Ein dunkler hungriger Gott erwacht - Stephen R. Donaldson - E-Book

Ein dunkler hungriger Gott erwacht E-Book

Stephen R. Donaldson

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Beschreibung

Im Bannkosmos

Die Amnios, geniale Bio-Ingenieure, haben Morn Hylands neugeborenen Sohn Davies binnen Tagen zu einem Sechzehnjährigen heranreifen lassen. Sie haben auch Morns Gedächtnis in Davies Gehirn kopiert, um ihm alles Nötige beizubringen. Diese Prozedur hätte Morn eigentlich nicht überleben dürfen – doch die ehemalige Polizistin erfreut sich bester Gesundheit, was an dem illegalen Zonenimplantat in ihrem Gehirn liegt. Die Amnios wollen Mutter und Sohn nun wieder in ihre Gewalt bringen, um sie zu erforschen, und setzen Kapitän Nick Succorso unter Druck. Er verkauft die beiden an die Aliens, doch Morn und Davies gelingt die Flucht. Zu allem Überfluss taucht auch Angus Thermopyle wieder auf – der inzwischen von der Polizei in eine tödliche Waffe verwandet wurde …

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STEPHEN R. DONALDSON

 

 

 

EIN DUNKLER

HUNGRIGER

GOTT ERWACHT

 

Dritter Roman des Amnion-Zyklus

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der Originalausgabe
THE GAP INTO POWER: A DARK AND HUNGRY GOD ARISES
Aus dem Amerikanischen von Horst Pukallus
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1992 by Stephen R. Donaldson Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Das Illustrat, München Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-20721-2V002

Das Buch

Die Amnios, geniale Bio-Ingenieure, haben Morn Hylands neugeborenen Sohn Davies binnen Tagen zu einem Sechzehnjährigen heranreifen lassen. Sie haben auch Morns Gedächtnis in Davies Gehirn kopiert, um ihm alles Nötige beizubringen. Diese Prozedur hätte Morn eigentlich nicht überleben dürfen – doch die ehemalige Polizistin erfreut sich bester Gesundheit, was an dem illegalen Zonenimplantat in ihrem Gehirn liegt. Die Amnios wollen Mutter und Sohn nun wieder in ihre Gewalt bringen, um sie zu erforschen, und setzen Kapitän Nick Succorso unter Druck. Er verkauft die beiden an die Aliens, doch Morn und Davies gelingt die Flucht. Zu allem Überfluss taucht auch Angus Thermopyle wieder auf – der inzwischen von der Polizei in eine tödliche Waffe verwandet wurde …

 

 

 

 

Der Autor

Stephen Reeder Donaldson, am 13. Mai 1947 in Cleveland, Ohio geboren, verbrachte seine Kindheit in Indien, wo seine Eltern als Missionare in einem Leprosarium tätig waren. Die Familie kehrte 1963 in die Vereinigten Staaten zurück, und Donaldson machte 1968 seinen Abschluss am College of Wooster, Ohio. Während des Vietnamkriegs arbeitete er zwei Jahre lang in einem Krankenhaus, weil er den Kriegsdienst verweigerte, ehe er sein Studium an der Kent State University fortsetzte. 1971 wurde er zum Magister promoviert, unterbrach aber sein Promotionsstudium bis 1993, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1977 erschien sein Fantasy-Roman »Lord Fouls Fluch«, der Auftakt der »Chroniken von Thomas Covenant dem Zweifler«, der ihm zum internationalen Durchbruch verhalf und zu dem er bis 2013 neun Fortsetzungen schrieb. 1994 erwarb der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Autor, der unter anderem den John W. Campbell Award und den World Fantasy Award gewann, den Schwarzen Gürtel in Shōtōkan-Karate. In den Neunzigerjahren legte Donaldson mit dem Amnion-Zyklus seine ersten Science-Fiction-Romane vor. Er lebt und arbeitet heute in New Mexico.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Für

LYNDA KEXEL,

BILL PUDER

und

RICK CARTER –

das beste Team.

Holt

 

Kurz bevor Angus Thermopyle und Milos Taverner an Bord der Posaune das VMKP-HQ verließen, stattete Holt Fasner seiner Mutter einen Besuch ab.

Er besuchte sie trotz der Tatsache, dass die alte Vettel seit Jahrzehnten schlechte Laune hatte.

Die Fortschritte der Medizin, die ihn im Alter von einhundertfünfzig Jahren bei nahezu vollkommener Gesundheit, relativ rüstig, ja beinahe in Bestform hielten, waren zu spät errungen worden, um bei seiner Mutter eine vergleichbar effektive Wirkung zu haben. Vielmehr hätten sie schon vor dreißig Jahren bei ihr versagt, hätte Holt nicht darauf bestanden, sie an Apparate anzuschließen, die erst ihr Blut pumpten, dann die Verdauung erledigten und schließlich auch für sie atmeten. So besehen, lebte sie also weiter; aber sie glich nur noch dem Schatten einer Frau. Ihre Haut hatte die fleckige Färbung alten Leinens; sie konnte kaum die Hände bewegen; seit mindestens zehn Jahren hatte sie den Kopf nicht mehr von der Stütze gehoben. Sie bemerkte keinen Unterschied mehr, wenn die Schläuche ihr Nährstoffe zuführten oder Ausscheidungen ableiteten.

Ihr Verstand jedoch hatte nicht gelitten. Lange nachdem ihr Körper jede Fähigkeit zum Handeln verloren hatte, vermochte Norna Fasner, bitter wie eine Flasche voller Säure, noch zu denken.

Das war der Grund, weshalb ihr Sohn ihr das Leben bewahrte. Sie hatte es schon vor vielen Jahren aufgegeben, ihn um den Tod zu bitten. Aus alter, schmerzlicher Erfahrung sah sie voraus, dass er sie mit einem ausdruckslosen Auflachen und einer hämischen Äußerung abblitzen ließe. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht zurechtkomme, Mütterchen.« Und wenig später wäre ein neuer TV-Apparat in dem Raum installiert, den sie als ihre Gruft betrachtete.

Sie verfolgte das Geschehen auf den Mattscheiben, obwohl sie sie verabscheute. Die Bilder blieben alles, über das sie sich Gedanken machen konnte. Schaltete man die Apparate ab, versänke ihr Gehirn fast mit Gewissheit in Nullaktivität; und das wollte sie nicht. Sie wünschte sich keine Bewusstlosigkeit, sondern den Tod. Wäre nur eines der Geräte abgeschaltet worden, hätte sie aus Enttäuschung und Kummer geweint. Jedes Bild, jedes Wort, jede flüchtige Andeutung galt ihr als Hinweis, der ihr auf lange Sicht zu glauben ermöglichen mochte, dass ihren Sohn zu guter Letzt doch das Unheil einholte. Ohne diese Hinweise – ohne die Möglichkeit, sie zu haben –, wären alle die langen Jahre ihres untätigen, untoten Daseins vergeblich.

Ihr Sohn war Generaldirektor der Vereinigten Montan-Kombinate; ohne Frage der reichste und ohne Zweifel mächtigste lebende Mensch. Er beherrschte sein ausgedehntes Wirtschaftsimperium vom ›Stammsitz‹ der Firma aus, einer Orbitalstation, die eine halbe Million Kilometer weiter entfernt als das VMKP-HQ um die Erde kreiste: das größte und wohl, allerdings nicht unstrittig, auch das wichtigste, unentbehrlichste Unternehmen der Menschheitsgeschichte. Seine Untergebenen zählten Millionen; Männer und Frauen, die infolge seiner Entscheidungen lebten oder starben, nach Milliarden. Gedeckt durch die Fassade des VMK-Firmenstatuts und der offiziellen Demokratie des Erd- und Kosmos-Regierungskonzils – das nominell die Aufgabe hatte, Menschen wie ihn und Firmen wie die VMK zu kontrollieren – stürzte und etablierte er Regierungen, ruinierte oder duldete er Konkurrenten, sorgte er dafür, dass potentielle Zukunft konkrete Gestalt annahm oder sich wie Nebel verflüchtigte. Hinter seinem Rücken nannten Leute, die vor ihm Furcht hatten, ihn manchmal ›Drachen‹; und ausschließlich Menschen, die keine Ahnung davon hatten, wer er war, fürchteten ihn nicht.

Er stand an der Drehscheibe der menschlichen Beziehungen zum Bannkosmos. Aller menschliche Zugriff auf diese Quelle unermesslicher Reichtümer erfolgte durch seine Hand. Und ebenso bot er der Menschheit den einzigen Schutz gegen die unwägbare Bedrohung durch den Bannkosmos.

Der Gegenwert von Holt Fasners Zeit konnte nicht einmal in purem Cäsium geschätzt werden. Trotzdem besuchte er seine Mutter, sobald sich dazu die Gelegenheit ergab. Ihr Rat bedeutete ihm zuviel, um sie sterben zu lassen.

Bisweilen verursachte es ihm jedoch erhebliche Schwierigkeiten, ihr Gerede zu durchschauen. Ihr Verlangen nach seinem Untergang war dermaßen unübersehbar, dass er beim Einstufen ihrer Worte und ihrer Auslassungen außerordentlich vorsichtig sein musste. Infolgedessen empfand er seine Besuche bei ihr als anregungskräftige Herausforderung.

In Wirklichkeit hätte er es sich höchstwahrscheinlich jederzeit während des vergangenen halben Jahrhunderts leisten dürfen, ihr den Tod zu gönnen. Es machte ihm Spaß, mit seiner Mutter zu plaudern; zudem zog er aus ihren Ratschlägen Vorteile. Doch in Wahrheit hätte er sich durchaus ohne sie zurechtgefunden. Er hielt Norna Fasner am Leben, gerade weil sie ihm mit so beharrlicher Bosheit das Schlimmste wünschte; gleichzeitig bereitete ihre vollständige Hilflosigkeit ihm diebisches Vergnügen. Und sein letzter Grund lautete, dass sie zu seiner Wachsamkeit beitrug. Ohne sie hätte er dazu geneigt, die eigene Sterblichkeit zu vergessen.

Aber Menschen, die ihre Sterblichkeit vergaßen, unterliefen Fehler. Holt Fasner hatte seine Erfolge mit Blut bezahlt, wenngleich meistens mit fremden Blut; und heute, da er die Früchte des Erfolgs erntete, wollte er sie nicht durch Fehler gefährden.

Deshalb stattete er kurz vor dem Abflug der Posaune seiner Mutter einen Besuch ab. Es bestanden Risiken; kleine Risiken, die sich jedoch jeden Moment auswachsen mochten. Für sich gesehen, waren Angus Thermopyle, Milos Taverner, Nick Succorso und Morn Hyland nicht mehr als drei Männer und eine Frau; Bauern auf dem Schachbrett der weitgespannteren politischen Umtriebe und noch großmächtigeren Träume Holt Fasners. Doch im Zusammenhang mit Kassafort und den Amnion war es denkbar, dass eine brisante Mischung entstand, die einen nachhaltigen Eindruck hinterließ; ähnlich wie ein kleiner thermonuklearer Meiler, der eine Havarie und dadurch für Jahrhunderte die Unbewohnbarkeit der ganzen Umgebung zur Folge hatte.

Selbstverständlich oblag die Leitung der Aktion dem Chef der Vereinigte-Montan-Kombinate-Polizei, Warden Dios persönlich. Er trug das Risiko, nicht Holt; falls negative Konsequenzen auftraten, musste Dios sie beheben. Allerdings lag Holt an guten Resultaten der VMKP genauso viel wie am Gedeihen der Vereinigten Montan-Kombinate als Ganzes. Hätte er die Risiken als zu groß erachtet, wäre es seinerseits nicht erlaubt worden, sie einzugehen.

In diesem Fall hatte er keine Einwände gehabt.

Doch ebenso wenig verzichtete er darauf, sich mit der Situation zu befassen. Anstatt nachträglich so zu tun, als wäre er klüger als Warden Dios, der sich fast drei Jahrzehnte hindurch als die starke Rechte des Drachen bewährt hatte, ging Holt Fasner zu seiner Mutter Norna, um mit ihr zu reden.

Der Raum, in dem er sie lebendig begraben hatte, befand sich in den abgelegenen Bereichen der Konzern-Generaldirektion, einem Teil der Orbitalstation, in den niemand außer Männern und Frauen mit ganz speziellen Sonderausweisen sich wagen durften. Wie üblich, wenn die Ärzte Norna Fasner gerade nicht untersuchten, erzeugten die einzige Helligkeit in dem hohen, keimfreien Pflegezimmer die rund zwanzig TV-Apparate, die ihr gegenüber nahezu die gesamte Wand füllten. Das Zwielicht beruhte auf ihrer eigenen Entscheidung. Die geringe Kraft, über die ihre Finger noch verfügten, langte hin, um Tasten zu betätigen, die die Beleuchtung dimmten, Nornas Liegehaltung veränderten, das Pflegepersonal verständigten und sogar die Fernsehgeräte ausschalteten. Holt gestand ihr diese Freiheit zu, weil er darauf baute, dass sie davon den richtigen Gebrauch machte.

Ihr im grellbunten Flackern der Bildschirme in schroffer Hässlichkeit erkennbares Gesicht sah aus, als wäre der Kopf einer Mumie bemalt worden, um unter UV-Licht einen Horroreffekt zu bewirken. Unablässig kauten ihre dünnen Lippen und der zahnlose Gaumen Speisen, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr gekostet hatte. In gewissen Zeitabständen seiberte sie achtlos vor sich hin; das Gespinst ihrer Runzeln sammelte den Speichel auf dem Kinn zu einer glänzenden feuchten Schicht. Sie hob nicht den Blick, als ihr Sohn eintrat; ununterbrochen ruckten ihre Augen hin und her, beobachteten die Geschehnisse auf den TV-Apparaten, als ob sie alles gleichzeitig wahrnehmen und verstehen könnte.

Ständiges Stimmenraunen und Musikgedudel drangen aus den Geräten, ein halblauter, ununterscheidbar verworrener, mit wenigstens einem halben Dutzend Arten Musik vermischter Widerstreit diversen Gebrabbels – eine Geräuschkulisse, die in ihrer Unerfreulichkeit und Nervigkeit dem Lärmen eines Badestrandpöbels ähnelte, allerdings so verschwommen und scheinbar fernab klang, dass es ebenso gut ein unterirdisches Rumoren von Felsgestein oder das trostlose Grollen einer Meeresbrandung hätte sein können. Holt musste bei diesen Tönen die Zähne zusammenbeißen; manchmal hatte er den Eindruck, sie trübten ihm das Gehirn. Unwillkürlich befiel ihn das Gefühl, in der baulichen Struktur der Orbitalstation könnte etwas aus den Fugen geraten sein.

Aber erfahrungsgemäß wusste er, dass Norna sowohl die Stimmen wie auch die Bilder in ihrer Verschiedenartigkeit erkannte und alle Vorgänge begriff.

»Hallo, Mütterchen«, begrüßte er sie mit gespielter Herzlichkeit, teils aus Gewohnheit, teils weil er irgendetwas tun musste, um den Eindrücken der unausgesetzten Berieselung entgegenzuwirken. »Gut siehst du aus. Besser denn je. Ich glaube, du kannst bald wieder aus dem Bett hüpfen. Jedenfalls könnte ich in der Firmenleitung deine Unterstützung gebrauchen. Wie geht's dir? Was sagen die Ärzte?«

Wie jedes Mal begegnete sie seinem Geplapper mit Missachtung. Die Weise, wie ihr Blick über die TV-Apparate huschte, erinnerte Holt an ein Huhn, das steinigen Untergrund nach einem Körnchen Nahrung absuchte.

Für einen Moment sah er sich selbst den Wirrwarr der Sendungen an, aber für ihn blieben sie ohne Ausnahme belanglos. Sie boten den typischen Querschnitt: ein Halbdutzend Nachrichtenmagazine, die allesamt den Zuschauern das Dasein umdeuteten, alle die gleichen Schlussfolgerungen präsentierten; drei oder vier Sportspektakel, die in unterschiedlichen Graden der Simulation Akte extremer Gewalttätigkeit zeigten; vier oder fünf vorgeblich humoristische oder satirische Serien, von denen jede den Eindruck erweckte, immerzu die gleichen Ulks zu wiederholen; und ein halbes Dutzend Romanzen – »Also wirklich, Mutter, in deinem Alter, schämst du dich nicht?« –, die in der geistlosen, quasi himmlischen Wonne schwelgten, die auf der KombiMontan-Station Morn Hyland und Nick Succorso zueinandergetrieben haben musste. Mit solchem Schund und Kitsch lullte man die Menschenmassen ein – bis zu einem der seltenen Anlässe, bei denen sie plötzlich aufwachten und merkten, was ringsum tatsächlich an Problematischem geschah, es missverstanden und den Politikern, die sie normalerweise führten, die dümmste sämtlicher möglichen Lösungen aufzwangen. Dafür war der sogenannte Aufstand der Menschheit ein eklatantes Beispiel. Während der übrigen Zeit erfüllte die Art und Weise, wie man die Welt auf den Mattscheiben darstellte, ihren Zweck wirksam genug. Aber Holt gewann dem Fernsehen überhaupt nichts ab.

Zum x-ten Mal fragte er sich, was es wohl seiner Mutter bedeuten mochte. Ersah sie daraus etwas, das ihm entging? Hoffte sie einfach auf die Meldung, ihn hätte irgendeine Katastrophe ereilt? Oder war sie dazu imstande, aus all dem Rummel geheime Erkenntnisse zu beziehen? Irgendwelche Einsichten, die er trotz seiner umfangreichen Hilfsmittel nicht erlangte?

Diese Fragen verliehen den Besuchen bei seiner Mutter einen ganz besonders pikanten Reiz.

Was könnte ihm je entgangen sein? Offenbar wenig, denn er hatte seine Befähigung unter Beweis gestellt, sogar aus Zeiten zu profitieren – und zwar in enormem Maßstab –, in denen die Milliardenmassen der Menschheit über die Stränge schlugen und ihre Führer mit unvernünftigen Forderungen bedrängten. Noch heute musste er lachen, wenn er an den Aufstand der Menschheit dachte. Man stelle sich einmal vor – der Bedrohung durch die Amnion entgegentreten zu sollen, ohne ihren Kenntnissen gleichwertiges genetisches Fachwissen zu haben! Und doch hatte der bei den Menschen stattgefundene Ausbruch des Widerwillens gegen genetische Experimente letzten Endes die Intertech ihm in die Hände gespielt. Die Übernahme der Intertech wiederum hatte ihm den Weg zum ersten Kontakt mit den Amnion geebnet; und infolgedessen war er wie durch unausweichliche Logik in seine gegenwärtige Position als Schicksalslenker des ganzen Menschengeschlechts aufgestiegen.

Falls irgendjemand im Laufe der Menschheitsgeschichte von sich behaupten konnte, kaum eine Gelegenheit verpasst zu haben, dann war Holt Fasner diese Person. Dennoch ließ er die Frage offen, ob er etwas übersah, und seine Mutter am Leben, um von vornherein dagegen vorzubeugen, dass er irgendwann doch etwas versäumte.

Im Alter von einhundertundfünfzig Jahren lebte er in beinahe prächtiger Verfassung, war er unter rein physischen Gesichtspunkten sozusagen noch in mittleren Jahren. Doch seine Wangen hatten eine etwas zu dunkle Rötung. Ein wenig zu oft musste er zwinkern, um einen Schleier von seinen Augen zu vertreiben. Ab und zu konnte er nicht verhindern, dass seine Hände zitterten; dann und wann hatte er Ärger mit der Prostata. Seine Ärzte hatten ihm von jeder Form anstrengender Belastung abgeraten, weil sie nicht wussten, wie lange das Gewebe seines Herzens noch intakt blieb. Deshalb war es jetzt wichtiger als je zuvor, keine Fehler zu begehen.

»Mütterchen, ich brauche deinen Rat«, fügte er in der gleichen nichtssagenden Herzlichkeit wie vorher hinzu, als hätte sie sich nicht geweigert, seine Höflichkeitsfloskeln zu beachten, sondern ihm die Antworten erteilt, die er sich am meisten wünschte. »In den vergangenen Tagen hatte ich ein paar beunruhigende Unterredungen mit Godsen Frik. Du erinnerst dich doch an ihn, oder?«

Holt wusste ganz genau, dass seine Mutter nie etwas vergaß. »Als Direktor des Ressorts Öffentlichkeitsarbeit der VMKP ist er Warden Dios' Untergebener. Aus irgendeinem Grund …« – Holz entblößte die Zähne zu einem Verkäuferlächeln – »meint er, er dürfte über Dios' Kopf hinweg handeln, wenn ihm seine Politik oder seine Entscheidungen missfallen. Seitens eines Untergebenen ist das ein geradezu verwerfliches Betragen, findest du nicht? Dios würde es keinesfalls dulden, wüsste er nicht, dass Godsen Frik mein besonderer Schützling ist. Zur rechten Zeit, in ungefähr zehn Jahren, wird Frik soweit sein, glaube ich, zum Dienst an der gesamten Menschheit überzugehen, indem er im EKRK die Präsidentschaft übernimmt. Aber die Situation ist problematisch, nicht wahr? Erstens für Warden Dios als Godsen Friks Chef. Zweitens für mich als Dios' Mentor, Freund und Förderer. Schließlich möchte ich ja, dass er bei seiner Arbeit zufrieden ist.« Bei derartigen Phrasen kitzelte ihn boshafte Belustigung. »Von ihm hängt die Sicherheit des ganzen Human-Kosmos ab.«

Dass es sich tatsächlich so verhielt, bezweifelte niemand. Außer der VMKP gab keine Macht, die stark genug gewesen wäre, um den Bestrebungen der Amnion einen Riegel vorzuschieben. Und deswegen war auch Holts einmalige Position von der VMKP abhängig. Wäre diese einzigartige Polizeitruppe nicht durch ihn organisiert worden, hätte das EKRK sein Wirtschaftsimperium längst entflechten können.

Indem er aufmerksam lauschte, den hartnäckigen Lärmpegel der TV-Apparate zu überhören versuchte, unterschied er Nornas nahezu unhörbare, mit blutleeren Lippen und zahnlosem Gaumen hervorgenuschelte Frage.

»Wie ist die Lage?«

Ach, Mütterchen, du lebst für mich, nicht wahr? Du willst es nicht, aber du tust es trotzdem.

Unverwandt lächelte Holt.

»Warden Dios hat beschlossen, dass es an der Zeit ist, gegen die übelste dieser Schwarzwerften einzuschreiten, die durch die Beihilfe, die sie den Illegalen leisten, und das, was sie ›Verwertung von Diebesgut‹ nennen, dem Bannkosmos zuarbeiten. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen dadurch reich werden möchten, dass sie unsere Feinde begünstigen und unterstützen. Die Amnion wollen unsere Ressourcen, unsere Rohstoffe, unsere Technik, unsere Gene. Und die Piraten verkaufen sie ihnen.« Holt spitzte den Mund.

»Aber ohne Schwarzwerften, die Raumschiffe bauen und reparieren, und ohne Händler, die mit den Amnion Geschäfte machen, wäre Piraterie unmöglich. Dios würde sie gerne allesamt unschädlich machen. Die Frage ist: Wie? Die Schwarzwerft, auf die er es besonders abgesehen hat, befindet sich innerhalb des Bannkosmos. Erlaubt er sich eine offene feindselige Handlung gegen die Amnion, ist er seinen Posten los. Also hat er eine verdeckte Aktion geplant. Erinnerst du dich noch an diese Affäre auf der KombiMontan-Station vor … ähm … einem halben Jahr? Als alles darauf hinwies, dass der Stationssicherheitsdienst mit einem Piraten geklüngelt hat, um einen anderen Piraten zu leimen?« Selbstverständlich entsann sich Norna. »An diesen Fall, durch dessen Publikwerden dann die Abstimmung zugunsten des Autorisierungsgesetzes ausgefallen ist?«

Holt hatte mit aller Raffinesse taktiert, um die Verabschiedung des Autorisierungsgesetzes sicherzustellen. Es verlieh der VMKP überall die Oberhoheit über die lokalen Sicherheitsdienste und vervollständigte das VMKP-Sicherheitsmonopol, indem es die einzige Alternative zu Holts Konzernpolizei neutralisierte.

»Der Illegale, der dort hereingelegt worden ist, heißt Angus Thermopyle. Er ist einer der schmierigsten Typen, den du dir überhaupt nur denken kannst, Mütterchen. Dios hat ihn unter Berufung auf das Autorisierungsgesetz uns überstellen lassen. Inzwischen ist Thermopyle einer Unifikation unterzogen und mit einer geeigneten Programmierung ausgestattet worden, und er wird gegen die Schwarzwerft in den Einsatz geschickt. Heute, glaube ich.«

Tatsächlich in genau diesem Moment.

»Die ganze Angelegenheit ist äußerst kompliziert. Bitte sag's mir, wenn ich dich langweile, Mütterchen. Ich hatte eindeutig den Eindruck, dass Warden Dios sich am liebsten geweigert hätte, als ich ihm die Anweisung gab, das Ding in der KombiMontan-Station zu drehen. Unser guter Warden ist immer noch viel zu sehr Idealist. Mit der praktischen Seite der Politik hat er bloß ungern zu schaffen. Sogar davon, wir dürften ›nicht auf das Niveau unserer Gegner absinken‹, habe ich ihn schon schwafeln hören. Aber er hat meine Weisung befolgt, weil er auf diesem Weg etwas kriegen konnte, das er haben wollte, nämlich diesen Angus Thermopyle. Soweit ich feststellen kann, war er an sich gar nicht an mehr Einfluss interessiert … Ich wüsste gerne …« – diesen Satz fügte Holt hinzu, als sänne er lediglich laut vor sich hin, doch behielt er seine Mutter genau im Augenmerk –, »wie stark ich ihn hätte drängen müssen, um ihn zur Ausführung meiner Order zu bringen, hätte er es nicht auf Thermopyle abgesehen gehabt.«

Falls Norna etwas antwortete, hörte Holt es nicht.

»Aber Warden Dios hat meine Anweisung befolgt, und darauf kommt es an«, konstatierte Holt. »Er richtet sich nach meinem Willen. In den nächsten Tagen dürften sich am Rand des Bannkosmos einige bemerkenswerte Entwicklungen ergeben.«

Diesmal murmelte Norna etwas. »Was schert das Godsen Frik?« So ähnlich klang es.

»Eine gute Frage«, rief ihr Sohn leutselig. »Wie üblich kommst du gleich zum Kern der Sache, Mütterchen. Was geht es einen dezidierten Diener der Allgemeinheit wie Godsen Frik an? Nun ja, natürlich wäre es uns unmöglich geblieben, Angus Thermopyle über den Tisch zu ziehen, hätte nicht beim Stationssicherheitsdienst jemand für uns das Erforderliche erledigt. Freilich hätte es …« – bei der Auswahl seiner Adjektive war Holt stets sehr umsichtig – »peinliche Konsequenzen, käme dieser Umstand durch irgendwelche vor Ort durchgeführte Nachforschungen ans Licht. Das Autorisierungsgesetz ist aufgrund der Annahme verabschiedet worden, dass den lokalen Sicherheitsdiensten nicht getraut werden kann … Weil auf der KombiMontan-Station ein Verräter für den Bannkosmos gearbeitet hat. Sollte aufgedeckt werden, dass dieser Verräter in Wirklichkeit für uns tätig gewesen ist … Na, die Stimmen der Weltraumstationen könnte ich wahrscheinlich bei der Stange halten, aber der Rest des Konzils würde wohl absolut empört reagieren. Um diese Eventualität zu verhüten, hat Warden Dios zusammen mit Angus Thermopyle auch den Verräter überstellen lassen, einen kleinen, sadistischen Bürokraten namens Milos Taverner. So weit, so gut. Aber nun kommt das Detail, durch das sich Godsen Frik so gestört fühlt. Angus Thermopyle ist jetzt ein Cyborg, von Kopf bis Fuß von der Programmierung abhängig. Ohne Einverständnis seines Data-Nukleus kann er sich nicht einmal die Zähne putzen. Dennoch ist eine übergeordnete Kontrolle unumgänglich, eine Person, die unter unvorhergesehenen Umständen seine Programmierung adjustieren kann. Ferner braucht er mindestens ein Crewmitglied für das Raumschiff. Und darüber hinaus muss er eine Erklärung dafür präsent haben, wieso er frei, wie er aus dem Knast entwischt ist und woher er das Raumschiff hat.«

Um des Betonungseffekts willen schwieg Holt einen Moment lang. »Dios hat Thermopyle also Milos Taverner mitgeschickt«, ergänzte er dann seine Darlegungen.

Stumm mahlte Norna mit den Kiefern. Statt Worten kam nur Speichel zwischen ihren Lippen hervor. Ihr Blick ruckte über ihre sämtlichen TV-Apparate, ohne ein einziges Mal ihren Sohn zu streifen.

»Habe ich dir alles klar genug erläutert, Mütterchen?«, erkundigte Holt sich im Tonfall fröhlicher Erpichtheit. »Dass Milos Taverner eine Verräterseele ist, wissen wir, er hat ja für uns Verrat an der KombiMontan-Station verübt. Warden Dios vertritt die Auffassung, dass er uns nicht hintergehen wird, weil wir ihn an der Kandare haben.« Auch das war eine Redewendung, die Holt besondere Genugtuung hervorrief. »Plaudert er irgendetwas aus, das wir geheim zu halten wünschen, oder stellt etwas an, das wir vermeiden möchten, ist das sein Ende. Godsen Frik betrachtete dagegen die Sache aus anderer Perspektive. Er hat gewissermaßen eine ›allgemeinere‹ Sichtweise. Sollten diese Aktivitäten jemals öffentlich bekannt werden, argumentiert er, was müsste die ›Bevölkerung‹, was müsste die ›breite Masse schlichter Normalbürger‹« – derlei Ausdrücke kamen mit beinahe gehässiger Erheiterung aus Holts Mund – »davon denken, dass wir unter dem Befehl einer durchschauten Verräterseele einen derartigen Mörder und Vergewaltiger in einen solchen Einsatz schicken? Wie können die EKRK-Parlamentarier zu Dios' Ansicht stehen, dass Milos Taverner uns nicht im Stich lässt? Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit denn eigentlich, dass er uns nicht in den Rücken fällt? Wahrscheinlich kann er ein Vermögen in astronomischer Höhe einheimsen, nur indem er verkauft, was er an Informationen über uns weiß. Ganz zu schweigen von Angus Thermopyle …« Streng genommen, konnte Taverner allerdings Thermopyle selbst nicht verkaufen; die Programmierung, die Angus Thermopyles Treue zur VMKP garantierte, ließ sich nicht umschreiben.

»Unser Godsen Frik kennt seine Pflichten. Es ist seine Aufgabe, in so einer Situation in Hysterie zu geraten und Schaum vorm Maul zu haben. Und es ist seine Aufgabe, sich an mich zu wenden. Aber in diesem Fall habe ich ihm nicht recht geben können. Ich will nicht, dass er seine Position vergisst. Ich möchte nicht, dass er sich einbildet, er könnte mir erzählen, was ich zu tun und zu lassen habe. Und ebenso wenig ist mir daran gelegen, Warden Dios' Position zu schwächen.« Am wenigsten bei einem wie diesem Vorgang, der nur geringe Risiken mit sich brachte, hingegen letzten Endes immensen Nutzen versprach: einen dramatischen Sieg über den Bannkosmos und die Raumpiraterie, ein wunderbares Ergebnis zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit und des Ansehens der VMKP. Und sollte Milos Taverner wirklich aus der Reihe tanzen, konnte Dios jederzeit Nick Succorso befehlen, ihn zu liquidieren. »Er hat nun einmal ein herausragendes Talent für diese Art von heiklen Operationen. Und er ist der tüchtigste VMKP-Polizeipräsident, den ich mir überhaupt wünschen kann. Möglicherweise ist er der einzige Mensch, der mir einmal gefährlich werden könnte … Hätte ich ihn nicht vollkommen in der Hand.«

In der Tat hätte Holt in Dios einen Grund zur Beunruhigung gesehen, wäre es ihm nicht gelungen, Dios in eine Art von völlig unwiderruflicher Komplizenschaft einzubeziehen, indem er ihn zur Einwilligung in die Geheimhaltung des Intertech-Immunitätsserums überredet hatte.

Aus Nornas Körperhülse flüsterte kaum vernehmlich ihre Stimme. »Du hast trotzdem Sorgen.«

»Wie recht zu hast, Mütterchen«, gestand Holt. »Ich mache mir trotzdem Sorgen. Egal wie vorsichtig Warden Dios ist, er geht ein Risiko ein, und du weißt, dass mir Risiken zuwider sind. Deshalb habe ich die Verbreitung des Anti-Mutagen-Impfstoffs der Intertech verhindert. Er hatte zumindest theoretisch das Potenzial zur Verschiebung des Machtgleichgewichts im Human-Kosmos. Jeder wirksame Schutz gegen die Weise, wie die Amnion ihrer Umgebung Mutationen aufdrängen, könnte unter Umständen Warden Dios' Rang und die Bedeutung der gesamten VMKP unterminieren, wenn der Eindruck entsteht, sie seien nicht mehr so wichtig, nicht mehr nötig. Vielleicht wäre infolgedessen meine Position im EKRK geschwächt worden.«

Versonnen hob er die Schultern. »Oder nicht. Vielleicht wäre nichts dergleichen geschehen. Aber die Gefahr war mir zu groß. Darum habe ich es so eingerichtet, dass nur Warden Dios und Hashi Lebwohl von dem Medikament wissen, und dass ausschließlich Hashi Lebwohl es benutzen darf. Zur Absicherung der verdeckten Operationen der Abteilung Datenakquisition, verstehst du? Auf alle Fälle, jetzt trägt also Dios das Risiko dieser Aktion. Natürlich nicht ohne vorherige Absprache mit mir. Er hat dafür vollauf überzeugende Gründe angeführt.« Und wenn nur, um Angus Thermopyle eine Gelegenheit zur Eliminierung des Problems Morn Hyland zu verschaffen. Hyland war VMKP-Leutnantin und hatte ein illegales Zonenimplantat im Schädel, und vermutlich hatte sie von der Existenz des Immunitätsserums Kenntnis erhalten. Sollte sie je aus dem Bannkosmos zurückkehren und verbreiten, was sie wusste, sähen sich das Ressort Öffentlichkeitsarbeit und die ganze VMKP vor einem Desaster in Mega-Größenordnung. »Seine Maßnahme läuft auf einen sogenannten chirurgischen Schlag hinaus.« Holt fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Entfernung eines Melanoms, ehe es um sich greift. Kurzum, er ist das Risiko mit meinem Segen eingegangen. Und trotzdem kann ich die Sorge nicht überwinden. Ich befürchte, dass Warden Dios sich Schwierigkeiten einbrockt.«

Nornas Entgegnung glich kaum mehr als einem gedämpften Brummeln inmitten des wirren Gefasels und Getönes der TV-Apparate. Doch aus irgendeinem Grund verstand Holt sie so deutlich, als drängen die einzigen Laute im Raum aus ihrem Mund.

»Ich glaube, er verursacht dir Schwierigkeiten.«

Holt musste lachen. »Nun mach aber mal 'n Punkt, Mütterchen. Sei keine Schwarzmalerin. Sonst regst du dich nur unnötig auf. Wir sprechen über Warden Dios. Ich habe ihn zu dem gemacht, was er ist, nämlich meine rechte Hand. Er kann nicht einmal zum Klo gehen, ohne dass ich davon meinen Nutzen habe …«

Voraussichtlich hätte er weitergesprochen; doch seine Prahlerei verklang, als er sah, dass Norna mit knorrigem, zittrigem Finger auf einen der TV-Apparate zeigte.

Zuerst konnte er nicht feststellen, auf welchen. Meinte sie diese Filmromanze? Nein, eine Nachrichtensendung. »… eine Sondermeldung«, sagte markig irgendwo mitten in dem unerträglichen Blahblah ein Männergesicht ohne Hirn, aber in gebieterischem Ton.

Sondermeldung? Welche Sondermeldung? Im Human-Kosmos ereignete sich nichts, von dem Holt Fasner nicht davor gewusst hätte; er erlaubte nicht, dass Unvorhergesehenes geschah.

»Ein hochrangiger Informant beim Direktor des Ressorts Öffentlichkeitsarbeit der VMKP im VMKP-HQ hat die Mitteilung bestätigt, dass der Raumpirat Angus Thermopyle aus der Haft geflohen ist.«

Plötzlich rieselte ein Kribbeln an Holts fast noch kraftvollem Rückgrat hinab und zog ihm den Hodensack zusammen.

»Kapitän Thermopyle«, erklärte der Männerkopf, als wäre er mehr als lediglich Teil einer lebensechten, sprechenden Puppe, »ist ein Illegaler, der vor rund sechs Monaten auf der KombiMontan-Station festgenommen, verurteilt und später auf Anordnung des Direktors der VMKP-Abteilung Datenakquisition, Hashi Lebwohl, ans VMKP-HQ ausgeliefert worden ist. Die VMKP-Abteilung Datenakquisition hat nie Gründe für ihr Interesse an Kapitän Thermopyle verlautbaren lassen. Aber wie unser Neuigkeitenteam schon damals berichtet hat, ist Thermopyle kein gewöhnlicher Illegaler. Weithin betrachtet man die Umstände seiner Verhaftung und Verurteilung als ausschlaggebenden Faktor bei der kürzlichen Verabschiedung des sogenannten Autorisierungsgesetzes durch das Erd- und Kosmos-Regierungskonzil. Anscheinend hatte Kapitän Thermopyle durch einen Verräter im Stationssicherheitsdienst der KombiMontan-Station bei seiner Piraterie Beihilfe erhalten. Daraus resultierende Zweifel an der Verlässlichkeit der im Human-Kosmos aktiven Stationssicherheitsdienste überzeugten die Abgeordneten des EKRK von der Notwendigkeit des Autorisierungsgesetzes. Dass es Kapitän Thermopyle gelungen ist, aus dem VMKP-HQ zu entfliehen, muss als beunruhigend genug eingeschätzt werden. Aber unser Informant beim Direktor des Ressorts Öffentlichkeitsarbeit der VMKP hat eingeräumt, dass die Situation noch weit ernster ist, als sie zunächst den Eindruck erweckte. Die Problematik dreht sich um einen Mann namens Milos Taverner, bis dato Stellvertretender Leiter des Stationssicherheitsdienstes der KombiMontan-Station.«

Ach du Scheiße, dachte Holt. Die Beklommenheit breitete sich aus seinem Unterleib auf den Brustkorb aus. Seine Lungen schmerzten, als drohte er nun ernstlich zu altern.

Wie alle Plastinauten kannte auch der Männertorso der Nachrichtensendung keinerlei Rücksicht. »Weil Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter Milos Taverner auf der KombiMontan-Station die Verantwortung für die Vernehmung Kapitän Thermopyles trug, wurde er, ebenfalls auf Anordnung des Direktors der VMKP-Abteilung Datenakquisition, zusammen mit Kapitän Thermopyle ins VMKP gebracht. Damals lautete die Begründung, Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter Taverner sei von der VMKP-Abteilung Datenakquisition angefordert worden, um die Befragung Kapitän Thermopyles fortzusetzen. Angeblich sollte er über den Häftling einen einzigartigen, unermesslich wertvollen Kenntnisstand haben. Jetzt ist jedoch durch unsere Informationsquelle die Einlassung gemacht worden, dass man Stellvertretenden Sicherheitsdienstleiter Taverner nicht um seines besonderen Wissens willen ins VMKP-HQ beordert hatte, sondern wegen des Verdachts, er könnte der im Stationssicherheitsdienst der KombiMontan-Station vermutete Verräter sein. Man hatte ihn ins VMKP-HQ bestellt, um über ihn die Wahrheit herauszufinden und die Gefahr, die er verkörpert, zu beseitigen. Aus zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklaren Ursachen unterlag Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter Taverner keiner hinlänglichen Bewachung. Allem Anschein nach ist es ihm möglich gewesen, seinen früheren Komplizen Kapitän Thermopyle aus der Haft zu befreien. Gemeinsam haben die beiden rechtswidrig ein Raumschiff in ihren Besitz genommen und sind aus dem VMKP-HQ geflüchtet.

Für die Menschheit, eine Species, die schon durch die Amnion mit Ausrottung bedroht wird, hat diese offenkundige Inkompetenz der VMKP weitgehende, furchterregende Konsequenzen – eine Species, die durch nichts und niemanden als dieselben Männer und Frauen Schutz genießt, die gerade einen verurteilten Raumpiraten und seinen gefährlichsten Komplizen aus ihrem Gewahrsam haben entweichen lassen …«

Es folgte noch mehr: eine Rückblende auf Kapitän Thermopyles Festnahme und Aburteilung, ein zusammengefasster Werdegang Stellvertretenden Sicherheitsdienstleiters Taverners sowie obendrein eine tiefschürfende Analyse der Vorgänge durch eine ganze Diskussionsrunde selbsternannter Experten, im wesentlichen Genophoben, Libertarier, freiberufliche Irre und Transnationale Terratreue, Vertreter sämtlicher politischer Gruppierungen, die im EKRK weder Sitz noch Stimme hatten, aber verlangten. Doch Holt Fasner hörte längst nicht mehr zu. Er saß schon am Interkom-Apparat, ließ eine Verbindung zwischen der Konzern-Generaldirektion und dem VMKP-HQ schalten, jagte jedem Techniker und jeder Sekretärin zwischen dem Pflegezimmer seiner Mutter und Godsen Frik Furcht vor dem Drachen ein.

Währenddessen zitterten ihm unablässig die Hände.

Warden

 

In dem für seine Person bestimmten Operativen Kommandozentrum im VMKP-HQ verfolgte Warden Dios mit, wie die Posaune sich reibungslos durch den Zuständigkeitsbereich der Orbitalstation entfernte. Abgesehen von der Anwesenheit Min Donners, der Direktorin seiner Operativen Abteilung und gelegentlicher Leibwächterin, war er allein; sonst hatte er jeden hinausgeschickt, sogar die Kommunikationstechniker, deren Aufgabe es war, ihm in Sekundenschnelle Kontakt zu jeder Abteilung und jedem Einsatzort der Vereinigte-Montan-Kombinate-Polizei herzustellen. Er hatte die Tür nicht abgeschlossen, jedoch sämtliche Aufnahmegeräte, Monitore und Computerlogbücher des OKZ deaktiviert.

Alleinsein war für den VMKP-Polizeipräsidenten eine Seltenheit. Noch seltener fand er Stille. In Min Donners Gegenwart glich die Situation keinem Alleinsein; doch zumindest redete sie nur, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte.

Bis jetzt verlief der Abflug der Posaune ohne Komplikationen. Das Raumschiff hatte keine Flugzielmeldung gemacht und war auch gar nicht danach gefragt worden; doch das Radarecho auf den Sichtschirmen bewies, dass es genau der festgelegten Trajektorie folgte; es blieb mit der richtigen Geschwindigkeit auf Kurs, reagierte präzise auf die Datenübermittlungen und Vorgaben der zur Navigationsunterstützung positionierten Signalbaken, wie sie nicht nur im Umkreis des VMKP-HQ, sondern überall im Sonnensystem den starken Raumflugverkehr regelten.

Hatte Warden Dios etwas anderes erwartet? Eigentlich nicht. An Bord der Posaune flogen nur zwei Menschen, und weder bei Angus Thermopyle noch bei Milos Taverner war es wahrscheinlich, dass sie so bald zu improvisieren anfingen. Hashi Lebwohl hatte Thermopyle einer so vollkommenen Unifikation unterzogen, wie er sie zustandebrachte, und Lebwohl galt als Cybernetikgenie. Insofern musste man es als nahezu undenkbar einstufen, dass Thermopyle von seiner Programmierung abwich. Und auf jeden Fall hatte Milos Taverner ihn unter Kontrolle.

Und zu welchen Handlungen Taverners ungewisse Treue ihn auch verleiten mochten, er nahm sich gewiss nichts heraus, was Aufmerksamkeit oder bloß Zweifel erregen könnte, solange er sich noch so nahe der Erde und des VMKP-HQ aufhielt. Dafür war er zu gründlich vorbereitet und zu wirksam eingeschüchtert worden. Zudem hatte Warden Dios hinter ihm alle Brücken abgebrochen. Die Verlautbarung, die ein Untergebener Godsen Friks aus dem Ressort Öffentlichkeitsarbeit der Allgemeinheit hatte zukommen lassen, zwang Taverner zur Kooperation. Auf lange Sicht mochte der ehemalige Stellvertretende Leiter des Sicherheitsdienstes der KombiMontan-Station allerlei Mätzchen wagen; aber hier traute er sich bestimmt nichts anzustellen.

An sich hatte der VMKP-Polizeipräsident keinen Grund, um noch in seinem Operativen Kommandozentrum herumzusitzen. Er hätte sich schon längst anderen Pflichten widmen können. Aber er schätzte zu sehr die Stille und das fast völlige Alleinsein. Allein mit Min Donner blieb er in der Abgeschiedenheit seines OKZ und sah zu, wie die Posaune – und mit ihr ein Teil seines Schicksals – aus seinem Einflussbereich entschwand.

Nach seiner Überzeugung stand die Existenz der gesamten Menschheit auf dem Spiel. Andernfalls hätte er sich zu dem, was er tat, nicht durchzuringen vermocht.

Warden Dios war ein starker Mann; er hatte einen breiten Brustkorb und kraftvolle Arme. Die Umrisse seines Gesichts und Kinns wirkten so hart, als wären sie aus Metall gegossen. Und dank seiner über die Augenprothese geklebten Augenklappe sowie der Hakennase wirkte er um so energischer. Manchmal brauchte er allerdings mehr als Kraft, um die Belastung seiner verborgenen Absichten zu ertragen. Er musste sich die Folgen eines eventuellen Scheiterns verdeutlichen.

Sollte er scheitern, wäre Holt Fasners Sieg das Ergebnis.

Warden Dios war zu weitgehend daran beteiligt gewesen, dem Drachen zu seiner heutigen Macht zu verhelfen; nachdem er mittlerweile endlich die Gefährlichkeit dessen einsah, was er und Holt gemeinschaftlich betrieben hatten, konnte er unmöglich die Verantwortung einfach von sich weisen.

Für einen Augenblick verschwamm das Radarecho des abgeflogenen Raumschiffs, als eine neue Signalbake die Funksteuerung übernahm. In einer Stunde sollte die Posaune die planmäßige Position für den Übergang ins Hyperspatium erreichen; die Koordinaten lagen erheblich näher an der Erde, als man sie anderen Raumschiffen gestattete, aber innerhalb der zur Nutzung durch die VMKP reservierten Prioritätszone. Danach war die Posaune fort; und Warden Dios musste mit den Konsequenzen seines Tuns leben.

Min Donner verlagerte geringfügig ihr Körpergewicht; ihre Finger strichen über den Griff der Schusswaffe, die sie stets mitführte. Warden mutmaßte, dass sie die Impacter-Pistole auch ins Bett mitnahm. »Glauben Sie wirklich«, fragte sie leise, ohne den Blick von den Sichtschirmen zu heben, »dass die Sache gutgeht?«

Warden schaute sie an. Nie milderte sich der strenge Ausdruck ihres Munds; ihr pechschwarzes Haar wies, seit sie Wardens wertvollste Mitarbeiterin geworden war, genau dieselben grauen Strähnen auf. Sie hatte einen ausreichend hitzigen Blick, um Männern mit weniger eisenhartem Charakter – oder weniger Narbengewebe auf der Seele – das Gemüt zu versengen.

Auf sonderbar unpersönliche Weise liebte er sie. Auf persönlichere Weise respektierte er sie für ihre moralische Klarheit, die Treue zu ihren Untergebenen in der Operativen Abteilung; wegen ihrer Hingabe ans Gesetz und an die Macht, die die unvollkommene Integrität des Human-Kosmos gewährleisteten. Vor Jahren hatten diese Eigenschaften ihm das Herz zum Schwellen gebracht. Jetzt gaben sie ihm Anlass zu Kummer.

Infolge seiner traurigen Stimmung war er weniger zurückhaltend, als er es sein sollte. »Ich glaube, wenn nicht«, antwortete er, »zwingt der Drache mich zum Seppuku.«

Nun drehte sie ihm ruckartig das Gesicht zu. Ihr Blick schien sich in seine Augen zu brennen, in das natürliche Auge ebenso wie in die artifizielle Prothese. Ihr ganzer Körper lohte von Infrarotemissionen. »Warum tun Sie's dann?«

»Min …« Es stand außer Frage: er hätte stärker auf der Hut sein müssen. Diese Blöße hätte er sich nicht geben dürfen. Sie lebte schon gefährlich genug, nur weil sie Direktorin der Operativen Abteilung war – und ein durch und durch ehrlicher Mensch. »Welche Alternativen hätte ich denn nach Ihrer Ansicht?«

»Sie könnten mich hinschicken«, gab sie ohne Zögern mit gepresster Stimme zur Antwort. »Oder mich ein Team zusammenstellen lassen. Statt einen Cyborg und einen Verräter zu schicken und obendrein Morn Hyland zu opfern« – Min gehörte nicht zu den Frauen, die es davor grauste, Unangenehmes auszusprechen –, »hätten Sie jemanden Vertrauenswürdigen für den Versuch einsetzen sollen, beides durchzuführen, Kassafort zu eliminieren und Morn Hyland zu retten.«

Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es ist selbstmörderischer Wahnsinn, zu dulden, dass sie sich dort herumtreibt«, fügte sie sofort hinzu. »Sie könnte den Amnion in die Hände fallen. Und sie hat es nicht verdient, dass man sie im Stich lässt. Sie hat's nicht verdient, einfach gleichzeitig mit der Vernichtung der Schwarzwerft aus ihrem Elend erlöst zu werden. Wenn Sie der Ansicht sind, dass Taverner und Thermopyle ungeeignete Leute sind, um sie zu retten« – Mins Tonfall ätzte wie Säure, ihr Körper hatte die Farbe von Mineralsäure angenommen – »wenn Sie es als zu schwierig ansehen, den beiden ihre Befreiung zuzumuten, versuchen Sie's anders. Lassen Sie mich ein Team zusammenstellen. Oder schicken Sie mich.«

Plötzlich verstummte sie. Dios sah die Verkrampfungen längs ihrer Kiefer, während sie sich weitere Äußerungen, die zu machen sie die Versuchung verspürte, verbissen verkniff.

»Ich verzichte auf diese Optionen«, log Warden, indem er seinen Gram verheimlichte, »weil Leutnantin Hyland für uns keine Bedeutung mehr hat. Ob Sie das verstehen oder nicht, ist mir einerlei. Und es ist mir gleich, wie schmerzlich es ist, sie zu opfern. Jetzt zählen nur noch Thermopyle und Taverner. Alles hängt von ihnen ab. Wäre ich zu unnötigen Risiken bereit gewesen – zum Beispiel, indem ich ihren Auftrag durch den Befehl erschwert hätte, zusätzlich Morn Hyland herauszuhauen –, könnten sie genauso gut hier geblieben sein.«

Und falls sie scheitern, ist das unser Untergang.

Offenbar war Min sich darüber im Klaren, dass sie ihr Unbehagen nicht vor ihm verbergen konnte. Trotzdem wandte sie ihr Gesicht ab, damit er ihre Augen nicht sah, nicht ihre Miene.

Min, vertraust du mir noch?, hätte Warden sie am liebsten gefragt. Wirst du zu mir stehen? Doch er wusste, sie würde ihm allemal die Wahrheit sagen – aus Gründen, die keineswegs mit seiner Befähigung zusammenhingen, Lügen zu durchschauen –, also ließ er sie ihre Antworten für sich behalten. Dazu hatte sie ein Recht. Anstatt überflüssige Fragen zu stellen, tat er nun seinen nächsten Schritt auf dem Weg der Schuldhaftigkeit und Aufopferung, für den er sich entschieden hatte.

»Ich möchte, dass Sie etwas für mich erledigen«, sagte er. »Selbst kann ich es nicht tun, aber es muss geschehen.«

Sie wartete ab, ohne sich zu regen.

Warden unterdrückte ein Seufzen. »Haben wir im Regierungskonzil irgendwelche Befürworter? Ich meine solche, die gleichzeitig Gegner der VMK sind? Ich müsste darüber Bescheid wissen, aber es fällt mir fürchterlich schwer, mich mit politischem Kleinkram zu beschäftigen.«

Er sah ihr, während sie nachdachte, ihre Verwunderung an. »Sprechen Sie von einer Fraktion?«, erkundigte sie sich einen Moment später. »Oder von Einzelstimmen?«

»Von Individuen. Konzilsmitgliedern.«

Min atmete in einer Art aus, dass es nach einem gedämpften Schnauben klang. »Kapitän Vertigus«, meinte sie, indem sie sich Dios wieder zukehrte.

Warden Dios hob die Brauen, um den Eindruck zu vermitteln, er sei überrascht. Kapitän Sixten Vertigus, Ex-Kommandant des Intertech-Forschungsschiffs Komet, war der erste Mensch gewesen, der einen Amnioni gesehen hatte.

»Er muss inzwischen neunzig sein«, begründete Min ihren Vorschlag, »aber er ist wenigstens noch dazu imstande, Zivilcourage zu zeigen, während das übrige Konzil sich aufs Nörgeln beschränkt. Jedenfalls ist er aufgrund seines Alters Ehrenvorsitzender des Vereinten Westlichen Blocks, hat allerdings keine wirkliche Macht. Den Nachrichtensendungen zufolge hält er regelmäßig Reden, in denen er den Drachen kritisiert und seine ›Gier nach der VMK-Allmacht‹ angreift. Andererseits stimmt er jedes Mal für uns, wenn von uns betreffende Beschlüsse gefällt werden. Wozu brauchen Sie ihn?«

Warden Dios verharrte vollständig reglos an seinem Platz, um der OA-Direktorin zu verhehlen, welche erstrangige Wichtigkeit er der Sache beimaß. »Ich wünsche, dass Sie mit ihm sprechen«, antwortete er im gleichmäßigen Tonfall normaler Konversation. »Ich will, dass Sie ihn von der Notwendigkeit überzeugen, im EKRK ein Gesetz durchzubringen, das uns von den VMK abtrennt. Wir müssen eine eigenständige, ausschließlich dem Regierungskonzil verantwortliche Polizeitruppe werden. Wir müssen die Polizei der ganzen Menschheit sein, nicht bloß die private Söldnerorganisation des Drachen. Und ich lege darauf Wert, dass er die Angelegenheit sofort anpackt.«

Die Farben, die aus Min Donners Gesicht strahlten, verrieten Warden, dass sie schon lange darauf gewartet hatte, ihn so etwas sagen zu hören.

»Bereiten Sie sich gründlich vor«, ordnete er an. »Erklären Sie ihm mit allem Nachdruck, auf was es ankommt. Bewegen Sie ihn dazu, sein gesamtes persönliches Prestige und all seine Erfahrung aufzubieten, sich mit voller Leidenschaft dafür einzusetzen.«

Dass Sixten Vertigus ein Mann mit beachtlicher Leidenschaftlichkeit war, wusste Warden. Andernfalls hätte Vertigus nicht gegen Holt Fasners explizite Anweisung verstoßen, mit den Amnion in keinen persönlichen Kontakt zu treten.

»Und verhindern Sie, dass er sich mit Einzelheiten aufhält. Schreiben Sie ihm die Gesetzesvorlage auf, wenn's sein muss. Am wichtigsten wird ihm wohl die Frage sein – und an der Beantwortung dürften alle Konzilsmitglieder Interesse haben –, wer uns finanzieren soll. Welche Finanzquellen die Funktion der VMK-Fonds übernehmen können. Die Antwortet lautet: Jede Firma, die irgendwie Geschäfte im Weltall macht, ist dafür zu besteuern. Der Großteil des Budgets wird dann nach wie vor von der VMK stammen. Aber wir werden dadurch eine von der Industrie unabhängige Polizeitruppe, ein selbstständiger Bestandteil des Staatsapparats, statt bloß Handlanger der VMK zu sein. Dann können wir endlich so tätig werden, wie Polizei arbeiten soll. Ich möchte, dass die Eingabe dem EKRK innerhalb von achtundvierzig Stunden vorliegt.«

Bevor Holt Fasner erfährt, was auf Thanatos Minor abläuft.

Min Donners Augen leuchteten genauso wie ihre Aura. Sie drehte sich ihm direkt zu. »Das lässt der Drache Ihnen nicht durchgehen«, sagte sie leise. »Er hat genug Stimmvieh im Regierungskonzil sitzen, um es zu vereiteln. Und wenn er rauskriegt, was Sie vorhaben, stuft er es als Verrat ein. Er ist unzweifelhaft Ihr Boss. Als VMK-Generaldirektor verfügt er sowohl über die Vollmacht wie auch genügend persönlichen Einfluss, um Sie zu feuern.«

Bedächtig lächelte der VMKP-Polizeipräsident. »Genau darum ist der Vorgang absolut vertraulich zu behandeln. Sollte Godsen Frik oder bloß Hashi Lebwohl etwas erfahren, falls irgendwer außer Ihnen, mir und Kapitän Vertigus auch nur im geringsten davon Wind bekommt, ist alles verloren.« Vielleicht sind nicht allein wir verloren, sondern ist es die Menschheit insgesamt. »Vor allem berücksichtigen Sie, dass es ganz wesentlich ist, mich aus der Sache rauszuhalten. Nicht einmal Kapitän Vertigus darf wissen, dass die Idee auf mich zurückgeht. Was ihn betrifft, soll er glauben, das Gesetz sei Ihr Einfall. Ich will, dass er sich dafür engagiert, weil er von der Richtigkeit überzeugt ist, und nicht, weil er glaubt, ich versuche Holt Fasner eins auszuwischen.«

Min Donner nickte knapp. »Chef …«, fing sie an. »Warden …« Doch sie musste einen Moment lang überlegen, ehe sie die passenden Worte fand. »Ich mag Sie gar nicht fragen, was das mit Thermopyles und Taverners Aktion gegen Kassafort zu schaffen hat. Aber ich bitte Sie inständig, auf sich achtzugeben. Ein so gefährliches Spiel kann Sie das Leben kosten.«

»Min, Min …« Warden spreizte die Hände zu einer Geste humoriger Ratlosigkeit. »Er gilt nur als Drache. Er ist kein Gott.«

Seine Erwiderung heiterte Min nicht auf. »Ja, aber Sie sind auch keiner. Ich wette, sogar Sie bluten, wenn er Ihnen den Kopf abreißt. Ich würde wetten, dass …«

Wahrscheinlich hätte sie noch so manches mehr von sich gegeben; jetzt sprach aus ihr all ihre Vehemenz, für die sie nur wenig Ventile hatte. Doch ein schüchternes Klopfen an die Tür des OKZ unterbrach sie.

Ohne dass der Polizeipräsident die Erlaubnis zum Eintreten erteilt hätte, rollte die Tür beiseite. Vorsichtig steckte eine bleiche und mehr als nur ein wenig verängstigte OKZ-Kommunikationstechnikerin den Kopf herein.

»Polizeipräsident?«

Benehmen Sie sich nicht so schafsköpfig, hätte Warden sie aus spontaner Verärgerung am liebsten angeschnauzt. Wann habe ich das letzte Mal eine Kommunikationstechnikerin umgebracht – oder lediglich degradiert, oder gerügt –, nur weil sie ihre Arbeit getan hat?

Aber er beherrschte sich. So etwas wäre riskant gewesen, weil symptomatisch für eine innere Anspannung, die durchblicken zu lassen er sich nicht leisten konnte. Er lächelte, um seinen Missmut zu übertünchen, und wartete auf das Anliegen der Technikerin.

»Es geht um den RÖA-Direktor«, erklärte sie leicht täppisch. »Godsen Frik. Er versucht Sie zu kontaktieren. Es sei dringend, sagt er. Ich kann ihn mit Ihrem Interkom-Anschluss verbinden.« Sie nickte in die Richtung des Apparats, der vor Warden auf der Konsole stand.

Trotz des Brennens der Beunruhigung in seinen Adern zwang Warden sich zu fortgesetztem Lächeln. »Danke, Technikerin.« Sich in so einem Moment damit abzuplagen, sich an den Namen der Frau zu erinnern, hatte er wahrhaftig keine Lust. »Bitte geben Sie Direktor Frik durch, dass er mich gerade verpasst hat.« Die Technikerin zögerte. »Das ist alles«, stellte Dios klar.

Das Gesicht der Frau verschwand, und die Tür glitt zu.

Min Donner bewahrte Schweigen. Es bedeutete eine Erleichterung für Warden Dios. Möglicherweise war seine Liebe zu ihr doch nicht so unpersönlicher Natur. Oder vielleicht war er ihr nur dafür dankbar, dass sie ihm noch immer tief genug vertraute, um ihn auf das eigene Verderben hinarbeiten zu lassen, ohne ihn mit Fragen zu nerven.

Sie hätte ihre Fragen aussprechen dürfen. Das Recht dazu hatte sie. Immerhin war sie seine wertvollste Mitarbeiterin, seine beharrlichste Anhängerin; ab und zu seine Leibwächterin und bisweilen nach seinem Willen Henkerin. Wenn er nicht größte Vorsicht walten ließ – und wenn sie nicht alles, was er ihr zumutete, haargenau so ausführte, wie er es verlangte –, musste sie nahezu mit Gewissheit sein künftiges Schicksal teilen, mochte es einen guten oder verhängnisvollen Verlauf nehmen.

Das war einer der Gründe für seine Bekümmertheit.

Einer von vielen Gründen.

Milos

 

Milos juckte die Kopfhaut. Ihm juckte sogar der ganze Körper. Milos war schmutzig, viel zu schmutzig. Dermaßen viel Schmiere an den Händen und auf der Bordmontur, soviel Öl im Gesicht und derartig viel alten, verkrusteten Schweiß am Unterleib zu haben, war ihm höchst zuwider. Schon als Kind hatte er es aus Reinlichkeit vermieden, in einen solchen Zustand abzusinken. Er fühlte sich, als wäre er über und über mit Exkrementen besudelt.

Das löste bei ihm mehr Zorn aus, als er je im Leben empfunden hatte.

Natürlich trug er an alldem keinerlei Schuld. War er zur Scheißpolente der Vereinigten Montan-Kombinate nicht ehrlich gewesen? Etwa nicht? Doch, er war es gewesen. Er verhielt sich zu jedem ehrlich, der ihn bezahlte. Nicht einmal der Sicherheitsdienst der KombiMontan-Station hatte, obwohl man die Sache dort womöglich anders sah, irgendeinen rechtmäßigen Anlass, um über ihn zu klagen.

Sicher, er hatte Stationsvorräte zweckentfremdet, um Succorso dabei zu helfen, Thermopyle eine Falle zu stellen – nicht auf Anweisung seiner Vorgesetzten in der KombiMontan-Station, sondern auf Wunsch Hashi Lebwohls –, aber dieser kleine Trick hatte sich bestens bewährt. Und sobald Thermopyle eingesperrt gewesen war, hatte Milos alles unternommen, was ein Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter nur leisten konnte, um ihn auszuquetschen. Wenn die Ergebnisse den Stationssicherheitsdienst nicht befriedigten, sollten sie das nicht ihm, Milos, zum Vorwurf machen, sondern Thermopyle.

Milos Taverner blieb immer ehrlich. Er tat etwas für das Geld, das er erhielt.

Außer wenn ihm der Boden unter den Füßen zu heiß wurde. Dann sorgte er sich um die eigene Sicherheit und ließ die Leute, die ihn bezahlten, ihren Kram selbst erledigen. Aber das konnte ihn unmöglich jemand verübeln. Das war nichts anderes als eine verzeihliche menschliche Schwäche. Der Drang zum Überleben war so notwendig – und so unvermeidbar – wie das Bedürfnis des Essens und Trinkens.

Was Hashi Lebwohl und Warden Dios – ausgerechnet Dios! – ihm jetzt abverlangten, war nicht im geringsten gerechtfertigt.

Sie schickten ihn in der gemeinsten Art und Weise aufs Glatteis.

Und sie hatten weniger Grund zur Klage über ihn als die KombiMontan-Station. Im Dilemma zwischen Lebwohls Wille, Thermopyles Schweigen sicherzustellen, und der Anordnung der KombiMontan-Station, ihn zum Reden zu bringen, hatte er den ersteren zu Lasten des zweiteren Wunschs erfüllt. Die Tatsache, dass Thermopyle zu verstockt gewesen war, um sich zu Aussagen nötigen zu lassen, blieb ohne Belang. Milos hatte der Abteilung Datenakquisition die erbetene Gefälligkeit erwiesen. Weder Lebwohl noch Dios hatten irgendeinen Vorwand zur Kritik an dem ihnen erbrachten Resultat.

Trotzdem saß er jetzt hier: auf dem Posten des Ersten Offiziers der Posaune, war zumindest nominell verantwortlich für Kommunikation, Scanning sowie Daten- und Schadensanalyse; sah er sich kurz davor, mit demselben ekligen Illegalen in die Tach zu wechseln, den er geleimt hatte; drohten ihm Unheil und Tod im Bannkosmos. Und in diese Lage war er nicht nur zwangsweise von eben den Leuten gebracht worden, deren Wünsche er erfüllt hatte; überdies war es auf eine ganz dreckige Tour geschehen.

Um als Crewmitglied Kapitän Thermopyles, den man auf Thanatos Minor kannte, glaubhaft zu sein, hatte man ihm erklärt. Scheiße. Er kannte den wahren Grund, und er hing nicht mit Glaubwürdigkeit zusammen. Er hatte etwas mit Macht und Unterwerfung zu tun.

Milos Taverner konnte sich nicht an eine Zeit seines Lebens erinnern, in der er in dieser Hinsicht Missverständnissen erlegen wäre.

Seit seiner Kindheit in einer der heruntergekommeneren und verseuchteren Städte der Erde war er sich immer dessen bewusst gewesen, dass die einzige hilfreiche Methode, um sich gegen eine etwaige Schädigung durch eine Gossengang zu schützen, daraus bestand, ihr Informationen über die Pläne und Umtriebe einer anderen Gaunerbande zu liefern; dass man Sicherheit am besten mit den Geheimnissen anderer Leute erkaufte. Wenn man bei einer Gossengang als wichtige Informationsquelle galt, genoss man ihren Schutz.

Aber naturgemäß war das eine nur zeitweilige Abhilfe. Irgendwann kam die andere Gossengang dahinter, was man tat, und rückte dem Informanten auf die Pelle. Dann wurde die Situation zu bedrohlich, um das Überleben zu garantieren. Das alleinige wirklich effektive Verfahren, um eine heile Haut zu behalten, war also, beiden Seiten Informationen zu geben; sich bei beiden Gossengangs – oder bei dreien oder vieren, so vielen eben, wie es in der Stadt gab – einen wichtigen Part zu verschaffen; möglichst viel Einfluss darauf zu nehmen, was die Banden wussten, um den Umfang der eigenen, komplizierten Verpflichtungen zu kaschieren.

Doch nicht einmal das reichte gänzlich aus. Gossengangs schützen ihre Informanten – damals nannte man Jungs wie Milos ›Späher‹ –, aber respektierten sie nicht. Die Schweinehunde schikanierten und drangsalierten ihre Späher, wann sie gerade dazu Lust hatten. Ähnlich wie die VMKP unterzogen sie ihre Spitzel demütigenden und gefährlichen Treueprüfungen.

Es ging um Machtausübung und Unterwerfung.

Als Milos Taverner zehn Jahre alt gewesen war, hatte er auch damit zurechtzukommen gelernt.

Erstaunlicherweise war es ziemlich leicht. Ein, zwei Wörtchen ins richtige Ohr geflüstert – nicht zu häufig, nicht zu offensichtlich –, und einzelne Sausäcke, die Milos malträtiert oder getriezt hatten, wurden plattgemacht. Es mochte sein, dass Gossengangs für ihre Späher keinen Respekt erübrigten; allerdings hatten sie zu spürbare Nachteile, wenn sie duldeten, dass Außenstehende ihre Informanten belästigten.

Alles was Milos als Existenzbedingung brauchte, die eine, absolut unverzichtbare Grundvoraussetzung, um den Kopf aus der Schlinge zu halten, war folgendes: niemand durfte erfahren, dass er für beide Seiten spionierte.

Infolgedessen irrten sich der mächtige Warden Dios und sein teurer Hashi Lebwohl – ganz zu schweigen von der scheinheiligen Min Donner – in Bezug auf Milos. Sie ahnten nicht, welche unschönen Konsequenzen ihr unfreundliches Verhalten haben sollte.

Sie bildeten sich ein, sie müssten nur ihre Macht ausspielen und ihn mit der Nase in den Dreck stoßen, ihm ein Gefühl der Unterlegenheit und Elendigkeit einflößen, und schon hätten sie ihn so tief erniedrigt, dass er sich willig den Kopf in die Schlinge stecken ließ.

Milos bezweifelte keinen Augenblick lang, dass er in ernster Gefahr schwebte. Falls Lebwohls und Dios' Pläne aufgingen, war schließlich auf Thanatos Minor, wenn ihr Lieblingscyborg sein Programm in die Tat umsetzte, kaum mit Überlebenden zu rechnen. Und dass Milos zu ihnen zählte, war wenig wahrscheinlich; ihm fehlten, um am Leben zu bleiben, Thermopyles verbesserte Befähigungen.

Selbstverständlich bauten Lebwohl und Dios auf genau diesen Umstand. Wenn jemand mit der Posaune zum VMKP-HQ zurückkehrte, dann sollte es der Cyborg sein, in den sie soviel Geld investiert hatten, nicht der vergleichsweise kostengünstige Mensch Milos Taverner.

Aber sie hätten klüger sein müssen.

Sie hätten ihm nicht die Kommandocodes zur Steuerung Thermopyles verraten dürfen. Hätte man ihm nicht die Möglichkeit eingeräumt, Angus Thermopyles vorprogrammierte Zwänge umzuändern, stünde ihm nur eine Option offen, könnte er seinen Zorn nur auf eine Weise ablassen. So jedoch hatte er mehrere Alternativen.

Eine davon war, die Bitterkeit über seine Erniedrigung wenigstens zum Teil an Thermopyle abzureagieren.

Allerdings nicht hier; nicht in der Nähe des VMKP-HQ; nicht solange die Polente beobachten konnten, was an Bord der Posaune geschah. Milos war eine Zeitlang zu warten bereit. Mindestens bis das Raumschiff vom Typ Interspatium-Scout – über das Milos sehr wenig wusste, das Thermopyle hingegen in- und auswendig kannte – in die Tard zurückgefallen war, das Hyperspatium durchquert hatte.

Also ließ er sich durch die derben Schmähungen, mit denen Thermopyle ihn beinahe ununterbrochen überhäufte, nicht provozieren. Zudem wusste er, dass die Beleidigungen auf nicht mehr als hilfloses Schäumen und Geifern hinausliefen; sie waren kaum etwas anderes als ein fast nebensächlicher Ausfluss der Bosheit, die fortwährend in Thermopyle kochte. Thermopyle schenkte seinem Begleiter keine wirkliche Beachtung. Alle wichtigen Aspekte seines cyborgisierten Geists konzentrierten sich auf sein neues Raumschiff; aufs Erfühlen der in seine Hand gegebenen Energie; auf die Kenntnisnahme selbst jeder noch so geringfügigen Information, die seine Datenspeicher über es enthielten. Und darauf, sich auszumalen, was er mit dem Raumschiff leisten konnte.

Nein, auf mehr als bloßes Ausmalen: er ertastete das Leistungsvermögen, fühlte sich mit Leib und Seele hinein. Milos hatte schon genug Bösartigkeit in Thermopyles Augen gesehen, um sich sein Lebtag lang davor zu gruseln. Er hatte den Eindruck, dass nur er, er allein – jedenfalls nicht Hashi Lebwohl oder Warden Dios –, das volle Ausmaß der Gehässigkeit einzuschätzen verstand, die in Thermopyle siedete und brodelte. Er durchschaute, wie Angus Thermopyle innerlich von Hass strotzte. Aber noch nie hatte er etwas gesehen wie den Ausdruck zutiefst ruchloser Freude, der im Gesicht des Cyborgs glänzte, während er sich mit der Posaune vertraut machte. Beim Betätigen der Kontrollen und Betrachten der Sichtschirme wirkte Thermopyle, als hätte er einen Orgasmus.

Scheiße. Scheiße noch mal.

Sobald die Posaune das Hyperspatium verlassen hatte, gedachte Milos seine Macht über den vermeintlichen ›Kapitän‹ unverzüglich und mit aller Härte zu nutzen. Fast so sehr, wie er zu überleben wünschte, wollte er diesen Ausdruck abstoßender Ekstase von Thermopyles Visage fegen.

Aber nicht jetzt; noch nicht. Statt sich durch Thermopyles Häme zur Unbesonnenheit verführen zu lassen, befasste er sich mit der eigenen Kontrollkonsole, orientierte sich daran so rasch, wie seine kurze, hauptsächlich theoretische Unterweisung in den Funktionen dieses Raumschiffs es ihm in der Praxis erlaubte.

Mit der Schadensanalyse hatte er keine Probleme; die meisten Bordsysteme arbeiteten automatisch und gaben laufend Meldung. Die Datenverarbeitung unterschied sich kaum von der Computertätigkeit, die er als Stellvertretender Leiter des Stationssicherheitsdienstes der KombiMontan-Station jahrelang ausgeübt hatte. Und aus naheliegenden Gründen, über die er jedoch immer Verschwiegenheit gewahrt hatte, wusste er längst alles über Kommunikation, was er darüber je an Wissen brauchte. Eine andere Sache war allerdings das Scanning. Er hatte noch nie mit Dopplersensoren oder Partikelanalysatoren gearbeitet, ebenso wenig mit … Was war das für ein Ding? Ein Dimensionalstress-Indikatiometer? Er verstand die Informationen, die sie bereitstellten, nur auf die oberflächlichste Weise.

Aber keine seiner ›Aufgaben‹ hatte irgendeinen Einfluss auf das eigentliche Fliegen des Raumschiffs. Das war ein zweites Problem. Kommandoposition, Steuerung, Bordwaffen, Antrieb, auch Lebenserhaltungssysteme und allgemeine Wartung: alle befanden sich unter Angus Thermopyles Kontrolle. Theoretisch wie praktisch hing Milos' Überleben von seiner Fähigkeit ab, Angus Thermopyle unter seine Gewalt zu zwingen.

»Sind Sie fertig?«, fragte Thermopyle. Seine Stimme klang so unbekümmert destruktiv wie das Mahlen einer Erzmühle. »In ein paar Minuten sind wir in der beschissenen privaten Tach-Übersprungszone der Astro-Schnäpper. Ich will nicht, dass Sie in die Hose machen, wenn wir in die Tach wechseln. So ein Gestank ist mir verhasst. Es stinkt schon schlimm genug, bloß weil Sie an Bord sind.«

»Na und?«, erwiderte Milos halblaut, ohne die Aufmerksamkeit von seinen Anzeigen zu wenden. »Sie hassen alles und jeden.« Er verabscheute und fürchtete schon die bloße Tonlage von Thermopyles Stimme; doch es hatte grundsätzliche Bedeutung, dem Halunken klarzumachen, dass er ihn, Milos, nicht einschüchtern konnte. »Gestank ändert überhaupt nichts.«

Angus prustete. »Das sagen Sie. Dann haben Sie wohl sich selbst noch nie gerochen. Sie wissen nicht soviel über Scheiße wie ich weiß.«

Milos sparte sich den Aufwand einer Entgegnung. Er war unter Gossengangs aufgewachsen. Und auf der KombiMontan-Station hatte er Monate damit zugebracht, Angus Thermopyle zu verhören. Mit der ganzen Scheiße menschlicher Schlechtigkeit hatte er mittlerweile genug Erfahrungen fürs Leben gesammelt.

Die Anzeigen der Steuerung verwiesen ihn darauf, dass nur noch dreiundfünfzig Sekunden Flug die Posaune von der für die VMKP reservierten Tach-Übersprungszone trennten. In anderthalb Minuten sollte das Raumschiff ins Hyperspatium wegtauchen.

Und damit verließen sie den Human-Kosmos. Beide.

Vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

Wenn die Hyperspatium-Durchquerung hinter ihnen lag, sollte Angus Thermopyle merken, wie viel Ahnung Milos Taverner von Scheiße und vom Durchkommen hatte.

»So, gleich gibt's was auf die Eier«, rief Thermopyle achtzig Sekunden später, krähte fast. »Sind wir erst mal durch, wird alles anders. Ihr Mieslinge habt mich das letzte Mal übers Ohr gehauen.«

Milos wusste, dass das nicht stimmte. Im Rahmen eines durchsichtigen Versuchs, ihn aufzumuntern, hatte Hashi Lebwohl ihm gestattet, sich an Monitoren der VMKP-Abteilung Datenakquisition eine gewisse Anzahl der mit Thermopyle vorgenommenen Tests anzuschauen. Und er hatte etliche Testergebnisse lesen können. Alles hatte unbestreitbar verdeutlicht, dass Thermopyle der Unifikation mit vollständiger Gründlichkeit und Genauigkeit unterzogen worden war; dass er niemals gegen seine Programmierung handeln konnte. Trotz seiner sämtlichen verbesserten Fähigkeiten war er das hilfloseste Lebewesen des Human-Kosmos.

Dennoch breitete Milos, ohne darüber nachzudenken, sogar ohne sich dessen bewusst zu sein, die Hand über den Unterleib, als die Posaune in die Tach hinüberwechselte.

Ergänzende Dokumentation

 

KASSAFORT

 

Selbst während die Vereinigte-Montan-Kombinate-Polizei auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, gelang es einer Reihe illegaler Raumwerften bzw. Schwarzwerften, im Human-Kosmos und an seinen Grenzen in Betrieb zu bleiben und gelegentlich sogar zu gedeihen.

Ihre Existenz hatte eine ganz einfache Ursache. Der Bannkosmos hatte gewaltiges Verlangen nach denselben Rohstoffen, die die Erde selbst in Riesenmengen benötigte, und gleichzeitig nach den technischen Massenprodukten, auf deren Fabrikation die Menschheit sich so glänzend verstand; der legale Handel, durch die Vereinigten-Montan-Kombinate sowohl ermöglicht wie auch eingeschränkt, konnte diese enormen Anforderungen nicht erfüllen. Um ihren Bedarf trotzdem zu decken, waren die Amnion für das, was sie haben wollten, bestens zu zahlen bereit, ohne nach dem Ursprung der Güter zu fragen. Diese Einstellung behielten sie bei, obwohl sie mit der Menschheit Verträge abgeschlossen hatten, die ausdrücklich jeden Schwarzhandel verboten. Dadurch entwickelten sich Piraterie und Schwarzhandel zu einem blühenden Gewerbe. Für etwas Mühe verhießen sie höheren Gewinn als ehrliche Prospektoren- oder Schürftätigkeit.

Dass damit große Risiken einhergingen, unberechenbare Faktoren das Leben erschwerten, waren Nachteile, die noch nie in der Geschichte der Menschheit Kriminelle abgeschreckt hatten. Doch dass man zur Piraterie schnelle, hochgradig leistungstüchtige Raumschiffe brauchte, wäre eine höchst ungünstige Bedingung gewesen, hätten keine Schwarzwerften existiert. Raumschiffe ließen sich erheblich schwieriger als ihre Fracht entwenden. Kaperte man sie auf der Reede, drohte den neuen Besitzern die Gefahr, dass ihnen die Flucht misslang. Und griff man sie irgendwo mitten im Weltall an, trug das Raumschiff meistens zu starke Schäden davon, um noch weiter von Nutzen zu sein.

Das Entstehen der Schwarzwerften beruhte auf der schlichten Logik der menschlichen Dieberei. Profitsucht und Gewinnstreben waren der Motor, der die Erde und ihre weithin im All verstreuten Raumstationen antrieb. Verspürten Menschen mit skrupellosen Gemütern diese Habgier, befriedigten sie sie mit illegalen Mitteln. Die Gesetzmäßigkeit von Nachfrage und Angebot bewog viele von ihnen zwar nicht zur direkten Piraterie, aber zu Unterstützungsdiensten für die Raumpiraten.