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Orhan Pamuk ist nicht nur als Romancier bekannt, sondern auch als glänzender Essayist. Der vorliegende Band veranschaulicht die Vielzahl von Themen, über die er schreibt: Politik, Literatur und immer wieder Istanbul, die Stadt, die auch in den meisten seiner Romane präsent ist. Der autobiographische Bezug, der sich in seinen Romanen nur erahnen lässt, wird hier in den bewegenden Texten sichtbar, die seiner Kindheit gelten und der Erinnerung an seine Eltern.
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Seitenzahl: 340
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Hanser E-Book
Orhan Pamuk
Der Blick ausmeinem Fenster
Betrachtungen
Aus dem Türkischenvon Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag
Die Übersetzungen aus dem Türkischenstammen von Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann und Wolfgang Riemann.
ISBN 978-3-446-25234-9
© Orhan Pamuk 2006
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2006/2016
Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © Sedat Mehder
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Das LEBEN ist eine gute Ausrede für Bücher
Lauter bunte Knöpfe in einer alten Nähschachtel
Ingrid Iren
Heimische Kuchen in fremden Küchen
Ingrid Iren
Warum ich kein Architekt geworden bin
Ingrid Iren
Mein Vater
Christoph K. Neumann
Die POLITIK lenkt zu sehr ab
Meine Flagge
Gerhard Meier
Kein Eintritt
Gerhard Meier
Der Zorn der Verdammten
Christoph K. Neumann
Heimatliche Gefühle in den Straßen São Paulos
Gerhard Meier
Verkehr und Religion
Christoph K. Neumann
»Fall« oder »Eroberung«?
Christoph K. Neumann
Eine private Lektüre von André Gides öffentlichem Tagebuch
Wolfgang Riemann
Der Prozeß
Gerhard Meier
Die LITERATUR ist die Heimat
Über das Lesen
Gerhard Meier
Wie ich mich von einigen Büchern befreite
Christoph K. Neumann
Das Glück, Stendhal in Händen zu halten
Christoph K. Neumann
Erst Dostojewski lehrt, wie man die Erniedrigung genießt
Christoph K. Neumann
Das Furchterregende an Dostojewskis Dämonen
Gerhard Meier
Die Brüder Karamasow
Gerhard Meier
Unbarmherzigkeit, Schönheit, Zeit
Christoph K. Neumann
Für wen schreiben Sie eigentlich?
Ingrid Iren
Die bedrohliche Welt der Patricia Highsmith
Gerhard Meier
Problemlos über meine Probleme ...
Ingrid Iren
In Frankfurt und in Kars
Gerhard Meier
MALEREI, ARCHITEKTUR, FILME und andere Dinge werden betrachtet
Schwarzer Stift
Gerhard Meier
Die Selimiye-Moschee
Gerhard Meier
Entre-act oder: Ah! Cleopatra!
Cornelius Bischoff
Friseure
Gerhard Meier
Essen auf den Straßen von Istanbul
Gerhard Meier
Fünfundvierzig Sekunden
Ingrid Iren
Wer lacht, der hört das Beben nicht
Ingrid Iren
Eine ERZÄHLUNG
Aus dem Fenster schauen
Christoph K. Neumann
Editorische Notiz
Textnachweis
Register
Wo wir uns auch gerade befinden, morgens auf dem Weg zur Arbeit, bei Freunden oder Verwandten, auf dem Weg nach Hause oder andächtig auf einer Beerdigung: Großstadtmenschen haben immer ein festes Bild ihrer Stadt im Kopf. Es schimmert unentwegt in unserer Vorstellung, es zerstreut, unterhält und macht unseren Alltag abwechslungsreich. Unsere Vorstellungen von dem imaginären Mittelpunkt einer Stadt sind sehr unterschiedlich, je nach den Zielen, die wir uns stecken, nach dem Sinn, den wir in unserem Leben sehen, nach der Geschichte, die wir gelebt haben und die wir unsere Vergangenheit nennen, und nach den Hoffnungen, die wir hegen und die wir Zukunft nennen.
In meiner Vorstellung liegt der Mittelpunkt Istanbuls auf der anderen Seite des Bosporus, in Beyoğlu. Hier leben alle meine Freunde und Feinde, und in den geheimnisvollen Gassen leben viele Menschen völlig anders als ich. Hier sind die Spielzeugläden meiner Kindheit und die Buchhandlungen, in denen ich heute meine Bücher und Zeitungen kaufe, die Cafés und Bars, die die ganze Nacht geöffnet haben. Hie und da in den engen Straßen, zwischen hundertjährigen Gebäuden, von denen der Putz herunterbröckelt und in denen niemand mehr wohnt, zwischen Eingangsportalen, Kirchen und Moscheen schlüpft am frühen Morgen ein Liedfetzen, eine Duftwolke, ein oranges Licht aus einer halbgeöffneten Tür. Dann überkommt einen jenes Glücksgefühl, das die Großstadt von einem Dorf unterscheidet: das Gefühl, daß in diesen dunklen und häufig schmutzigen Straßen das Leben nie stillsteht.
Als ich ein Kind war, kamen die wohlhabenden Familien Istanbuls, die sich am Westen orientierten, oft nach Beyoğlu. »Du hast einen Knopf verloren, Liebling«, sagte meine Mutter zu mir, und nachdem sie keinen ähnlichen in ihrer Nähschachtel voll alter Knöpfe finden konnte, fuhr sie fort: »Das nächstemal, wenn wir nach Beyoğlu gehen, kaufen wir dir einen neuen.« Als Kinder mußten wir uns für den Gang nach Beyoğlu ordentlich anziehen. Es lag nicht weit von uns entfernt, und doch hätte man glauben können, wir führen in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land.
Waren wir in Beyoğlu angelangt, kaufte meine Mutter ihre Knöpfe in einem Kurzwarenladen, der einem Ehepaar aus Armenien gehörte; danach setzten wir uns in ein schickes Café, in dem griechische Kellner meinem Bruder und mir Limonade servierten; und auf dem Heimweg kaufte meine Mutter noch Hackfleisch bei Karabet, einem armenischen Metzger in einer Seitengasse. Diese sich wiederholenden Handlungen, die Gespräche und guten Wünsche waren uns so vertraut wie die bunten Knöpfe in der Nähschachtel meiner Mutter. Damals war Istanbul eine Stadt, in der Menschen unterschiedlicher Konfession und Sprache lebten, ohne über ihre Identität nachzugrübeln.
Jeder hatte natürlich seine eigene, so wie jeder seine Geburtsurkunde hatte, die er irgendwo in seiner Jacke, seiner Hand- oder Brieftasche oder in einer Schublade zu Hause aufbewahrte. Doch die neue türkische Demokratie war zu dieser Zeit noch schwächlich, man vermutete in ihr einen neuen Schachzug der Machthaber: Kulturelle und religiöse Unterschiede verbarg man also sorgfältig wie Sünden, mit einem leisen Schuldgefühl. Die Bewohner Beyoğlus lebten auf diese Weise seit Hunderten von Jahren freundlich und gleichgültig nebeneinander, ohne sich in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn einzumischen. Die Schulkinder gingen abends auf dem gleichen Gehsteig nach Hause wie die Prostituierten; Mütter mit ihren Einkaufskörben, schwere Jungs, Priester und Mörder sahen sich die gleichen Schaufenster und Filmplakate an. In Istanbul wohnten damals rund eine Million Menschen, heute sind es zehnmal mehr. An der Türkei jener Zeit zerrten der Westen und der Osten gleichermaßen, und die westlichen Zeitungen schütteten ihren Schimpf über ihr aus. In den Kinos liefen noch keine Pornos »Made in Turkey«, und man unterschied moslemische Gläubige noch nicht nach praktizierenden und fundamentalistischen Moslems.
Das änderte sich mit dem Niedergang der Filmindustrie. Die Yeşilçamstraße in Beyoğlu, das türkische Hollywood, war der Traum vieler Kinder und junger Mädchen aus der Provinz. Ende der sechziger Jahre produzierten die Studios über dreihundert Filme jährlich – damit war Yeşilçam der drittgrößte Filmproduzent nach Hollywood und Indien. Doch mit Beginn der durch das Fernsehen ausgelösten Krise in den Siebzigern entstanden hier mehr und mehr Pornofilme. Das Besondere an ihnen war, daß in ihnen Schauspieler auftraten, die bis dahin in durchaus respektierlichen Familienfilmen mitgewirkt hatten. Die Frauen der Mittelschicht, die zum Einkaufen kamen, oder Männer mit Krawatte, die bis dahin ins Kino gegangen waren, blieben Beyoğlu fern, seit sie dort Plakate mit halbnackten Stars zu sehen bekamen, die sie noch bis vor kurzem in der Rolle der Braut des tapferen Helden oder des eifersüchtigen Nachbarn bewundert hatten. Danach verließen auch die Minderheiten Beyoğlu, die letzten Levantiner, die Restaurants, die Händler und Straßenköche, die hier dank einer Oberschicht, die sich für westlich hielt, hatten überleben können. Gleichzeitig erlebte Istanbul eine Bevölkerungsexplosion, und den verlassenen Stadtteil nahmen neue Bewohner ein, die aus ihren Dörfern in Anatolien gekommen waren und hier eine kleine, ehrgeizige und clevere Gemeinschaft bildeten. Und während die armen Familien aus der Provinz in diesen Gassen fern des Zentrums ein neues Zuhause fanden, eroberte die Jugend, die den Reiz der gespannten Großstadtatmosphäre und der Gegenwart von gewaltgeladener Sexualität entdeckte, die belebte, lärmende Hauptverkehrsader Beyoğlus.
Ich erinnere mich an einen Silvesterabend, an dem ich mit Tränen in den Augen diese Straße hinunterging: Autos fuhren und parkten sogar auf den Gehsteigen, verstopften hoffnungslos die Straße, einzelne verschleierte Frauen schlängelten sich hindurch, und die Mauern waren beklebt mit Plakaten von Karate-Filmen. Nein, ich weinte nicht aus Kummer, sondern wegen der verschmutzten Luft, die mir in den Augen brannte.
Die Intellektuellen Istanbuls, 1980 vom militärischen Staatsstreich der Rechten und dem Niedergang der Linken enttäuscht, entdeckten Beyoğlu jetzt neu und zogen wieder in dieses kosmopolitische Viertel, nachdem sie sich ihres aus Populismus und ländlicher Romantik bestehenden marxistischen Erbes entledigt hatten, um sich eine moderne, städtische Identität zu schmieden. Diejenigen, die hier seit zwei Generationen lebten und Eigentum besaßen, machten die plötzlich steigenden Immobilienpreise unerwartet reich, und sie sahen sich auf einmal als »alte Istanbuler«. Die Geschäfte bekamen einen neuen Anstrich, Filmfestivals lösten die Pornos ab, und aus der Hauptverkehrsstraße wurde eine Fußgängerzone.
All das hat die junge städtische Schicht, die in den alten griechischen Häusern der Gassen am Rande Beyoğlus lebt, nicht davon abgehalten, bei den letzten Stadtwahlen die Fundamentalisten zu wählen. So hat sich eine Welle der Angst, die laut einiger Stimmen auf die Furcht vor der fundamentalistischen oder separatistischen Bewegung zurückgeht, bis nach Beyoğlu ausgebreitet – immerhin das weltoffenste Viertel der verwestlichsten Stadt eines Landes, das von allen moslemischen Ländern dem Westen am offensten gegenübersteht.
Während ich diesen Text schrieb, bin ich in den Gassen am Rand des Viertels spazierengegangen. Kleine Jungen spielten in einer schmalen Straße zwischen den dichtgeparkten Autos und überquellenden Mülltonnen ausgelassen Fußball und rauften sich auf den Gehsteigen. Über der Straße hing feuchte und vom Rauch der Kamine geschwärzte Wäsche auf einer Leine, die jemand in Höhe des dritten Stocks zwischen zwei Häusern gespannt hatte. Die Straße war wegen der Lastwagen, die den ganzen Tag Joghurt und Coca-Cola anliefern, genauso verstopft wie immer. Überall war der für Istanbul so typische Lärm zu hören: Verkehr, Fabriken, Motoren und Kinder. Mitten in diesem Durcheinander saßen indes zwei alte Männer vor einem kleinen Kiosk und spielten in aller Ruhe Backgammon. Ein herrenloser Hund schlief friedlich und zufrieden im Rinnstein.
Als ich wieder auf die Hauptstraße zurückkam, stand ich zwischen Kinos, teuren Geschäften, Banken und Wechselstuben. Der kleine Laden, in dem ich vor zweiundzwanzig Jahren zum erstenmal jene westliche Erfindung »Hamburger« gekostet hatte, war den Auslagen einer bekannten westlichen Hemdenmarke gewichen. Zwischen den bunten Boutiquen, in denen reiche und westlich beeinflußte Istanbuler ihre Kultur-, Finanz- und Kleidungsbedürfnisse befriedigten, war ein verstaubter Laden, der Videospiele verkaufte und in dem sich junge Arbeitslose aus den armen Randvierteln Beyoğlus drängelten.
Nach seinem Besuch Istanbuls vor hundertfünfzig Jahren schrieb Flaubert, er sei davon überzeugt, diese Stadt werde einmal der Mittelpunkt des Universums. Seine Vorhersage hat sich noch immer nicht erfüllt, doch in den Gassen der Stadt, in denen er umherspazierte, wuselt noch immer die Menge wie eine Armee Ameisen, wie es der Romancier beschrieb.
Mein Vater verließ uns manchmal, als wir noch Kinder waren, und verschwand auf rätselhafte Weise. Einige Wochen später erfuhren wir dann, daß er in irgendeinem anderen Haus in Istanbul lebte oder sich gar in einer Stadt im Ausland aufhielt. Und einmal, 1958, als ich sechs Jahre alt war, erhielten wir die Nachricht, er sei in Paris.
Er wohnte in einem billigen Hotel am Montparnasse, füllte Heft um Heft mit Aufzeichnungen, die er mir Jahre später in einem Koffer übergeben sollte, und manchmal saß er im Café Dôme, wo er Jean-Paul Sartre von weitem beobachtete.
Meine Großmutter versorgte ihn aus Istanbul mit Geld. Großvater war im Eisenbahnbau tätig gewesen und hatte als erfolgreicher Unternehmer gutes Geld verdient. Der nächsten Generation, meinem Vater und seinen Brüdern, war es nicht ganz gelungen, das Vermögen unter den Tränen meiner Großmutter durchzubringen, noch waren nicht alle Mietshäuser verkauft. Als aber Großmutter fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns erkennen mußte, daß bald kein Geld mehr übrig sein würde, überwies sie nichts mehr an ihren Sohn in Paris.
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