Diese Fremdheit in mir - Orhan Pamuk - E-Book
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Diese Fremdheit in mir E-Book

Orhan Pamuk

4,6

Beschreibung

Kann man die falsche Frau heiraten und trotzdem die große Liebe finden? Mevlut ist Straßenverkäufer in Istanbul, als er sich Ende der 60er Jahre auf der Hochzeit seines Cousins in die jüngere Schwester der Braut verliebt. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien. Doch dann schickt man ihm die ältere Schwester. Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte in enger Verbundenheit, doch dann nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wende. Istanbul aus der Sicht kleiner Leute: Ein großartiger Schelmenroman und ein Familienepos – vor allem aber erzählt der Nobelpreisträger Pamuk eine erstaunliche Liebesgeschichte.

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Seitenzahl: 897

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Über das Buch

Mevlut ist elf, als er Ende der 60er Jahre von einem Dorf in Anatolien zu seinem Vater nach Istanbul zieht. Er übt alle möglichen Berufe aus – Parkplatzwächter, Joghurt- und Pilavverkäufer –, doch am liebsten wandert er abends durch die Altstadt und bietet Boza feil, ein leicht alkoholisches Hirsegetränk, dem er spezielle Ingredienzien zufügt, um die Wirkung zu verstärken. Auf der Hochzeit seines Cousins verliebt er sich in die jüngere Schwester der Braut. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien, doch als er sie »entführen« möchte, schickt man ihm die ältere, weniger hübsche Schwester. Hat der Cousin Süleyman, dem er seine Briefe anvertraut hatte, die Finger im Spiel? Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Während die Stadt immer mehr anschwillt und ganze Viertel abgerissen und neu aufgebaut werden, leben die beiden Familien in enger Verbundenheit. Doch dann nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wende.

Hanser E-Book

Orhan Pamuk

Diese Fremdheit in mir

Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karataş und seiner Freunde

sowie

ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012

Roman

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Carl Hanser Verlag

Die türkische Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel Kafamda Bir Tuhaflıkbei Yapı Kredi Yayınları in Istanbul.

ISBN 978-3-446-25201-1

© Orhan Pamuk 2014. All rights reserved

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München Foto: Ara Güler

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Aslı

Es waren da trübe Gedanken,

So eine Fremdheit in mir,

Als wär’ ich nicht für jene Zeit

Noch auch für jenen Ort.

William Wordsworth, »Präludium«

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.

Jean-Jacques Rousseau, »Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«

An der Kluft zwischen der privaten

und der offiziellen Meinung unserer Landsleute

lässt sich ablesen, wie stark unser Staat ist.

Celal Salik, »Schriften«

Inhalt

Teil I (Donnerstag, 17. Juni 1982)

Mevlut und RayihaVon der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen

Teil II (Mittwoch, 30. März 1994)

Seit fünfundzwanzig Jahren jeden WinterabendLasst ihr wohl den Boza-Verkäufer in Frieden

Teil III (September 1968 – Juni 1982)

1.  Als Mevlut noch auf dem Dorf warWenn die Welt sprechen könnte, was würde sie dann wohl sagen?

2.  Das HausDie Hügel am Ende der Stadt

3.  Sich einfach irgendwo ein Haus hinbauenAch, Junge, dir macht Istanbul wohl Angst

4.  Mevluts Anfänge als VerkäuferDu brauchst hier nicht den großen Herrn zu spielen

5.  Atatürk-KnabenschuleDurch gute Erziehung und Bildung wird der Unterschied zwischen Reich und Arm aufgehoben

6.  Schule und PolitikMorgen ist keine Schule

7.  Das Elyazar-KinoEine Angelegenheit von Leben und Tod

8.  Die Höhe der Moschee von DuttepeLeben dort überhaupt Menschen?

9.  NerimanWas die Stadt eigentlich ausmacht

10.  Wozu es führt, wenn man an die Moscheemauer kommunistische Plakate klebtGott schütze die Türken

11.  Krieg zwischen Duttepe und KültepeWir sind unparteiisch

12.  Ein Mädchen vom Dorf heiratenMeine Tochter ist nicht zu verkaufen

13.  Mevluts SchnurrbartBesitzer ohne Grundbucheintrag

14.  Mevlut verliebt sichSo eine Begegnung gibt es nur mit Gottes Hilfe

15.  Mevlut zieht ausWürdest du sie auf der Straße überhaupt wiedererkennen?

16.  Wie schreibt man einen Liebesbrief?Die Zauberpfeile aus deinen Augen

17.  Mevluts MilitärzeitMeinst du vielleicht, du bist hier daheim?

18.  Der MilitärputschDer Friedhof im Industrieviertel

19.  Mevlut und RayihaVon der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen

Teil IV (Juni 1982 – März 1994)

1.  Mevlut und Rayiha heiratenNur der Tod kann uns scheiden

2.  Mevlut als EisverkäuferDie glücklichsten Tage seines Lebens

3.  Die Hochzeit von Mevlut und RayihaWer es mit Joghurt nicht schafft, verkauft Boza

4.  Pilav mit KichererbsenMit ein bisschen Dreck darin schmeckt das Essen noch mal so gut

5.  Mevlut wird VaterSteig ja nicht aus hier

6.  Samiha läuft wegWofür lebt der Mensch eigentlich?

7.  Das zweite MädchenSein Leben war so, als würde es einem anderen widerfahren

8.  Kapitalismus und TraditionMevluts glückliches Heim

9.  Das Gazi-ViertelHier werden wir uns verstecken

10.  Die Stadt abstaubenMein Gott, wo kommt nur der ganze Dreck her?

11.  Mädchen, zu denen keine Brautschauerin kommtWir waren gerade in der Gegend

12.  In TarlabaşıDer glücklichste Mann der Welt

13.  Süleyman mischt alle aufWar das so oder war das nicht so?

14.  Mevlut sucht sich eine andere StraßeneckeDen hol ich mir morgen früh zurück

15.  Der Spirituelle MeisterMir ist ein großes Unrecht widerfahren

16.  Binbom BüfeLass dich ja nicht runterhandeln

17.  Die Verschwörung der AngestelltenMisch dich in gar nichts ein

18.  Die letzten Tage im BinbomZwanzigtausend Schafe

Teil V (März 1994 – September 2002)

1.  Boza bei den SchwagernEin ehrbares Geschäft, und noch dazu ein patriotisches

2.  Zwei Frauen in einem kleinen LadenAndere Stromzähler, andere Familien

3.  Ferhats elektrische LiebeGehen wir weg von hier

4.  Kinder sind etwas HeiligesAm besten ich sterbe, dann kannst du Samiha heiraten

5.  Mevlut als ParkplatzwächterHalb schuldbewusst, halb verwirrt

6.  Nach RayihaWenn man weint, kann einem keiner böse sein

7.  Das Gedächtnis des StromverbrauchsSüleyman in der Tinte

8.  Mevlut in den entlegensten ViertelnHunde merken gleich, wer nicht zu uns gehört

9.  Einen Nachtclub ruinierenIst es recht und billig?

10.  Mevlut bei der PolizeiIch habe in diesen Straßen mein ganzes Leben verbracht

11.  Die Absicht des Herzens und die Absicht der ZungeFatma studiert schon

12.  Fevziye läuft wegDie beiden sollen mir die Hand küssen

13.  Mevlut ist einsamWie zwei Menschen so zueinander passen können

14.  Neue Viertel, alte BekannteIst das das Gleiche?

15.  Mevlut und SamihaIch habe die Briefe dir geschrieben

16.  Das HausWir haben uns einander vorsichtig angenähert

Teil VI (Mittwoch, 15. April 2009)

Ein zwölfstöckiges HochhausDu hast ein Recht auf Gewinn in dieser Stadt

Teil VII (Donnerstag, 25. Oktober 2012)

Wie schnell stirbt eine StadtIch kann nur beim Gehen nachdenken

Anhang

Personenverzeichnis

Chronologie

Teil IDonnerstag, 17. Juni 1982

Es ziemt sich nicht, die jüngere Tochter zu verheiraten, solange die ältere noch ledig ist.

Şinasi, »Die Hochzeit des Dichters«

Lüge, die rauswill, bleibt nicht im Mund;

Blut, das fließen will, bleibt nicht im Leib;

Mädchen, das fortwill, bleibt nicht zu Haus.

Alter Spruch aus Beyşehir (aus der Umgegend von İmrenler)

Mevlut und Rayiha

Von der Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen

Das ist die Geschichte vom Leben und den Träumen des Joghurt- und Boza-Verkäufers Mevlut Karataş. Geboren wurde Mevlut 1957 im äußersten Westen Asiens, in einem mittelanatolischen Dorf mit Blick auf einen fernen, dunstigen See. Mit zwölf kam er nach Istanbul und lebte von da an in der Hauptstadt der Welt. Mit fünfundzwanzig entführte er aus einem Dorf ein Mädchen; da geschah etwas Seltsames, das sein ganzes Leben bestimmen sollte. Er fuhr nach Istanbul zurück, heiratete und bekam zwei Töchter. Unablässig arbeitete er, verkaufte mal Joghurt, mal Eis, mal Pilav, oder kellnerte. Abend für Abend aber zog er unweigerlich los, verkaufte Boza und hing dabei seltsamen Träumen nach.

Unser Held Mevlut war groß und kräftig, dabei aber schlank, und er sah gut aus. Er hatte braunes Haar, einen wachen, klugen Blick und ein jungenhaftes Gesicht, das bei Frauen zärtliche Gefühle weckte. Dieses Jungenhafte hielt noch an, als er schon weit über vierzig war, und die Frauen fanden ihn noch immer schön; an diese beiden Grundzüge Mevluts werde ich die Leser ab und zu erinnern, damit sie unsere Geschichte so recht begreifen. Darauf, wie zuversichtlich und gutherzig Mevlut war – manche werden sagen: wie blauäugig –, brauche ich nicht weiter zu verweisen, denn Sie werden sich selbst davon überzeugen. Hätten meine Leser Mevlut persönlich kennengelernt, so wie ich, würden sie erstens den Frauen recht geben, die an seiner jugendlichen Anmut Gefallen fanden, und sie würden zweitens zugeben, dass meine Beschreibung keineswegs schöngefärbt ist. Bei dieser Gelegenheit möchte ich überhaupt betonen, dass ich in diesem Buch, das gänzlich auf wahren Begebenheiten beruht, an keiner Stelle übertreiben, sondern mich lediglich darauf beschränken werde, tatsächlich geschehene seltsame Vorfälle in eine vom Leser leicht zu begreifende Abfolge zu bringen.

Um das Leben und die Träume unseres Helden angemessen zu schildern, werde ich in der Mitte der Geschichte beginnen und als Erstes erzählen, wie Mevlut im Juni 1982 aus dem Nachbardorf Gümüşdere (Provinz Konya, Landkreis Beyşehir) ein Mädchen entführte. Er hatte sie vier Jahre zuvor bei einer Hochzeit in Istanbul zum ersten Mal gesehen, und nun war sie dazu bereit, sich entführen zu lassen. Die Hochzeit seines Cousins Korkut hatte in dem Viertel Mecidiyeköy stattgefunden, und beim Anblick des überaus hübschen und damals noch blutjungen, nämlich erst dreizehn Jahre alten Mädchens hätte Mevlut nie gedacht, dass sie seine Gefühle erwidern könnte. Sie war eine jüngere Schwester der Braut und aus Anlass der Hochzeit zum ersten Mal in Istanbul. Mevlut schrieb ihr über drei Jahre hinweg Liebesbriefe. Zwar antwortete sie nicht, doch Korkuts Bruder Süleyman, der die Briefe übermittelte, gab Mevlut Hoffnung und ermunterte ihn zum Weiterschreiben.

Süleyman half Mevlut dann auch bei der Entführung. Mit seinem Ford-Lieferwagen brachte er Mevlut in ihr Heimatdorf. Laut dem Plan, den die beiden ausgeheckt hatten, sollte Süleyman eine Stunde von Gümüşdere entfernt in seinem Lieferwagen auf Mevlut und das entführte Mädchen warten, und während dann jedermann dächte, die beiden Liebenden seien auf dem Weg nach Beyşehir, würde er sie stattdessen nach Norden bringen, über die Berge hinweg, zum Bahnhof von Akşehir.

Immer wieder war Mevlut den Plan durchgegangen und hatte heimlich alle Stellen aufgesucht, die dabei eine Rolle spielten, den kalten Brunnen, den schmalen Bach, den baumbestandenen Hügel, den Garten hinter dem Haus des Mädchens. Als es so weit war, stieg er eine halbe Stunde vor der mit dem Mädchen verabredeten Zeit aus dem Lieferwagen, schlich sich in den Friedhof des Dorfes und betete vor den Gräbern um ein gutes Gelingen. Er wagte sich kaum einzugestehen, dass er Süleyman nicht ganz traute. Wenn dieser nun nicht, wie vereinbart, mit dem Lieferwagen zum Brunnen kam? Schnell verbot er sich diesen schrecklichen Gedanken.

Mevlut trug eine zu Schulzeiten, als er schon mit dem Vater Joghurt verkaufte, in Beyoğlu gekaufte Stoffhose, ein blaues Hemd und Schuhe, die er sich vor dem Militärdienst geleistet hatte.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit ging er auf die bröckelige Gartenmauer zu. Das hintere Fenster am weißgetünchten Haus von Abdurrahman, dem Vater des Mädchens, war dunkel. Mevlut war zehn Minuten zu früh dran. In furchtbarer Aufregung starrte er auf das Fenster. Ihm fielen Geschichten von jungen Männern ein, die nach dem Entführen des geliebten Mädchens in die Falle der Blutrache gerieten und erschossen wurden, und von anderen, die beim Davonlaufen in dunkler Nacht umherirrten, bis man sie erwischte. Und dann sollte es auch vorkommen, dass das Mädchen es sich plötzlich anders überlegte und nicht mitging, und man blamierte sich bis auf die Knochen. Erregt stand Mevlut auf. Gott würde ihn beschützen.

Hunde bellten. Das Fenster wurde hell und gleich wieder dunkel. Mevlut schlug das Herz bis an den Hals. Er ging auf das Haus zu. Zwischen den Bäumen hörte er etwas knacken, dann wurde sein Name geflüstert: »Mevlut!«

Das war die liebevolle Stimme des Mädchens, das all seine Briefe aus der Militärzeit gelesen hatte, des Mädchens, das ihm vertraute. Mevlut dachte an die Hunderte voller Inbrunst geschriebenen Briefe zurück, an sein einziges Ziel, dieses schöne Mädchen für sich einzunehmen, an seine Träume vom Glück. Endlich war es ihm gelungen, sie zu überzeugen. Ohne etwas zu sehen, lief er in dieser verwunschenen Nacht wie ein Schlafwandler auf ihre Stimme zu.

Im Dunkel fanden sie einander. Unwillkürlich fassten sie sich an den Händen und liefen los. Kaum hatten sie ein paar Schritte getan, schlugen Hunde an, und Mevlut verwirrten sich die Sinne. Er wusste plötzlich den Weg nicht mehr und lief blind drauflos. Bäume tauchten gleich Betonwänden vor ihnen auf und verschwanden wieder, doch wie ihm Traum stießen sie an keinen einzigen.

Am Ende des Pfades keuchten sie einen Hang hinauf, der zwischen Felsbrocken hindurch so steil anstieg, als führte er bis zum dunklen, wolkigen Himmel hinauf. Wohl eine halbe Stunde kletterten sie empor, und oben angelangt gingen sie Hand in Hand weiter. Die Lichter von Gümüşdere schienen dort hinauf, und dahinter war Cennetpınar zu sehen, wo Mevlut geboren war. Für den Fall, dass schon jemand hinter ihnen her war, wollte er diesen Verfolger nicht zu seinem eigenen Dorf führen, und auch um einem etwaigen Plan Süleymans zuvorzukommen, ging Mevlut instinktiv in die andere Richtung.

Die Hunde bellten noch immer wie verrückt. Mevlut musste einsehen, dass er in der Gegend inzwischen ein Fremder war und die Hunde ihn nicht mehr kannten. Von Gümüşdere her hörten sie auf einmal einen Schuss. Erst beherrschten sie sich noch und gingen unveränderten Schrittes weiter, doch als die Hunde kurz innehielten und dann gleich wieder losbellten, verfielen die beiden ins Laufen und eilten die andere Hangseite hinab. Ihnen schlugen Blätter und Zweige ins Gesicht, und ihre Kleider verfingen sich in Dornen. Da Mevlut kaum noch etwas sah, meinte er jeden Augenblick, sie würden gegen einen Felsen prallen und zu Boden stürzen, doch nichts dergleichen geschah. Zwar fürchtete er sich vor den Hunden, doch irgendwie wusste er auch, dass Gott ihn und Rayiha beschützen würde und dass ihnen in Istanbul ein glückliches Leben bevorstand.

Als sie völlig außer Atem an der Straße nach Akşehir ankamen, war Mevlut sich gewiss, dass sie nicht zu spät dran waren. Wenn Süleyman nun wirklich mit seinem Lieferwagen kam, würde niemand ihm Rayiha mehr wegnehmen können. Jeden seiner Briefe hatte Mevlut im Gedanken an das hübsche Gesicht und die unvergesslichen Augen des Mädchens damit begonnen, dass er voller Sorgfalt ihren schönen Namen hinschrieb: Rayiha. Als ihm dies nun wieder einfiel, ging er vor lauter Glück noch schneller.

So dunkel, wie es war, konnte er das entführte Mädchen kaum sehen. Wenigstens berühren wollte er sie oder küssen, doch mit dem Bündel, das sie dabeihatte, wehrte Rayiha ihn jeweils sanft wieder ab. Eigentlich gefiel ihm das. Er beschloss, die Frau, mit der er sein ganzes Leben verbringen würde, vor der Ehe nicht zu berühren.

Hand in Hand gingen sie über das Brücklein, das über den kleinen Fluss Sarp führte. Rayihas Hand war vogelleicht und zart. Aus dem brausenden Flüsschen duftete es nach Thymian und Lorbeer herauf.

Ein violettes Licht zuckte durch die Nacht, dann donnerte es. Mevlut befürchtete, vor der langen Zugfahrt vom Regen erwischt zu werden, ging aber trotzdem nicht schneller.

Bald darauf sahen sie aus der Ferne neben dem verfallenden Brunnen die Rücklichter von Süleymans Lieferwagen. Mevlut zerriss es fast vor lauter Freude. Er machte sich Vorwürfe, an Süleyman je gezweifelt zu haben. Nun setzte der Regen ein. Fröhlich liefen sie los, doch da sie beide müde waren und die Rücklichter doch weiter entfernt, als sie gedacht hatten, kamen sie ziemlich durchnässt am Lieferwagen an.

Rayiha stieg hinten in den Laderaum, wie Mevlut und Süleyman dies verabredet hatten. Zum einen konnte Rayihas Flucht entdeckt worden sein, sodass sie unterwegs vielleicht von Gendarmen angehalten würden, und zum anderen sollte Rayiha Süleyman nicht sehen.

Als Mevlut vorne einstieg, sagte er: »Süleyman, dass du das für mich getan hast, werde ich dir mein Leben lang nicht vergessen!« Er konnte nicht an sich halten und umarmte den Cousin so fest er nur konnte. Jener zeigte sich weit weniger überschwänglich und war womöglich beleidigt, weil er Mevluts Misstrauen gespürt hatte.

»Schwör mir, dass du niemandem von meiner Hilfe erzählst«, verlangte Süleyman.

Mevlut schwor es ihm.

»Sie hat die Tür nicht zugemacht«, sagte Süleyman. Mevlut stieg wieder aus und ging im Dunkel hinter das Fahrzeug. In dem Moment, als er die Tür schloss, zuckte ein Blitz, und der ganze Himmel, die Berge, die Felsen, alles leuchtete auf wie eine ferne Erinnerung. Zum ersten Mal sah Mevlut das Gesicht seiner zukünftigen Frau aus der Nähe.

Sein ganzes Leben lang musste er immer wieder an diesen Augenblick zurückdenken, an dieses äußerst seltsame Gefühl.

Als sie losfuhren, holte Süleyman aus dem Handschuhfach ein Tuch und hielt es Mevlut hin. »Da, zum Abtrocknen.« Mevlut roch daran, und als er das Tuch für sauber befand, reichte er es durch eine Öffnung nach hinten zu dem Mädchen.

Eine Weile später bemerkte Süleyman: »Du hast dich ja nicht abgetrocknet. Was anderes habe ich aber nicht.«

Der Regen trommelte auf das Dach, die Scheibenwischer taten wimmernd ihr Werk, doch Mevlut wusste, dass sie auf eine tiefe Stille zufuhren. Die blassen Scheinwerfer leuchteten in dichte Waldesfinsternis hinein. Mevlut hatte viel davon gehört, dass Wölfe, Schakale und Bären sich nach Mitternacht mit Geistern und Dämonen trafen, und Fabelwesen und Teufelsschatten war er in Istanbuler Nächten schon selbst begegnet. Es war dies die Finsternis, in der spitzschwänzige Kobolde, großfüßige Riesen und gehörnte Zyklopen sich verirrte Wanderer und hilflose Sünder schnappten und sie in die Unterwelt entführten.

»Du kriegst ja den Mund nicht mehr auf«, sagte Süleyman.

Mevlut hatte begriffen, dass die seltsame Stille, die sich seiner bemächtigt hatte, noch jahrelang andauern würde.

In seinem Bemühen zu verstehen, wie er dem Leben derart in die Falle hatte gehen können, versuchte er sich einzureden, dies sei doch nur geschehen, weil die Hunde gebellt hätten und er sich dann verlaufen habe, und wenn er auch genau wusste, wie falsch das war, zog er unwillkürlich daraus Trost.

»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte Süleyman.

»Nein, nein.«

Wenn bei langsamer Kurvenfahrt auf der engen, matschigen Straße im Scheinwerferlicht Felsen, Baumgespenster, nebulöse Schatten und geheimnisvolle Dinge auftauchten, sah Mevlut diese Wunder an als wüsste er, dass er sie nie mehr vergessen würde. Mal schraubten sie sich lange die gewundene Straße hinauf, dann ging es wieder bergab, und hin und wieder fuhren sie lautlos wie Diebe durch die Dunkelheit eines im Matsch versunkenen Dorfes. Dort bellten Hunde auf, aber danach setzte gleich wieder eine derart tiefe Stille ein, dass Mevlut nicht zu sagen wusste, ob diese Fremdheit nun in seinem Kopf war oder in der ganzen Welt. Er sah im Dunkel die Schatten fabelhafter Vögel. Er sah aus wirren Linien gezeichnete unverständliche Buchstaben, sah die Überreste von Teufelsheeren, die vor Jahrhunderten durch jene einsame Gegend gezogen waren. Sah die Schatten jener, die zu Stein verwandelt waren, da sie gesündigt hatten.

»Fang ja nicht an, es zu bereuen«, sagte Süleyman. »Es gibt überhaupt nichts zu befürchten. Keiner ist hinter euch her. Außer dem Vater wissen wahrscheinlich eh schon alle, dass sie weggelaufen ist. Sag bloß nicht, dass ich was damit zu tun habe, dann wird der Bucklige Abdurrahman sich schon beschwichtigen lassen. Wart’s ab, innerhalb von zwei Monaten verzeiht er euch. Und noch bevor es Sommer wird, fahrt ihr zu ihm hin und küsst ihm die Hand.«

An einem steilen Anstieg drehten in einer Kurve auf einmal die Hinterräder durch, und Mevlut stellte sich schon vor, es sei alles zu Ende und Rayiha würde in ihr Dorf und er selbst nach Istanbul zurückkehren, ohne dass etwas geschehen war.

Dann aber fuhr der Lieferwagen weiter.

Etwa eine Stunde später fielen die Scheinwerfer des Lieferwagens auf die ersten Häuser und Gassen von Akşehir. Der Bahnhof war jenseits der Stadt, etwas außerhalb.

»Geht nur ja nicht auseinander«, sagte Süleyman, als er die beiden am Bahnhof aussteigen ließ. Er warf einen Blick auf das Mädchen, das im Dunkel mit seinem Bündel dastand. »Ich steige lieber nicht aus, sonst erkennt sie mich. Ich habe ziemliche Verantwortung auf mich geladen. Du wirst sie doch auf jeden Fall glücklich machen, ja? Sie ist jetzt deine Frau, die Würfel sind gefallen. Am besten, in Istanbul versteckt ihr euch erst eine Weile.«

Mevlut und Rayiha sahen dem Lieferwagen nach, bis dessen beiden roten Rücklichter im Dunkel verschwunden waren. Ohne sich bei der Hand zu halten, gingen sie in das alte Bahnhofsgebäude von Akşehir.

Drinnen brannten helle Neonlampen. Mevlut besah sich zum zweiten Mal und nun ganz aufmerksam und aus der Nähe das Mädchen, das er entführt hatte, und als er wieder sah, was er beim Schließen der Wagentür schon gesehen hatte und nicht hatte glauben können, wandte er die Augen ab.

Das war nicht das Mädchen, das er auf Korkuts Hochzeit gesehen hatte. Es war ihre ältere Schwester. Man hatte Mevlut auf der Hochzeit ein hübsches Mädchen gezeigt und ihm dann eine andere geschickt. Mevlut schämte sich, so betrogen worden zu sein, und konnte dem Mädchen, von dem er nicht einmal wusste, ob es tatsächlich Rayiha hieß, nicht mehr ins Gesicht sehen.

Wer hatte ihm da so übel mitgespielt, und wie? Als er auf den Schalter zuging, hörte er seine eigenen Schritte wie aus der Ferne hallen, als wären es die Schritte eines anderen. Beim Anblick alter Bahnhöfe würde Mevlut sein Leben lang an jene Minuten zurückdenken.

Wie im Traum kaufte er zwei Fahrkarten nach Istanbul.

»Der Zug kommt gleich«, sagte der Beamte. Er kam aber nicht. Die beiden zwängten sich in dem mit Koffern, Körben, Bündeln und müden Menschen vollgestopften Wartezimmer auf eine Bank und sprachen kein Wort miteinander.

Mevlut erinnerte sich, dass Rayiha – oder vielmehr das hübsche Mädchen, das für ihn Rayiha gewesen war – eine ältere Schwester hatte. Das Mädchen, das nun neben ihm saß, hieß tatsächlich Rayiha. So hatte es zumindest Süleyman soeben gesagt. Mevlut hatte seine Liebesbriefe einer Rayiha geschrieben, sich dabei aber jemand anderen vorgestellt, zumindest ein anderes Gesicht. Ihm fiel nun ein, dass er nicht einmal wusste, wie das hübsche Mädchen wirklich hieß. Wie hatte er sich nur so betrügen lassen können? Er begriff es nicht, konnte sich an nichts erinnern, und die Verwirrung in ihm wurde so zu einem Teil der Falle, in die er getappt war.

Er sah auf Rayihas Hand, die er kurz zuvor noch liebevoll gedrückt hatte. In seinen Briefen hatte er geschrieben, wie er sich vorstellte, diese Hand einmal halten zu dürfen. Es war eine schöne, wohlgeformte Hand, die brav auf dem Schoß ruhte und nur hin und wieder an dem Bündel oder am Rock zupfte.

Mevlut ging zum Bahnhofskiosk und kaufte zwei fast vertrocknete Gebäckstücke. Auf dem Rückweg besah er sich aus der Ferne Rayihas vom Kopftuch umrahmtes Gesicht. Es war und war nicht das hübsche Gesicht, das er auf Korkuts Hochzeit gesehen hatte. Mevlut war sich nun ganz sicher, dass er Rayiha zum ersten Mal im Leben sah oder doch zumindest wahrnahm. Wie aber hatte das geschehen können? War Rayiha sich klar, dass er beim Schreiben der Briefe an ihre Schwester gedacht hatte?

»Willst du eins?«

Mit ihrer ebenmäßigen Hand nahm Rayiha eines der Gebäckstücke. Aus ihrem Gesicht las Mevlut nicht die Erregung flüchtender Liebender ab, sondern schlichte Dankbarkeit.

Behutsam, mit beinahe schuldbewusster Miene biss Rayiha hinein, und Mevlut setzte sich wieder neben sie und sah ihr aus dem Augenwinkel zu. Er selbst hatte keinen Appetit, doch aus Verlegenheit aß auch er das trockene Gebäck.

Wortlos saßen sie da. Mevlut kam sich vor wie in einer nicht enden wollenden Schulstunde. Andauernd zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er nur in solch eine Situation hatte geraten können.

Er dachte an jene Hochzeit zurück, auf die sein Vater selig, Mustafa Efendi, ihn gar nicht hatte gehen lassen wollen. Heimlich hatte Mevlut sich aus dem Dorf davongemacht und war nach Istanbul gefahren. Und das hatte er sich damit eingebrockt! Wie die Scheinwerfer von Süleymans Lieferwagen suchten die in sich gekehrten Blicke Mevluts die dunklen Stellen und Ecken seiner fünfundzwanzig Lebensjahre ab, um irgendwie zu erhellen, was ihm da widerfuhr.

Der Zug kam und kam nicht. Mevlut stand wieder auf und ging zum Imbiss, der mittlerweile aber geschlossen hatte. Draußen standen zwei Pferdewagen bereit, um Reisende in die Stadt zu fahren. Einer der Kutscher saß da und rauchte. Es herrschte grenzenlose Stille auf dem Bahnhofsvorplatz. Mevlut bemerkte eine riesige Platane und ging darauf zu.

Vor dem Baum stand ein Schild, das vom Bahnhof her fahl beleuchtet war.

DER GRÜNDER UNSERER REPUBLIK

MUSTAFA KEMAL ATATÜRK

HAT BEI SEINEM BESUCH IN AKŞEHIR

IM JAHRE 1922 UNTER DIESER

HUNDERTJÄHRIGEN PLATANE GESESSEN

UND KAFFEE GETRUNKEN.

Im Geschichtsunterricht war der Name Akşehir bisweilen vorgekommen, und Mevlut hatte durchaus begriffen, was diese Nachbarstadt in der türkischen Geschichte für eine Bedeutung hatte, doch worum genau es dabei ging, hätte er nicht zu sagen gewusst. Er hatte sich nicht sehr bemüht, ein Musterschüler zu sein. Vielleicht war ja das sein Fehler. Fünfundzwanzig war er nun, und er nahm sich vor, einiges Versäumte nachzuholen.

Als er wieder zu Rayiha zurückging, sah er sie noch einmal aufmerksam an. Nein, er konnte sich nicht erinnern, sie auf der Hochzeit vor vier Jahren auch nur aus der Ferne gesehen zu haben.

Als der verrostete Zug unter lautem Bremsengekreisch mit vier Stunden Verspätung endlich eintraf, fanden sie Platz in einem leeren Abteil, aber dennoch setzte sich Mevlut nicht Rayiha gegenüber, sondern neben sie. Wenn sie über Weichen oder abgenutzten Schienen vom Zug durchgeschüttelt wurden, berührte Mevluts Rayihas Schulter, und selbst das kam ihm befremdlich vor.

Mevlut ging auf die Zugtoilette und lauschte wie schon damals in Kindertagen dem Schienengeratter, das durch das offene Loch herauftönte. Als er ins Abteil zurückkehrte, war Rayiha eingenickt. Wie konnte sie in der Nacht, in der sie von zu Hause fortlief, in aller Seelenruhe einschlafen? »Rayiha! Rayiha!«, flüsterte er ihr ins Ohr, und sie wachte so natürlich auf wie jemand, der tatsächlich Rayiha heißt, und lächelte ihn an. Wortlos setzte Mevlut sich neben sie.

Wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, saßen sie schweigend da und sahen zum Fenster hinaus. Hin und wieder erblickten sie die Straßenlaternen eines kleinen Städtchens, die Lichter eines Fahrzeugs auf einer einsamen Straße oder grüne und rote Eisenbahnsignale, doch meist war es draußen stockfinster und sie sahen nichts anderes als ihren eigenen Widerschein im Fenster.

Als es nach zwei Stunden zu tagen begann, bemerkte Mevlut, dass Rayiha Tränen über die Wangen liefen. Sie waren noch immer allein im Abteil, und der Zug ratterte durch eine violette Landschaft voller Abgründe.

»Willst du zurück nach Hause?«, fragte Mevlut. »Bereust du es?«

Da weinte Rayiha noch heftiger. Ungeschickt legte Mevlut ihr den Arm um die Schultern. Dabei war ihm aber nicht wohl, und er zog den Arm zurück. Lange weinte Rayiha bittere Tränen, und Mevlut fühlte sich schuldig.

»Du liebst mich gar nicht«, sagte Rayiha auf einmal.

»Warum?«

»Deine Briefe waren voller Liebe, aber du hast mich hintergangen. Hast du sie wirklich selbst geschrieben?«

»Ja, allesamt.«

Doch Rayiha hörte nicht auf zu weinen.

Als der Zug eine Stunde später in den Bahnhof von Afyonkarahisar einfuhr, stieg Mevlut eilig aus und kaufte am Imbiss ein Brot, zwei Käseecken und ein Päckchen Kekse. Während der Zug danach den Fluss Aksu entlangfuhr, frühstückten sie und kauften bei einem Jungen, der mit seinem Tablett durch die Waggons ging, zwei Glas Tee. Es freute Mevlut, dass Rayiha sich für alles interessierte, was sie aus dem Zugfenster sah: Ortschaften, Pappeln, Traktoren, Pferdewagen, fußballspielende Kinder, die Flüsse, die sie auf eisernen Brücken überquerten. Alles auf der Welt erschien ihr sehenswert.

Als Rayiha zwischen den Stationen Alayurt und Uluköy einschlief, lehnte sie den Kopf an Mevluts Schulter. Mevlut musste sich eingestehen, dass ihn das mit einem Gefühl der Verantwortung, ja des Glücks erfüllte. Inzwischen setzten sich zwei Gendarmen und ein alter Mann ins Abteil. Mevlut sah draußen Strommasten, Lastwagen auf Asphaltstraßen und neuartige Betonbrücken, und er wertete all dies als Zeichen dafür, wie sehr es mit dem Land doch aufwärtsging; voller Missmut nahm er dagegen zur Kenntnis, dass die Mauern der Fabriken und der ärmeren Viertel mit politischen Slogans vollgeschmiert waren.

Zu seiner Verblüffung nickte Mevlut schließlich selbst ein.

Als der Zug in Eskişehir anhielt, wachten sie gleichzeitig auf und erschraken auch beide beim Anblick der Gendarmen, als fürchteten sie, gleich verhaftet zu werden, doch dann beruhigten sie sich und lächelten sich an.

Rayiha hatte ein so inniges Lächeln. Unvorstellbar, dass sie etwas verbarg und irgendwelche Ränke schmiedete. Sie hatte ein offenes, ehrliches Gesicht. Mevlut leuchtete ein, dass sie mit denen, die ihn betrogen hatten, wohl unter eine Decke steckte, doch wenn er ihr ins Gesicht sah, konnte er nicht anders, als an ihre Unschuld zu glauben.

Als der Zug sich Istanbul näherte, redeten sie über die großen Fabriken, die sich am Bahngleis entlangreihten, über die Erdölraffinerie von Izmit mit ihren feuerspeienden Schloten, über die riesigen Frachtschiffe, die wer weiß wie weit in die Welt hinausfuhren. Wie ihre beiden Schwestern hatte auch Rayiha zumindest die Grundschule besucht und wusste recht mühelos die Namen vieler Länder aufzuzählen, die ans Meer grenzten. Mevlut war stolz auf sie.

Bei jener Hochzeit vor vier Jahren war sie bereits in Istanbul gewesen. Dennoch fragte sie bescheiden: »Ist das jetzt schon Istanbul?«

»Ja, Kartal gehört schon dazu«, erwiderte Mevlut selbstsicher. »Aber da kommt noch einiges mehr.« Er zeigte auf die Prinzeninseln gegenüber. Dort würden sie bestimmt einmal gemeinsam hinfahren.

Das aber sollte Rayiha in ihrem kurzen Leben nicht mehr beschieden sein.

Teil IIMittwoch, 30. März 1994

Zuerst essen die Asiaten bei ihren Hochzeiten und trinken Boza, danach streiten sie sich.

Lermontow, »Ein Held unserer Zeit«

Seit fünfundzwanzig Jahren jeden Winterabend

Lasst ihr wohl den Boza-Verkäufer in Frieden

Als Mevlut zwölf Jahre nachdem er Rayiha nach Istanbul entführt hatte, an einem finsteren Märzabend des Jahres 1994 auf der Straße Boza verkaufte, baumelte vor seiner Nase auf einmal ein Korb.

»He, Boza-Verkäufer, zwei Portionen bitte!«, rief eine Kinderstimme.

Der Korb war vom Himmel geschwebt wie ein Engel, und Mevlut stutzte etwas, denn zu Straßenverkäufern an einem Strick einen Korb hinunterzulassen, war eine Angewohnheit, die sich in Istanbul allmählich verlor. Er dachte an die Zeit vor genau fünfundzwanzig Jahren zurück, als er, Schüler noch, mit seinem Vater durch die Straßen zog und Joghurt und Boza verkaufte. Nun füllte er in das Emailgefäß im Korb viel mehr, als das Kind verlangt hatte, nicht nur zwei Glas Boza, sondern fast ein Kilo. Und fühlte sich dabei, als sei er auf einen Engel gestoßen. Seit einigen Jahren hatte er es immer mehr mit dem Religiösen.

Damit unsere ohnehin voller Seltsamkeiten steckende Geschichte nicht ins Unverständliche abgleitet, sollte an dieser Stelle erläutert werden, was Boza eigentlich ist, nämlich ein aus Asien stammendes, zähflüssiges Getränk aus vergorener Hirse, dunkelgelb, wohlriechend und leicht alkoholisch; denn die Leser in anderen Weltgegenden werden Boza wohl nicht kennen, und es steht zu befürchten, dass es türkischen Lesern in etwa zwanzig, dreißig Jahren nicht anders gehen wird.

Da Boza bei Hitze leicht verdirbt, wurde es in Istanbul zu osmanischen Zeiten vor allem im Winter verkauft, in Läden, die allerdings schon im Gründungsjahr der Republik, 1923, weitgehend von deutschen Bierstuben verdrängt waren. Auf der Straße wurde Boza aber weiterhin von umherziehenden Verkäufern feilgeboten. Spätestens ab den sechziger Jahren war der Boza-Verkauf nur noch ihre Domäne, und wenn sie an Winterabenden mit ihrem langgezogenen »Bozaa!« durch armselige Viertel zogen, riefen sie uns damit vergangene Jahrhunderte in Erinnerung, verlorene, glückliche Tage.

Mevlut merkte, wie ungeduldig die Kinder oben am Fenster schon wurden, nahm den Geldschein aus dem Korb und legte das Wechselgeld neben das Emailgefäß. Dann zog er kurz an dem Korb, wie es üblich war, um anzuzeigen, dass er hochgezogen werden konnte.

Mit einem Ruck ging der Korb hoch. Er schwankte im kalten Wind, stieß leicht gegen die Fensterbretter der unteren Stockwerke und die Regenrinne, sodass die Kinder oben ihre liebe Mühe damit hatten. Als er im fünften Stock anlangte, blieb er kurz in der Luft stehen wie eine Möwe, die plötzlich günstig im Wind steht, und verschwand dann, wie etwas Geheimnisvolles, Verbotenes. Mevlut ging seines Weges.

»Booo-zaaaa!«, rief er in die dämmrige Straße hinein. »Leckeres Boo-zaaaaa!«

Solche Einkäufe mit einem herabgelassenen Korb wurden vor allem getätigt, als die Istanbuler Häuser noch nicht über Aufzüge und automatische Türöffner verfügten und auch nur selten mehr als fünf oder sechs Stockwerke emporragten. Als Mevlut 1969 zum ersten Mal mit seinem Vater loszog, war es sogar noch üblich, dass Hausfrauen, die nicht auf die Straße oder zum Krämer gehen wollten, an ihren Körben Klingeln hatten, mit denen sie Straßenverkäufern anzeigten, dass sie Boza oder Joghurt wollten, oder dem Krämerlehrling, dass sie eine ganze Einkaufsliste in den Korb gelegt hatten, denn Telefon gab es damals noch kaum. Und der Verkäufer wiederum klingelte, sobald er seine Ware fachgemäß im Korb verstaut hatte. Seit jeher schaute Mevlut gern dabei zu, wenn so ein Korb hochgezogen wurde, der je nach Wind an Fenster, Äste, Strom- und Telefonleitungen oder Wäscheleinen stoßen konnte, angenehm begleitet vom Tönen der kleinen Klingel. Manche Stammkunden ließen anschreiben und legten dazu ein kleines Heft in den Korb, in das Mevlut eintrug, wie viele Kilo Joghurt er etwa geliefert hatte. Mevluts Vater konnte nicht lesen und schreiben, und bevor Mevlut aus dem Dorf zu ihm nach Istanbul kam, trug er für das, was er zu bekommen hatte, nur Striche in die Hefte ein (einen ganzen Strich für ein Kilo, einen halben für ein halbes Kilo), und als der Sohn dann dabei war, verfolgte der Vater stolz, wie der Junge richtige Zahlen schrieb und sich bei manchen Kunden auch Notizen machte (montags und freitags; mit Rahm).

Das waren nur noch Erinnerungen an alte Zeiten, die Mevlut manchmal geradezu wie Märchen vorkamen, so sehr hatte Istanbul sich in jenen fünfundzwanzig Jahren verändert. Wo früher noch fast alle Straßen gepflastert gewesen waren, herrschte nun Asphalt vor. In einem Großteil der Stadt waren an der Stelle dreistöckiger Häuser mit Garten so hohe Gebäude errichtet worden, dass man von den oberen Stockwerken die Rufe eines Straßenverkäufers kaum mehr hören konnte. Statt der früher üblichen Radios waren nun allenthalben Fernseher eingeschaltet, den lieben langen Tag, und noch dazu so laut, dass sie den Boza-Verkäufer übertönten. Auf den Straßen liefen nicht mehr die stillen, niedergeschlagenen Menschen von früher in ihrer grauen, verblichenen Kleidung herum, sondern laute, gestikulierende, selbstsichere Menschenmassen. So schleichend aber hatte diese große Veränderung sich vollzogen, dass Mevlut sie gar nicht immer mitbekommen hatte und nicht zu denen gehörte, die ständig darüber jammerten. Er versuchte ohnehin stets, sich anzupassen und eben solche Viertel aufzusuchen, in denen man für Leute wie ihn noch empfänglich war.

Zu Anfang war das vor allem Beyoğlu gewesen, dort ganz in der Nähe wohnte er. Noch Ende der siebziger Jahre hatte es in den Gassen von Beyoğlu so viele billige Nachtlokale und getarnte Freudenhäuser gegeben, dass Mevlut bis über Mitternacht hinaus Geschäfte machen konnte. Zu seinen Kunden zählten die Frauen, die in mühsam beheizten Kellern als Sängerinnen und Animierdamen arbeiteten, ferner die Verehrer dieser Frauen, schnurrbärtige Provinzler mittleren Alters, die sich nach dem Geschäftemachen in Istanbul in solchen Lokalen erholten und den Frauen teure Getränke spendierten. Es waren arme Teufel dabei, für die es schon das höchste der Gefühle war, in einem Nachtlokal in der Nähe einer Frau zu sitzen, arabische oder pakistanische Touristen, Kellner, Leibwächter, Türsteher. Innerhalb von zehn Jahren aber war dieses ganze Gefüge – wie in Istanbul so oft – vom Zeitgeist berührt worden, all diese Menschen waren verschwunden, so auch die Vergnügungsstätten, in denen osmanische und europäische Lieder gesungen worden waren, und stattdessen waren lauter Lokale eröffnet worden, in denen die Leute Raki tranken und Kebab aßen. Da die vorwiegend jungen, sich bei Bauchtanz amüsierenden Gäste dort für Boza nichts übrighatten, ging Mevlut abends nicht einmal mehr in die Nähe der İstiklal-Straße.

Jahr für Jahr hatte er abends gegen halb neun, nach den Nachrichten, in seiner Mietwohnung in Tarlabaşı mit den Vorbereitungen begonnen, hatte den von seiner Frau gestrickten braunen Pullover angezogen, die Wollmütze aufgesetzt, die bei den Kunden so beliebte blaue Schürze umgebunden, die Kanne mit dem von seiner Frau und den Töchtern gezuckerten und gewürzten Boza wiegend hochgehoben (»Heute ist aber wenig drin, dabei ist es doch kalt«, sagte er manchmal), den schwarzen Mantel angezogen und sich von seiner Familie verabschiedet. »Geht ruhig schlafen und wartet nicht auf mich«, sagte er früher immer zu seinen Töchtern, als sie noch klein waren. Mittlerweile sah er sie vor dem Fernseher sitzen und sagte nur noch: »Ich komme heute nicht zu spät heim.«

Draußen in der Kälte schulterte er sein eichenes Tragjoch, hängte an den Enden je eine Plastikkanne voller Boza ein, und wie ein Soldat seine Patronen überprüft, bevor er in die Schlacht zieht, tastete er den Gürtel und die Innentaschen seiner Weste ab, ob auch all die fingerdicken Säckchen mit Zimt und mit Leblebi – gerösteten Kichererbsen – an Ort und Stelle waren, die mal seine Frau vorbereitete, mal die ungeduldigen Töchter, mal er selbst. Dann machte er sich auf seinen endlos langen Gang.

»Leckeres Booozaaaa!«

Er stieg zu den höher gelegenen Vierteln hinauf, bog am Taksim-Platz ab, und wo es ihn gerade hinzog, dahin machte er sich raschen Schrittes auf, und abgesehen von einer halbstündigen Zigarettenpause in einem Kaffeehaus war er ständig unterwegs.

Als er den Korb wie einen Engel zu sich herabschweben sah, war es halb zehn, und er war in Pangaltı. Gegen halb elf sah er hinter der Gümüşsuyu-Straße in einer dunklen Gasse, die zu der kleinen Moschee hinaufführte, das Rudel Straßenhunde wieder, das ihm schon eine Woche zuvor aufgefallen war. Da Straßenköter sich mit Straßenverkäufern in der Regel nicht anlegten, hatte Mevlut sie bis vor kurzem noch nicht gefürchtet. Als ihm aber auf einmal ganz seltsam das Herz pochte, bekam er es mit der Angst zu tun, und da er wusste, dass Hunde das riechen und dann erst recht aggressiv werden, versuchte er sich irgendwie abzulenken.

Er versuchte daran zu denken, wie er mit seinen Töchtern oft scherzend vor dem Fernseher saß, was für schöne Zypressen auf Friedhöfen standen, wie er bald nach Hause gehen und sich mit seiner Frau unterhalten würde, dass sein spiritueller Meister immer »Haltet euer Herz rein« sagte oder wie er vor kurzem von einem Engel geträumt hatte. Die Angst aber ließ sich nicht verscheuchen.

Bellend kam ein Hund auf ihn zu, und ein zweiter schlich gleich hinterher. Im Dunkel sah er sie kaum, denn sie waren schmutzig grau. Etwas weiter weg stand noch ein dritter, ein schwarzer.

Auf einmal bellten sie alle gleichzeitig, auch noch ein vierter, den er gar nicht sah. In seinem Dasein als Straßenverkäufer hatte er erst ein-, zweimal solche Angst gehabt, als Junge damals noch. Ihm fiel nichts von den Koranversen und Gebeten ein, die gegen Hunde wirken sollten, und so blieb er reglos stehen. Die Hunde bellten weiter.

Mevlut sah sich nach einer offenen Haustür um, in die er sich hätte flüchten können. Und er überlegte, ob sich das Tragjoch nicht als Prügel verwenden ließe.

Da ging ein Fenster auf, und ein Mann rief: »Husch! Lasst ihr wohl den Boza-Verkäufer in Frieden! Husch!«

Die Hunde zuckten zusammen und schlichen stumm davon.

Mevlut war dem Mann im dritten Stock ungeheuer dankbar.

»Sie dürfen keine Angst haben«, rief der herunter. »Das merken die sofort, die Mistviecher. Verstanden?«

»Vielen Dank«, rief Mevlut hinauf und wollte weitergehen.

»Kommen Sie doch hoch, dann werden Sie gleich noch ein bisschen Boza los.«

Mevlut gefiel zwar die arrogante Art des Mannes nicht, dennoch ging er zur Haustür und hörte auch gleich den Türsummer. Drinnen roch es nach Gas, Frittierfett und Ölfarbe. Gemächlich ging Mevlut die drei Stockwerke empor. Droben wurde er nicht an der Tür abgespeist, sondern wie in guter alter Zeit in die Wohnung gebeten.

»Kommen Sie rein, Sie frieren doch bestimmt.«

Vor der Tür standen viele Straßenschuhe. Als Mevlut seine Schuhe auszog, musste er daran denken, dass sein alter Freund Ferhat mal gesagt hatte, es gebe in Istanbul drei Arten von Wohnungen. Erstens: die, wo man draußen die Schuhe auszieht und die Leute drinnen fromm sind. Zweitens: die, wo man mit Schuhen reingeht und die Leute modern sind und Geld haben. Drittens: die neuen Hochhäuser, wo solche und solche leben.

Das Viertel, in dem Mevlut sich befand, war eigentlich eine Reichengegend, in der sonst niemand die Schuhe vor der Tür auszog, aber Mevlut fühlte sich wie in einem der Hochhäuser, wo sowohl Fromme als auch westlich orientierte Menschen wohnten, und überhaupt zog er vor jeder Wohnungstür die Schuhe aus, ganz egal, wer darin lebte, und ließ sich davon auch nicht abbringen, wenn die Leute beteuerten, das sei doch gar nicht nötig.

In der Wohnung roch es stark nach Raki. Er hörte gleich das fröhliche Stimmengewirr von Menschen, die schon ziemlich angeheitert sind, obwohl der Abend längst nicht zu Ende ist. Am Esstisch, der fast das ganze Wohnzimmer ausfüllte, saßen trinkend sechs, sieben Männer und Frauen zusammen und redeten gegen den wie üblich viel zu lauten Fernseher an.

Als Mevlut in die Küche ging, wurden sie kurz still.

»Na, geben Sie uns doch ein bisschen Boza«, sagte in der Küche ein Mann mit schwerer Zunge. Es war nicht der Mann vom Fenster. »Haben Sie auch Leblebi und Zimt dabei?«

»Hab ich!«

Mevlut wusste schon, dass man bei solchen Leuten nicht fragen sollte, wie viel Kilo sie wollten.

»Wie viele Leute sind Sie?«

»He, wie viele Leute sind wir?«, rief der Mann ironisch ins Wohnzimmer hinüber, worauf ein allgemeines, immer wieder von Gelächter unterbrochenes Zählen anhob.

»Wenn Ihr Boza sauer ist, will ich keins«, hörte Mevlut eine Frauenstimme sagen.

»Nein, mein Boza ist süß«, rief er zurück.

»Dann will ich aber keins«, entgegnete ein Mann. »Richtiges Boza muss sauer sein.«

Das löste eine kleine Diskussion aus, und schließlich rief jemand: »Kommen Sie doch rüber zu uns.«

Mevlut ging ins Wohnzimmer und kam sich augenblicklich ganz fremd und armselig vor. Die Leute am Tisch verstummten kurz und sahen ihn lächelnd an, und neugierig vor allem, als hätten sie etwas Altes, längst aus der Mode Gekommenes vor sich; ein Blick, den Mevlut in den letzten Jahren schon oft gesehen hatte.

»Also, wie muss richtiges Boza sein, süß oder sauer?«, fragte ein Mann mit Schnurrbart.

Alle drei Frauen am Tisch hatten blondgefärbte Haare. Der Mann, der Mevlut vor den Hunden gerettet hatte, saß zwischen zweien von ihnen am Tischende.

»Boza darf sowohl süß als auch sauer sein«, sagte Mevlut seinen seit fünfundzwanzig Jahren unabänderlichen Spruch auf.

»Springt da was raus, wenn Sie Boza verkaufen?«

»Zum Glück schon.«

»Hm, wer hätte das gedacht. Und wie lang machen Sie das schon?«

»Seit fünfundzwanzig Jahren. Früher habe ich vormittags auch Joghurt verkauft.«

»Fünfundzwanzig Jahre? Dann müssen Sie ganz schön zu Geld gekommen sein?«

»Leider nicht.«

»Und warum nicht?«

»Meine Verwandten, die mit mir zugleich aus dem Dorf gekommen sind, haben es alle zu was gebracht, nur ich nicht.«

»Und warum Sie nicht?«

»Weil ich ehrlich bin. Ich lüge nicht und verkaufe auch keine verdorbene Ware, nur um mir ein großes Haus und eine Riesenhochzeit für meine Tochter leisten zu können.«

»Sind Sie ein frommer Mensch?«

Mevlut wusste schon, dass bei solchen Leuten diese Frage eine politische Bedeutung hatte. Bei den Kommunalwahlen drei Tage zuvor hatte eine religiös orientierte Partei gewonnen, die ihre Stimmen vor allem in den ärmeren Vierteln bekam.

»Ich bin Verkäufer«, sagte Mevlut pfiffig, »wie sollte ich da fromm sein können?«

»Warum nicht?«

»Weil ich immer arbeite. Wer von morgens bis abends unterwegs ist, wie soll der fünfmal am Tag sein Gebet verrichten?«

»Was machen Sie denn morgens?«

»Ach, ich habe schon alles gemacht. Ich habe Pilav verkauft, gekellnert, Eis verkauft, bin Geschäftsführer gewesen. Ich habe für alles ein Händchen.«

»Geschäftsführer? Wo denn?«

»In einem Imbiss. Binbom hieß er, in Beyoğlu. Hat aber zugemacht. Kannten Sie den?«

»Und was machen Sie jetzt vormittags?«, fragte der Mann, der am Fenster gewesen war.

»Momentan gar nichts.«

»Haben Sie Familie?«, fragte freundlich lächelnd eine Frau mit hübschem Gesicht.

»Ja, eine Frau und zwei Töchter so schön wie Engel.«

»Die schicken Sie aber hoffentlich zur Schule, ja? Und müssen die ein Kopftuch aufsetzen, wenn sie groß sind?«

»Wissen Sie, wir kommen vom Land, da hängen wir an unseren Traditionen.«

»Ach, und deshalb verkaufen Sie auch Boza?«

»Es stimmt schon, dass die meisten von uns aus dem Dorf in Istanbul als Erstes Joghurt und Boza verkauft haben, aber ehrlich gesagt kannten wir auf dem Dorf weder das eine noch das andere.«

»Also haben Sie Boza erst in der Stadt kennengelernt?«

»Ja.«

»Und wie haben diesen Boozaa-Ruf gelernt? Sie haben nämlich eine wirklich schöne Stimme, wie ein guter Muezzin.«

»Wer Boza verkauft, ist die meiste Zeit über heiser«, erwiderte Mevlut.

»Haben Sie abends in den dunklen Straßen keine Angst? Und wird Ihnen nicht langweilig?«

»Unser Herrgott steht den armen Boza-Verkäufern bei. Und ich denke immer nur an schöne Sachen.«

»Auch wenn Sie in der Dunkelheit an Friedhöfen vorbeikommen und Hunde und Geister und Nymphen sehen?«

Darauf schwieg Mevlut.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

»Mevlut Karataş.«

»Mensch, Mevlut, führen Sie uns doch mal vor, wie Sie Boozaa rufen.«

An solchen Tischen mit Betrunkenen hatte Mevlut schon oft gestanden. In seinen ersten Jahren als Straßenverkäufer hatte er sich Fragen anhören müssen wie »Gibt es eigentlich Strom bei euch im Dorf?« (Hatte es damals tatsächlich nicht gegeben, nun aber, 1994, schon.) »Bist du überhaupt zur Schule gegangen?« »Wie war das, als du zum ersten Mal in einen Aufzug gestiegen bist?« »Und wie war für dich das erste Mal im Kino?« Um den Kunden, die ihn ins Wohnzimmer ließen, schönzutun, gab Mevlut damals verschmitzte Antworten, stellte sich naiver, unerfahrener und dümmer, als er wirklich war, und bei Stammkunden zierte er sich auch nicht lange, seinen Boozaaa-Ruf vorzuführen.

Das aber war in alten Zeiten gewesen. Nun fühlte Mevlut eine dumpfe Wut in sich hochsteigen. Wäre er dem Mann, der ihn vor den Hunden gerettet hatte, nicht zu Dank verpflichtet gewesen, hätte er das Gespräch einfach abgebrochen, sein Boza abgeliefert und wäre gegangen.

»Also, wie viele Portionen möchten Sie?«

»Ach so, Sie haben das nicht schon in der Küche gelassen?«

»Wo haben Sie Ihr Boza eigentlich her?«

»Das mache ich selbst.«

»Ach, kommen Sie … Alle Boza-Verkäufer kaufen doch in dem einen berühmten Geschäft, bei Vefa.«

»Seit fünf Jahren gibt es in Eskişehir sogar eine Boza-Fabrik. Aber ich decke mich nach wie vor bei Vefa mit Rohboza ein und mache mit eigenen Zutaten das richtige Getränk daraus.«

»Sie zuckern es also zu Hause?«

»Na ja, es gibt eben saures und süßes Boza.«

»Ach, woher! Boza muss sauer sein, das kommt von der Gärung her, vom Alkohol, wie beim Wein.«

»Ist in Boza etwa Alkohol?«, fragte eine der Frauen stirnrunzelnd.

»Du hast aber auch keine Ahnung!«, versetzte ein Mann. »Boza haben die Osmanen erfunden, als Alkohol noch verboten war. Sultan Murat IV. hat nachts immer verkleidet Kontrollgänge gemacht und nicht bloß Weinstuben und Kaffeehäuser schließen lassen, sondern auch die Boza-Schenken.«

»Und warum die Kaffeehäuser?«

Es ging eine Diskussion los, wie Mevlut sie in Kneipen und feuchtfröhlichen Runden schon zigmal gehört hatte. Erst nach einer Weile fiel den Leuten Mevlut wieder ein.

»Sagen Sie uns doch, ob in Boza Alkohol ist.«

»Es ist keiner drin«, erwiderte Mevlut, obwohl er genau wusste, dass das Gegenteil der Fall war. So hatte es schon sein Vater gehalten.

»Und ob da Alkohol drin ist, wenn auch nur ganz wenig. Wenn sich in der Osmanenzeit ein Frommer betrinken wollte, kippte er zehn Glas Boza und sagte sich dabei immer, dass da eh nichts drin ist. Und als Atatürk das Verbot für Raki und Wein aufhob, war es mit dem Boza so gut wie vorbei.«

»Vielleicht kriegen wir die islamischen Verbote und das Boza ja bald wieder zurück«, sagte ein Mann mit schmaler Nase und glasigem Blick provozierend. »Was sagen Sie zu den Wahlergebnissen?«

»Nein«, erwiderte Mevlut ungerührt, »in Boza ist kein Alkohol. Sonst würde ich es gar nicht verkaufen.«

»Siehst du, der ist nicht so wie du, der hängt noch an seiner Religion«, sagte ein anderer Mann.

»Misch du dich da nicht ein. Ich hänge auch an meiner Religion, und trotzdem trinke ich meinen Raki«, sagte der mit der schmalen Nase. »Sagen Sie mal, Sie fürchten sich wohl, und deshalb sagen Sie, da ist kein Alkohol drin?«

»Ich fürchte niemanden außer Gott«, versetzte Mevlut.

»Ha, da hast du deine Antwort!«

»Und vor Straßenhunden und Räubern fürchten Sie sich nicht?«

»Die tun einem armen Boza-Verkäufer nichts«, entgegnete Mevlut lächelnd. Auch das eine Antwort, die er oft gab. »Räuber und Diebe vergreifen sich nicht an uns. Ich mache das jetzt seit fünfundzwanzig Jahren und bin noch kein einziges Mal überfallen worden. Einem Boza-Verkäufer bringt jedermann Achtung entgegen.«

»Und warum das?«

»Weil Boza was ist, das wir von unseren Vorfahren haben. Und weil es heute keine vierzig Boza-Verkäufer mehr gibt. Es kaufen nicht mehr viele Leute Boza, so wie Sie. Trotzdem hören die Menschen noch gern unseren Boza-Ruf und träumen sich in alte Zeiten. Darum gibt es uns überhaupt noch.«

»Sind Sie jetzt fromm oder nicht?«

»Ja, Gott fürchte ich schon«, sagte Mevlut, wohl wissend, das sich vor solchen Worten wiederum jene Leute fürchteten.

»Und Atatürk, haben Sie für den auch was übrig?«

»Mustafa Kemal Atatürk war 1922 mal bei uns in Akşehir«, dozierte Mevlut. »Nach der Gründung der Republik kam er nach Istanbul und wohnte im Park-Hotel am Taksim-Platz. Und wie er da so am Fenster steht, sagt er sich, da fehlt doch was, es ist irgendwie zu ruhig. Und als er seinen Adjutanten fragt, sagt der zu ihm: ›Eure Exzellenz, das kommt daher, dass es Straßenverkäufern verboten worden ist, die Stadt zu betreten, weil es in Europa ja keine gibt und man sich gedacht hat, Sie schimpfen sonst, dass Istanbul so rückständig ist.‹ Da aber schimpfte Atatürk erst recht und sagte: ›Straßenverkäufer sind die Nachtigallen der Stadt, sie bedeuten Freude und Leben. Dass mir die ja nicht mehr verboten werden!‹ Und seither ist der Straßenverkauf in Istanbul wieder erlaubt.«

»Ein Hoch auf Atatürk«, sagte eine Frau. Ein paar am Tisch wiederholten das, und schließlich auch Mevlut.

»Wenn die Islamisten an die Regierung kommen, wird es da bei uns nicht bald zugehen wie im Iran?«, fragte einer.

»Ach was«, entgegnete ein anderer, »das lässt die Armee niemals zu. Die putschen, verbieten die Parteien der Islamisten und stecken die Leute ins Gefängnis. Nicht wahr?«

»Um die große Politik kümmere ich mich nicht. Das ist was für höhergestellte Leute wie Sie.«

Betrunken, wie die Leute am Tisch waren, fühlten sie doch die Spitze in Mevluts Worten.

»Mir geht es genauso wie Ihnen. Ich fürchte mich auch nur vor Gott und vor meiner Schwiegermutter.«

»Haben Sie eine Schwiegermutter, Boza-Verkäufer?«

»Ich habe sie leider nie kennengelernt.«

»Wie haben Sie denn geheiratet?«

»Wir haben uns verliebt und sind dann zusammen fortgelaufen. Das kriegt nicht jeder hin.«

»Und wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Auf einer Hochzeit von Verwandten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dann habe ich ihr drei Jahre lang immer wieder Briefe geschrieben.«

»Na, Sie sind mir einer. Bravo!«

»Und was macht Ihre Frau jetzt?«

»Handarbeiten, und zwar solche, die auch nicht jeder hinkriegt.«

»Sagen Sie mal, Boza-Verkäufer, wenn wir das Zeug jetzt trinken, werden wir dann noch betrunkener?«

»Von Boza wird man nicht betrunken. Sie sind acht Leute, ich gebe Ihnen also zwei Kilo.«

Er ging zurück in die Küche, und es dauerte eine Weile, bis er das Boza, die Leblebi und den Zimt ausgehändigt und sein Geld bekommen hatte. Dann zog er seine Schuhe so rasch an wie in alten Zeiten, als er sich immer beeilen musste, weil Kundschaft wartete.

»Passen Sie auf sich auf, es ist nass und kalt draußen«, wurde ihm aus dem Wohnzimmer noch zugerufen. »Und lassen Sie sich nicht überfallen oder von Hunden zerreißen!«

»Und kommen Sie doch mal wieder!«, sagte eine Frau noch ganz zuletzt.

Mevlut wusste aber ganz genau, dass sie ihn nicht noch mal kommen lassen würden. Ihnen war es nicht um das Boza gegangen, sondern sie hatten nur seinen Ruf gehört und sich ein bisschen amüsieren wollen. Die Kälte draußen tat ihm jetzt gut.

»Booo-zaaa!«

In den fünfundzwanzig Jahren hatte er viele solcher Wohnungen gesehen, viele Familien, viele Menschen, hatte die gleichen Fragen tausendmal gehört und sich daran gewöhnt. Vor allem in den siebziger Jahren, als sich in den dunklen Gassen von Beyoğlu und Dolapdere Barbesitzer, Spieler, Schlägertypen, Zuhälter und Huren herumtrieben, hatte er oft an Tischen mit Betrunkenen gestanden und dabei gelernt, »nur ja nicht aufzufallen«, wie beim Wehrdienst die goldene Regel geheißen hatte, um möglichst schnell wieder raus auf die Straße zu kommen.

In Wohnungen wurde er in den letzten Jahren kaum noch gebeten. Früher ließ ihn fast jeder herein, und in der Küche wurde er gefragt: »Friert dich? Gehst du vormittags zur Schule? Willst du einen Tee?«, und manchmal durfte er auch ins Wohnzimmer oder gar am Tisch Platz nehmen. Da er in diesen guten Zeiten andauernd Stammkundschaft zu beliefern hatte, konnte er diese Zuwendung gar nicht richtig genießen und musste jeweils schnell wieder fort. Als ihm nun zum ersten Mal seit langem wieder so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden war, hatte er nicht richtig reagiert, das fiel ihm jetzt auf. Es war ja auch eine seltsame Gesellschaft, denn früher saßen in einer anständigen Wohnung nicht Frauen und Männer so zusammen und betranken sich. Sein Freund Ferhat sagte immer: »Seit die Leute daheim in der Familie ihren fünfundvierzigprozentigen Raki trinken, was willst du da noch mit deinem dreiprozentigen Boza? Die Zeiten sind vorbei, Mevlut, hör endlich auf damit. Kein Mensch braucht mehr Boza, um sich zu beduseln.« Und das war nicht nur als Scherz gemeint.

Er ging nach Fındıklı, um schnell bei einem Stammkunden ein halbes Kilo Boza abzuliefern, und als er wieder aus dem Haus trat, sah er vor einem Eingang zwei verdächtige Schatten. Wenn er nun darüber nachdachte, warum die beiden eigentlich »verdächtig« waren, würden sie (wie in einem Traum) erst recht auf ihn aufmerksam werden und ihm Böses antun. Aber der Gedanke setzte sich in ihm fest.

Er ging los, und als er sich umdrehte, wie um zu sehen, ob nicht Hunde hinter ihm herliefen, war er sich plötzlich sicher, dass die beiden ihn verfolgten. Er wollte das nicht glauben. Zweimal läutete er energisch mit der Glocke in seiner Hand, und dann noch zweimal etwas zaghafter. »Bo-zaa!« Er beschloss, nicht wieder zum Taksim-Platz hinauf-, sondern die Treppe vor sich hinunter- und danach die andere Treppe nach Cihangir hinaufzugehen, um direkt den Heimweg anzutreten.

Da rief einer der Schatten ihm zu: »He, Boza-Verkäufer, warte doch mal.«

Mevlut tat so, als hätte er nicht gehört. Mit seinem Tragjoch auf dem Rücken tat er rasch die ersten Schritte auf der Treppe. In einer Ecke aber, in die das Laternenlicht kaum reichte, musste er wohl oder übel langsamer werden.

»He, bleib doch stehen, wir wollen dich nicht überfallen, sondern dir bloß Boza abkaufen.«

Mevlut schämte sich seiner Ängstlichkeit und blieb stehen. Neben dem Treppenabsatz stand ein Feigenbaum, deshalb war es dort so dunkel. Mevlut erinnerte sich, dass er in dem Sommer, in dem er Rayiha entführt hatte, im Schatten des Baumes oft seinen dreirädrigen Eiswagen abgestellt hatte.

»Was kostet dein Boza?«, fragte einer der beiden schroff und stieg die Stufen zu Mevlut hinab.

Bald standen sie alle drei unter dem Feigenbaum. Wer an so einer Stelle wirklich Boza kaufen wollte, der hätte höflich und leise nach dem Preis gefragt, und nicht so aggressiv. Misstrauisch sagte Mevlut nur die Hälfte des normalen Preises.

»Das ist aber teuer«, sagte der kräftigere der beiden Männer. »Na, gib uns mal zwei Glas. Verdienst ja ganz schön mit dem Zeug.«

Mevlut setzte die Kannen ab und holte aus seiner Schürze einen großen Plastikbecher. Er füllte ihn mit Boza und reichte ihn dem kleineren, jüngeren Mann.

»Bitte schön.«

»Danke.«

Als Mevlut den zweiten Becher füllte, kam er sich fast schuldig vor, so eine seltsame Stille herrschte plötzlich. Das merkte wohl auch der kräftige Mann.

»Du hast es ja ganz schön eilig. Läuft das Geschäft so?«

»Nein, ganz im Gegenteil, es ist nicht mehr wie früher. Keiner will mehr Boza. Heute wollte ich eigentlich gar nicht raus, aber bei mir daheim ist jemand krank, und ich muss Geld für eine anständige Suppe verdienen.«

»Was verdienst du am Tag?«

»Es heißt ja, dass man Frauen nicht nach ihrem Alter und Männer nicht nach ihrem Gehalt fragt«, erwiderte Mevlut, »aber wo Sie schon gefragt haben, will ich es Ihnen gerne sagen.« Er gab nun auch dem Kräftigen seinen Becher voll Boza. »Wenn ich ein bisschen was verkaufe, können wir uns an dem Tag satt essen, und wenn nicht, so wie heute, müssen wir eben hungern.«

»Ausgehungert siehst du aber nicht aus. Wo bist du denn her?«

»Aus Beyşehir.«

»Beyşehir? Wo ist das denn?«

Mevlut gab keine Antwort.

»Und seit wann bist du in Istanbul?«

»Seit fünfundzwanzig Jahren.«

»Was, seit fünfundzwanzig Jahren? Und da sagst du immer noch, du bist aus Beyşehir?«

»Na ja, wo Sie mich doch gefragt haben.«

»In der Zeit musst du ja einiges angespart haben.«

»Von wegen. Sehen Sie doch, ich muss immer noch bis Mitternacht arbeiten. Wo sind Sie denn her?«

Als die Männer nicht antworteten, erschrak Mevlut noch mehr. »Etwas Zimt?«

»Her damit. Was kostet der?«

Mevlut holte aus der Schürze den Messingstreuer und bedachte die beiden Becher mit Zimt. »Der kostet gar nichts. Zimt und Leblebi gibt es bei mir gratis.« Aus der Tasche nahm er zwei Säckchen mit Leblebi-Pulver, und anstatt sie wie sonst den Kunden in die Hand zu geben, öffnete er sie und streute den Inhalt wie ein aufmerksamer Kellner auf die Becher der beiden Männer.

»Mit Leblebli schmeckt Boza am besten«, sagte er.

Die Männer sahen sich an, dann tranken sie ihr Boza in einem Zug aus.

»An so einem schlechten Tag sollst du wenigstens für uns gearbeitet haben«, sagte der kräftigere und ältere der beiden.

Mevlut ahnte schon, worauf das hinauslief, und wollte eilig vorbauen.

»Wenn Sie kein Geld dabeihaben, zahlen Sie eben ein andermal«, sagte er. »Wäre ja noch schöner, wenn in dieser Riesenstadt so arme Schlucker wie wir nicht zusammenhalten würden. Oder nehmen Sie es einfach als kleine Aufmerksamkeit von mir, ganz wie Sie wollen.« Er schulterte sein Tragjoch, um weiterzugehen.

»Moment mal«, sagte der kräftigere Mann. »Ich habe gesagt, du sollst heute für uns gearbeitet haben. Her mit deinem Geld.«

»Ich habe kein Geld dabei, nur was mir ein, zwei Kunden gegeben haben, und dafür muss ich Medizin kaufen …«

Da hatte der kleinere Mann auf einmal ein Springmesser in der Hand. Er drückte auf den Knopf, und die Klinge sprang heraus. Während er die Messerspitze an Mevluts Bauch drückte, trat der andere Mann hinter Mevlut und packte ihn fest an den Armen. Mevlut gab keinen Ton von sich.

Der Mann mit dem Messer durchsuchte hastig alle Taschen von Mevluts Schürze und Weste und steckte das Papiergeld und die paar Münzen ein, die er fand. Mevlut sah nun, wie hässlich der Mann war.

Als der Mann hinter ihm merkte, dass Mevlut dem jüngeren ins Gesicht sah, sagte er: »He, starr ihn nicht so an. Du hast ja doch Geld dabei. Bist also nicht umsonst weggelaufen.«

»Das reicht jetzt«, sagte Mevlut und schüttelte sich.

»Ach ja? Findest du?«, sagte der Mann hinter ihm. »Finde ich aber gar nicht. Du bist seit fünfundzwanzig Jahren hier, hast dir alles Mögliche unter den Nagel gerissen, und jetzt wo wir kommen, meinst du, es reicht, und wir sollen nichts kriegen? Sind wir vielleicht schuld daran, dass wir so spät dran sind?«

»Um Gottes willen, nein, Sie sind an gar nichts schuld.«

»Wie viele Häuser hast du in Istanbul?«

»Ach, mir gehört gar nichts«, log Mevlut.

»Und warum nicht? Bist du etwa blöd?«

»Hat sich halt nicht ergeben.«

»Hör mal, jeder hat sich damals irgendwo eine Hütte hingestellt, und heute stehen auf den Grundstücken Riesenhäuser.«

Verärgert ruckelte Mevlut herum, was lediglich dazu führte, dass der Mann vor ihm das Messer noch fester auf seinen Bauch drückte (»Oh Gott«, sagte Mevlut) und noch einmal all seine Taschen absuchte.

»Sag mal, bist du so dämlich, oder stellst du dich nur so?«

Mevlut schwieg. Routiniert bog der kräftigere Mann ihm den Arm auf den Rücken. »Schau einer an! Du hast also nicht in Immobilien investiert, sondern in eine Uhr. Jetzt ist mir alles klar, Freundchen.«

Und schon war Mevlut die Schweizer Uhr los, die er zwölf Jahre zuvor zu seiner Hochzeit bekommen hatte.

»Wie kann man nur einen Boza-Verkäufer ausrauben?«, fragte er entrüstet.

»Muss eben auch mal sein. Halt jetzt die Klappe und schau dich nicht um.«