Heut sterben alle Götter - Stephen R. Donaldson - E-Book

Heut sterben alle Götter E-Book

Stephen R. Donaldson

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Götterdämmerung

Die Winkelzüge des Astro-Polizeichefs Warden Dios, den allmächtigen Konzernboss der Vereinigten Montan-Kombinate, Holt Fasner, zu stürzen, bringen schließlich die Erde selbst in Gefahr. Während Dios und Fasner den Endkampf um die Macht austragen, bedrohen die Amnion schon Dios‘ Hauptquartier. Sie wollen die Menschheit vernichten, indem sie sie zu Amnios machen. Es gibt zwar einen Impfstoff gegen die Zwangsmutation, aber die Aussicht, dass die Menschen sich gegen die Aliens werden behaupten können, wird immer geringer. So hängt das Schicksal der Erde letztendlich von einer Schar Geächteter um die ehemalige Polizistin Morn Hyland und den Cyborg Angus Thermopyle ab …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1355

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STEPHEN R. DONALDSON

HEUT STERBEN

ALLE GÖTTER

Fünfter Roman des Amnion-Zyklus

Das Buch

Die Winkelzüge des Astro-Polizeichefs Warden Dios, den allmächtigen Konzernboss der Vereinigten Montan-Kombinate, Holt Fasner, zu stürzen, bringen schließlich die Erde selbst in Gefahr. Während Dios und Fasner den Endkampf um die Macht austragen, bedrohen die Amnion schon Dios' Hauptquartier. Sie wollen die Menschheit vernichten, indem sie sie zu Amnios machen. Es gibt zwar einen Impfstoff gegen die Zwangsmutation, aber die Aussicht, dass die Menschen sich gegen die Aliens werden behaupten können, wird immer geringer. So hängt das Schicksal der Erde letztendlich von einer Schar Geächteter um die ehemalige Polizistin Morn Hyland und den Cyborg Angus Thermopyle ab …

Der Autor

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

THE GAP INTO RUIN:

THIS DAY ALL GODS DIE

Aus dem Amerikanischen von Horst Pukallus

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1996 by Stephen R. Donaldson

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Gewidmet

Sensei Mike Heister

und

Sempai Karen Heister:

Danksagung

Hashi

Für Hashi Lebwohl war es typisch, dass er Warden Dios nach der Rückkehr ins VMKP-HQ keinen sofortigen Bericht erstattete.

Ihm kam es nicht darauf an, eine weitere Konfrontation mit dem Mann zu vermeiden, der ihn an die Wand gespielt und auf gewisse Weise, die er durchaus als deliziös empfand, sogar beschämt hatte. Im Gegenteil, er sah der nächsten Unterredung mit dem VMKP-Polizeipräsidenten mit einem Gefühl zuversichtlicher Erwartung entgegen. Er unterstellte, dass Warden Dios vollauf über die Fähigkeit verfügte, eine eingetretene Krisensituation zu erkennen – und nicht zögerte, den Direktor der DA-Abteilung zu sich zu rufen, wenn er mit ihm zu sprechen wünschte.

In die Sondersitzung des Erd- und Kosmos-Regierungskonzils hatte sich, anscheinend mit der Absicht, Cleatus Fane, den Geschäftsführenden Obermanagementdirektor der Vereinigte-Montan-Kombinate, zu liquidieren, ein Kaze eingeschlichen. Nur dank Hashis persönlichen Eingreifens war Blutvergießen größeren Maßstabs – ganz zu schweigen von den peinlichen Konsequenzen – verhindert worden. In unmittelbarem Ergebnis der Kaze-Attacke hatte das EKRK mit der letztendlichen Abstimmung Kapitän Sixten Vertigus' Gesetzesvorlage zur Abtrennung der VMKP von den VMK abgelehnt. Stattdessen hatten sich die Konzilsmitglieder an den Status quo geklammert, als garantierte er ihnen das Leben; hatten an Holt Fasner und der VMKP festgehalten. Niemand hatte die Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen wollen; und schon gar nicht für den Schutz des Human-Kosmos.

Falls Warden Dios darin keine Krisensituation erkannte, musste er den Bezug zur faktischen Realität verloren haben. Oder seine Bestrebungen zeichneten sich durch tiefere Hintergründigkeit aus, als Hashi sich bisher auszumalen gewagt hatte. Vielleicht reichten sie tiefer, als er es sich vorstellen konnte.

Als ermutigend stufte Hashi keine dieser Eventualitäten ein. Alles in allem besehen, wäre Hashi die letztere Möglichkeit lieber. Was sich heute als unbegreiflich darbot, mochte morgen durchschaubar sein. Und er verstand es jederzeit, sich so unter Druck zu setzen, dass er über sich hinauswuchs. Diese Herausforderung könnte sich für ihn als vorteilhaft erweisen. Bis dahin fühlte er sich die Schmach, durch Warden Dios ausgepunktet worden zu sein, zu tragen imstande.

Aber sollte Dios keinen Überblick der Ereignisse mehr haben …

Daraus konnte unabsehbares Unheil entspringen.

Doch natürlich handelte es sich bei allen diesen Erwägungen um reine Spekulation. Trotzdem machte sich Hashi darum Gedanken – und Sorgen. Die Quantenmechanik des Rätsels, vor dem Hashi stand, blieb so beschaffen, wie Heisenberg sie beschrieben hatte. Um bestimmte laufende Geschehnisse richtig verstehen zu können, Klarheit über ihre Natur zu gewinnen, hatte er sich in diese Vorgänge eingemischt; deshalb war es ihm nun unmöglich, die Richtung ihrer Tendenz zu erkennen. Eine Gewissheit schloss Gewissheit in anderer Hinsicht aus.

Er verlegte sich darauf, sich nicht aus eigener Initiative sofort bei Warden Dios zu melden, weil er wissen wollte, wie viel Zeit sich Dios ließ, um ihn zu sich zu beordern. Diese Frist mochte deutlicher als Worte klarstellen, wie sehr dieser neue Anschlag Dios überrascht hatte.

Und auf alle Fälle hatte der DA-Direktor ohnehin noch jede Menge zu tun, um sich auf das Gespräch mit Warden Dios vorzubereiten; er musste, was er auf Suka Batur beobachtet und erfahren hatte, durch konkrete Daten und Sachinformationen verifizieren. Niemand konnte ihn dafür kritisieren, wenn er jeden verfügbaren Moment benutzte, um den zweifelsfreien Vollbesitz der Tatsachen zu erlangen.

Kaum war das VMKP-Shuttle von der EKRK-Insel gestartet und hatte den Schwerkraftbereich der Erde verlassen, kontaktierte er per direktionalisierter Funkverbindung, deren Codierung nur für die Abteilung Datenakquisition galt, Lane Harbinger, nannte ihr seine bisherigen Erkenntnisse sowie die Angaben, die sie brauchte, um die erforderlichen Ermittlungen einzuleiten. Da er nicht allein im Shuttle saß, fühlte er sich dabei etwas unwohl. Außer ihm flog RÖA-Direktorin Koina Hannish, begleitet von ihren Mitarbeitern und Technikern, mit dem Shuttle; und ebenso befand sich Sicherheitschef Mandich von der VMKP-OA an Bord, unterwegs zu Warden Dios, um sich für sein Versagen zu rechtfertigen, weil seine unmittelbare Vorgesetzte, Min Donner, nicht im VMKP-HQ war, sondern abwesend. Mandich hatte seinen Vize-Sicherheitschef Forrest Ing an Ort und Stelle belassen, um auf Suka Bator nun mittels verschärfter Vorkehrungen die Sicherheit zu gewährleisten.

Es missfiel Hashi Lebwohl allemal, Zuhörer zu haben, außer sie verhießen ihm einen Nutzen. Die gegenwärtigen Umstände erlaubten ihm jedoch keine Absonderung, und genauso wenig gestatteten sie Aufschub. Er schuldete Warden Dios für seine vorherigen Fehler Wiedergutmachung. Anstatt abzuwarten, bis das Shuttle am VMKP-HQ eintraf, hielt er das Funkgespräch mit Lane Harbinger möglichst kurz, und zudem bediente er sich dabei des für Unbeteiligte unverständlichen Jargons der Abteilung DA, um den Sinn seiner Äußerungen zu tarnen.

Koina Hannish beachtete ihn allem Anschein nach überhaupt nicht. Ohne Zweifel hatte sie jetzt selbst genug Stoff zum Nachdenken. Sie war neu an ihrem Posten, aber hatte sich während der EKRK-Sondersitzung glänzend geschlagen. Und obwohl Kapitän Vertigus' vorgelegtes Abtrennungsgesetz gescheitert war, hatte sie allen Anlass, um dem alten Veteranen der Raumfahrt dankbar zu sein. Dennoch vermutete Hashi Lebwohl, dass hauptsächlich düstere Gedanken sie beschäftigten. Inzwischen kannte er sie gut genug und merkte, dass sie befürchtete, ihr Auftritt vor dem Regierungskonzil könnte die Kaze-Attacke provoziert oder ausgelöst haben. Bei ihr hatte leicht der Eindruck entstehen können, dass die Personen, von denen der Kaze ins EKRK geschickt worden war, sich nicht zu einem so aggressiven Vorgehen gezwungen gefühlt hätten, wären sie nicht dadurch aufgescheucht oder gar erschreckt worden, dass sie im Verlauf der Debatte um das Abtrennungsgesetz die Neutralität der VMKP und die Unabhängigkeit Warden Dios' von Holt Fasner beteuert hatte.

Hashi Lebwohl wusste es besser. Zuvor war er unsicher gewesen; jetzt war er sicher. Hannishs Darlegungen mochten tatsächlich als Katalysator gewirkt haben. Trotzdem hatten sie keinen ursächlichen Anteil gehabt. Die Leute, die Clay Imposs alias Nathan Alt in einen Kaze verwandelt hatten, waren unzweifelhaft vor der Sondersitzung nicht darüber informiert gewesen, dass Sixten Vertigus, Ehrenvorsitzender der EKRK-Fraktion des Vereinten Westlichen Blocks, ein Abtrennungsgesetz einzureichen beabsichtigte. Darüber hinaus war Imposs alias Alt, nachdem Hashi auf ihn aufmerksam geworden war, an Kapitän Vertigus vorbei- und eindeutig auf Cleatus Fane zugegangen. Folglich war Kapitän Vertigus nicht das vorgesehene Opfer des Attentats gewesen. Die Motive, die dem Kaze-Anschlag zugrundelagen, hingen weder mit dem Ehrenvorsitzenden der VWB-Fraktion und seinem Abtrennungsgesetz zusammen, noch mit Warden Dios' Neutralität.

Hashi sagte nichts, um Koina Hannish zu beruhigen. Bisher hatte sie ihn um keinerlei Kommentare gebeten. Und was er herausgefunden hatte, sollte sie früh genug erfahren.

Im Gegensatz zur RÖA-Direktorin musterte Sicherheitschef Mandich den DA-Direktor, während er mit Lane Harbinger sprach, verkniffenen Blicks. Offensichtlich wartete Mandich auf eine Gelegenheit, um mit Lebwohl zu reden.

Zum Henker mit dem Kerl, dachte Hashi mit ungewohnter Gereiztheit. Der Sicherheitschef war ein geradeso stahlharter Typ wie Min Donner, allerdings mangelte es ihm an ihrer geistigen Beweglichkeit, ihrem Vermögen, auch Konzeptionen anzuerkennen, die gegen ihre persönliche Betrachtungsweise verstießen. Zum Beispiel bezweifelte Hashi Lebwohl nicht im geringsten, dass Mandich, beförderte man ihn plötzlich zum VMKP-Polizeipräsidenten, nicht zögerte, ihn für Handlungen, die Mandichs skrupulöser Haltung widersprachen, aus der Polizei zu werfen. Min Donner dagegen beließe im gleichen Fall Hashi wahrscheinlich sehr wohl in der Abteilung DA, obschon sie viel mehr als Mandich über seine Arbeitsweise und Einstellung wusste und sich darum wegen ihrer Ehrpusseligkeit zu größerer Entrüstung berechtigt fühlen durfte.

Doch Hashi Lebwohl tat nichts, um sich Sicherheitschef Mandichs zu erwehren. Vielmehr ließ er die Auseinandersetzung, sobald er das Funkgespräch mit Lane Harbinger beendet hatte, ungerührt auf sich zukommen.

Der Sicherheitschef nutzte die Gelegenheit, wechselte von seinem Sitz in den G-Andrucksessel neben Hashi über und schnallte sich an. »Direktor Lebwohl«, wandte er sich ohne Einleitung an ihn, »ich muss erfahren, woher Sie wussten, dass der Mann ein Kaze ist.«

Hinter seinen verschmierten Brillengläsern glitzerten Hashi Lebwohls Augen bedrohlich. »So?«, fragte er im Ton falscher Verträglichkeit. Bestimmt meinte Mandich eigentlich: Wieso haben Sie ihn erkannt, wenn wir es nicht konnten?

»Ja.« Sicherheitschef Mandich war so unverblümt wie seine Miene grob: unbeugsam wie Stein. Seine nahezu farblosen Augen spiegelten die dumpfe Zähigkeit eines Kampfhunds wider. »Außerdem muss ich wissen, warum Sie nicht eher etwas unternommen haben, um ihn unschädlich zu machen. Durch irgendetwas an ihm sind Sie misstrauisch geworden. Sie haben Ihren Platz verlassen und sich ihm durch den Saal genähert. Aber Sie haben nichts gesagt.« Mandich sprach mit unverhohlener Erbitterung. Pannen waren ihm zuwider. »Es war pures Glück, dass im Saal niemand ums Leben gekommen ist. Hätten Sie sich nicht die Mühe gespart, uns zu warnen, könnte aber ein EKRK-Schutzdienstmann noch am Leben sein. Und Kadett Crender hätte noch seine linke Hand. Bei allem Respekt, Direktor Lebwohl« – jetzt wurde sein Tonfall gehässig –, »was haben Sie sich dabei bloß gedacht?«

Ein Zittern durchlief Hashis Gestalt. Nachträglich durchbebte ihn nun die eigene Reaktion auf Gefahr und Zumutungen der vergangenen Stunden. »Also gut.« Er faltete die schmalen Hände im Schoß, um seine Empörung zu verhehlen. »Sie beantworten meine Fragen, und ich antworte auf Ihre Fragen. Um Ihre Formulierung zu verwenden, ›was haben Sie sich bloß dabei gedacht‹, mir zur Ausführung meiner Befehle ein Bürschchen wie Kadett Crender zuzuteilen?«

Mandich riss die Augen auf.

Ein schrilles Pfeifen in der Stimme, schleuderte Hashi Lebwohl seine Vorhaltungen dem Sicherheitschef ins raue Gesicht wie einen Schwarm Wespen. »Ich hatte gegenüber Ihrem Stellvertreter Ing meine Anforderung klar zum Ausdruck gebracht. Ich hatte ihm gesagt, dass ich wünschte, er und seine Leute sollten sich zur Befolgung meiner Bitten und Anweisungen in Bereitschaft halten. Seine Antwort lautete, so etwas sei ausgeschlossen, ohne vorher mit Ihnen Rücksprache zu nehmen. Diesen Standpunkt habe ich als verfehlt erachtet. Wörtlich habe ich ihm erklärt: ›Falls ich von Ihnen verlange, etwas zu erledigen, muss es geschehen, ohne dass Sie Zeit damit vergeuden, Ihren Chef um Erlaubnis zu fragen.‹ Gleichzeitig habe ich ihm verdeutlicht, nichts Bestimmtes zu erwarten, aber auf alles vorbereitet zu sein. Trotzdem hat er noch immer gezögert. Daraufhin habe ich mein Anliegen so ausgedrückt: ›Dann seien Sie so freundlich und teilen Sie Sicherheitschef Mandich mit, ich wünsche von ihm Personal unterstellt zu haben, das seine Einwilligung hat zu tun, was ich sage.‹ Auch das habe ich wörtlich so geäußert. Direktorin Hannish hat mein Ersuchen unterstützt.«

Verschwommen bemerkte Hashi Lebwohl, dass Koina Hannish ihn anstarrte, vor Verblüffung den Mund leicht offenstehen hatte. Wahrscheinlich weil sie ihn, in all den Jahren, in denen sie für ihn tätig gewesen war, nie so zornig hatte reden hören.

Schamröte verfärbte Sicherheitschef Mandichs Hals, Wut machte ihm die Wangen rotfleckig. Er öffnete den Mund zu einer Entgegnung. Aber Hashi war noch nicht fertig. Er räumte dem Sicherheitschef keine Chance zur Widerrede ein.

»Und was haben Sie daraufhin getan?«, fragte er barsch. »Mir einen Jungen mit so wenig Erfahrung zugeteilt, dass er nicht reagieren konnte, ohne erst einmal zu stutzen – und durch diese Schrecksekunde hätte es im Sitzungssaal des Erd- und Kosmos-Regierungskonzils zahlreiche Tote geben können. Gewiss, er hat den Schreck überwunden. Er tat, was nötig war, um Leben zu retten. Das rechne ich ihm hoch an. Ihr Verhalten hingegen, Sicherheitschef Mandich, bewerte ich als höchst kritikwürdig.« Hätte Hashi Lebwohl nicht seine Hände in der Gewalt gehabt, sie hätten jetzt wie Dolche mitten ins Gesicht des Sicherheitschefs gezeigt.

»Ich bin Direktor der Abteilung Datenakquisition bei der Vereinigte-Montan-Kombinate-Polizei, aber Sie haben meine ausdrücklichen Wünsche nicht ernst genug genommen, um mir Personal zu unterstellen, das zur augenblicklichen Durchführung meiner Weisungen fähig ist. Wollen wir nun unsere jeweiligen Beweggründe diskutieren, oder möchten Sie damit lieber warten, bis wir sie Polizeipräsident Dios erläutern dürfen?« Abschätzig zuckte Hashi Lebwohl die Achseln. »Was mich angeht, ich kann bis dahin warten.«

Sicherheitschef Mandich klappte den Mund zu. Aufgrund unterdrückter innerer Gefühlsregungen wirkte sein Gesicht geschwollen. Der arme Mann war mit einem solchen Rechtschaffenheitsanspruch geschlagen, dass er sich gegen derartige Vorwürfe nicht wehren konnte. Min Donner hätte Hashi Lebwohls Anwürfen getrotzt, um ihm Antworten auf ihre Fragen zu entlocken; ihr Sicherheitschef indessen war zu dergleichen außerstande.

»Ihre Beschwerde ist berechtigt, Direktor Lebwohl«, presste er einen Moment später durch die Zähne. »Wenn Sie mir eine Rüge erteilen möchten, habe ich dem nichts entgegenzusetzen.«

Mit schroffen Gebärden ließ er den Sesselgurt aufschnappen und schwebte zu seinem vorherigen G-Andrucksessel zurück.

Ach, eine Rüge, du meine Güte, dachte Hashi, während der Sicherheitschef seinen Rückzieher vollführte. Nichts liegt mir ferner. Die Lage ist schlimm genug. Wir stecken in einem Dilemma, dessen Entstehung schon an sich für uns alle eine Rüge bedeutet.

Seine Ehrlichkeit mit sich selbst nötigte ihn zu dem Eingeständnis, dass es ihm Vergnügen bereitet hatte, mit Sicherheitschef Mandich zu schimpfen.

Koina Hannish sah Hashi an. Ernst und insgeheime Spekulationen trübten ihren Blick. »Sind Sie nicht ein bisschen ungerecht, Direktor Lebwohl?«, fragte sie leicht schnippisch. »Nicht einmal ein ›Bürschchen‹ wie Kadett Crender hätte gestutzt, wäre ihm erklärt worden, wonach Sie Ausschau halten.«

Wie um ihr zu zeigen, dass sein Gleichmut wiederhergestellt war, spreizte Hashi Lebwohl die Hände. »Meine liebe Koina, haben Sie jemals Heisenberg gelesen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Schade.« In Erwartung der Ankunft des Shuttles am VMKP-HQ rückte sich Lebwohl im G-Andrucksessel zurecht. »Sonst wäre Ihnen nämlich klar, dass ich unmöglich wissen konnte, nach was ich Ausschau halte.«

Diese Antwort kam der Wahrheit so nahe, wie man es sich von einer Auskunft Hashi Lebwohls nur versprechen konnte.

Sobald Triebwerke und Systeme des Shuttles abgeschaltet waren, man das Tor der Parkbucht geschlossen hatte und Atemluft einpumpte, begrüßte am Dock Lane Harbinger den DA-Direktor.

Auf Suka Bator hatte er persönlich die wichtige Verrichtung überwacht, die Überreste Imposs' alias Alts in einen keimfreien, luftdicht versiegelbaren Leichensack zu packen und sie in den Frachtraum des Shuttles zu laden. Nun wachte er gleichfalls über die Auslieferung des Leichensacks in Lane Harbingers Gewahrsam.

Schon beim ersten Blick in den Korridor, in dem der Kaze detonierte, hatte Lebwohl erkannt, dass längst zu viele Leute zuviel an Beweisen zertrampelt hatten und der Flur als solcher ein entschieden zu großer Raum war, als dass Lane Harbinger die Art von peinlich genauer Untersuchung möglich gewesen wäre, der sie Godsen Friks Büro unterzogen hatte. Notgedrungen musste Hashi sein Verlangen einschränken, aus mikroskopischen Gefilden Indizien zu gewinnen, es vom Umfeld des Toten auf den Leichnam Imposs' alias Alts richten, aufs zerfetzte Gewebe und die Blutspritzer. Die Leiche hatte man mit einer sterilisierten Schaufel in den Leichensack gefüllt. Zusätzlich jedoch war auf Hashi Lebwohls Beharren jedes Tröpfchen und jedes Fleckchen Blut, die er hatte finden können, mit einem Werkzeuglaser aus dem Beton geschnitten und dem Inhalt des Leichensacks hinzugefügt worden.

Er hoffte inständig, dass diese Reste Lane Harbinger dazu befähigten, die Antworten zu entdecken, die er haben musste.

Nein, nicht die Antworten: die Beweise. Die Antworten kannte er schon.

Aus Lane Harbingers Mund hing eine Nik und qualmte, als sie sich vor dem Frachtraum des Shuttles zu Lebwohl gesellte. Ihre Augen glitzerten wie Glimmerschiefer, ein Anzeichen dafür, dass sich in ihrem Körper ein Hype- und Stimulantienpegel angesammelt hatte, der jeden, dessen Stoffwechsel daran nicht gewöhnt war, in die Horizontale befördert hätte. Ihre Finger zuckten in den Taschen des Laborkittels, als ob sie einer imaginären Tastatur Daten eintippte. »Sind Sie sicher«, fragte sie mit vor Anspannung heiserer Stimme, während man den Leichensack für den Transport zu ihrem in der Abteilung Datenakquisition befindlichen Laboratorium auf eine Bahre umlud, »was seine Identität betrifft?«

»Meine liebe Lane, ich bitte Sie«, entgegnete Hashi Lebwohl im Tonfall einer gelinden Schelte. Sie wusste so genau wie seine gesamte übrige Mitarbeiterschaft, dass er sich hinsichtlich einer Identitätsfrage höchstwahrscheinlich nie irrte.

Harbinger hob die Schultern, als befiele sie ein Krampf. »War bloß 'ne Frage. Wenn Sie recht haben, erleichtert's meine Aufgabe.«

Auf jeden Fall brauchte sie weniger Zeit damit zu verschwenden, darauf zu warten, dass die Datenverwaltung ihre langwierigen Personenermittlungsverfahren zu Ende brachte.

»Besteht die Aussicht«, fragte sie, »dass ich 'n Zünder finde?«

Hashi unternahm eine vorsätzliche Anstrengung, um die Ruhe zu behalten; friedlich und besonnen zu bleiben. Er mochte sich von Harbingers Angespanntheit nicht anstecken lassen. »Wer weiß?« Zu viele Faktoren mussten berücksichtigt werden: Sprengstoffsorte, Sprengkraft, Form der Sprengladung, Rückprallen der Explosionswucht von den benachbarten Wänden. »Aber falls Sie einen entdecken«, fügte er mit verschärftem Nachdruck hinzu, »dürften die entsprechenden Informationen entscheidende Bedeutung haben. Verstehen Sie mich, Lane?«

Sie saugte an der Nik. »Was gibt's da zu verstehen? Oder kommt's noch auf was anderes an?«

»Nicht um viel, aber um noch einiges mehr«, antwortete Hashi Lebwohl. Er kannte die Wahrheit; was Lane Harbinger herausfand, konnte sie nur noch bestätigen. Dennoch hing die Stichhaltigkeit der Beweise, die er Warden Dios vorzulegen beabsichtigte, von dem ab, was Lane Harbinger aufzudecken schaffte.

»Auf alle Fälle«, sagte er, »ist das hier von Interesse.«

Beiläufig, fast verstohlen, als wünschte er dabei nicht gesehen zu werden, schob er Imposs' alias Alts Dienstmarke und Id-Plakette in Lane Harbingers Tasche.

Sie befühlte sie mit den Fingern und nickte entschieden. »Da bin ich mir sicher.«

Der Leichensack lag transportbereit auf der fahrbaren Bahre. Lane Harbinger machte Anstalten, sich dem Personal mit der Bahre anzuschließen. Doch trotz seiner Zwangslage und seiner Bestrebungen rief Hashi Lebwohl sie zurück. Indem er seinen Ernst mit dem ihm eigenen, schrulligen Humor kaschierte, teilte er ihr mit, dass er die Resultate »relativ augenblicklich« zu haben wünschte. »Aktivieren Sie Ihren geistigen Ponton-Antrieb, Lane. Schlagen Sie der Zeit ein Schnippchen, wenn's sein muss.«

Er wollte die Ergebnisse erfahren, ehe er bei Warden Dios antanzen musste.

Lane Harbinger reagierte, indem sie schnaubte und dabei Rauch ausstieß. »Gelingt mir das nicht jedes Mal?«

Hashi lachte röchelnd. »Doch. Doch, wahrhaftig.«

Er wartete, bis sie mitsamt dem Leichensack das Dock verlassen hatte, bevor er sich gleichfalls auf den Weg machte.

Inzwischen fragte er sich, wie lange Warden Dios wohl noch mit dem Herbeizitieren säumen mochte.

Über eine Stunde verstrich, ehe Hashi Lebwohl vom VMKP-Polizeipräsidenten die Weisung erhielt, sich unverzüglich in einem der Konferenzzimmer Warden Dios' einzufinden.

Hashi hatte die Zwischenzeit keineswegs vertan. Als erstes hatte er eine Anzahl von Priorität-Rot-Modifikationssperren – Knallrot-Verbote, wie man sie manchmal nannte – einrichten lassen: eines für jede Kommunikationsfrequenz und jeden Computer, die zum Anodynum-Systemewerk gehörten oder zu ihm Verbindung hatte, der VMK-Tochterfirma, die KMOS-SAD-Chips produzierte; eines für die Personaldateien der VMKP; und eines für jeden Computer, die man an Holt Fasners Stammsitz für allgemeine Dienst-, Personal- sowie Betriebsschutz-Kooperationszwecke benutzte. Ein sogenanntes Knallrot-Verbot hinderte niemanden daran, in elektronische Dateien Einsicht zu nehmen oder Kommunikationsverbindungen zu verwenden; allerdings machte es Veränderungen an Dateien sowie Übertragungsprotokollen und -aufzeichnungen unmöglich. Gleichzeitig zeigte es der DA jeden Versuch derartiger Beeinflussung an und verfolgte die Codes und Übertragungswege der Täter bis zu ihrem Ursprungsort zurück.

Einerseits war sich Hashi Lebwohl absolut sicher, dass die Techniker des Drachen eine Priorität-Rot-Modifikationssperre, egal, wie knallrot sie sein mochte, zu umgehen oder zu deaktivieren verstanden. Andererseits hegte er die Überzeugung, dass sie darauf verzichteten, erstens weil Holt Fasner wohl schwerlich unterstellte, es seien hochwichtige Unterlagen in der Gefahr des Auffliegens, zweitens weil Fasner gewiss davon ausging, sämtliche Peinlichkeiten, die sich aus irgendwelchen Dateien ergeben könnten, würden durch Warden Dios abgewehrt, und drittens weil der Drache bestimmt gerne im Rahmen seiner gewohnten Politik das Trugbild der Offenheit und Ehrlichkeit aufrechterhielt. Statt Widerstand rechnete Hashi Lebwohl mit passiver Duldung: einer neuen Illusion.

Einem Trugbild, das zweifelsohne in mörderische Wut auf Hashi Lebwohl persönlich umschlug, sobald der VMK-Generaldirektor zu der Beurteilung gelangte, dass Lebwohl keine Bedrohung mehr verkörperte.

Dieser Ausblick störte Hashi nicht. Er konnte mit weitgehender Richtigkeit von sich behaupten, vor dem Drachen in keiner herkömmlichen Hinsicht Furcht zu haben. Die Möglichkeit intellektuellen Unterlegenseins verursachte ihm erheblich mehr Unruhe als eine bloß physische Gefährdung seiner Person.

Nachdem die Modifikationssperren installiert waren, nutzte er seine auf die Rot-Priorität gestützte Autorität aus, um die vollständigsten Dossiers sowohl über Clay Imposs wie auch Nathan Alt zusammenzustellen, zu denen ihm die DA-Datenverwaltung, die per Mikrowellenfunk mit dem EKRK-Schutzdienst und dem Anodynum-Systemewerk in Kontakt stand, verhelfen konnte.

Gerade als er damit fertig war, erreichte ihn Warden Dios' Mitteilung.

Seit dem Anlegen des Shuttles war über eine Stunde vergangen; mehrere Stunden lag inzwischen die Kaze-Detonation zurück. Anscheinend hatte der Vorfall Dios in keinem nennenswerten Umfang überrascht.

Das war gut und schlecht; besser und schlechter als erwartet. Der Aufschub hatte es Hashi erlaubt, seine unmittelbar erforderlichen Ermittlungen abzuschließen. Eine längere Verzögerung könnte es allerdings eventuell Lane Harbinger gestattet haben, ihm die Resultate vorzulegen, nach denen er lechzte.

Trotz der offenkundigen Dringlichkeit der Nachricht und der Erfordernis, Gehorsam zu leisten, nahm sich Hashi Lebwohl noch genug Zeit, um sie anzurufen.

Ihre Stimme drang schroff und scharf aus der Sprechanlage; in so tiefer Konzentration befand sich Lane Harbinger. »Machen Sie's kurz. Ich bin beschäftigt.«

Diesmal konnte Hashi sich nicht beherrschen; seine private Neigung zu abartigen Späßen reizte ihn zu einer spleenigen Bemerkung. »Zu beschäftigt, um mit mir zu reden? Lane, ich bin am Boden zerstört.«

Sie gab ein Seufzen von sich, das nach Entweichen von Dampf klang. »Wenn Sie wünschen, dass ich schnell arbeite, muss ich sorgfältig vorgehen. Wenn ich überlichtschnell arbeiten soll, muss ich sorgsamer als der liebe Gott sein.«

Hashi lenkte ein. »Dafür bringe ich volles Verständnis auf.« Er schätzte Lane Harbinger nämlich in erster Linie für ihre Genauigkeit. »Trotzdem verhält es sich so, dass ich gleich vor Warden Dios erscheinen muss. Deshalb ist für mich der Zeitpunkt da, um mich nach Ergebnissen zu erkundigen. Er fragt mich bestimmt danach.«

»Dann verplempern wir am besten keine Zeit. Folgendes habe ich bis jetzt geklärt. Mit der Id-Plakette und dem Dienstausweis hatte ich keine Mühe.« Allem Anschein nach brauchte Harbinger ihre Gedanken nicht erst zu ordnen. Hashi vermutete, dass sie bei sich keine ungeordneten Überlegungen zuließ. »Sie sind gültig. Clay Imposs ist – oder vielleicht war – echter EKRK-Schutzdienstmann mit vorteilhafter Personalakte. Er ist seit Jahren dort angestellt gewesen. Es sind seine Id-Plakette und sein Dienstausweis. Nur ist's nicht sein Leichnam. Sie haben recht, es ist Nathan Alt. Die Gen-Analyse ergibt eine vollständige Übereinstimmung.«

Sie sprach Hashi Lebwohls als nächstes abzusehende Frage an seiner Stelle aus. »Wie also ist er bei den Sicherheitsvorkehrungen der eigenen Organisation nicht aufgefallen? Direkt nach dem ersten Kaze-Attentat, dem Anschlag auf Kapitän Vertigus, hat der EKRK-Schutzdienst ein allgemeines Retinae-Scanning veranlasst, um die Identität der Mitarbeiter zu überprüfen. Dabei hätte Alt auffliegen müssen. Die Antwort lautet, es ist eine neue Id-Plakette. Eigens zur Täuschung angefertigt. Angeblich identifiziert sie Clay Imposs, aber die Retinae-Bilder und die körperlichen Eigenschaften gehören zu Alt.«

»Ist so etwas zu machen?«, fragte Hashi. Aber dass es möglich war, wusste er schon.

»Klar. Es hat geklappt, weil die äußere Beschreibung von demselben Codieromaten generiert wurde, von dem Imposs' wirkliche Id-Plakette stammte. Daher sah vordergründig alles völlig korrekt aus. Der EKRK-Schutzdienst ahnte nicht, dass er den kompletten Inhalt des KMOS-SAD-Chips hätte abfragen und mit Imposs' ursprünglichen Daten vergleichen müssen, um auf Abweichungen zu stoßen. Wahrhaftig, Direktor Lebwohl, so gründlich gehen wir nicht mal hier vor. Es würde Stunden dauern, eine einzige Person zu überprüfen.«

Damit war sie traurigerweise im Recht. Die einzigen Gründe, wieso die Sicherheitsmaßnahmen des EKRK – und ebenso des VMKP-HQ – sich überhaupt bewährten, mussten tatsächlich in dem Umstand erblickt werden, dass alles, was der Sachkundige brauchte, um sie zu unterlaufen, so spezieller Art war und man es so gut bewachte.

»Führen Sie diese Datenabfrage durch? Ich muss Beweise vorlegen können.«

»Einer meiner Laboranten befasst sich damit.«

»Und …?«, hakte Hashi nach.

»Bisher ist nichts gefunden worden.«

»Haben Sie Unregelmäßigkeiten oder andere Anzeichen irgendwelcher Pfuscherei entdeckt?«

Wie Hashi Lebwohl vor der EKRK-Sondersitzung Koina Hannish erzählt hatte, mussten die Codesequenzen, die durch Lane Harbinger aus den Legitimationen von Godsen Friks Mörder extrahiert worden waren, als gegenwärtig gültig eingestuft werden. Wäre der Kryptogenerator, die Programmiersprache, in der man den Codieromaten geschrieben hatte, modifiziert oder sonst irgendwie auf ihn eingewirkt worden – legal oder illegal, seitens des EKRK-Schutzdiensts, des Anodynum-Systemewerks oder durch jemand anderes –, ließe die Abwandlung sich erkennen. Solche Umstellungen änderten die Quellcodes geradeso um, wie Mutagene die menschliche RNS veränderten.

Aber nur ein veralteter Code hätte der Einflussnahme bedurft.

Lane Harbinger unterdrückte ihre Ungeduld nur unzulänglich. »Noch nicht.«

»Na gut.« Hashi Lebwohl ließ von der Frage ab. »Und der Codieromat …?«, drängelte er.

»Hat Gültigkeit«, antwortete Harbinger sofort. »Aktuelle und korrekte Version. Und das bedeutet genau das, was Sie jetzt denken. Aber wenn Sie eine konkrete Information haben möchten« – sie sprach ohne zu stocken weiter –, »es ist vollkommene Übereinstimmung mit den Codesequenzen vorhanden, die wir aus der Id-Plakette des Kaze kennen, dem Godsen Frik zum Opfer gefallen ist.«

Hashi Lebwohl nickte. »Bestätigungen sind immer etwas Angenehmes. Eine Überraschung ist darin allerdings kaum zu sehen.«

»Völlig richtig«, pflichtete Lane Harbinger ihm bei.

Besorgt warf Hashi einen Blick auf die Uhr. »Können Sie mir«, fragte er anschließend, »weitere Informationen geben?«

»Ich versuche welche zu gewinnen«, erhielt er zur Antwort. »Anhand der Leiche.«

Jetzt hörte Hashi Lebwohl ihrem Ton eine leichte Verschiebung der Nuancen an, eine Verstärkung der Ausdruckskraft. Bisher umfassten die von ihr genannten Resultate trotz der Wichtigkeit nur relativ routinemäßige Erkenntnisse: Sie hätte jeder Mitarbeiter ihres Labors dem Direktor nennen können. Nun jedoch zeugte Harbingers Stimme von einem gewissen persönlichen Einsatz, vielleicht sogar Eifer. Sofort hatte Hashi die Überzeugung, dass sie auf etwas Bedeutsames gestoßen sein musste.

»Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen«, stellte sie umgehend klar, »dass wir keinen Zünder finden. So eine Bombe muss im Körper des Kaze versteckt werden, sonst würde sie bei Kontrollen bemerkt. Und Sie wissen, welcher Art diese Tarnung sein muss.« Hashi Lebwohl wusste es in der Tat. Angus Thermopyles Körper strotzte von derlei Kniffeligem. »Um beim Scanning nicht aufzufallen, muss sie einen organischen Eindruck erwecken. Außerdem muss sie das vortäuschen, was Scanningexperten zu sehen erwarten. Leider – leider für uns, meine ich – lenkt jede Form der Tarnung Sprengkraft auch nach innen, wenn die Bombe explodiert, vielleicht nur für ein, zwei Millisekunden, aber das genügt, um einen Teil der Detonationswucht gegen die Bombe selbst zu richten. Also auch gegen den Zünder. Auf molekularer Ebene kann ich sämtliche Bestandteile zusammenkratzen, die Sie sich nur wünschen. Nur bin ich nicht dazu imstande, das Gerät, von dem sie stammen, zu rekonstruieren. Darum konzentriere ich mich auf die Biochemie …«

Ihre Stimme knisterte unterschwellig, als fände irgendwo eine elektrostatische Entladung statt. Obwohl auf der Uhr die Sekunden vertickten, hörte Hashi Lebwohl aufmerksamer zu.

»Das Blut ist ein wahrer Chemikaliencocktail. Genau das war natürlich abzusehen, wenn er sich im Zustand einer drogeninduzierten Hypnose befand. Ich habe noch gar keine Zeit gehabt, um bloß zur Hälfte zu klären, was von dem ganzen Zeug in einem menschlichen Körper nichts zu suchen hat.« Sie schwieg kurz, wohl um die Bedeutsamkeit der folgenden Mitteilung zu unterstreichen. »Aber es ist eine Kleinigkeit dabei, die etwas sonderbar wirkt. Ein wenig merkwürdiger als der gesamte Rest.«

»Raus mit der Sprache«, forderte Hashi Lebwohl, als ob er ihr noch schnellere Darlegungen abverlangen könnte; als wüsste er nicht, dass sie ihm schon alles so knapp erläuterte, wie es sich schaffen ließ, ohne durcheinanderzugeraten.

Anstatt an Sprechgeschwindigkeit zuzulegen, redete Lane Harbinger nun geringfügig langsamer, betonte jedes Wort mit bewusstem Nachdruck.

»Da ist ein Koenzym-Wert im Blut. Ein hoher Wert, meine ich. Natürlich, weil es ja ein Koenzym ist. Es ist dormant. Und völlig unnatürlichen Ursprungs. Allerdings erzeugt es im Zusammenwirken mit gewissen natürlichen menschlichen Apoenzymen ein künstliches Holoenzym, und das ist aktiv. Es weist ein paar interessante Ähnlichkeiten zu Pseudoamylase auf, das wir verwenden, um bei Cyborgs Tarneffekte zu erreichen, obwohl auch signifikante Abweichungen vorliegen.«

Unwillkürlich trommelte Hashi Lebwohl mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. Er musste schleunigst zu Warden Dios. »Lane, bitte kommen Sie zur Sache. Ich genieße bei unserem teuren Polizeipräsidenten momentan kein gutes Ansehen. Bestimmt verärgert ihn die Verspätung, die dadurch entsteht, dass wir uns besprechen.«

»Ich versuch's ja, verdammt noch mal«, maulte Lane Harbinger. »Aber außer Ihnen kommt hier ja kein Mensch mal zu ruhigem Nachdenken.«

Hashi Lebwohl verkniff sich einen Zornausbruch. Er hatte sie angerufen, ehe sie bereit war zu vollständiger Berichterstattung. Ihre Feststellungen beschränkten sich auf Teilergebnisse oder Unklares. Dass sie sich unter diesen Umständen lieber vorsichtig ausdrückte, war vollauf verständlich. Er gewann nichts, wenn er ihr Vorhaltungen machte.

»Wären die Übereinstimmungen größer«, sagte sie unwirsch, »würde ich wahrscheinlich zu der Ansicht neigen, dieses eigenartige Koenzym hat etwas mit der Tarnung zu tun. Nur eignet es sich dafür nicht so gut. Die Unterschiede sind zu erheblich.«

Wieder verstummte sie für einen Moment. Noch ein, zwei Augenblicke, überlegte Hashi Lebwohl, und ihm blieb keine andere Wahl, als sie anzuschnauzen.

»Wenn man mich fragt«, erklärte sie noch langsamer als zuvor, »welchen Sinn das durchs Koenzym hervorgebrachte Holoenzym haben könnte, wäre ich vermutlich der Ansicht, dass es einen tauglichen chemischen Zünder abgibt. Man führt es in den Blutkreislauf ein, und ein, zwei Herzschläge später folgt ein gewaltiger Bums. Wie ein so starker Orgasmus, dass man dabei krepiert.«

Schlagartig verflog Hashi Lebwohls Genervtheit. Lane Harbinger, frohlockte er, du bist ein Wunderweib. Ist es da noch erstaunlich, dass ich deine Exzentrizität ertrage?

»Schauen Sie sich die Zähne an, Lane«, sagte er, verfiel aus lauter Freude und Erregung beinahe ins Singen.

Wo konnte man ein Koenzym so deponieren, dass ein Mensch in drogeninduzierter Hypnose dazu fähig war, es auf ein vorkonditioniertes Zeichen hin zu schlucken? Wo anders als in seinem Mund? Und der Übergang in den Blutkreislauf geschah verzögert. Erst nach frühestens zehn oder fünfzehn Sekunden. Nach sicherer Frist für denjenigen, der das Zeichen gab.

»Ich kann mir nur ansehen, was davon übrig ist«, antwortete Harbinger. »Ich befasse mich schon damit.«

»Dann lassen Sie sich auf gar keinen Fall von mir stören«, empfahl Lebwohl in einer Anwandlung perverser Schalkhaftigkeit. »Wenn Sie vollständige Ergebnisse erarbeitet haben, lassen Sie sich vielleicht dazu überreden, mich zu heiraten.«

Um nicht ihr verächtliches Lachen hören zu müssen, unterbrach er die Verbindung.

Für ihn stand es außer Zweifel, dass sie für die Schlussfolgerungen, die er zog, nie eindeutige Beweise erbringen konnte. Sobald sie die Untersuchungen abgeschlossen hatte, war es ihr voraussichtlich möglich zu veranschaulichen, dass dies spezielle Holoenzym sich durchaus zur Verwendung als chemischer Zünder eignete. Bedauerlicherweise würde jedoch die Logik es ihr verwehren, sich darauf festzulegen, dass es in diesem Fall tatsächlich dazu gedient hatte.

Dennoch reichte das, was Hashi Lebwohl von ihr erfahren hatte, für seine unmittelbaren Zwecke aus.

Ciro

Vector hatte behauptet, ihn geheilt zu haben. Auch Mikka hatte es immer wieder beteuert, er sei geheilt, während sie ihn in den Armen hielt und schaukelte, als wäre er ein Kleinkind.

Ciro wusste es besser. Die Mauern des Unheils hatten sich um ihn geschlossen wie die erstickende Enge von Mikkas Umarmung. Seine Koje war zum Sarg geworden. Natürlich wusste er es besser.

Sorus Chatelaine hatte ihm ein Mutagen in die Adern injiziert. Er spürte es im genetischen Programm seiner DNS; er verstand es gründlicher als alles, was jemand ihm mit Worten sagte. Kein bloßes Gerede konnte das zelluläre Verständnis der Weise überwiegen, wie man ihn ins Verderben gestürzt hatte.

Irgendwie hatte Morn ihn dazu verleitet oder verlockt zu erzählen, was geschehen war; jetzt wussten an Bord alle Bescheid. Sein Verhängnis wurde nicht abgewendet, vielmehr mit jeder Stunde gewisser.

Sicher hatte sie Vector um Hilfe angegangen. Wieso nicht? Warum sollte sie Ciro soviel Würde zugestehen, mit seiner Scham und dem Entsetzen allein zu sein? Nie hatte irgendjemand ihn so ernst genommen.

Und nachdem Vector die Zwangslage erklärt worden war, hatte er vorgeschlagen, Ciro das Antimutagen Nick Succorsos zu geben. Vector hatte erläutert, es handelte sich im Prinzip um eine gentechnisch erzeugte Mikrobe, die als eine Art von Bindemittel fungiert. Sie fixiert sich an den Nukleotiden des Mutagens und neutralisiert sie.Dann scheidet der Körper beide als Abfallprodukt aus. Bei seinen Äußerungen hatte der Mann, der früher Ciros Freund und Mentor gewesen war, den Eindruck der Ruhe und Zuversicht erweckt, geradezu übermenschliche Selbstsicherheit ausgestrahlt.

Doch diese Darlegungen zählten nicht. Sorus Chatelaines Drohungen machten Ciro dafür taub.

Ihre Worte wogen unendlich schwerer.

Ein Mutagen bleibt im Körper, lebt weiter, dringt in jede Zelle vor, rankt sich um die DNS-Stränge, nur verändert es nichts, solange das Medikament gleichfalls durch den Körper kreist. Das Medikament, das sie ihm zum Lohn für seinen Gehorsam geboten hatte. Wie lange der Mutationseffekt verzögert wird, ist von dem verabreichten Quantum des Medikaments abhängig – oder davon, wie oft man es erhält. Man kann das Dasein als Mensch weiterführen, bis man von der Versorgung mit dem Mittel abgeschnitten wird. Und dann verwandelt man sich zum Schluss doch in einen Amnioni … Darum diene ich den Amnion, Ciro. Täte ich's nicht, entzögen sie mir das Gegenmittel. Und das ist der Grund, weshalb du nun mir dienen wirst.

Als sie ihm, während Milos Taverner ihn festhielt, das Mutagen injizierte, hatte er begriffen, dass sie schlicht und einfach die Wahrheit sprach. Er durfte nur solange Mensch bleiben, wie er das Gegenmittel bekam.

Er wusste, was er zu tun hatte.

Sie verlangte, dass er die Antriebsanlagen der Posaune sabotierte. Beide. Das war der Preis, den sie für sein Menschsein forderte.

Er gedachte ihre Forderung zu erfüllen, falls er dazu die Gelegenheit fand.

Und damit alle an Bord umbringen; sie ermorden …

Sogar Mikka.

Insbesondere Mikka. Je mehr sie über die Gefährdung erfuhr, um so starrsinniger gebärdete sie sich in ihrer Treue zur Besatzung der Posaune. Sie stand trotz der Tatsache zu ihr, dass ihre Handlungen alle das Leben kosten musste.

Sie durchschaute die Situation nicht. Wie sollte sie auch? Sie war stärker als er. Alle waren sie stärker als er. Anstatt ihn in Ruhe zu lassen – hatte er sie nicht angefleht, ihn in Frieden zu lassen? –, hatte sie ihn mit ihrer Kraft in die Enge gedrängt; mit ihrer Hingabe erdrückt. Ständig war er von ihr behindert worden. Unterdessen war die Zeitspanne bis zum Eintreten des Debakels geschrumpft, das Unglück immer näher gerückt.

Hier, hatte Vector gebieterisch gesagt, als er aus dem Krankenrevier zurückkehrte, wo Ciros Blut vom Computer analysiert worden war. Das ist eine Dosis von Nicks Antimutagen. Er hatte Ciro eine Kapsel gereicht. Nimm sie ein und komm mit. Ich möchte im Krankenrevier eine Anzahl von Blutuntersuchungen durchführen. Dabei können wir mit eigenen Augen sehen, wie das Mittel wirkt, und du hast die Gewissheit, gerettet zu sein.

Ciro wusste es besser. Von Anfang an hatte er es besser gewusst. Aber Mikka und Vector waren für ihn zu stark.

Während die Posaune einen relativ risikoarmen Abschnitt des Asteroidenschwarms durchquerte, hatte Mikka ihn zum Aufsuchen des Krankenreviers genötigt. Auf ihr Beharren hatte er sich die Daten von Vectors Bluttests angesehen; sich angeguckt, wie die Profile der Nukleotiden sich veränderten, bis der Computer Normalwerte anzeigte. Lustlos hatte er Videoaufnahmen zur Kenntnis genommen, die in Echtzeit wiedergaben, wie das Antimutagen-Medikament sich um die DNS-Stränge schlang und das Mutagen fortschwemmte.

Offenbar war Vector von der Wirkung überzeugt. Auch Mikka glaubte an die Wirksamkeit des Mittels.

Für Ciro stand außer Frage, dass er es besser wusste.

Ich soll den Antrieb sabotieren.

Beide Antriebe, hatte Sorus Chatelaine klargestellt. Du hast 'ne Technikerausbildung. Du verstehst dich darauf … Du garantierst, dass die Posaune mir nicht davonfliegt … Wenn sie nicht abhauen kann, ist sie geliefert.

In seiner Kabine jedoch, praktisch Gefangener seiner Schwester, konnte er nichts als warten.

Zwölf Stunden. Hast du meinen Auftrag in zwölf Stunden nicht ausgeführt, hatte Chatelaine ihn gewarnt, musst du zusehen, was aus dir wird. Mehr Zeit hatte sie ihm nicht zugestanden. Und es blieb ihm nur noch ein Teil dieser Frist. Jedes Mal wenn die Einnahme einer weiteren Kapsel fällig war, entwand er sich Mikka und ging in die Hygienezelle, schluckte dort im geheimen die nächste Dosis des zeitweiligen Gegenmittels. Dafür brachte er genügend Entschlossenheit auf; doch das Maß, wie der Vorrat dahinschwand, erinnerte ihn schonungslos daran, dass die Gnadenfrist ablief.

War es schon zu spät? Er konnte es nicht beurteilen. Plötzlich hatte die Posaune ein Gefecht austragen müssen, und es war ihm unmöglich geworden, den Anti-G-Kokon zu verlassen, egal, ob er Chatelaine gehorchen wollte oder musste. Das Knistern der Materiekanone, das metallische Getöse der Treffer und das Dröhnen überlasteten Materials hallten durchs gesamte Raumschiff. Beschleunigungsdruck warf den Interspatium-Scout von einer zur anderen Seite. Ein Gefecht mitten im Asteroidenschwarm glich einem navigatorischen Albtraum. Nach den Geräuschen und dem Andruck geurteilt, musste es in diesem Fall sogar noch schlimmer sein. Der krasse, unnachvollziehbare Wechsel von Stille und Gewalt vermittelte das Empfinden, als ob die Posaune gegen mehr als einen Widersacher kämpfte; Gegner aus mehreren Richtungen des Asteroidenschwarms abzuwehren hatte.

Stimmen aus dem Interkom-Apparat boten teilweise Erklärungen, aber Ciro schenkte ihnen keine Beachtung. Solange sie Mikka nicht zum Gehen bewogen, waren sie für ihn ohne Belang.

Einmal erfolgte eine so extreme G-Belastung des Raumschiffs, dass ihm die Sinne schwanden. Er wusste nicht mehr, vor welcher Notwendigkeit er stand, oder warum ihr solche Wichtigkeit beigemessen werden musste. Tod und Vergehen erfüllten seinen Geist mit letzter, vollkommener Erlösung.

Schon hatte er gedacht, der Kelch ginge an ihm vorüber.

Doch natürlich nahm der Andruck wieder ab. Schub röhrte durch die Triebwerke, aber die G-Werte verringerten sich auf erträglicheren Umfang. Neben ihm in der Koje kehrte auch Mikka die Besinnung zurück. Trotz ihrer Erschöpfung und des angeknacksten Schädels war sie in jeder Lebenslage stärker als ihr Bruder.

»Scheiße«, raunte sie ihm gedämpft zu, als fürchtete sie sich davor, die Stimme zu heben. »Was war denn bloß jetzt los?«

Ciro hatte keine Ahnung. Er begriff nicht einmal, warum sich Mikka die Mühe machte, ihn danach zu fragen.

Minuten verstrichen. Oder vielleicht verstrichen sie nicht; vielleicht fielen sie zu Boden und blieben dort liegen, geschwollen wie Tumoren, verquollen von Mutation. War es Zeit für die nächste Kapsel? Hatte seine Bewusstlosigkeit so lange gedauert? Nein. Ähnlich wie das Hyperspatium täuschte auch das Dunkel einer durch zu hohe G-Belastung verursachten Ohnmacht Riesenhaftigkeit vor, beanspruchte jedoch kaum Zeit. Andernfalls hätte es ihm die Barmherzigkeit erwiesen, ihn zu töten.

Wollte Mikka ihn zwingen, hilflos bis zum Ende zu leiden? Konnte sie so grausam sein? Ja, sie konnte es. Obwohl sie seine Schwester war; obgleich sie als letzten überlebenden Familienangehörigen nur noch ihn hatte.

Er wäre, hätten sie sich in vertauschter Situation befunden, nachsichtiger mit ihr umgesprungen.

»Mikka?«, tönte unerwartet und mit Anklängen der Verzweiflung Davies' Stimme aus dem Interkom-Lautsprecher. »Mikka? Hörst du mich? Ich brauche deine Hilfe.«

Als er die Eindringlichkeit in Davies' Tonfall hörte, durchfuhr Hoffnung Ciros Herz. Unversehens versprach er sich davon die Gelegenheit, die zu nutzen Sorus Chatelaine von ihm forderte.

»Und sag mir nicht, du könntest Ciro nicht sich selbst überlassen!«, schnauzte Davies, als wollte er Ciro noch stärker ermutigen. »Er kann bei allem Selbstmitleid ruhig mal 'ne Zeitlang für sich allein bleiben. Es ist nötig, dass du hier anpackst. Ich bin im Moment völlig auf mich gestellt.«

Mikka verkrampfte sich; sie klammerte sich mit eiserner Festigkeit an Ciro. Was sonst? Sie hielt ihn fest, weil sie um die Gefahr wusste, in der er schwebte; um die Bedrohung, die von ihm ausging. Aber es gab noch andere Gefährdungen. Das ließ sich Davies' Aufruf deutlich entnehmen. Mikkas Anhänglichkeit brachte sie in die Klemme. Sie bewachte ihren Bruder, um Morn und die anderen vor ihm zu schützen. Aber nun verlangten sie von ihr etwas anderes.

Ciro sah ab, was sie tun würde.

Davies war noch nicht fertig mit seinem Gekläff. »Vector? Vector, komm! Ich kann unmöglich derartig viele verschiedene Aufgaben zur gleichen Zeit erledigen. Ich bin hier praktisch allein. Wenn ich keine Hilfe kriege, ist alles umsonst.«

Mikka wälzte sich herum; warf Ciro unterm Kopfverband einen düsteren Blick zu. Innerer Konflikt durchzuckte ihre altgewohnt mürrische Miene.

Ciro bemühte sich, ihr die Entscheidung zu erleichtern. »Am besten gehst du auf die Brücke.« Anspannung verengte ihm die Kehle; seine Worte klangen wie ein Krächzen. »Außer dir kommt niemand in Frage. Mit mir wird schon alles gut gehen.«

Das war eine Lüge. Mit ihm konnte es, wusste er, gar nicht anders als schlecht enden. Aber das blieb einerlei. Ehrlichkeit durfte er sich nicht leisten.

»Ich hör's.« Die bordweite Interkommunikation übertrug auch Vectors Antwort in die Kabine. Möglicherweise sprach er so überlaut, um trotz des Rumorens, das durch den Schiffsrumpf dröhnte, verständlich zu sein. Oder weil die Zumutung so hoher G-Werte seinen entzündeten Gelenken Schmerzen bereitete. »Sag mir, was ich tun soll, und ich führ's aus.«

»Ich kann nicht«, zischte Mikka durch die Zähne. »Du bist nicht in der Verfassung, um …«

»Angus ist draußen«, rief Davies. »Er ist mit der tragbaren Materiekanone von Bord gegangen und … Eigentlich müsste er das Handtuch geworfen haben. Aber sein Helmfunk ist noch in Betrieb, ich höre ihn atmen. Also zieh dir 'n EA-Anzug an. Steig aus und hol ihn rein …«

»Siehst du?«, meinte Ciro zu Mikka. »Niemand außer dir ist übrig.« Er sprach, als wäre ihre Pflicht geradeso einsichtig wie seine Aufgabe. »Vector muss Angus bergen. Morn ist unter Hoch-G handlungsunfähig. Sib ist von Bord gegangen.« Und ebenso Nick. Schwach erinnerte sich Ciro, gehört zu haben, dass jemand – Davies? Morn? –, erwähnt hatte, Nick und Sib hätten in EA-Anzügen das Raumschiff verlassen, um die Sturmvogel zu attackieren. »Ich ruhe mich aus, bis du wieder da bist.«

»Bin schon unterwegs«, antwortete Vector. Selbst wenn er laut wurde, hörte er sich nicht wie ein Mensch an, der im Angesicht einer Gefahr noch Bedenken kannte.

Mikka gab sich einen Ruck und traf ihre Entscheidung. »Tu das«, schärfte sie ihm im Ton der Erbitterung ein. »Sperr hinter mir die Tür ab. Bleib in der Koje und lass den Anti-G-Kokon geschlossen.« Trotz aller Verletzungen und Ermattung war sie zu stark, um über Davies' Notlage – oder den Notstand der Posaune – hinwegsehen zu können. »Ich bin nicht lange weg. Nur bis wir bewältigt haben, was Davies so aufregt.«

Bis Ciro vollbracht hatte, was er verrichten musste, um seine Seele zu retten.

Sobald Sorus Chatelaine den Interspatium-Scout kaperte, konnte sie ihm seine Menschlichkeit wiedergeben. Seine Gesundheit …

G-Andruck kippte die Kabine, als die Posaune abermals beschleunigte. Mikkas Blick glich einer geballten Faust, während sie aus der Koje turnte, die Füße auf den Boden setzte, zur Tür hinaufklomm. Als sie sie erreicht und geöffnet hatte, wandte sie sich noch einmal an Ciro.

»Ich mein's ernst«, bekräftigte sie. »Verlass bloß nicht die Koje. Du bist da drin sicher. So sicher wie jeder von uns. Das Mutagen ist besiegt. In dieser Hinsicht könnte Vector sich niemals irren. Und du kennst ihn. Du weißt, dass er dich nicht anlügt.«

Sie wirkte, als spürte sie das Bedürfnis nach noch mehr Beteuerungen. Nach Ermutigungen, die von ihm abprallten. Er sah es ihr an. Aber anscheinend merkte sie, dass er unzugänglich blieb. Unvermittelt schloss sie den Mund. Bedrohlich verkrampften sich die Muskeln ihrer Kiefer, als sie sich zur Kabine hinausschwang.

Sie verließ die Kabine.

Ließ Ciro allein.

Zurück kam sie bestimmt nicht: Davon war er überzeugt. Davies brauchte sie zu dringend. Ich kann unmöglich derartig viele verschiedene Aufgaben zur gleichen Zeit erledigen. Ich bin hier praktisch allein. Stillschweigend vertraute Ciro, obwohl sie ihn nahezu an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, ihrer Verlässlichkeit.

Sein Herz pochte, als befände er sich im Bann äußersten Entsetzens. Dutzenderlei Säuren schienen durch seine Adern zu rinnen.

Ein Mutagen bleibt im Körper …

Irgendwie schaffte er es und zwang sich, so lange zu warten, bis er das Ächzen des Lifts hörte, der sich gegen den G-Andruck stemmen musste. Das Geräusch besagte, dass Vector sich auf dem Weg zur Luftschleuse befand. Im Zentralkorridor des Interspatium-Scouts hielt sich jetzt wahrscheinlich niemand auf.

Sofort warf Ciro den Anti-G-Kokon beiseite, sprang aus der Koje und zur Tür, als wäre er ein von der Leine gelassenes Tier, das nach Freiheit gierte.

… lebt weiter …

Eine in den primitivsten Strukturen der DNS verankerte Furcht scheuchte ihn vorwärts. Im Korridor hastete er geradewegs zum nächsten Werkzeugschrank; inzwischen kannte er sich mit den Werkzeugschränken aus. In seiner erniedrigenden Rolle als Bordsteward der Posaune hatte er den Schraubenschlüssel, mit dem Nick vor einigen Tagen auf Angus losgegangen war, wieder verstauen müssen, wo er hingehörte; und daher war er jetzt darüber informiert, wo sämtliche Werkzeuge lagerten.

… dringt in jede Zelle vor, rankt sich um die DNS-Stränge …

Falls nun irgendjemand den Korridor betrat, sah der- oder diejenige, was er tat. Mikka, Davies, auch Morn: Alle würden versuchen, ihn aufzuhalten. Doch er missachtete die Gefahr. Außer Eile gab es dagegen keinen Schutz, und er beeilte sich schon so sehr, wie der Schub des Interspatium-Scouts es gestattete.

Er holte den Schraubenschlüssel aus dem schwerkraftfesten Wandschrank. Flecken geronnenen Bluts und – an ein, zwei Stellen – Krusten verdorrten Hautgewebes klebten noch an dem Werkzeug: Er hatte es nur nachlässig gereinigt. Aber das blieb belanglos. Trotz allem war Angus' Blut menschlich; das gleiche galt für seine Kopfhaut. Ciro schob sich den Schraubenschlüssel in den Gürtel. In die Taschen steckte er einen Spannungsmesser, einen kleinen Werkzeuglaser, einen Lötkolben sowie ein Sortiment an Klammern und Drähten.

Dann schaute er sich nach einer Einstiegsluke um, die ihm Zutritt zu den Antriebsanlagen der Posaune gewährte.

Darum diene ich den Amnion, Ciro. Täte ich's nicht, entzögen Sie mir das Gegenmittel. Und das ist der Grund, weshalb du nun mir dienen wirst.

Voraussichtlich beanspruchte das Sabotieren der Antriebe längere Zeit. Ciro hatte die Motoren noch nie von innen gesehen, keine Vorstellung davon, wie die Komponenten und Aggregate angeordnet sein mochten. Und er wollte nicht riskieren, die falschen Apparaturen lahmzulegen. Der Gedanke, er könnte beispielsweise einen Defekt der Lebenserhaltungssysteme herbeiführen, während die Antriebsanlagen intakt blieben, flößte ihm Grausen ein. Er musste suchen, ausprobieren und testen, bis er die richtigen Kontakte fand. Doch wie er dabei vorzugehen hatte, wusste er; es war ihm von Vector gezeigt und erläutert worden. Und er hatte das von Sorus Chatelaine überlassene Gegenmittel bei sich. Ein paar Stunden konnte er für die Abwicklung seines Auftrags aufwenden.

Auf seine Weise war er so treu wie Mikka.

Hashi

Wie Hashi Lebwohl vorausgesehen hatte, war er der letzte, der im von Warden Dios genannten Konferenzzimmer anlangte, einem der für seine Zwecke reservierten, vielseitig nutzbaren und vor allem lauschsicheren Büroräume, in denen der Polizeipräsident der VMKP für die Außenwelt offiziell zu existieren aufhörte. Koina Hannish und Sicherheitschef Mandich waren eher eingetroffen.

Koina Hannish saß links von der Tür an der Wand, als Hashi Lebwohl eintrat: eine durch bewusste Bescheidenheit beeinflusste Position, die zum Ausdruck brachte, dass sie sich darüber im Klaren war, welche geringe Nebenrolle das Ressort Öffentlichkeitsarbeit im Moment spielte. Ihr gegenüber stand Sicherheitschef Mandich. Ungefähr in der Mitte zwischen beiden befand sich Warden Dios' Schreibtisch.

Offenbar war der VMKP-OA-Sicherheitschef anwesend, um für seine Unzulänglichkeit persönlich Rechenschaft abzulegen; gleichzeitig jedoch auch als Min Donners Stellvertreter. Sein Unbehagen äußerte sich deutlich in der Weigerung sich hinzusetzen. Hinter dem Rücken hatte er die Wand, aber er nahm sich nicht die Lässigkeit des Anlehnens heraus. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und verkrampfte Schultern. Die Hitzigkeit, die ihm vor einer Weile Gesicht und Hals verfärbt hatte, war weitgehend gewichen, doch die Neigung zum Erröten ließ sich noch erkennen.

Warden Dios saß am Schreibtisch, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt, die Handflächen flach ausgestreckt. Sein normales Auge glitzerte durchdringend, als wollte es mit der Infrarot-Funktion seiner unter der Augenklappe versteckten Prothese gleichziehen. Dios war kein besonders großer Mann, doch die Bulligkeit seines Körperbaus und die Festigkeit seiner Haltung erweckten den Eindruck, als wäre er aus Stein gemeißelt; unnahbar wie ein Standbild.

Flink wieselte Hashi Lebwohl in den Konferenzraum, entschuldigte sich nach allen Seiten, schenkte indessen dem eigenen Geplapper keine Beachtung. Die Tür schloss sich hinter ihm; er hörte die Riegel mit metallischem Knacken einrasten, das nach Endgültigkeit klang. Das Geräusch bereitete ihm das unangenehme Gefühl, im Reich der letzten Fragen angekommen zu sein. Kurz vor Warden Dios' Schreibtischkante blieb er stehen, sah sich nach einem Stuhl um. Allerdings maßte er sich nicht an, Platz zu nehmen, bevor Warden Dios ihm mit einem schroffen Wink dazu die Einwilligung erteilte.

»Entschuldigen Sie sich nicht, Hashi«, sagte Dios grob. »Erklären Sie uns Ihre Verspätung. Nennen Sie mir einen Grund, weshalb wir hier zehn Minuten lang Däumchen drehen mussten, als hätten wir nichts wichtigeres zu tun.«

Warden Dios hatte, bemerkte Hashi Lebwohl, keine gute Laune.

Mit Mühe bezwang Hashi seinen Hang zu Ausflüchten. »Lane Harbinger untersucht derzeit die Überreste des Kaze.« Die Brille war ihm zu tief auf die Nasenspitze hinabgerutscht, um ihn vor Warden Dios' scharfem Blick zu bewahren; aber er schob sie sich nicht hinauf. »Ich habe so lang auf ihre Ergebnisse gewartet, wie ich konnte … Bis ich von Ihnen herbeordert worden bin. Dann habe ich mir nur noch soviel Zeit genommen, um mir einen vorläufigen Bericht erstatten zu lassen.«

Aus Rücksicht auf seine Würde schwieg sich Hashi darüber aus, ob Lane Harbingers Erkenntnisse es gelohnt hatten, sie sich anzuhören – oder auf sie zu warten.

Warden Dios musterte Hashi Lebwohl, während er seine Begründung nannte, und nickte dann knapp. »Na schön. Wir stecken in einer Krise, der schlimmsten Krise, die wir je erlebt haben. Aber die Tatsache, dass wir zehn Minuten Zeit vergeuden mussten, erhöht wahrscheinlich nicht die Größe der Gefahr.«

Hashi zwinkerte eulenhaft. Erachtete Warden Dios die Kaze-Attacke Imposs' alias Alts als Inbegriff ›der schlimmsten Krise‹, die sie ›je erlebt‹ hatten? Ausgeschlossen. Er konnte doch unmöglich derartig den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. In dem Anschlag weniger als einen ernsten Notfall zu sehen, wäre dumm: ihn übertrieben einzustufen, reine Verrücktheit.

»Sie glauben, wir sind hier, um über den Vorfall auf Suka Bator zu diskutieren«, schnarrte Warden Dios hinzu. »Und der eine oder andere von Ihnen« – Hashi hatte das Empfinden, dass der Polizeipräsident sich kurz auf ihn konzentrierte – »wundert sich vielleicht, dass es so lange gedauert hat, bis ich Sie zu mir rufe. Ja, wir werden über die Angelegenheit auf Suka Bator sprechen. Ich will erfahren, was passiert ist. Und noch dringender möchte ich wissen, was es zu bedeuten hat. Aber dieser Anschlag auf das Erd- und Kosmos-Regierungskonzil ist nur ein Aspekt unseres Desasters. Bevor wir mit der Aussprache anfangen, muss ich Ihnen mitteilen, was sich inzwischen außerdem ereignet hat. Dann werden Sie verstehen, wieso ich Sie nicht sofort hergerufen habe.«

Was sich inzwischen außerdem ereignet hat. Trotz Dios' grimmigem Ton konnte Hashi Lebwohl erleichtert lächeln. Nach einigen Augenblicken der Besorgnis war er jetzt plötzlich sicher, dass der VMKP-Polizeipräsident das Vertrauen verdiente, das Hashi für ihn erübrigte.

»Klipp und klar gesagt«, verkündete Warden Dios, als wäre er voller Bitterkeit, die er weder unterdrücken noch abreagieren konnte, »verhält es sich wie folgt. Wir befinden uns praktisch im Kriegszustand.«

Sicherheitschef Mandich erstarrte. Er tat, vielleicht ohne es selbst zu merken, einen Schritt auf den Schreibtisch des Polizeipräsidenten zu. Seine rauen Gesichtszüge wurden so hart wie Warden Dios' Miene. Die Lippen leicht geöffnet, beugte sich Koina Hannish vor. Erschrecken und Furcht verschleierten ihren Blick, das genetisch bedingte, wesenseigene Grauen eines Menschen vor den Amnion.

Krieg? Hashi Lebwohls Herz setzte für einen Schlag aus, dann fing es in seinem Brustkorb zu flattern an wie elektronische Störgeräusche. Im Kriegszustand? Nur dank willentlicher Anstrengung verkniff er sich voreilige Fragen. Haben Sie deshalb Milos Taverner als Josuas Begleiter ausgewählt? War Ihnen diese Entwicklung absehbar? Haben Sie darauf gehofft?

»Vor zwei Stunden«, erklärte Warden Dios, »ist per Interspatium-Kurierdrohne aus dem Valdor-System eine Nachricht von Min Donner eingegangen. Genau genommen, sie stammt von der Valdor-Schutztruppe, aber Min hat die Absendung in Auftrag gegeben. Sie meldet, dass eine Amnion-›Defensiveinheit‹ ins Massif-fünf-System eingedrungen ist. Ein Amnion-Kriegsschiff der Behemoth-Klasse. Angesichts der Entfernung vom Bannkosmos können wir, glaube ich, die Erwägung außer acht lassen, dass es sich aufgrund eines Irrtums dort herumtreibt. Nach Aussagen der Valdor-Schutztruppe hat die Rächer die sogenannte Defensiveinheit in ein Gefecht verwickelt, aber es verläuft ungünstig. Die Rächer ist beschädigt und nur beschränkt einsatzfähig. Abschirmung und Partikelkollektoren des Amnioni halten stand. Und obendrein …« Düster schwieg Dios für ein paar Sekunden. »Obendrein ist er mit einem Superlicht-Protonengeschütz bewaffnet.«

Mandich fluchte gedämpft. Hashi Lebwohls Verhalten wäre ähnlich ausgefallen, hätte er sich nicht seit langem dagegen gefeit, seine Emotionen preiszugeben. Warden Dios' Tonfall vermittelte Vorahnungen von Blutbädern und Vernichtung. Die Luft im Zimmer schien dicker und schwerer atembar geworden zu sein. Ein Superlicht-Protonengeschütz galt als außerordentlich gefürchtete Waffe, weil es auch durch die Atmosphäre eines Planeten Zerstörungen anrichten konnte. Materiekanonen waren dafür nutzlos: Die Luftschicht schützte die Planetenoberfläche besser als Partikelkollektoren. Laserstrahlen waren zu stark gebündelt, um großflächige Verwüstungen zu verursachen; außerdem tendierten sie mit wachsendem Abstand zu Kohärenzverlust. Ein Superlicht-Protonengeschütz dagegen …

Doch Warden Dios hatte noch nicht zu Ende erzählt.

»Das Kosmo-Industriezentrum Valdor mobilisiert Unterstützung für die Rächer«, stellte er fest, »aber leider sind diese Raumschiffe noch nicht in Reichweite angelangt. Aus irgendeinem Anlass hält das Amnion-Raumschiff sich von den gängigen Flugrouten fern, und ebenso von Station Valdor selbst. Und unser Kreuzer Vehemenz ist zu weit entfernt, um in den Kampf eingreifen zu können.«

Wahrhaft typisch, dachte Hashi Lebwohl. Seine Aufmerksamkeit richtete sich vollständig und unverrückbar auf Warden Dios. Dennoch betrieb er Überlegungen auf mehrerlei Ebenen. Die Vehemenz blickte auf keine glanzvolle Dienstgeschichte zurück. Egal, wer sie kommandierte, wie die Besatzung sich zusammensetzte oder man sie schulte, immer verurteilte Glücklosigkeit oder Unfähigkeit, wie es den Anschein hatte, das Raumschiff zum Versagen. Man hätte meinen können, es wäre während der Monate mit Nathan Alt als Kapitän mit einem Fluch belegt worden.

»Wie lauten Ihre Befehle, Polizeipräsident?«, fragte mit einem Mal Sicherheitschef Mandich dazwischen. Anspannung verzerrte seine Stimme zu einem Krächzen. »Direktorin Donner ist abwesend. Ich muss …«

Er mochte so redlich wie eine Eisenstange sein, aber Hashi Lebwohl hielt ihn für untauglich, um Min Donners Platz einzunehmen.

Koina Hannish hatte ein besseres Gespür als der Sicherheitschef: Sie wartete ab mit dem Reden.

Durch eine brüske Geste bewog Warden Dios den Sicherheitschef zum Schweigen. Das Herumrucken seines normalen Auges glich einer Handgreiflichkeit.

»Seitdem habe ich erste Maßnahmen zu unserer Verteidigung veranlasst«, gab er in schneidigem Tonfall bekannt. »Unsere Werften schieben Zusatzschichten ein. Wir müssen schnellstens jedes halbwegs einsatztüchtige Raumschiff im All haben. Das VMKP-HQ hat Alarm. Ich habe der Streithammer die Rückkehr befohlen und Kurierdrohnen ausgeschickt, um die Heros und die Abenteurer zurückzubeordern.«

Die Streithammer war ein regelrechtes Schlachtschiff, das größte und stärkste Kampfraumschiff, das die VMKP je gebaut hatte. Gegenwärtig führte es zwischen Jupiter und Saturn einen Probeflug durch, damit die Crew lernte, ein so riesiges Raumfahrzeug zu handhaben; zu nah an der Erde, um per Hyperspatium-Durchquerung zur Erde umzukehren, zu fernab, um sie mit Normalraum-Geschwindigkeit früher als erst in ein paar Tagen zu erreichen. Was die übrigen von Dios genannten Raumer betraf, so flog der Zerstörer Heros Patrouille im Gebiet um Terminus, der am weitesten vom Bannkosmos entfernten Raumstation der Menschheit, und der veraltete Kreuzer Abenteurer war dazu abkommandiert worden, bei Übungen der Kadetten der Raumfahrtakademie Aleph Grün als Supervisor zur Verfügung zu stehen.

Natürlich waren andere Raumschiffe abkömmlich. Hashi Lebwohl fielen auf Anhieb ein halbes Dutzend Kosmo-Interzeptoren und leichter Kreuzer im unmittelbaren Umraum der Erde ein. Allerdings gaben sie für die Verteidigung eines gesamten Planeten eine allzu schwache Streitmacht ab.

Das VMKP-HQ konnte diese Aufgabe nicht erfüllen. Die Abwehranlagen der Raumstation eigneten sich mit knapper Not zum Selbstschutz. Sie hatte Partikelkollektoren und andere Formen der Abschirmung, ferner Artillerie verschiedenen Typs, nichts jedoch, das in einem Konflikt solchen Maßstabs wirksam einsetzbar gewesen wäre. Jeder Krieg, dessen Verlauf sich so dicht an die Erde verlagerte, dass er das VMKP-HQ gefährdete, war vermutlich schon verloren.

»Aber ich möchte unsere Streitkräfte«, ergänzte Warden Dios seine Erläuterungen, »andernorts nicht zu sehr ausdünnen – schließlich sind wir ohnehin schwach genug –, solang ich nicht weiß, was die Amnion als nächstes anstellen. Unter strategischen Gesichtspunkten ist das Valdor-System nicht unbedingt das logische Ziel einer durchdachten Kriegsführung.«

Wahrhaftig nicht. Hashi Lebwohl vollzog, obwohl er sich gleichzeitig eigene Gedanken machte, die Überlegungen des VMKP-Polizeipräsidenten nach. Nicht einmal die totale Vernichtung des Kosmo-Industriezentrums Valdor könnte die Verteidigungsfähigkeit der Menschheit nachhaltig beeinträchtigen, jedenfalls nicht auf kurze Sicht. Zudem verfügte die Station über zu starken Schutz und war navigatorisch zu schwierig zu erreichen, als dass ein einzelner Angreifer des Erfolgs sicher sein dürfte. Jeder Angriff auf das Valdor-Industriezentrum mochte sich rasch als Fehlschlag erweisen.

»Ich muss davon ausgehen«, erklärte Warden Dios, »dass weiteres bedrohliches Verhalten der Amnion ebenso wenig logische Züge haben könnte, ich meine, nach strategischen Regeln. Da die Amnion offenbar weder zu Sinnlosigkeiten noch zur Übergeschnapptheit neigen, muss ich gleichfalls unterstellen, dass dieses vertragswidrige Eindringen in den Human-Kosmos keinen Großangriff auf die Menschheit bedeutet. Es verfolgt einen anderen Zweck. Ich kann mir denken, welchen, aber ich weiß nicht, wo der Brennpunkt des Geschehens sein wird. Deshalb ist mir momentan nicht klar, wo ich unsere Kräfte konzentrieren soll …«

Mittlerweile hatte Koina Hannish zu lange geschwiegen. Nun drängte die Beunruhigung sie endlich doch zum Sprechen.

»Bitte weihen Sie uns in die Sachlage ein, Polizeipräsident Dios«, verlangte sie mit leiser Stimme. »Ich glaube, wir müssen Bescheid wissen.«

»Das will ich wohl meinen«, schnob Dios. Doch offenkundig richtete sich sein Sarkasmus oder Unmut nicht gegen sie.

»Ihnen allen ist bekannt, dass Min Donner an Bord der Rächer ist«, konstatierte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und wahrscheinlich haben Sie längst erraten, dass Sie von mir den Befehl erhalten hat, die Posaune zu schützen …«

»Nein, halt«, unterbrach Koina Hannish ihn, »entschuldigen Sie, aber jetzt überfordern Sie mich. Ich weiß über die Posaune nicht mehr als das, was Sie und Direktor Lebwohl dem Regierungskonzil mitgeteilt haben. Dass sie von Angus Thermopyle und Milos Taverner gekapert wurde …«

»Nein, ich muss mich entschuldigen«, fiel Warden Dios nun seinerseits ihr ins Wort. Für einen Moment erregte er den Eindruck, als müsste seine Müdigkeit ihn überwältigen. Seine Fassade hatte Risse, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. »Es liegt an diesen verdammt vielen Geheimnissen. Ich trage sie schon zu lange mit mir herum.« Kurz rieb er sich mit den Fingern die Stirn. »Manchmal übersehe ich, dass ich Sie über dies oder jenes Entscheidende noch gar nicht informiert habe … Angus Thermopyle hat die Posaune