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Die Amnios greifen an
Nach der Vernichtung der Schwarzwerft Kassafort kämpfen die ehemalige Polizistin Morn Hyland, der kriminelle Doppelagent Nick Succorso und der zum Cyborg umgewandelte Raumpirat Angus Thermopyle um die Vorherrschaft auf dem Raumschiff, mit dem sie entkommen sind. Doch es geht um sehr viel mehr als nur darum, wer die Posaune unter Kontrolle hat: Die Amnios, extrem fähige Genetiker, wollen die Menschheit „retten“, indem sie alle Menschen zu Amnios machen. Es gibt einen Impfstoff, der allerdings noch in der Testphase ist. Hashi Lebwohl, der Direktor der Abteilung Datenakquise der Montan-Kombinate, will ihn weiterentwickeln und so die Menschheit retten. Nick Succorso will den Impfstoff ebenfalls – aber nur diejenigen retten, die in der Lage sind, eine Stange Geld dafür hinzulegen …
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Seitenzahl: 1361
STEPHEN R. DONALDSON
CHAOS
UND
ORDNUNG
Vierter Roman des Amnion-Zyklus
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Nach der Vernichtung der Schwarzwerft Kassafort kämpfen die ehemalige Polizistin Morn Hyland, der kriminelle Doppelagent Nick Succorso und der zum Cyborg umgewandelte Raumpirat Angus Thermopyle um die Vorherrschaft auf dem Raumschiff, mit dem sie entkommen sind. Doch es geht um sehr viel mehr als nur darum, wer die Posaune unter Kontrolle hat: Die Amnios, extrem fähige Genetiker, wollen die Menschheit »retten«, indem sie alle Menschen zu Amnios machen. Es gibt einen Impfstoff, der allerdings noch in der Testphase ist. Hashi Lebwohl, der Direktor der Abteilung Datenakquise der Montan-Kombinate, will ihn weiterentwickeln und so die Menschheit retten. Nick Succorso will den Impfstoff ebenfalls – aber nur diejenigen retten, die in der Lage sind, eine Stange Geld dafür hinzulegen …
Stephen Reeder Donaldson, am 13. Mai 1947 in Cleveland, Ohio geboren, verbrachte seine Kindheit in Indien, wo seine Eltern als Missionare in einem Leprosarium tätig waren. Die Familie kehrte 1963 in die Vereinigten Staaten zurück, und Donaldson machte 1968 seinen Abschluss am College of Wooster, Ohio. Während des Vietnamkriegs arbeitete er zwei Jahre lang in einem Krankenhaus, weil er den Kriegsdienst verweigerte, ehe er sein Studium an der Kent State University fortsetzte. 1971 wurde er zum Magister promoviert, unterbrach aber sein Promotionsstudium bis 1993, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1977 erschien sein Fantasy-Roman »Lord Fouls Fluch«, der Auftakt der »Chroniken von Thomas Covenant dem Zweifler«, der ihm zum internationalen Durchbruch verhalf und zu dem er bis 2013 neun Fortsetzungen schrieb. 1994 erwarb der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Autor, der unter anderem den John W. Campbell Award und den World Fantasy Award gewann, den Schwarzen Gürtel in Shōtōkan-Karate. In den Neunzigerjahren legte Donaldson mit dem Amnion-Zyklus seine ersten Science-Fiction-Romane vor. Er lebt und arbeitet heute in New Mexico.
www.diezukunft.de
Gewidmet
HOWARD MORHAIM,
einem guten Freund,
tüchtigen Literaturagenten
und grandiosen Tischtennisspieler.
Zerschlagen, müde bis in die Knochen und zutiefst verdutzt ging Min Donner kurz nach Warden Dios' Rückkehr von Holt Fasners Firmensitz ins VMKP-HQ an Bord der Rächer. Seit dem Tag vor ihrem Besuch bei Sixten Vertigus hatte sie nicht mehr geschlafen, seit dem Rückflug von Suka Bator ins VMKP-HQ nichts mehr gegessen.
Sie hatte ein Gefühl, als würde rings um sie ihr ganzes Leben neu geschrieben; gänzlich uminterpretiert, mit einer Bedeutung versehen, für die sie sich nie entschieden hatte, die sie nicht verstehen konnte.
Weshalb?
In gewisser Hinsicht hatte Warden diese Frage beantwortet. Es ist so, dass ich Anlass zu der Annahme habe, hatte er während ihres letzten Gesprächs – zu ihrem größten Staunen – zu ihr gesagt, Morn Hyland könnte überleben, was ihr zugestoßen ist. Möglicherweise kommt sie mit dem Leben davon. Und obwohl er ihr längst die Überzeugung eingeredet gehabt hatte, Morn Hyland sei seinerseits aufgegeben, mit Leib und Seele verkauft worden, hatte er hinzugefügt: Und für diesen Fall möchte ich von jemandem dafür gesorgt haben, dass sie am Leben bleibt, durch jemanden, dem ich vertraue. Das heißt, durch Sie. Mit dieser Begründung zog er Min von ihren Dienstpflichten im VMKP-HQ ab und schickte sie hinaus in den Kosmos. Wenigstens hatte es diesen Anschein.
Allerdings erklärte seine Begründung überhaupt nichts. In Wirklichkeit ersah sie daraus nur, dass sie angelogen worden war; dass er sie monatelang systematisch belogen hatte.
In Gottes Namen, was war eigentlich los?
Sein Abschiedsgruß erreichte sie per Funk, während sie in ihrem Dienstshuttle zur Tach-Übersprungszone flog, in deren Bereich die Rächer schon gewendet hatte und Vorbereitungen zur Auswärtsbeschleunigung traf; doch sie übermittelte ihm keine Antwort. Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen. Statt eine inhaltslose Bestätigung oder ein Grußwort zurückfunken zu lassen, schüttelte sie auf diesbezügliche Fragen der Shuttlecrew nur den Kopf. Sollte Warden Dios seinen guten Glauben an sie beibehalten, so wie sie ihm guten Glauben schenken musste. Er hatte ihr keine andere Möglichkeit gelassen, um ihrer bitteren Verwirrung Ausdruck zu verleihen; und ebenso wenig ihrer blinden, mit Fassungslosigkeit vermischten Hoffnung.
Mit soviel gewohnheitsmäßiger, grimmiger Entschlossenheit, wie sie aufbringen konnte, ließ sie, auch innerlich, Kaze und Mordanschläge hinter sich und konzentrierte sich stattdessen auf die bevorstehende Aufgabe.
Bei oberflächlicher Betrachtung hatte sie ganz leicht begreifliche Befehle erhalten. Sie war instruiert worden, an Bord des erstbesten abkömmlichen VMKP-Polizeiraumschiffs zu gehen – in diesem Fall der Rächer – und den KombiMontan-Asteroidengürtel anzufliegen. Im Ortungsschutz des Asteroidengürtels sollte sie »die künftige Entwicklung im Umkreis Thanatos Minors beobachten und entsprechend darauf reagieren«. Mit anderen Worten, sie hatte zu beobachten, zu welchem Resultat Angus Thermopyles verdeckte Aktion gegen Kassafort führte und sich voraussichtlich mit den Folgen zu befassen.
Soviel war offenkundig. Aber weshalb sollte dazu das Erfordernis bestehen? Auf Fasners Anordnung befand sich jetzt der gesamte Human-Kosmos längs der Grenze zum von den Amnion beherrschten Bannkosmos – vor allem in der weiteren Umgebung der KombiMontan-Station und des dortigen Asteroidengürtels – unter der Überwachung des dichtesten Observations- und Kommunikationsnetzes, das Menschen je etabliert hatten. Jede entzifferbare Information aus der Richtung Thanatos Minors erreichte das VMKP-HQ innerhalb von Stunden, ob sie, Min Donner, sich persönlich im Asteroidengürtel aufhielt oder nicht.
Welche Art von ›künftiger Entwicklung‹ erwartete Warden? Entweder hatte Josua alias Angus Thermopyle Erfolg, oder er hatte keinen Erfolg. Gelang seine Aktion, war Nick Succorso erledigt, die Gefahr, die er verkörperte, aus dem Weg geräumt. Dann erwiese Mins Argwohn gegen Milos Taverner sich als überflüssig. Falls Angus hingegen versagte, war jeder und alles verloren. Morn wäre nur einer von zahlreichen Abgängen.
So oder so gab es wahrscheinlich für Min nichts zu tun; es sei denn, etwaige Überlebende zu bergen oder amnionische Verfolger abzuschrecken. Dazu wäre allerdings auch die KombiMontan-Station imstande. Ebenso gut wäre es trotz ihrer Gefechtsverschlissenheit und insgesamt beeinträchtigten Verfassung die Rächer zu leisten fähig gewesen, ohne dass Min an Bord mitflog. Min Donner war Direktorin der Operativen Abteilung der VMKP: sie gehörte an einen anderen Einsatzort. Ins VMKP-HQ, um Kaze und Verräter unschädlich zu machen. Oder nach Suka Bator, wo sie Kapitän Vertigus bei Ausarbeitung und Vorlage des Abtrennungsgesetzes behilflich sein könnte. Um sich irgendwo im Weltraum herumzutreiben, gab es für sie keinen Grund.
Keinen Grund außer Wardens Wunsch, sie aus der Quere zu haben; aus der Szenerie des verhängnisvollen Spiels zu entfernen, das er mit oder gegen Holt Fasner spielte. Und keinen Grund außer seiner unvermuteten Annahme, Morn Hyland könnte überleben, was ihr zugestoßen ist.
Und für diesen Fall möchte ich von jemandem dafür gesorgt haben, dass sie am Leben bleibt …
Hatte Warden die Wahrheit gesprochen? Oder hatte er sich nur so geäußert, um sicherzugehen, dass sie ihm gehorchte?
Sie wusste es nicht; konnte es nicht wissen. Schlussendlich jedoch genügten ihr seine Befehle. Sie gehorchte ihm, weil sie ihm Gehorsam geschworen hatte.
Dennoch vermochte sie nicht das trübe Empfinden abzustreifen, dass ihr Unheil drohte; dass das, was zwischen Warden Dios und Holt Fasner geschah, ihr alles nehmen sollte, woran sie jemals geglaubt, worauf sie je gebaut hatte.
Endlich rumste das Shuttle gegen die Wandung der Parkbucht im Rumpf der Rächer; Greifer fixierten es. Min nickte der Crew zu und betrat die Luftschleuse des Shuttles, als wäre es ihr einerlei, ob sie wiederkehrte.
Der Bootsmann, der die Ehrenwache kommandierte, die Min im Bordfoyer empfing, wirkte so ausgelaugt und überfordert, wie auch sie selbst sich fühlte. Bei seinem Anblick krampfte Min sich unwillkürlich zusammen; es erregte ihr Unbehagen, Untergebene in so schlechtem Zustand zu sehen. Doch sie ließ sich weder Kummer noch Bitternis anmerken, während sie den Gruß des Bootsmanns erwiderte.
»Der Kapitän bittet um Entschuldigung, Direktorin Donner«, sagte er. Seine Stimme klang noch schlimmer, als er aussah. Hier war ein junger Offizier viel zu lang zu hohem Stress ausgesetzt gewesen. »Er kann momentan die Steuerbrücke nicht verlassen. Wir hatten nicht damit gerechnet, gleich wieder abfliegen zu müssen, ihm fehlte Zeit zum Vorbereiten …« Der Bootsmann brach ab, errötete wie ein Schuljunge. »Aber das ist Ihnen ja alles längst klar. Verzeihung. Der Kapitän ist für Sie zu sprechen, wann Sie wollen. Als erstes zeige ich Ihnen Ihr Quartier.«
Vor dem Abflug vom VMKP-HQ hatte Min die Berichte der Rächer durchgelesen. Der Kreuzer war gerade erst von einem Einsatz mit verbissenen Gefechten gegen fünfzehn oder zwanzig Illegalen-Raumschiffe heimgekehrt, die das entlegene Doppelsonnensystem des Kosmo-Industriezentrums Valdor buchstäblich in ein Kriegsgebiet verwandelt hatten.
Wegen der Natur des Abraums, der Verhüttung sowie der schwerindustriellen Verarbeitung, die auf der Valdor-Station stattfanden, boten das Industriezentrum und sein Raumflugverkehr interstellaren Piraten reiche Beute. Und wie in den meisten Doppelsternsystemen war auch dort ein wahres Labyrinth an Umlaufbahnen vorhanden: massenhaft kreisten Felsbrocken in dermaßen komplizierten orbitalen Verteilungen umeinander, dass man zur Erfassung der kartografischen Daten nichts Geringeres als einen Megazentralrechner brauchte. Die Piraten versteckten sich zwischen den fast unzählbar vielen Planeten, Planetoiden und Monden, die das unter den Bezeichnungen Großer Massif 5 und Kleiner Massif 5 bekannte Doppelgestirn umliefen.
Während eines Zeitraums von sechs Monaten hatte der Skalpell-Klasse-Kreuzer Dutzende strapaziöser Gefechte durchgestanden und war wochenlang Verfolgung geflogen. Und all das mit minimalen Ergebnissen. Zwei Piratenraumer waren vernichtet, ein Pirat war aufgebracht worden. Der Rest hatte sich mit geballter Wildheit zur Wehr gesetzt oder dank genauer Kenntnisse der Verstecke des Sonnensystems erfolgreich die Flucht ergriffen, so dass kein einzelner Polizeikreuzer die Hoffnung hegen durfte, es mit ihnen allen aufnehmen zu können.
Infolgedessen war die Erschöpfung des Bootsmanns kein Wunder. Ebenso wenig wie die Verzweiflung, die sich angesichts eines sofortigen neuen Einsatzauftrags in den Mienen der Ehrenwache spiegelte. Die Besatzung der Rächer benötigte Ruhe, verdiente Ruhe. Viel zu weit verstreut waren die Einheiten der VMKP; mussten immer viel zu weit verstreut bleiben, ganz einfach darum, weil der Ponton-Antrieb mehr Weltraum zugänglich machte, als eine Polizeitruppe kontrollieren konnte. Nicht zum ersten Mal sorgte sich Min, dass die VMKP, solange die Amnion-Gefahr existierte – solange der Bannkosmos für geraubte oder gestohlene Güter Reichtum verhieß –, zum Scheitern verurteilt sein mochte.
Wie üblich behielt sie ihre Gedanken für sich. »Ich gehe auf die Brücke«, antwortete sie stattdessen dem Bootsmann. Ehe er irgendwelche Befehle erteilen konnte, ließ sie die Ehrenwache abtreten. Im allgemeinen hatte sie etwas gegen die Formalitäten, die sich mit ihrer Position als VMKP-Direktorin verbanden; in diesem Fall war sie besonders dagegen, weil es ihr widerstrebte, die Kräfte dieser Frauen und Männer für zeremoniellen Firlefanz zu vergeuden.
»Direktorin«, wollte der Bootsmann, für einen Moment verwirrt, einen Einwand vortragen, »der Kapitän hat befohlen …« Doch im nächsten Augenblick besann er sich; er salutierte und schickte die Ehrenwache fort. »Hier entlang, Direktorin.«
Min kannte den Weg. Sie hätte den Weg auf jedem von der VMKP in Betrieb genommenen Raumschiff mit verbundenen Augen finden können. Aber sie tat dem Bootsmann den Gefallen, sich von ihm hinführen zu lassen. Durchs Fortsenden der Ehrenwache hatte sie ihn schon hinreichend außer Tritt gebracht.
Als sie aus dem ersten Lift trat und den Weg mittschiffs fortsetzte, war ihr schon klar, dass die Rächer technische Probleme hatte. Aufgrund der kürzlich erlittenen Schädigung ihrer Trommelfelle konnte sie nicht deutlich genug hören, um das charakteristische Gesumm und Winseln des Raumkreuzers zu unterscheiden. Aber sie bemerkte Zentrifugalschwerkraft durch die Stiefelsohlen; spürte mit den Nervenenden der Haut Schwingungen. Sie nahm unterschwellige Materialverspannungen wahr wie ungedämpfte Obertöne.
»Sie haben eine bordinterne Drallverschiebung«, meinte sie zum Bootsmann. »Irgendwo schaben Lager.«
Der Bootsmann guckte sie verblüfft von der Seite an. »Woher …?« Aber sie war OA-Direktorin: er hatte ihre Worte nicht in Frage zu stellen. Beflissen riss er sich zusammen. »Ja, Direktorin, im Bug«, gab er zur Antwort. »Wir haben einen schweren Treffer abgekriegt, durch den die ganze Mittelsektion angeknickt worden ist. Das ist aber noch nicht alles. In manchen Abschnitten des Hydrauliksystems sind Haarrisse entstanden. Mehrere Türen klemmen, bis der Druck sich korrigiert. Deswegen sind ein halbes Dutzend Schotts nicht mehr richtig dichtzumachen. Und wir mussten zwei Einschüsse einstecken. Der Kahn ist dicht geblieben, aber das Kabel zu einer der Sensorgruppen ist unterbrochen. Der Kapitän hat zur Zeit Leute draußen, die die Leitungen flicken sollen, bevor wir in die Tach wechseln. Und was den ganzen Rest angeht … Direktorin, wir hatten bisher keine Gelegenheit, um die Risse zu beheben und die Lecks zu beseitigen. Im Laufe der letzten sechs Monate sind wir fast ununterbrochen auf Gefechtsstation gewesen. Und interner Drall kann ausschließlich in einer Werft readjustiert werden.«
Der junge Offizier erweckte einen so zermürbten, genervten Eindruck, dass Min sich sofort Selbstvorwürfe machte. »Es war keine Kritik beabsichtigt, Bootsmann«, stellte sie klar. »Ich habe nur eine Feststellung ausgesprochen.«
Der Bootsmann schluckte schwer. »Danke, Direktorin.« Seine Augen blieben bedenklich feucht, bis er sie endlich trockenblinzelte.
Die Besatzung der Rächer hatte allerdringendsten Bedarf nach einer Erholungspause.
Warden Dios, du verdammter, elender Scheißkerl, dachte Min voller Empörung, weil sie es normalerweise vorzog, aufs Wohl ihrer Untergebenen Wert zu legen. Ich hoffe bloß, du weißt, was für ein Ding du drehst, verflucht noch mal.
Überall im Raumschiff herrschten höchst emsige Aktivitäten. Männer und Frauen hasteten in alle Richtungen, kamen von den hunderterlei verschiedenen dienstlichen Erledigungen, die es erforderte, einen neuen Flug vorzubereiten, oder gingen an derartige Verrichtungen. Die wenigen Besatzungsmitglieder, die Min erkannten, hielten inne und salutierten; doch die Mehrzahl konzentrierte sich zu stark auf die anstehenden Aufgaben, musste sich infolge Ermüdung und in Anbetracht der gebotenen Eile viel zu sehr konzentrieren, als dass sie ihr Auftauchen überhaupt zur Kenntnis genommen hätte.
Kreuzer der Skalpell-Klasse hatten unter regulären Umständen eine über sechzigköpfige Besatzung. Gegenwärtig hatte die Rächer allerdings weniger Leute zur Verfügung. In den Berichten wurden vier Tote sowie elf wegen gefechtsbedingten Nervenschocks oder Verletzungen ins Quartier verwiesene oder ins Medizinalrevier eingelieferte Besatzungsmitglieder erwähnt; das hieß, den vier Schichten fehlten fünfzehn Personen.
Kaum hatte Min die neuen Befehle Warden Dios' erhalten gehabt, war ein Versorgungsshuttle durch sie auf Kurs zur Rächer beordert worden; binnen so kurzer Frist war es jedoch ausgeschlossen, den Kreuzer nachschubmäßig ausreichend aufzufrischen. Kein Wunder also, dass der Kapitän zu beschäftigt war, um die Steuerbrücke zu verlassen. Das Raumschiff hatte Schäden, eine zu schwache Besatzung und unzulängliche Ausstattung; darum gab es ein etwas armseliges Instrument für einen wichtigen Auftrag ab. Man konnte im Interesse der Rächer-Besatzung nur hoffen, dass der Flug sich tatsächlich so belanglos gestaltete, wie Min befürchtete.
Während sie dem Bootsmann bugwärts folgte, streichelte sie mit der Handfläche den Griff der Dienstpistole, um das Gemüt zu beschwichtigen.
Abgesehen von Gewicht, Besatzung und Bewaffnung bestand einer der übrigen Unterschiede zwischen einem Raumkreuzer wie der Rächer und einem Zerstörer wie etwa der vernichteten Stellar Regent daraus, dass die Brücke der Rächer in ein Kommandomodul integriert war, das vom Hauptrumpf des Schiffs getrennt werden und als separate Einheit fungieren konnte. Hätte Kapitän Davies Hyland einen Kreuzer geflogen, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, den Untergang der Stellar Regent zu überleben; mit dem Leben davonzukommen und seine Tochter vor Angus Thermopyles Pfoten zu schützen. Auch das war ein Detail, aufgrund dessen Min sich mit Selbstvorwürfen plagte; ungerechtfertigt quälte, selbst wenn man berücksichtigte, dass sie die Konstruktion der Stellar Regent gebilligt und persönlich Davies Hyland als Kommandanten ausgewählt hatte.
Doch nichts von alldem spiegelte sich in ihrem Mienenspiel wider, während sie mit dem Bootsmann – inzwischen hatte sie ihn überholt – die Konnexblende durchquerte, die das Kommandomodul mit dem Rest des Raumschiffs verband. Ihr Gesicht trug den für sie eigentümlichen Ausdruck zur Schau, sobald sie vor Kapitän und Brückencrew der Rächer trat: eine strenge, undeutbare Miene.
Fast augenblicklich stoppte auf der Brücke jede Bewegung. Zur Wartung an den Bildschirmen und Konsolen tätige Techniker verharrten. Die Brückencrew – die Posten umfassten Steuerung, Zielcomputer, Datensysteme, Schadensbekämpfung, Kommunikation, Technikkonsole und Ortung – stockte vorübergehend bei ihren Beschäftigungen; an den Pulten verhielten die Hände, die Gesichter blieben starr.
Die geballte Aufmerksamkeit flößte Min Donner das Empfinden ein, ihre Reputation als Warden Dios' Henkerin verdient zu haben.
Da jedoch brach Dolph Ubikwe, der Kapitän, den Bann, indem er seinen G-Andrucksessel auf Min zuschwenkte. »Willkommen an Bord, Direktorin Donner«, sagte er stoisch mit einer Stimme, die nach dem Poltern von Granit klang.
Sofort erhob sich die Brückencrew und salutierte. Die Techs wichen Min aus, als glaubten sie – oder hätten gerne geglaubt –, sie stünden rangmäßig zu tief unter ihr, um Beachtung erregen zu dürfen.
Kapitänhauptmann Ubikwes Tonfall allerdings sprach ganz und gar kein Willkommen aus. Seine Stimme drang ihm aus dem Brustkasten wie der Schall eines Subsonikbohrers. Selbst wenn Min stocktaub gewesen wäre, hätte sie sie durch ihre Schädelknochen durchaus hören können. Unter seinem Kommando gewesene Kadetten behaupteten, seine Stimme könnte aus zwanzig Schritten Abstand Farbe ablösen.
Ubikwe war ein hünenhafter Mann, beinahe zu massig für die körperlichen Aufnahmekriterien der VMKP; jedoch hatte er unter seinem Fett immense Muskelpakete. Zu hohe Belastungen und zuwenig Duschen bewirkten, dass seine schwarze Haut im gleichmäßigen Schein der Brückenbeleuchtung speckig glänzte. Seine blutunterlaufenen Augen hatten rote Ränder; die Augäpfel schienen ihm aus den Höhlungen zu quellen. Auf den Armlehnen des Kommandosessels ruhten seine Fäuste schwer wie Keulen.
»Danke, Kapitän.« Min hatte kein freudiges Willkommen erwartet. »Rühren«, befahl sie der Brückencrew, ohne den Blick von Dolph Ubikwe zu wenden. »Wie bald«, fragte sie ihn, während die Leute wieder ihre Plätze einnahmen, »können Sie in die Tach wechseln?«
Ansatzweise verkrampften sich seine Fäuste. »Das hängt davon ab, ob Sie einen Befehl geben oder eine Frage stellen. Wenn Sie es befehlen, fliegen wir ab. Wir müssen nur das Ziel wissen. Aber falls Sie eine Frage gestellt haben« – er hob die wuchtigen Schultern –, »muss ich sagen, wahrscheinlich in drei bis vier Monaten.«
Andernorts und zu anderer Zeit hätte Min darüber geschmunzelt. Sie kannte den Mann gut. Vor zehn Jahren hatte er das erste Mal an der VMKP-Polizeiakademie ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wo sein Hang zur Insubordination und seine miesen Noten ihm fast die Übernahme ins Dienstverhältnis verdorben hätten. Min persönlich hatte gegen den Willen des Leiters der Akademie gehandelt und Dolph Ubikwe zum Leutnant befördert. Ungeachtet seiner Abneigung gegen Disziplin, die sich sowohl in seinen nachlässigen Lernbemühungen wie auch dem exzessiven Übergewicht niederschlug, hatte sie damals bei ihm eine noch unentfaltete emotionale Stärke erahnt, ein potentielles Charisma, das Warden Dios' Persönlichkeit glich. Er konnte zu einem tüchtigen Führer werden, falls er je lernte, wann und wie er diesen Vorzug einsetzen musste. Seither hatte er Mins Urteil gerechtfertigt, indem er rasch zum Kommandeur eines eigenen Polizeiraumschiffs aufstieg. Unter günstigeren Verhältnissen hätte sie nicht die geringsten Vorbehalte dagegen gehabt, ihn zur Ausführung der Befehle Warden Dios' heranzuziehen.
»Wäre es lediglich eine Frage«, antwortete sie, indem sie seinen verkniffenen Blick erwiderte, »wäre ich bestimmt nicht hier an Bord.«
Sein Mund zuckte. »Dann sollte die Direktorin der Operativen Abteilung uns vielleicht liebenswürdigerweise mitteilen, wohin wir zu fliegen haben. Wissen Sie, das hat entscheidende Bedeutung. Kurs, Geschwindigkeit, alle diese lästigen, aber unentbehrlichen Kleinigkeiten, die man kennen muss, um das Hyperspatium zu durchqueren.«
Nun lächelte Min. Ihr Lächeln war von der Humor- und Trostlosigkeit eines Polarwinds. »Das Ziel ist der KombiMontan-Asteroidengürtel«, gab sie gelassen Auskunft, ohne an seinem Sarkasmus Anstoß zu nehmen. »Am Rande des Bannkosmos.«
Sofort konnte man auf der Brücke neue Spannung spüren. »O weia, o weia«, murmelte der Datensysteme-Offizier. Und der Mann am Zielcomputer stieß ein derbes »Scheiße!«, hervor, als glaubte er, Min könnte ihn nicht hören.
An Ubikwes Mundwinkel zuckte ein Muskel, als ob er erschräke. »Und warum, um Himmels willen«, wollte er von Min erfahren, »sollen wir ausgerechnet dort hindüsen?«
Sie schnauzte ihn nicht an. Ebenso wenig wich sie seinem Blick aus. Sie hätte von der Rächer-Besatzung blinden Gehorsam verlangen können – sie konnte fraglose Folgsamkeit von jeder Schiffsbesatzung der VMKP-Flotte fordern –, aber dazu hegte sie keineswegs die Absicht. Erstens war sie der Ansicht, der Besatzung des Raumkreuzers eine Erklärung schuldig zu sein. Zweitens wusste sie, dass Dolph Ubikwe ihr bessere Dienste leistete, wenn er er selbst sein durfte.
»Weil zur Zeit eine verdeckte VMKP-Aktion gegen die Schwarzwerft auf Thanatos Minor stattfindet«, antwortete sie. »Wie Sie sich gewiss erinnern, befindet dieser Planetoid sich in relativer Nähe des KombiMontan-Asteroidengürtels im Bannkosmos. Seit nahezu einem Jahrzehnt nutzen Illegale den Asteroidengürtel, um unbemerkt Thanatos Minor anzusteuern. Die Amnion tolerieren Einflüge zwar aus keiner anderen, aber aus der Richtung des Planetoiden. Während wir jetzt diese Unterhaltung führen, ist eine VMKP-Aktion gegen die Schwarzwerft in vollem Gang. Ich bin die Art der Aktion hier nicht zu diskutieren bereit und kann nur wiederholen, dass sie verdeckt abläuft. Folgendes ist momentan der maßgebliche Punkt. Es werden sich Konsequenzen ergeben. Was für Konsequenzen, habe ich keine Ahnung. Ich kann es nicht wissen. Möglicherweise gibt es Überlebende.« Morn Hyland könnte überleben … »Überlebende aus unseren Reihen oder überlebende Illegale auf der Flucht. Oder es könnte ein großangelegter Vergeltungsschlag der Amnion die Folge sein.«
Ehe sie ihren Schlusssatz sprach, borgte sie sich einen guten Teil der Überzeugungskraft Warden Dios' aus; von ihrem eigenen Überzeugungsvermögen war zuwenig übriggeblieben. »Aber egal wie es kommt, der Auftrag lautet, auf alles gefasst zu sein und darauf zu reagieren.«
Die Brückencrew starrte sie an. Ausnahmslos hatte man inzwischen die Sessel ihr zugedreht. Aus den G-Andrucksesseln – Kommandokonsole und Kommunikationspult vor ihr, Technikkonsole und Datensysteme an den Seiten, Scanning, Steuerung und Zielcomputer kopfüber oben – musterten die Leute sie voller Furcht, Verzweiflung oder schlichtweg in matter Abgestumpftheit, als hätte sie ihnen befohlen, Selbstmord zu begehen.
Für einen Moment senkte Dolph Ubikwe den Blick. Als er aufschaute, merkte man seinen Augen eine auffällige Unverhohlenheit an, als hätte er einen Teil seiner Zurückhaltung abgestreift. »Ich bitte um Erlaubnis, offen sprechen zu dürfen, Direktorin.«
Flüchtig überlegte Min, ob sie die Zustimmung verweigern sollte. Dann entschied sie sich dagegen. Einerseits galten gewissen Maßstäben zufolge Dispute zwischen Befehlshabenden als nachteilig für die Disziplin. Andererseits war die Rächer Ubikwes Raumschiff; welchen Tenor er anschlug, ob er die Besatzung damit inspirierte oder demoralisierte, seine Sache. Min hatte die Bereitschaft, seinem Gespür zu trauen.
Sie nickte knapp. »Bitte.«
Er rückte sich im Kommandosessel zurecht, als verlangte es ihn nach einem festeren Untersatz, bevor er sie mit seiner Dröhnstimme beschallte. »Dann gestatten Sie mir die Frage, Direktorin Donner«, meinte er im Ton krassester Entrüstung, »ob Ihr unverbesserliches Gehirn eigentlich den Verstand verloren hat? Lesen Sie denn keine Berichte mehr? Haben Sie keinen blassen Schimmer, was hinter uns liegt? Oder denken Sie vielleicht, sechs Monate lang Asteroiden und dem Feuer von Materiekanonen auszuweichen, wäre quasi 'n Urlaub? Die Aufgaben, die wir rund ums Valdor-Industriezentrum zu erfüllen hatten, hätten zu hohe Anforderungen an fünf Kreuzer gestellt. Wir können von Glück reden, dass wir noch leben und es bis nach Hause geschafft haben. Die Besatzung ist reduziert. Auch das steht in den Berichten. Mehrere Besatzungsmitglieder kreisen jetzt in Särgen um Massif 5. Wir haben Lecks, undichte Hydrauliken und eine Sensorgruppe ohne Verkabelung. Aber damit mag ich mich gar nicht lang aufhalten. Nach alldem, was wir durchgestanden haben, sollen ein paar kleinere Unannehmlichkeiten uns nicht weiter stören. Wir haben ernstere Probleme.«
Seine Stimme klang barsch und laut genug, um Mins Ohren weh zu tun; doch sie wusste aus Erfahrung, dass er hinsichtlich seiner Stimmgewalt noch beträchtliche Reserven in petto hatte. Im Interesse ihres Wohlbefindens hoffte sie, dass er die Lautstärke nicht noch steigerte.
»Haben Sie schon auf die Geräusche des Schiffs gelauscht, Direktorin Donner? Oder haben Sie vergessen, wie sich interne Drallverschiebung anhört? Haben Sie vergessen, wie so etwas sich auf ein Kriegsschiff auswirkt? Lassen Sie mich für den Fall, dass Sie zuviel Zeit am Schreibtisch verbringen und zuwenig an vorderster Front, Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Wenn die Lager nachgeben und der interne Drall zur Dauererscheinung wird, bevor man es verhindern kann, überträgt sich das zentrifugale Trägheitsmoment aufs gesamte Schiff. Das Raumschiff als Ganzes gerät ins Kreiseln, ein Albtraum für Steuerung und Ortung, von der Zielerfassung ganz zu schweigen. Für derartige Manöver ist die Rächer nicht geschaffen. Und sollten wir im Asteroidengürtel ins Rotieren kommen – oder während eines Gefechts –, geben wir allesamt den Löffel ab. Was Sie verlangen, ist eine übergeschnappte Zumutung, Direktorin Donner. Über wie viele Kriegsschiffe verfügen wir mittlerweile? Fünfzig? Fünfzig Kreuzer, Zerstörer, Kanonenboote und regelrechte Schlachtschiffe? Soll ich Ihnen etwa glauben, sie seien für diesen Auftrag momentan alle unabkömmlich? Dass sich kein einziges dieser Raumschiffe in Reichweite befindet? Und falls es so ist, dann soll doch die KombiMontan-Station sich mit dem auseinandersetzen, was sich dort ergibt. Zum Teufel noch mal, Direktorin, sie hat im dortigen System genügend Feuerkraft, um drei Schiffe von der Qualität unseres Kreuzers zu atomisieren. Lassen Sie sie doch auf ihren gottverdammten Asteroidengürtel noch für 'n paar Stunden mehr allein aufpassen. Wir jedenfalls sind dafür nicht in der geeigneten Verfassung.«
Aus Gründen, die sie sich selbst noch nie zu erklären versucht hatte, schätzte Min oft ihre Offiziere am meisten, wenn sie ihr offenen Zorn zeigten. Vielleicht weil sie Kapitän Ubikwes Empörung nachvollziehen konnte und dafür Verständnis aufbrachte oder vielleicht weil sie selbst so wütend war, dass ihre Wut und seine Erbitterung ein sonderbares Band der Gemeinsamkeit um sie beide schlang, begegnete sie seinem Einspruch mit einem nachgerade zuneigungsvollen Lächeln.
»Ist das alles?«
»Nein.« Ihre Reaktion beunruhigte ihn, doch offenbar mochte er es sich nicht anmerken lassen. »Ich bin gerne bereit, alles zu wiederholen, aber diesmal laut.«
»Das erübrigt sich«, erwiderte Min gedehnt. »Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt.«
Kapitän Ubikwe maß sie festen Blicks. »Wieso habe ich dann den Eindruck«, fragte er schließlich in gemäßigterem Tonfall, »Sie bestünden trotz allem darauf, dass wir den Flug übernehmen?«
»Ich bestehe darauf«, bestätigte Min. »Die Rächer ist wirklich das einzige abkömmliche Raumschiff. Weil sie hier ist. Selbstverständlich, ich könnte Ihre Ablösung aus dem Massif-System abbeordern. Ich hätte die Möglichkeit, ein Schlachtschiff von Beteigeuze Primus abzuziehen. Oder einen Zerstörer von der Grenzpatrouille. Ich könnte mich auf die KombiMontan-Station verlassen und hoffen, dass man der Aufgabe gewachsen ist. Aber von denen kann keiner mich dort hinfliegen.«
Die Brückencrew nahm diese Eröffnung mit Überraschung, Beklommenheit und dumpfer Betroffenheit auf. Der Mann an der Scanningkonsole pfiff durch die Zähne, als wollte er Gespenster verscheuchen. »Scheiße«, murrte über Min nochmals der Waffensysteme-Offizier.
Dolph Ubikwes Blick ruckte aufwärts. »Glessen«, schnauzte er mit rauen Tönen, als hätte er einen Verbrennungsmotor in der Brust, zum Zielcomputer hinauf, »wenn Sie das Wort noch einmal vor Direktorin Donner aussprechen, gibt's was mit dem Rohrstock.« Niemand auf der Brücke lachte; alle wussten es besser, als sich so etwas zu leisten. »Falls Sie nicht zugehört haben, sperren Sie nun die Ohren auf. Die Direktorin der Operativen Abteilung der VMKP, der wir mit solchem Stolz dienen, hat uns soeben mitgeteilt, dass sie ihr Leben in unsere Hände legt. Sie schickt uns nicht in den KombiMontan-Asteroidengürtel und schaut zu, wie wir uns bewähren, nein, sie fliegt mit uns. Wo ich herstamme, nennt man das ›sein Geld aufs eigene Mundwerk setzen‹« – unversehens drosch er mit der Faust auf sein Kommandopult –, »und davor haben wir Respekt gehabt.«
Plötzlich hatte auf der Brücke jeder Dringendes zu tun. »Aye, Sir«, nuschelte Glessen. Niemand sah ihn an.
Mit finsterer Miene heftete Kapitän Ubikwe den Blick wieder auf Min. Sie vermutete, dass er insgeheim ein Grinsen unterdrückte. »Soll das heißen«, erkundigte er sich mit allerdings ernster Stimme, »dass die Operative Abteilung bei dieser verdeckten Aktion mitwirkt? Ich dachte, dass ausschließlich die Datenakquisition mit solchen Methoden arbeitet.«
Min mochte ihm nichts von Morn Hyland erzählen. Diese Tür zu ihrem Herzen wollte sie nicht öffnen. Stattdessen antwortete sie so, wie Warden Dios es ihres Erachtens nach von ihr erwartet hätte.
»Nein. Das soll heißen, dass es eine Aktion der VMKP ist. Dass es sich um eine Aktion im Interesse der ganzen Menschheit handelt.«
Der Kapitän stöhnte gequält. Ein, zwei Sekunden lang betrachtete er, während er die Lage durchdachte, seine Hände. Dann senkte er sie auf die Oberschenkel. »Tja, wenn es so ist …« Mit einem Ruck schwang er sich aus dem G-Andrucksessel und trat beiseite. »Als Direktorin der Operativen Abteilung und höchstrangige VMKP-Offizierin an Bord gebührt der Oberbefehl auf der Brücke Ihnen. Übernehmen Sie den Kommandoposten. Ich lasse mir den Platz am Zielcomputer freimachen, von da aus kann ich alle erforderlichen Vorkehrungen durchführen, bis wir in die Tach wechseln.«
Durch eine rasche Gebärde gab Min sofort ihre Ablehnung zu verstehen. »Die Rächer ist Ihr Schiff, Kapitän. Es ist vorteilhafter für uns, wenn Sie das Kommando behalten. Und ich brauche selbst Ruhe.« Tatsächlich hatte sie zwei Tage hindurch nicht geschlafen; seit zwölf Stunden nichts gegessen. »Weisen Sie jemanden an, mir mein Quartier zu zeigen, und schon bin ich Ihnen aus dem Weg.«
Ein Anflug von Dankbarkeit verlieh Dolph Ubikwes Miene einen etwas weicheren Ausdruck; doch er bedankte sich nicht. Routiniert tippte er an seinem Pult Tasten, überprüfte die Anzeigen. »Der Bootsmann bringt Sie hin.« Der junge Mann stand noch an der Konnexblende. »Falls Sie noch mehr Befehle zu erteilen wünschen, dann bitte jetzt. Wir hatten sowieso reichlich zu tun, bevor Sie an Bord gekommen sind, aber nun wird's noch jede Menge mehr.«
Min kannte kein Zögern. »Ich will in zwei Stunden in die Tard zurückfallen«, antwortete sie unverzüglich. »In drei Stunden möchte ich im Asteroidengürtel sein. Das bedeutet, Sie müssen alles ganz exakt und präzise kalkulieren.«
Über die Risiken war sie sich im Klaren. Sollte während der Hyperspatium-Durchquerung die interne Drallverschiebung auf das gesamte Raumschiff übergreifen, konnte die Rächer durch das Wechselspiel von Trägheitsmoment und Hysteresis fehlgesteuert werden, zwischen fünfzig Kilometer und einer halben Million Kilometer abseits vom programmierten Kurs in die Tard zurückfallen – in der Nähe eines Asteroidengürtels ein nahezu mit Gewissheit fatales Phänomen. Und falls es auf dem Flug durch den Asteroidengürtel geschah, ließ eine Kollision sich kaum noch abwenden. Um dagegen vorzubeugen, musste das Schiff beinahe sämtliche Manöver schwerkraftfrei ausführen. Und dafür war es nicht konstruiert worden. Die Besatzung war darauf nicht eingestellt.
Aber alles, was Angus Thermopyle tat oder ihm misslang, entzog sich Mins Beeinflussung, sie hatte darüber keinerlei Informationen. Irgendwo in der Umgebung Thanatos Minors bewegte das Chronometer sich einem Termin entgegen, doch Min wusste absolut nicht, wie sie ihn hätte einhalten können. Diese Tatsache flößte ihr ein stärkeres Dringlichkeitsbewusstsein als Warden Dios' Anweisungen ein.
»Sobald wir wieder im Normalraum sind«, fügte Min hinzu, »schalten Sie die Kommunikationsanlagen auf sämtlichen Frequenzen auf maximale Empfangsleistung. Wenn dort draußen irgend was los ist, will ich, dass wir es hören. Fliegen Sie uns, vorausgesetzt wir erleben keine Überraschungen, von der Rückseite in den Asteroidengürtel – sagen wir, zehntausend K von der Grenzzone entfernt – und suchen Sie uns irgendeinen Felsklotz, hinter dem wir uns verstecken können, einen Brocken mit genug magnetischer Resonanz, um Ortungsinstrumente zu täuschen. Wecken Sie mich, wenn etwas vorfällt oder sobald wir in Position sind, je nachdem, was zuerst eintritt. Dann erläutere ich Ihnen weitere Einzelheiten.«
Kapitän Ubikwe hob den Kopf und entblößte die Zähne, als wollte er sie verscheuchen. »Ist so gut wie erledigt.«
»Ich weiß«, sagte Min leise, aber so deutlich, dass jeder auf der Brücke es hören konnte. »Andernfalls hätte ich das Kommando übernommen.«
Um Ubikwe die Verlegenheit einer Antwort zu ersparen, drehte sie sich um und ließ sich vom Bootsmann durch die Konnexblende in den Hauptrumpf des Polizeikreuzers zurückbegleiten.
Auf dem Weg zu dem für sie bestimmten Quartier merkte sie sich vor, Dolph Ubikwes Zielcomputer-Offizier ihrem persönlichen Stab einzuverleiben. Sie hatte lieber Leute um sich, die genügend Rückgrat kannten, um Einwände zu äußern.
Hätte Warden Dios es ihr gestattet, genug Einwände vorzutragen, wäre sie vielleicht jetzt nicht an Bord eines beschädigten Raumschiffs mit einer erschöpften Besatzung, müsste es nicht wider alle Vernunft durchs Hyperspatium schleudern, um eine Aufgabe zu erfüllen, die sich entweder als so nutzlos oder dermaßen kritisch erwies, dass man damit besser jemand anderes hätte betrauen sollen.
Hashi Lebwohl war kein unehrlicher Mensch. Viel zutreffender wäre es gewesen, ihn als nichtehrlichen Menschen zu bezeichnen. Er hatte gerne mit Fakten zu tun. Allerdings enthielt Wahrheit für ihn keinerlei moralische Imperative, hatte in seiner Sicht keinen positiven oder negativen Wert. Sie hatte ihren Nutzen, geradeso wie Fakten nützlich sein konnten; er betrachtete sie als Werkzeug, das in mancher Hinsicht wirksamer war als sonstige Mittel, in anderer Hinsicht unbrauchbarer.
Es zählte zu den Fakten seiner Stellung als Direktor der Abteilung Datenakquisition der VMKP, dass er gewissen Anforderungen zu genügen hatte. Auch Warden Dios selbst schätzte Fakten sehr; er verlangte sogar ständig nach immerzu neuen Fakten. Neben anderen Gründen hatte Hashi genau deshalb solche Achtung vor dem VMKP-Polizeipräsidenten. Warden Dios fehlte jede Neigung, irgendetwas über die Tonne zu bügeln und den Kontakt zur Realität zu verlieren, im Gegensatz zum unbeklagt abgetretenen Godsen Frik, der sich nie anders verhalten hatte; und ebenso im Gegensatz selbst zu Min Donner, der in mancherlei Beziehung der gleiche Fehler unterlief, ohne dass es ihr – wie typisch – jemals auffiel. Warden Dios lebte in der wirklichen Welt. Unter gar keinen Umständen hätte Hashi Lebwohl je gezögert, seine Pflicht zu tun und Warden Dios mit Fakten zu versorgen. Und er zauderte selten, anderen seine Einsichten in die Art und Weise mitzuteilen, wie Fakten miteinander zusammenhingen und sich zu komplizierteren, weniger leicht durchschaubaren Realitäten verknüpften.
Hingegen fühlte er sich nicht im geringsten dazu verpflichtet, Warden Dios – oder sonst irgendwem – die Wahrheit zu sagen.
Viel früher als jeder andere erhielt er die ersten Hinweise auf das, was sich auf Thanatos Minor ereignet hatte; sie erreichten ihn geraume Zeit, bevor diesbezüglich eindeutige Informationen im VMKP-HQ eintrafen. Doch er verschwieg die Fakten fast eine Stunde lang. Und die Wahrheit sprach er überhaupt nicht aus.
Erstens bekam er vorab diese Hinweise, weil die Codierung sie als ausschließlich für ihn bestimmt kennzeichnete; und zweitens, weil niemand in der Kommunikationsabteilung des VMKP-HQ wusste, dass sie in irgendeinem Zusammenhang mit Kassafort oder Josua standen. Man hatte darin nicht mehr oder weniger als die üblichen Funksprüche von DA-Agenten gesehen, und solche Übermittlungen gab man in dem Moment, wenn sie eingingen, umgehend als ›Blitz‹ an den DA-Direktor weiter.
Der früher eingetroffene Funkspruch enthielt eine rätselhafte Botschaft Nick Succorsos an Bord der Käptens Liebchen. Anfangs erwähnte Hashi sie nicht, weil sie keine nützlichen Informationen lieferte. Letzten Endes verheimlichte er dann aber den Text, weil der Inhalt ihm Anlass zur Beunruhigung bot.
Wenn Sie sie kriegen, Sie Schuft, hatte Nick gefunkt, können Sie sie haben. Mir ist es gleich, was aus Ihnen wird. Sie waren auf mich angewiesen und haben trotzdem alles verbockt. Sie haben so etwas wie sie verdient. Und zum Schluss hatte Succorso – aus keinem ersichtlichen Grund – noch hinzugefügt: Kaze sind doch einfach zu spaßig, was?
Dass er doch verrecke, hatte Hashi leicht amüsiert gedacht. Zur Hölle mit diesem asozialen Miesling. Sie? Wer, sie? Können sie haben. Meinte er Morn Hyland? War er etwa derartig blödsinnig zu glauben, Josua wäre gegen Kassafort eingesetzt worden, um sie zu retten?
Nein. Die Bemerkung über Kaze widersprach diesem Rückschluss. Er hatte unverkennbar die Absicht, Hashi vor einer Frau zu warnen, die irgendwie mit Kaze zu schaffen hatte – oder ihm mit ihr zu drohen. Jedoch machte auch das keinerlei Reim. Was konnte Nick denn über die hiesigen Ereignisse wissen? Wie sollte er erfahren haben, dass Terroristenanschläge auf das VMKP-HQ und das EKRK stattgefunden hatten?
Bezog das ›sie‹ sich vielleicht auf die Käptens Liebchen? Wollte er damit andeuten, dass er den Vorsatz hätte, falls Hashi oder die VMKP etwas gegen die Käptens Liebchen unternahmen, die Interspatium-Brigantine als eine Art von Kaze gegen das VMKP-HQ zu missbrauchen?
Sie haben so etwas wie sie verdient.
Etwas wie sie ›verdient‹?
Sie waren auf mich angewiesen und haben trotzdem alles verbockt.
Anscheinend war Nick Succorso verrückt geworden.
Schließlich legte Hashi den Funktext zur Seite. Er fand sich damit ab, Nicks Absichten nicht erraten zu können. Und genau das war es, was ihm solche Besorgnis bereitete. Ihm behagte das Gefühl fehlenden Durchblicks nicht.
Anders verhielt es sich mit dem später eingegangenen Funkspruch.
Niemand außerhalb der dienstlichen Domäne Hashi Lebwohls – und im Innern vielleicht höchstens drei Personen – wusste darüber Bescheid, dass Angus Thermopyle, Milos Taverner und Nick Succorso nicht die einzigen Leute waren, bei deren Entsendung nach Thanatos Minor er mitgewirkt hatte; oder dass der vierte Beteiligte den Planetoiden mit genau dem Auftrag aufgesucht hatte, die Geschehnisse zu beobachten und ihren Verlauf schleunigst dem VMKP-HQ zu melden.
Diese Blitz-Meldung stammte von einem angeblich legalen Handelsraumschiff namens Freistaat Eden; ›angeblich‹ deshalb, weil Hashi es mit falschen Identifikations- und Deklarationsdaten ausgestattet hatte, damit es sich unter Ausnutzung seines inoffiziellen Rufs, ein Illegalen-Raumschiff zu sein – gleichfalls eher eine Vorspiegelung als Tatsache –, frei im Human-Kosmos bewegen konnte. Nach Angaben Darrin Scroyles, des Kapitäns, waren er und sein Raumer gerade noch rechtzeitig aus dem Umkreis Thanatos Minors entkommen und so von der durch die Destruktion des Planetoiden verursachten Stoßwelle verschont geblieben.
Also hatte Josua Erfolg gehabt. So weit, so gut. Allerdings umfasste Kapitän Scroyles Mitteilung zusätzliche Fakten, deren Tragweite Hashi sofort zu der Entscheidung bewogen hatte, sie vorerst nicht an Warden Dios weiterzuleiten. Er brauchte Zeit, um über die Situation, wie sie sich im Lichte der Nachricht Kapitän Scroyles darstellte, erst einmal gründlich nachzudenken.
Unter Hashi Lebwohls uneingeschränkter Ägide beschäftigte die Abteilung Datenakquisition Agenten und Detektive aller Art. Manche waren freischaffende Gauner vom Schlage Nick Succorsos. Andere arbeiteten wie traditionelle Spione, forschten unter gründlicher Tarnung in dem feinen, spinnwebenhaften gesellschaftlichen Beziehungsnetz der Menschheitsillegalen nach Geheimnissen.
Wieder andere betätigten sich schlichtweg als Söldner. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Schuften hatte man es bei ihnen mit Männern und Frauen zu tun, die durchaus ihre besonderen, eigentümlichen Ehrbegriffe kannten, jedem treu dienten, der ihren Preis zahlte, und nicht davor zurückschreckten, dafür auch ihr Blut zu lassen. Man konnte davon ausgehen, dass sie für eine vereinbarte Bezahlung einen bestimmten Auftrag erledigten, keine Fragen stellten, sich nicht beschwerten – und nach Abwicklung der Angelegenheiten zu niemandem ein Wörtchen darüber sprachen.
Aus Hashis Sicht bestand der einzige Nachteil bei der Beschäftigung solcher Leute in der Möglichkeit, dass derlei Söldner ihren nächsten Auftrag von jemand anderem entgegennahmen; vielleicht von Feinden der Menschheit. Er beugte dieser Unerfreulichkeit vor, so gut er es konnte, indem er seine Söldner auf Trab hielt und die Konkurrenz überbot.
Darrin Scroyle war so ein Söldner. Er und die Besatzung seines Raumers Freistaat Eden gehörten zu den besten Leuten seines Gewerbes: sie waren verwegen, sowohl zur Vorsicht wie auch zu rücksichtslosem Einsatz fähig, je nach dem, wie die Verhältnisse es verlangten; imstande zur Gewaltanwendung in beinahe jeder Größenordnung, aber gleichzeitig begabt zu raffiniertem und unauffälligem Vorgehen. Ihr Raumschiff war schnell und schwer bewaffnet.
Nachdem die Freistaat Eden den Human-Kosmos erreicht hatte und von einem Lauschposten aus ihre Botschaft per Interspatium-Kurierdrohne dem VMKP-HQ übermittelt worden war, widmete Hashi dem Bericht, als er ihm vorlag, seine volle Aufmerksamkeit.
Im wesentlichen hatte sich folgendes abgespielt: Die Freistaat Eden hatte Kassafort verlassen, sobald Kapitän Scroyle zu der Überzeugung gelangt war, dass die Ereignisse sich dem kritischen Höhepunkt näherten. Damit handelte er sehr wohl gemäß Hashis Befehl: Hashi wünschte nicht, dass die Freistaat Eden durch Josuas Aktion irgendwelchen Schaden erlitt. Doch während des Abflugs aus Kassaforts Umraum hatte die Freistaat Eden mit sämtlichen ihr verfügbaren Instrumenten den Planetoiden und die dort befindlichen Raumschiffe der diversen Parteien gescannt und dadurch mehrere interessante Entwicklungen beobachten können.
Aus der angedockten Posaune war eine Gruppe Personen in EA-Anzügen zum Vorschein gekommen und hatte Kassaforts Kommunikationsanlagen sabotiert. Anschließend waren die Saboteure gewaltsam in die Amnion-Sektion eingedrungen – und später von dort entflohen.
Die Käptens Liebchen hatte die Friedliche Hegemonie zerstört, allerdings nicht durch Laser- oder Materiekanonenbeschuss, sondern durch Rammen – anscheinend um zu verhindern, dass das amnionische Kriegsschiff die Saboteure vernichtete.
Aus der Amnion-Sektion war ein Shuttle gestartet und von der Sturmvogel an Bord genommen worden.
Außerdem hatte die Freistaat Eden observiert, dass die Stiller Horizont, begleitet durch eine kleine, von Kassafort ausgeschickte Flottille Illegalen-Raumschiffe, Abfangkurs auf die Posaune genommen hatte.
Das alles war schlimm genug: es stak voller unklarer Eventualitäten, verhieß böse Überraschungen. Doch die Dinge standen noch ärger.
Vor dem Abflug hatten Kapitän Scroyle und seine Besatzungsmitglieder soviel Zeit, wie sie erübrigen konnten, im Innern der Schwarzwerft zugebracht und auf Gerüchte gelauscht, Scanning- und Kommunikationseinrichtungen ausgespäht, Informationen gesammelt. Sie hatten miterlebt, wie die Käptens Liebchen, verfolgt von Kriegsschiffen, aus der Richtung Station Potenzials Kassafort anflog. Ferner hatten sie mitverfolgt, wie Kapitän Succorsos Raumschiff eine Kosmokapsel zur Friedlichen Hegemonie startete, die Kapsel jedoch vom Kurs abwich und die Sturmvogel sie abfing.
Und sie hatten Geschichten gehört …
Die Geschichte, dass die Amnion in Kassafort Kapitän Succorsos Kredit-Obligation storniert hatten.
Die Geschichte, dass er, die Amnion und der Kassierer eine Auseinandersetzung um den Inhalt der Kosmokapsel austrügen.
Die Geschichte, dass man gesehen hatte, wie Kapitän Succorso in einer Bar mit Kapitän Thermopyle und dem Ersten Offizier der Posaune beisammensaß.
Die Geschichte, dass Wächter des Kassierers überfallen worden waren und man den Inhalt der Kosmokapsel geraubt hatte.
Die Geschichte, dass die Kapitänin der Sturmvogel, eine Frau mit Namen Sorus Chatelaine, ein Immunitätsserum gegen Amnion-Mutagene zu verkaufen hätte.
Die Geschichte, Kapitän Succorso hätte ein eigenes Besatzungsmitglied, eine Frau, an die Amnion verschachert, um von ihnen – so behauptete das Gerücht – die Erlaubnis zu erlangen, mit der Käptens Liebchen Kassafort verlassen zu dürfen.
Alles in allem hätten diese Informationen genügt, um Godsen Frik, wäre er noch am Leben, einen Heidenschreck einzujagen – das wohl heftigste Muffensausen seines ganzen Erwachsenendaseins. Auf Hashi Lebwohl dagegen hatten sie eine gänzlich andere Wirkung. In gewisser Hinsicht lebte er für den Fall derartiger Krisen: schleierhafte Vorgänge mit beunruhigenden Implikationen, die alles an Schläue, Initiative und Falschspielerei erforderten, was er anzuwenden verstand. Die Tatsache, dass er nahezu eine Stunde lang über die Situation nachdachte, ehe er die erhaltenen Informationen weiterreichte – oder wenigstens einen Teil –, bedeutete seinerseits keineswegs irgendeine Furchtsamkeit. Es besagte lediglich, dass er diesen rätselhaften Ereignissen seine volle Beachtung zu schenken beabsichtigte.
Sturmvogel und Käptens Liebchen. Posaune und Stiller Horizont. Friedliche Hegemonie und ein Amnion-Shuttle.
Josua, Nick Succorso, der Kassierer und Milos Taverner, Sorus Chatelaine und die Amnion. Ganz zu schweigen von Morn Hyland, die bei Succorsos Entschluss, nach Station Potenzial zu fliegen, eine maßgebliche Rolle gespielt haben musste und die es folglich in Bezug auf seinen Konflikt mit den Amnion – oder dem Kassierer – gleichfalls zu berücksichtigen galt.
Wenn Sie sie kriegen, Sie Schuft, können Sie sie haben.
Morn Hyland?
Nein. Ausgeschlossen.
Es gab zu viele Beteiligte; zuviel Figuren tummelten sich auf dem Schachbrett. Vor allem über diese Kapitänin Chatelaine und ihr Raumschiff hätte Hashi gerne mehr gewusst. War sie es, die Nick Succorso meinte? Konnten die Gerüchte, die über sie kursierten, wahr sein? Falls ja, wo außer bei Succorso könnte sie ein Immunitätsserum erlangt haben? Aber weshalb hätte er es ihr überlassen sollen?
Doch während er sich an sein Computerterminal setzte, um an Informationen zu sichten, was die Datenverwaltung über Sorus Chatelaine und die Sturmvogel gespeichert haben mochte, grübelte Hashi längst über weitergehende Möglichkeiten nach.
Ein Mensch ohne intuitive Begabung war er keinesfalls. Und er kannte sich selbst gut. Er wusste aus Erfahrung, dass die Gegebenheiten, die bei der Untersuchung eines Problems seine Aufmerksamkeit am stärksten beanspruchten, sich häufig als zweitrangig herausstellten. Dann dienten diese Angelegenheiten seinem Bewusstsein lediglich zur Zerstreuung, damit andere Bestandteile seines Geistes um so effektiver arbeiten konnten. Darum verschwendete er keine Zeit damit, sich darüber das Gehirn zu zermartern, wieso Succorsos Funkspruch ihm keine Ruhe ließ, bei ihm Bedenken hervorrief, die er kaum zu beschreiben gewusst hätte. Ebenso wenig zerbrach er sich mit der Frage den Kopf, wie viele von den von Darrin Scroyle genannten Gerüchten auf absichtliche, insgeheime Irreführungen durch Nick Succorso zurückgingen. Stattdessen konzentrierte er sich vorsätzlich auf Datenrecherche; lenkte sich von den Fragen ab, auf die er am dringendsten Antworten brauchte.
Leider kostete diese Verfahrensweise Zeit. Angesichts der Umstände war er sich nicht sicher, ob er es sich leisten konnte, dafür Zeit zu opfern.
Aber auf alle Fälle musste er diese Zeit haben. Folglich konnte er es sich auch leisten, sie sich zu nehmen.
Sie haben so etwas wie sie verdient.
Während die Datenverwaltung mit Suchprogrammen ihre Informationsmassen durchkämmte, aktivierte er seinen Interkom-Apparat und gab dem DA-Rechenzentrum durch – er betrachtete sie als sein Operationszentrum –, dass Lane Harbinger zu ihm kommen sollte. »Sofort«, fügte er lakonisch hinzu. »Jetzt. Am liebsten hätte ich sie schon vor fünf Minuten hier gesehen.«
»Ja, Sir«, antwortete ein Tech und veranlasste das weitere.
Lane Harbinger war die Enkelin des berühmten Forschers und Wissenschaftlers Malcolm Harbinger, aber das blieb für Hashi ohne Belang. Es hatte nur insofern Bedeutung, als sie sich wegen ihrer Herkunft einer perfektionistischen Penibilität befleißigte. Sprechen wollte er sie, weil sie die Hardware-Technikerin war, die er Mandich, dem Sicherheitschef der Operativen Abteilung, zugewiesen hatte, um ihm bei der Aufklärung des Mords an Godsen Frik behilflich zu sein.
Hashi hätte nicht sagen können, welchen Zusammenhang zwischen Kapitän Scroyles Bericht und Godsens Ermordung er sich einbildete oder aufzudecken hoffte. Er lenkte sich schlichtweg ab; gestand seiner Intuition die Zeit und Muße zu, die sie brauchte, um sich in ihrer Funktionstüchtigkeit zu bewähren. So hielt er sich in der Verfassung fruchtbarer geistiger Denktätigkeit, in der er die Fähigkeit hatte, die unwahrscheinlichsten Zusammenhänge zu entdecken.
Lane Harbinger fand sich auf seine Order ziemlich rasch ein. Als der Interkom-Apparat summte und sie angemeldet wurde, schob sich Hashi die Brille bis vorn auf die Nasenspitze, zerzauste sich das Haar und vergewisserte sich, dass ihm der Laborkittel zerknittert um die Schultern hing. Dann befahl er der Datentechnikerin, die als seine Rezeptionistin fungierte, Lane Harbinger einzulassen.
Sie war eine kleine, hyperaktive Frau, die zierlich gewirkt hätte, wäre sie jemals ruhig zu erleben gewesen. So wie zahlreiche Leute, die in der Datenakquisition arbeiteten, war sie abhängig von Niks, Hype, Koffein sowie anderen verbreiteten Stimulantien; doch soweit Hashi ihr etwas anmerkte, hatten diese Mittel eine besänftigende Wirkung auf ihre organische Verkrampftheit. Er vermutete, dass ihre überpenible Genauigkeit für sie ebenfalls eine Art von Beruhigungsmittel abgab; sie damit inneren Druck kompensierte, der sie sonst handlungsunfähig gemacht hätte.
Mutmaßlich zählte sie überdies zu den Frauen, die ununterbrochen quasselten. Allerdings war sie so klug, sich in Hashi Lebwohls Gegenwart zu beherrschen.
»Sie wollten mit mir reden«, konstatierte sie gleich beim Eintreten, als wäre dieser Satz nur der winzige Schnipsel eines Wortschwalls, der ihr schon seit einiger Zeit durch den Kopf kreiste.
Über die Brille hinweg sah Hashi sie an und lächelte freundlich. »Ja, Lane. Vielen Dank, dass Sie sofort gekommen sind.« Zum Hinsetzen forderte er sie nicht auf: er wusste, dass sie Bewegung brauchte, um sich konzentrieren zu können. Sogar die präziseste Laborarbeit verrichtete sie mit einem ganzen Komplex von äußerlichen Tics und Gestikulationen und inmitten einer Wolke blauen Dunstes. Also ließ er sie sich eine Nik anzünden und vor seinem Schreibtisch auf und ab gehen, während sie auf seine Eröffnungen wartete.
»Ich wüsste gerne«, sagte er, während er sie durch den Qualm musterte, den ihre Raucherei erzeugte, »wie Sie mit den Ermittlungen vorankommen. Haben Sie über den Kaze, der das vorzeitige Ableben unseres guten Godsen Frik herbeigeführt hat, inzwischen irgendetwas herausgefunden?«
»Es ist noch zu früh, um sicher zu sein«, entgegnete sie, als hielte nur der Damm ihrer Willenskraft einen Sturzbach der Redseligkeit zurück.
»Sehen Sie momentan mal vom Sichersein ab«, antwortete Hashi liebenswürdig. »Schildern Sie mir ganz einfach, wo Sie gegenwärtig mit den Ermittlungen stehen.«
»Gegenwärtig. Gut.« Lane schaute ihn, während sie auf und ab stapfte, nicht an. Ihr Blick schweifte über die Wände, als wären sie nicht die Begrenzungen seines Büros, sondern verkörperten die Grenzen ihres Wissens. »Dass Sie mich zum OA-Sicherheitsdienst geschickt haben, war höchst sinnvoll. Die dortigen Mitarbeiter sind hochgradig motiviert und außerordentlich umsichtig, so wie sie's verstehen, aber sie haben keine Ahnung, was Umsicht wirklich bedeutet. Sie sollten sich darauf beschränken, Leute zu erschießen, statt sich mit dieser Art von Nachforschungen zu befassen. Fünf Minuten ohne mich, und jede Aufklärung wäre von vornherein verpfuscht worden. Möglicherweise wäre sie sowieso unmöglich gewesen. Die Bombe war nicht groß, Kaze befördern nie große Bomben, in einem menschlichen Oberkörper gibt's nur soundsoviel freien Platz, selbst wenn man von dem Kaze nicht erwartet, dass er mehr als bloß noch 'n paar Stunden aktiv bleibt, aber es war hochbrisanter Sprengstoff, ich meine, wirklich hochbrisantes Zeug. Eigentlich gab's keinen Grund, wieso seine Id-Plakette und der Dienstausweis nicht in dermaßen winzigkleine Fetzchen zerrissen worden sein sollten, dass sie unauffindbar blieben, gar nicht zu reden von den eingearbeiteten Chips. Allerdings weiß Friks Sekretärin mehr, als sie zu wissen glaubt.«
Sobald sie in voller Fahrt war, klang Lanes Tonfall weniger abweisend; oder vielleicht lediglich weniger spröde. »Man brauchte ihr nur die richtigen Fragen zu stellen, dann erfuhr man, dass der Kaze, nachdem sie ihn ihrer ›Routineüberprüfung‹ unterzogen hatte« – Lane sprach die letzten Worte aus, als wären sie nicht einmal der Geringschätzung würdig –, »sich die Id-Plakette nicht zurück um den Hals gehängt und den Dienstausweis nicht wieder an die Brusttasche gesteckt hat, obwohl das hier so normal ist, dass es niemandem mehr auffällt, ich tu's ja selbst.« Sie senkte den Blick auf ihren an den Laborkittel geklippten DA-Dienstausweis. »Sie sind der einzige, der ohne auskommt. Aber er hat etwas anderes getan. Nach der Aussage, die Friks Sekretärin gemacht hat, sind die Sachen von ihm in die Beintasche, die rechte Beintasche, gesteckt worden. So verhält man sich nicht, wenn man Beweise hinterlassen will, bevor man sich in die Luft sprengt, weil die Bombe auf alle Fälle nur Matsch, Brocken und Kleinstüberreste hinterlässt. So etwas unterläuft jemandem, der in alldem neu ist, der weiß, dass er sterben wird, und dem es nicht zur zweiten Natur geworden ist, sich in Sicherheitsbereichen normal zu benehmen. Also waren die Id-Plakette und der Dienstausweis ein Stückchen weiter vom Explosionsherd entfernt, als sie es sonst gewesen wären. Und darum habe ich einen Teil eines Chips finden können.«
Durch ein Zwinkern bekundete Hashi, ohne sie zu unterbrechen, Anerkennung und Interesse.
»Sie wissen, wie wir diese Art von Untersuchung durchführen.« Kaum hatte sie die erste Nik zu Ende geraucht, zündete sie eine zweite an. »Der betroffene Raum wird vakuumdicht verschlossen, dann tastet man sie mit einem Resonanzlaser ab. Um das Verfahren zu vereinfachen, zeichnet man die Resonanz auf und generiert eine Computersimulation. Beim Vermessen der Expansionsvektoren zeigt sich, wo die Kaze-Überbleibsel am wahrscheinlichsten aufzufinden sind. Diese Zonen werden per Fluorchromatografie Mikron für Mikron genau abgesucht. Wenn man diesen Mikrobereich erforscht, leuchtet selbst das winzigste Bruchstück eines KMOS-SAD-Chips wie ein Stern.«
Tatsächlich wusste Hashi über all das längst Bescheid; dennoch ließ er Lane reden. Sie zerstreute ihn in der nettesten Art und Weise.
»Wie erwähnt, ich habe ein Fetzlein gefunden. Eigentlich zwei, aber eines hatte sich so wuchtig in den Fußboden gebohrt, dass es zerbröckelte, als ich es herauszuholen versuchte. Mit dieser Art molekularen Pulvers kann nicht einmal ich noch etwas anfangen. Deshalb liegt uns jetzt nur ein Bruchstückchen vor. Bisher weiß ich wenig darüber. Wir dürfen davon ausgehen, dass es noch intakte Daten enthält, eben dafür ist diese Sorte Chips ja gut, nur ist mir bislang keine Methode eingefallen, um Zugriff zu erhalten. KMOS-SAD-Chips werden aktiv durchs Unterstromsetzen von Zu- und Ableitung. Das Lesen erfolgt durch Umkehrung der Stromfließrichtung. Für diesen Zweck muss man allerdings erst einmal beides haben. Leider fehlen diesem Fetzchen Chip diese nützlichen Vorzüge.«
Noch eine Nik.
»Aber eines kann ich Ihnen verlässlich sagen. Es war einer von unseren Chips.«
Sowohl ihr Auftreten wie auch ihre Erklärung faszinierten Hashi. »Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Durch die speziellen Produkteigenschaften. Außer uns darf niemand solche Chips fabrizieren, das ist eine Bestimmung des Data-Nukleus-Gesetzes. Selbstverständlich stellen wir sie nicht wirklich selbst her, das Gesetz ermächtigt uns lediglich, für die Fabrikation Lizenzen zu vergeben, aber de facto haben wir nur eine Lizenz erteilt, nämlich dem Anodynum-Systemewerk« – sie brauchte nicht erst darauf hinzuweisen, dass das Anodynum-Systemewerk nichts anderes war als eine Tochterfirma der Vereinigten Montan-Kombinate und sich vollständig in deren Besitz befand –, »und es beliefert allein uns. In Wahrheit arbeitet sogar jeder beim Anodynum-Systemewerk ausschließlich für uns. Die ganze Firma ist nur Fassade, ein Mittel für die VMK, um bei dem mitzumischen, was wir tun, und für uns, um an KMOS-SAD-Chips zu gelangen, ohne von unserem Etat Gelder für eine eigene Chipherstellung abzweigen zu müssen. Für KMOS-SAD-Chips existiert nur eine Fabrikationsmethode. Theoretisch müssten sie allesamt gleich sein, egal wer sie herstellt. In der Praxis sieht die Sache natürlich anders aus. Die Qualität variiert in umgekehrter Proportion zum Produktionsumfang. Je mehr fabriziert werden, um so mehr Unregelmäßigkeiten schleichen sich ein, durch Fehler menschlicherseits oder schlichtweg durch Verschleiß der Herstellungsanlagen. Je weniger produziert werden, um so geringer fallen die Unregelmäßigkeiten aus. Außer es ist Inkompetenz mit im Spiel, aber in dem Fall kann man sowieso nicht erwarten, dass ein Chip funktioniert.«
»Das heißt«, folgerte Hashi, »wird ein Chip illegal hergestellt, müsste er ein qualitativ höheres Niveau als unsere Exemplare haben.«
Ohne stehenzubleiben, nickte Lane. »Dieser Chip stammte aber vom Anodynum-Systemewerk. Er ist von der letzten Lieferung, die wir vor sechs Tagen abgeholt und in Gebrauch genommen haben, nicht zu unterscheiden.«
»Mit anderen Worten«, lautete Hashis nächster Schluss, »in unseren Reihen gibt es einen Verräter.«
»Entweder haben wir's mit einem Verräter zu tun«, berichtigte Lane ihn, »oder einem Schwarzmarkt. Oder schlichter Bestechung. Hier oder im Anodynum-Systemewerk.«
»Völlig richtig, besten Dank.« Beifällig strahlte Hashi sie regelrecht an. Genauigkeit war eine seltene, lobenswerte Tugend. »Mit einem Verräter, Schwarzmarkthandel oder Bestechung … Hier oder dort.« Er schwieg für einen Moment. »Wissen Sie was?«, meinte er dann. »Es passt.«
Lane hielt lange genug im Hin- und Herwandern inne, um für einen flüchtigen Augenblick zart auszusehen. »Es passt?«
»Es passt zu dem Sachverhalt«, verdeutlichte Hashi seelenruhig, »dass der Kaze mit dem Shuttle von Suka Bator gekommen war, wo ihn der EKRK-Schutzdienst schon gecheckt hatte. Diese Tatsache ermöglichte es ihm, hier bei uns Erfolg zu haben. Wäre er auf einem anderen Raumhafen gestartet, hätten die Mitarbeiter der ehrenwerten Direktorin Min Donner ihn gründlicher überprüft, und vielleicht hätte er nicht passieren dürfen.«
Lane setzte sich wieder in Bewegung. »Trotzdem verstehe ich nicht …«
»Es ist ganz einfach«, versicherte Hashi, ohne ungeduldig zu werden. Auch an den eigenen Erklärungen hatte er sein Vergnügen. »Direktorin Donners Leute sind durchaus nicht fahrlässig gewesen. Sie hatten allen Grund, um sich auf den EKRK-Schutzdienst zu verlassen. Die routinemäßigen Sicherheitsvorkehrungen auf und um Suka Bator sind zu den besten Zeiten so strikt wie bei uns. Und gegenwärtig, so kurz nach dem Attentat auf Kapitän Sixten Vertigus – in seinem eigenen Büro –, sind die Kontrollmaßnahmen am strengsten. Da kommt bestimmt nichts und niemand Dubioses durch. Der Kaze wäre kaum zur Gefahr geworden, hätte ihn der EKRK-Schutzdienst nicht schon kontrolliert und ihm damit auf gewisse Weise Unbedenklichkeit bescheinigt gehabt. Aber wie konnte so etwas geschehen? War der EKRK-Schutzdienst nachlässig? In Anbetracht der Umstände zweifle ich daran. Demnach müssen die Legitimationen des Kaze einwandfrei gewesen sein.«
Die rauchende Technikerin konnte den Mund nicht halten. »Na klar, jetzt kapier ich's. Wer den Kaze geschickt hat, versteht sich nicht nur unsere KMOS-SAD-Chips zu verschaffen, sondern auch die Passwort-Codes des EKRK-Schutzdienstes, von unseren Kontrollcodes gar nicht erst zu reden. Also müssen die Urheber unterm EKRK-Personal stecken. Oder in der VMKP.«
»Oder bei den VMK«, äußerte Hashi. »Das Anodynum-Systemewerk gehört ihnen.«
»Ja, oder bei den VMK«, pflichtete Lane ihm bei.
»Aber das EKRK können wir streichen«, sagte Hashi. »Im Gegensatz zu den Vereinigten Montan-Kombinaten und der Vereinigte-Montan-Kombinate-Polizei hat das Konzil keinen Einfluss auf das Anodynum-Systemewerk. Umgekehrt hingegen verfügt der Drache in seiner Höhle über genug Lobbyisten im EKRK, um alles zu erreichen, was er will.«
Lane dachte kurz über diese Argumentation nach, dann nickte sie, wobei sie eine Qualmwolke ausstieß. »Und wo stehen wir folglich?«, fragte sie, als feststand, dass Hashi seine Darlegungen nicht zu ergänzen beabsichtigte.
»Meine liebe Lane …« Er spreizte die Hände. »Wir stehen genau da, wo wir stehen. Sie haben ein gewisses Faktum ermittelt. Jedes Faktum ist ein Schritt vorwärts, und eine hinreichende Anzahl von Schritten ergibt einen Weg. Wir sind auf unserem Weg einen Schritt vorangelangt. Ich bin sehr gespannt, ob Sie uns noch ein Faktum ergründen können. Oder vielleicht sogar zwei Fakten.«
Lane kannte kein Zögern. »Damit befasse ich mich schon«, beteuerte sie mit lebhaftem Nachdruck und wandte sich zur Tür.
»Das ist mir klar«, sagte Hashi, der nur noch ihren Rücken sah. »Vielen Dank.«
Für eine hilfreiche Ablenkung, fügte er in Gedanken hinzu, während die Tür zufiel. Und für den Einblick in bemerkenswerte Eventualitäten.
Nahezu reglos blieb er am Schreibtisch sitzen und dachte nach.
Falls die Liste der Verdächtigen, was Godsen Friks verfrühten Abgang betraf, lediglich die Frauen und Männer umfasste, die direkt oder indirekt in der Produktion oder bei der Verfrachtung der KMOS-SAD-Chips tätig waren, konnte man das als hinreichenden Grund zur Entmutigung betrachten. Aber musste die Liste auf jeden Lakaien ausgedehnt werden, der sich das Gerangel zwischen Holt Fasner und dem EKRK zunutze machen könnte, präsentierten sich wahrhaft erschreckende Aussichten.
Hashi ließ sich jedoch weder entmutigen noch erschrecken. Nach seinen Erfahrungen gaben derartige Listen richtiggehende Erfolgsgarantien ab. Jede neue Tatsache, die Lane Harbinger oder der EKRK-Schutzdienst aufdeckten, engten den Kreis der Verdächtigen ein. Nein, seine Überlegungen liefen auf anderes hinaus.
Wie fiele wohl, fragte er sich, die Reaktion des Drachen auf Nick Succorsos provokative Information aus, von Station Potenzial irgendeine Fracht oder etwas anderes Kostbares mitgebracht zu haben? Hashi hatte keinerlei Ahnung, um was es sich handeln könnte – doch den Wert verstand er einzuschätzen. Es musste etwas dermaßen Wertvolles sein, dass der Kassierer und die Amnion sich darum stritten; etwas derart Kostbares, dass Kapitän Succorso sich nicht scheute, für die Rückerlangung ein eigenes Besatzungsmitglied zu verschachern. Etwas von solchem Wert, dass jemand das Risiko einging, es selbst übermächtigen Gegenspielern zu rauben.
Ohne Zweifel wollte der Drache, lautete Hashis Schlussfolgerung, diese Fracht beziehungsweise diese Beute für sich haben.
Hinweise und Eventualitäten. Er brauchte mehr als dergleichen.
Kaze sind doch einfach zu spaßig, was?
Wenn Sie sie kriegen, Sie Schuft, können Sie sie haben. Sie haben so etwas wie sie verdient.
Was meinte dieser so maliziöse und notorisch unzuverlässige Kapitän Succorso damit?
Einen Moment lang lauschte Hashi auf die im verborgenen aktiven Teile seines Geistes, forschte nach Antworten. Aber noch war die intuitive Seite seiner Intelligenz nicht zum Sprechen bereit. Vielleicht mangelte es ihr noch an hinlänglichen Daten.
Er blickte aufs Chronometer und dachte darüber nach, wie riskant es sein mochte, Warden Dios anzurufen und ihm zu gestehen: Ich habe Informationen über die Ereignisse auf Thanatos Minor erhalten, jedoch beschlossen, sie Ihnen zeitweilig vorzuenthalten. Dann zuckte er die Achseln. Manche Vorgänge durften eben nicht überstürzt werden.
Während er unmelodisch durch die schlechten Zähne pfiff, schaltete er nochmals den Interkom-Apparat ein, um jemand anderes zu sich zu bestellen.
Diesmal konnte er dabei nicht so bestimmt vorgehen; einige Raffinesse war erforderlich. Er hatte vor, mit Koina Hannish zu sprechen, wollte allerdings nicht enthüllen, in welcher Art von Beziehung er zu ihr stand. Deshalb instruierte er das DA-Rechenzentrum, dem Routinedatenstrom des RÖA Aktualisierungen zum einen oder anderen harmlosen Thema zuzuleiten; diese Aktualisierungen würden Hannishs Aufmerksamkeit erregen, weil sich darin eine vorvereinbarte Wortkombination versteckte. Danach fügte er sich ins Warten.
Zu seinem Bedauern hatte bloßes Abwarten nicht den mindesten zerstreuenden Unterhaltungswert.
So etwas wie sie verdient?,überlegte er zum wiederholten Mal. War es möglich, dass Nick Succorso doch Morn Hyland meinte?
Inwiefern jedoch könnte das erklärlich sein? Hatte sich Warden Dios nicht ausdrücklich geweigert – gegen Min Donners und Godsen Friks nachdrückliche Einwände –, in Josuas Programmierung einen Befehl zu Morn Hylands Rettung hineinzuschreiben? Gleich was Josua auf Thanatos Minor anstellte – und egal was er, keineswegs zufällig, Nick Succorso zufügte –, seine Aktivitäten sahen keine Handlungen vor, um Leutnantin Hylands Überleben zu gewährleisten. Infolgedessen musste sie tot sein. Sie war nicht an Bord der Posaune, und nur die Posaune konnte hoffen, der Vernichtung Kassaforts zu entgehen.
Der unwiderlegliche Rückschluss aus diesen Voraussetzungen lautete: Morn Hyland war unwichtig.
Dennoch hatte der DA-Direktor das Empfinden, es dabei nicht bewenden lassen zu können. Es erinnerte ihn an andere Fragen, auf die er bis jetzt keine Antworten wusste.