmal die Vorhänge ganz zu, denn auf der Straße konnte ja wie im Fernsehen etwas mehr oder weniger Interessantes geschehen, ein Wagen konnte vorbeirasen, ein Pferd wiehern oder ein Betrunkener losgrölen.
Wann mir bewußt wurde, daß eine Wohnung der zweiten Etage eines Hauses, in die ich lange Zeit durch die halbgeschlossenen Vorhänge hineinschaute, die des Eisenbahners Onkel Rıfkı war, kann ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich’s unbewußt wahrgenommen und sandte ihm nun am Ende eines Tages, an dem mein Leben durch ein Buch ganz und gar verändert wurde, einen Gruß zu. Ein merkwürdiger Wunsch kam mir in den Sinn – ich wollte jene Dinge, die ich während der letzten Besuche mit meinem Vater dort in der Wohnung gesehen hatte, noch einmal aus der Nähe betrachten: die Kanarienvögel im Käfig, das Barometer an der Wand, die säuberlich gerahmten Eisenbahnbilder, die Vitrine, zur Hälfte gefüllt mit Garnituren von Likörgläsern, Miniaturwaggons, Silberzeug, Bonbonnieren, Kontrolleurzangen und Eisenbahner-Verdienstmedaillen, zur anderen Hälfte mit vierzig, fünfzig Büchern, obendrauf der niemals benutzte Samowar und auf dem Tisch die Spielkarten... Ich sah das Leuchten des Fernsehers durch die halboffenen Vorhänge, doch nicht den Apparat selbst.
Plötzlich stieg ich, selbst erstaunt über soviel Mut, auf die Trennmauer des Grundstücks zwischen Garten und Gehsteig und erblickte nun den Kopf von Onkel Rıfkıs Witwe, Tante Ratibe, und dazu den Fernsehapparat. Während sie in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zu dem leeren Sessel ihres seligen Mannes saß und auf den Bildschirm blickte, hatte sie ganz wie meine Mutter den Kopf zwischen die Schultern gezogen, doch anders als meine Mutter, die strickte, paffte sie eine Zigarette.
Mein Vater war letztes Jahr an Herzversagen gestorben, der Eisenbahner Onkel Rıfkı schon ein Jahr zuvor, doch es war kein natürlicher Tod gewesen. Man hatte ihn eines Abends auf dem Weg ins Café erschossen, der Mörder konnte nicht gefunden werden, es war von Eifersucht die Rede, doch mein Vater hatte im letzten Jahr seines Lebens nicht an dieses Gerede geglaubt. Das Ehepaar hatte keine Kinder.
Als ich um Mitternacht kerzengerade am Tisch saß, lange nachdem meine Mutter eingeschlafen war, und in das Buch schaute, das, vom Ellenbogen bis zur Hand, zwischen meinen Armen lag, vergaß ich nach und nach erregt, begeistert und beglückt die verlöschenden Lichter der Stadt und des Viertels, die Melancholie der nassen, leeren Straßen, den Ruf des Bozaverkäufers, der ein letztes Mal vorbeiging, ein paar zur Unzeit krächzende Krähen, das geduldige Rattern eines langen Güterzuges, der nach dem letzten Vorortzug vorbeifuhr, die Mitternächte, unser Viertel und alles, was mich zu einem der Hiesigen machte, und ergab mich ganz und gar dem Licht, das dem Buch entströmte. Auf diese Weise verschwanden die Mittagsmahlzeiten,Kinoeingänge, Mitstudenten, Tageszeitungen, Sprudelwasser, Fußballspiele, Schulbänke, Dampfer, die hübschen Mädchen, die Vorstellungen vom Glück, meine zukünftige Geliebte, meine Ehefrau, mein Arbeitstisch, meine Morgen, Frühstücke, Busfahrscheine, kleinen Sorgen, nicht fertig gewordenen Statikaufgaben, alten Hosen, mein Gesicht, meine Pyjamas, meine Nächte, meine Wichsmagazine, meine Zigaretten, ja sogar das sicherste Mittel zum Vergessen, mein treues Bett, das gleich hinter mir wartete – verschwanden alle Dinge, die bis zu jenem Tag meinLeben und meine Traumbilder gewesen waren, samt und sonders aus meinem Verstand, und ich fand mich als Wanderer wieder, dort, in dem Land aus Licht.
Am nächsten Tag verliebte ich mich. Wie das Licht, das mir aus dem Buch entgegenströmte, erschütterte mich die Liebe und bewies mir in aller Deutlichkeit, daß mein Leben längst aus der Bahn geworfen worden war.
Gleich morgens nach dem Erwachen hatte ich nochmals all das am Tage zuvor Erlebte überdacht und sofort begriffen, daß jenes neue Land, welches sich vor mir auftat, keine vorübergehende Einbildung, sondern Wirklichkeit war, wie mein eigener Körper, meine Arme und Beine. Um die unerträgliche Einsamkeit zu überwinden, an der ich litt, nachdem ich unverhofft in diese Welt hineingeraten war, mußte ich die anderen, die mir Ähnlichen finden.
Nachts war Schnee gefallen, war vor dem Fenster, auf den Gehsteigen und auf den Dächern liegengeblieben. Weil das offene Buch auf dem Tisch von draußen her in ein erschreckend weißes Licht getaucht wurde, erschien es noch reiner und unschuldiger, was zugleich seine furchterregende Wirkung erhöhte.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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