Chaosherz - Teresa Sporrer - E-Book

Chaosherz E-Book

Teresa Sporrer

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Beschreibung

Wenn das Chaos sich einen Weg in dein Herz sucht … Nach den Turbulenzen der letzten Monate ist das Glück für May nur von kurzer Dauer. Als Junghexe wird sie nicht nur immer stärker in die chaotische Welt der ägyptischen Götter hineingezogen, jetzt scheint auch noch Noah, der Junge, in den sie hoffnungslos verliebt ist, May nicht mehr zu mögen. Vom Liebeskummer überwältigt, beginnt ihre Magie sich zu verselbstständigen und durch ihre Nähe geraten Mays Mitschüler mehr und mehr außer Kontrolle. Und plötzlich herrscht das pure Chaos an ihrer Highschool …

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chaosherz

DIE CHAOS-REIHE BAND 2

TERSEA SPORRER

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat & Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan R. Bellem

Umschlagdesign und Farbschnitt: Marie Graßhoff

Bildmaterial Cover und Innenlayout Print: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-458-1

Alle Rechte vorbehalten

inhalt

Pantheon der Mistkerle

1. Heiße Enttäuschung mit einem Schuss Himbeersirup

2. Wie? Menschenopfer zählen nicht als nahrhafte Abendmahlzeit?

3. Who you gonna call? Würden die Ghostbuster Noah jagen?

4. Ein bisschen Chaos hat noch keinem geschadet

5. Wolkig mit Aussicht auf Zerstörung

6. Die Nacht der lebenden Puppen

7. Er kann froh sein, dass er ein guter Küsser ist, sonst wäre er nur noch ein Häufchen Asche

8. Diese Schule hat ein Problem – mich

9. You better work, witch

10. I put a spell on you – und jetzt bist du mein Idiot

11. Gibt’s bei der Familientherapie eigentlich Mengenrabatt?

12. Seine Sorgen kann man auch in Kakao ertränken – aber nur wenn es Zuckerstreusel gibt

13. Noah setzt Kuscheln ein – es ist sehr effektiv!

14. Die Rache von Kurt, dem Kuscheligen

15. Tote Jungs gehen nicht shoppen

16. Ich habe Mummy-Issues

17. Man nennt eine Frau nicht einfach grässlich

18. Warum legen es Eltern immer darauf an, ihr Kind zu traumatisieren?

19. Safer Hexe

20. Die Tür nach Narni- ah, Gerümpel

21. Ich will, dass wir die Addams Family werden

22. Für nur 25 Dollar pro Stunde kannst auch du deine Zukunft erfahren

23. Ein Kapitel über Lollis in unpassender Form

24. Sag dreimal seinen Namen und erscheint auf dem Klo: Noah. Noah. Noah!

25. Wie schon Buffy sagte: Die Highschool ist das Tor zur Hölle

26. Montage gehören mit sofortiger Wirkung abgeschafft

27. We witch you a Merry Christmas!

28. Eine schöne Bescherung – muss ich ein Sarkasmus-Schild hochhalten?

29. New Year, new Chaos

30. Once you go witch you never switch

31. Meine Kristallkugel sagt, dass das Kleid scheiße aussieht

32. Das ist schlechter als Bildungsfernsehen

33. Toss a piece of birthday cake to your witch

34. Ich will May-Partys

35. Schon wieder ein letztes Kapitel …

Die Legende von Mayhem – sicherlich nicht bald im Kino

Mays Grimoire

Drachenpost

Du musst Chaos in dir tragen,

um einen tanzenden Stern zu gebären.

FRIEDRICH NIETZSCHE

pantheon der mistkerle

PROLOG

Welche Göttersagen sind euch bekannt? Die Legenden der griechischen Mythologie? Die Geschichte von den Göttern, die ihre eigenen Eltern, die Titanen, schlimm bestraft haben? Von Zeus, dem Göttervater, der Herr über Blitz und Donner, der mit seinen zahlreichen Affären heutzutage wohl einen Youtube-Channel für Alpha-Males führen würde? Oder liegt euch die nordische Mythologie mit Thor und Loki näher? Ich meine: Natürlich, zwei objektiv betrachtet attraktive Menschen spielen einen Donner- und einen Chaosgott – Wie soll man das nicht interessant finden?

Natürlich.

Diese Erzählungen kennt durch zahlreiche Anspielungen in der Popkultur jeder. Jeder weiß, dass Poseidon ein Wassergott der griechischen Mythologie war oder dass Odin der Göttervater der nordischen Erzählungen ist, dass Aphrodite bildhübsch und Freya sehr mütterlich waren.

Und ein paar Leute haben sicher schon mal gelesen, dass Loki ein Pferd gevögelt hat. Ich meine: Zeus ist auch nicht besser, auch wenn er derjenige in Tierform war.

Doch zurück zum eigentlichen Thema!

Die rund tausendfünfhundert Götter des ägyptischen Pantheons bleiben dabei meist auf der Strecke. Dabei ging es bei ihnen ebenfalls hauptsächlich um Mord, Sex und Macht.

Beispielsweise um einen Gott, der seinen Bruder tötete, um auf den Thron von Ägypten zu kommen. Um Göttergeschwister, die ein Verhältnis miteinander hatten und deren Sohn zu einem totalen Arschloch wurde. Hey, das Ganze könnte fast millionenschwer von einem Filmstudio verfilmt werden!

Auf was ich eigentlich hinauswill, ist Folgendes: Das ist meine Familie. Zumindest ein Teil meiner Familie, die unbeliebte väterliche Seite, wenn man das so sagen will.

Wer ich überhaupt bin?

Mein Name ist May Setek – oder sollte ich mich mit meinem vollen Namen Mayhem vorstellen?

Ich bin siebzehn Jahre alt, bin eine Senior in der Highschool und ebenfalls eine Hexe von Geburt an.

Und ja, ich bin die Tochter des ägyptischen Chaosgottes Seth. Dem viel gefürchteten Brudermörder, der Osiris auf dem Gewissen hat und der danach einen langen Krieg mit dessen Sohn Horus führte.

Ich erzähle das nicht, weil ich etwa stolz auf die Grausamkeiten meines Vaters bin, sondern weil ich mich so allmählich mit dem Gedanken anfreunde, dass er vielleicht gar nicht sooo böse ist, wie ich anfangs vermutet hatte.

Erst jetzt kann ich so richtig begreifen, dass das Chaos in seiner Natur liegt – so wie bei mir. Man kann sich nicht gegen diese Urkraft stellen.

Natürlich war meine anfängliche Skepsis Seth gegenüber nicht ganz unbegründet. Die gruseligen Sachen mit seinem Bruder und seinem Neffen habe ich ja bereits erwähnt – und auch ich habe mit meinem Vater das eine oder andere Hühnchen zu rupfen.

Er hat sich bei mir, seiner eigenen Tochter, erst vor wenigen Wochen das erste Mal blicken lassen – erst als ich anfing, selbst göttliche Chaoskräfte zu entwickeln.

Siebzehn verdammt lange Jahre habe ich meinen Vater nicht gekannt, und dann stellte sich auch noch heraus, dass er der böse Onkel der ägyptischen Götterwelt ist. Das muss man erst mal verdauen.

Lange Zeit war ich mir sicher gewesen, dass er nichts für mich empfand, bis ich durch die seltsame Blutsverbindung seine Vaterliebe mit eigenen Augen sehen durfte.

Mein Vater ist noch stolzer auf mich, seit er weiß, dass ich ein ähnliches Ziel wie er verfolge: Ich will meinen Cousin Horus tot sehen.

Mir reicht es nicht, dass er mit den anderen Göttern im unruhigen Halbschlaf liegt, ich will, dass er endlich gerupft wird.

Wegen Horus mussten bereits drei Unschuldige sterben: Da war zum einen meine mir fremde Tante Charity, die sich schon lange vor der Geburt meiner Mutter von unserer Familie losgesagt hatte, weil Horus sie manipuliert hatte. Diese Manipulation führte dazu, dass sie meinen Mitschüler Noah tötete.

Streng genommen hatte sie sich nicht selbst die Finger schmutzig gemacht, sondern meinen Schützling, den Vampir Eric, für ihre Machenschaften benutzt – nur um auch ihn für ihr grausames Ritual zu töten.

Zu guter Letzt stand auch ich auf ihrer Liste, damit sie Horus und seinen Eltern Isis und Osiris einen Weg in unsere Welt ebnen konnte.

Ich war sogar ein paar Sekunden tot, bis mich meine göttlichen Selbstheilungskräfte wieder ins Leben zurückholten.

Wie zu erwarten, wurde Charity dann von meinem Vater Seth, der all das mit ansehen musste, getötet.

Es ist Zeit, Horus ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Okay. Können wir auch noch kurz über Noah reden, ja? Ich weiß, dass das jetzt nicht ultrawichtig für die Story ist, aber tun wir mal so, als wären meine Herzsachen ähnlich bedeutend wie die ägyptischen Götter.

Nach seinem Tod war Noah nicht ins Jenseits gegangen, sondern als Geist in unserer Welt geblieben. Da ich sehr dumm bin, habe ich mich dann trotz allem in ihn verliebt.

Tragisch, ja.

Bis ich bei Charitys Ritual ihn und nicht die Götter zurück in einen menschlichen Körper geholt habe.

Super, oder?

Falsch!

Seither verhält sich Noah mir gegenüber seltsam abweisend: Er redet kaum noch mit mir, sieht mich kaum noch an und verbringt natürlich auch keine Minute mit mir.

Noah lebt wieder, doch die Zuneigung, die er für mich einmal empfunden hat, starb wohl mit Charity und Eric an jenem Tag …

KAPITEL1

heiße enttäuschung mit einem schuss himbeersirup

Der Gott des Chaos wollte sich in einem Eiscafé mit mir treffen.

Ich hatte seinen Wunsch mit einem lockeren Schulterzucken hingenommen. Wenn er meinte …

Heute war Sonntag, und meine beste Freundin Viv war mit ihren Schwestern zuerst außerhalb der Stadt in einem Bistro frühstücken und dann in der Mall schlendern. Da ich keine Morgenhexe war, wurde ich aus reiner Rücksicht nicht mehr eingeladen.

Da ich also nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, erreichte ich, wenn auch mit zwanzig Minuten Verspätung, das besagte Gebäude inmitten der Stadt. Ich sprang vom Rad, schob es zum spärlich gefüllten Fahrradständer und schloss es mit einer Kette ab, als wäre ich ein gewöhnlicher Mensch. Im Sommer reihte sich hier ein Fahrrad an das andere, aber jetzt war bereits Anfang Dezember. So langsam wurde es auch in unserer beschaulichen Stadt im Bundesstaat Maryland ziemlich kalt: Heute herrschten kühle 10 Grad Celsius, die mir eigentlich meinen schwarz-weiß gestreiften Cardigan aufgezwungen hätten, hätte meine Mutter aus Frust nicht den Trockner kaputt geprügelt. Mein Hoodie lag so zusammengeknüllt in meinem Rucksack, dass ich meinen halben Hausstand auf die Straße leeren würde, hätte ich ihn jetzt herausgezogen.

Ich zog meine Kopfhörer aus den Ohren, dann rieb ich mir mit meinen Händen über die nackten Arme und sofort wurde mir kuschelig warm. Zum Glück konnte ich mich mit der Macht des Feuers wärmen. Schon toll, wenn man alle Elemente unterjochen konnte, weil man eine Chaoshexe war.

Als ich den Laden betrat, ertönte nur ein leises Klingeln –trotzdem richteten sich alle Augenpaare sofort auf mich. Es waren kaum Leute im Lokal: eine gestresste Mutter mit ihren drei Kindern, vier Mädchen mit Instrumentenkoffern, die fast größer waren als sie selbst, und ein ach so cooler Typ mit Hipster-Brille und MacBook, der wohl sehr darunter litt, dass es hier keinen Starbucks gab. Zum Glück wandten sich alle schnell wieder ab.

Es war mir unangenehm, wenn mich Leute länger ansahen, denn bald fielen ihnen meine ungewöhnlich hellgrauen Augen auf. Eine Augenfarbe, die kein Mensch hatte – auch kein Übernatürlicher. Manchmal wechselten die Augen sogar die Schattierung und dann waren die Iriden so dunkelgrau wie Gewitterwolken.

Ich nahm an einem Tisch in der Ecke des Cafés Platz. Damit saß ich so weit entfernt von den anderen Gästen wie nur möglich. Während ich auf Seth wartete, fiel mir auf, dass die Mutter immer wieder zu mir herblickte. Mir entging nicht die Abfälligkeit, die dabei in ihren Augen lag – und ich konnte mir schon denken, woran das lag.

Ich seufzte schwer und versteckte mich hinter meinem langen schwarzen Haar.

Meine ganze Familie – inklusive mir – war in der Stadt als Hexenring verschrien. Zugegebenermaßen stimmte die Annahme, denn wir waren wirklich Hexen: Meine Mom legte Tarotkarten und meine Gran pendelte, nur meine Tante Harmony arbeitete im städtischen Krankenhaus als Ärztin. Doch auch wenn uns die ganze Stadt für Verrückte hielt, musste man zugeben, dass meine Gran und meine Mom gar nicht mal so selten Kundschaft hatten. Wenn es um den Verdacht der Untreue ging, rannten viele Menschen zu meiner Mom. Meine Großmutter war mehr die Spezialistin für Wasser- und Energielinien und lag nur selten falsch. Sie schwindelte nur ab und an, weil eine hundertprozentige Trefferquote zu auffällig wäre.

Ich schenkte der Frau einen finsteren Blick und sie wandte sich ertappt ab. Nachdem ich zehn Minuten lang abwechselnd auf meine schwarz-rot karierten Fingernägel – das Werk meiner besten Freundin Vivienne und ihrer lebenden Voodoo-Puppen – und mein Handydisplay geblickt hatte, kam endlich die Bedienung zu mir.

Viel Begeisterung konnte mir das jedoch nicht entlocken: Vor mir stand Lyndsay Brooks, eine Cheerleaderin aus meiner Schule und somit neben Horus einer meiner Todfeinde. Es war nicht so, dass alle Cheerleaderinnen an meiner Schule Zicken waren, doch Lyndsay zählte zu genau der Truppe, die Larissa nach ihrem freiwilligen Rückzug aus dem Sportteam hänselte.

Lyndsay rümpfte ihre Nase und strich sich ein paar schwarze Strähnen aus dem Gesicht.

»Hi«, murmelte sie und fummelte an ihrer Kellnerinnenschürze herum.

»Wenn du die Nase noch höher in die Luft reckst, brichst du dir einen Halswirbel.«

»Was?«

Ich lächelte falsch. »Ach, ich hab nur so vor mich hin gemurmelt.«

Lyndsay konterte gleich mit einem verbalen Gegenschlag: »Und du bist allein hier, oder?« Sie beugte sich etwas zu mir herunter. »Ich will dich jetzt nicht erschrecken, aber ist das eine Schwarze Witwe hinter dir?«

Ich verstand diese böse Anspielung sofort.

In der Schule hielt sich seit Monaten das hartnäckige Gerücht, dass sich Noah umgebracht hatte, nachdem er mit mir geschlafen hatte. Die Wahrheit war, dass Noah und ich uns zwar geküsst hatten, sonst jedoch nichts zwischen uns passiert war – außer dass er eben gestorben war. Ermordet durch den Einfluss meiner Tante auf den Vampir Eric.

Nun lebte er wieder, und meiner Meinung nach sollten all die blöden Behauptungen sofort verstummen.

Nur blöd, dass ich das nicht sagen konnte, ohne die ganzen übernatürlichen Wesen zu outen – inklusive meiner Wenigkeit.

»Also ich sehe da keine Spinne«, ertönte eine dunkle Stimme hinter Lyndsay. »Und sie ist mit mir hier.«

Ab und zu war ich froh, wenn mein Dad auftauchte – und das hier war gerade einer dieser seltenen Augenblicke.

Lyndsay drehte sich zu meinem Vater um, und sofort war ihre Arroganz wie weggewischt. Vor ihm wurde sie regelrecht zu einem hirnlosen, sabbernden Teenager. »Ähm … Hi … Also, äh, was willst du denn trinken?«

Als sie kicherte, verdrehte ich die Augen. Mein Dad hatte eine unglaubliche Wirkung auf Frauen und Männer – was mich natürlich gewaltig nervte. Es war so eklig, mit anzusehen, wie fast die gesamte Weltbevölkerung meinem jahrtausendealten Vater nachsabberte.

»Hast du schon etwas bestellt, Mayhem?«

Seth beachtete Lyndsay nicht weiter. Er ging an ihr vorbei und setzte sich mir gegenüber hin.

»Ich glaube, ich hätte gern einen Früchteeisbecher.«

Es war Dezember und es war kalt, aber wir waren in einem Eiscafé und ich mochte Eis.

Dad sah nicht einmal zu Lyndsay, während er seine Bestellung aufgab. »Und ich nehme einen einfachen Kaffee.«

»Okay.«

Ich wusste, dass mich Lyndsay böse anstarrte, jedoch blickte ich demonstrativ nicht in ihre Richtung. Sie konnte ja nicht ahnen, dass der gut aussehende junge Typ – er wirkte zumindest gerade wie Mitte zwanzig – mein Vater war.

Nur wenn man ihn länger betrachtete, merkte man, dass er fast ein bisschen zu perfekt war. Perfekte Haut, perfekte Zähne, perfekte Haare. Ein perfekter Körper. Alterslos. Unsterblich.

Ich hatte von diesem Perfektsein nicht viel abgekriegt: Ich war ziemlich mager, hatte gerade wieder Probleme mit Haarbruch und bekam immer gigantische Pickel, wenn ich zu viel Schokolade aß.

Das einzig Göttliche an mir – das Einzige, worin ich meinem Vater ähnelte – waren die Augen. Man sagte ja, die Augen seien die Fenster zur Seele. Nun, meine Augen zeigten, dass ich das personifizierte Chaos war. Sie waren regengrau und wurden je nach Stimmung dunkler.

»Wie geht es dir, meine Kleine?«, fragte Seth und lächelte leicht. Er zog den schwarzen Mantel aus. Darunter trug er ein rotes Hemd. Ich hatte erst vor Kurzem gelernt, dass Rot seine Farbe war. Rot war nicht nur das Blut, das im Kampf verschüttet wurde, sondern auch die Wüste, Symbol von Oberägypten – ein Reich also, das lange Zeit nur Seth gehört hatte. Streng genommen war ich sogar Prinzessin Mayhem von Oberägypten. O ihr Götter, ich hatte echt was gelernt!

»Mir geht’s ganz gut«, antwortete ich ausweichend.

Was sollte ich ihm denn auch erzählen? Meinen Herzschmerz wegen Noah? Wohl kaum … Was verstand Seth schon von Liebe? Seine erste Ehe war arrangiert und meine Mom lediglich eine seiner vielen Geliebten gewesen. Mein Gehirn streikte, wenn ich nur daran dachte, wie viele Liebhaberinnen er in den letzten Jahrtausenden gehabt haben musste, wenn er beispielsweise nur einmal in einem Jahrzehnt Lust auf ein Date hatte.

Ich hingegen machte gerade meinen ersten ernsthaften Liebeskummer durch. Ich mochte Noah nach wie vor, er schien mich aber kaum noch wahrzunehmen. Auch wenn ihm nichts mehr an mir lag, so empfand ich doch noch so viel für ihn.

Noah sah wahnsinnig gut aus, war witzig und verständnisvoll. Zugegeben: Sein Musikgeschmack war ausbaufähig, und manchmal war er echt nervig, allerdings: Wer war schon perfekt? Er wäre echt so ein toller fester Freund gewesen …

»Ich habe gelesen, dass das heißt, dass gar nichts in Ordnung ist«, durchbrach Seth jäh meine abstrusen Träumereien.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du hast was wo gelesen?«

Dad trug eine Collegetasche bei sich. Er legte sie auf den Tisch und kramte darin herum, bis er eine Zeitschrift mit einem grinsenden Paar und einem Baby auf dem Cover herauszog. »Teenager, besonders im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren«, las er, »reden oft nicht mit ihren Eltern über ihre Probleme. Sie vertrauen sich dann lieber ihrem Freundeskreis an. Diese Verschlossenheit hat nichts mit Ihrer Kompetenz als Elternteil zu tun, sondern ist ein ganz gewöhnlicher Prozess des Erwachsenwerdens.« Er sah von der Zeitschrift auf. »Was hast du für Probleme?«

Ich stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. Hielt er sich jetzt für einen Experten, nur weil er irgendein billiges Magazin über Erziehung gelesen hatte?

»Wusstest du, dass Teenager angeblich am anstrengendsten überhaupt sind?«, fragte er weiter. »Ich dachte immer, Babys wären das. Wegen des Geschreis die ganze Zeit, und dann dieses aufwendige und ekelhafte Windelwechseln! Bin ich froh, dass du aus diesem Alter raus bist.«

Seth war nie ein Baby, ein Kind oder ein Teenager gewesen, stattdessen war er wie seine Geschwister und ähnlich den meisten Göttern erwachsen auf die Welt gekommen. Zudem war ich seine einzige Nachkommin in seinem mehrere Jahrtausende langen Leben. Das einzige Kind, dem Seth jemals nahe gewesen war, war Horus gewesen – und den hatte er umbringen wollen …

Bei mir hatte er sich einfach nur meine gesamte Kindheit lang kein einziges Mal blicken lassen.

»Interessant.«

Seth grinste – vor Begeisterung?! Ich seufzte. Wenn er sich schon so ins Zeug legte und die Magazine las, dann wollte ich zumindest so nett sein und ihn ein wenig in mein Gefühlsleben einbeziehen.

»Wie soll es mir denn gehen, Seth? Man wollte mich töten! – Nein, ich korrigiere: Man hat mir ein Messer ins Herz gestoßen und ich war kurz tot. Weißt du, das ist nicht gerade toll!«

Das war neben meinen Gefühlen für Noah mein zweites großes Problem: dass mein eigener Cousin mich töten wollte, und dass meine eigene Tante es sogar getan hatte, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Dabei hatte ich in meinem Leben noch nie etwas wirklich Böses verbrochen, außer man zählte die Krätze von Larissa. Die hatte sie aber echt verdient!

Seths Miene verfinsterte sich. »Das habe ich nicht vergessen, Mayhem. Deine Tante wurde dafür bestraft und Horus hat keine Macht mehr in dieser Welt. Du musst keine Angst haben.«

»Was, wenn es noch mehr Leute gibt, die mich töten wollen?« Ich beugte mich über den Tisch. »Was, wenn Charity bei den Hexen von Isis war? Oder bei denen von Nephthys?«

Bei dem Namen seiner untreuen Ex-Frau verzog Seth angewidert das Gesicht. »Die würden meinen Tod doch sehr begrüßen!«

Charity hatte in ihrem Wahn verraten, dass, wenn ich starb, die Götter aus ihrem nun schon Jahrtausende andauernden Schlaf erwachen würden. Das lag an meinem besonderen Blut: Durch meine Vampir-Hexen-Mom verfügte ich über Blutmagie, und durch meinen Dad floss göttlicher Lebenssaft in meinen Adern. Ein überaus mächtiger Magie-Cocktail, der die Regeln dieser Welt auszuhebeln vermochte.

»Charity war eine Ausgestoßene«, beruhigte mich Seth. »Isis’ und Nephthys’ Hexen würden sich nicht mit ihr abgeben.«

Das beruhigte mich nicht einmal im Geringsten.

Seth griff nach meinen Händen und drückte sie sanft, was mich zwang, zu ihm aufzusehen. »Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder irgendjemand wehtut.«

Lyndsay kam ausgerechnet jetzt mit unserer Bestellung zurück – als Seth meine Hände hielt und mich voller Vaterliebe ansah. Die Cheerleaderin wirkte zuerst total aufgebracht, bis ihr Blick auf das Elternmagazin fiel. Dort stand in Großbuchstaben: JUNGE ALLEINERZIEHENDE MÜTTER BRAUCHEN JEGLICHE UNTERSTÜTZUNG.

Da schenkte sie mir ein teuflisches Grinsen. Sofort riss ich meine Hände weg, bevor sie sich noch eine Geschichte zusammensponn.

»Dein extragroßer Früchteeisbecher. Du musst ja jetzt für zwei essen!«, flüsterte sie mir zu und stellte das Eisungetüm vor mir ab.

Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, mich angemessen über die vier Kugeln Früchteeis und das viele Obst, garniert mit Schlagsahne und Fruchtsoße, zu freuen. Im Gegenteil: Ich war so wütend, dass mir nicht mal ein dummer Spruch einfiel, den ich ihr ins Gesicht schleudern konnte, geschweige denn irgendetwas, womit ich dieses blöde Missverständnis hätte aufklären können. Als mir endlich etwas Passendes durch den Kopf schoss, war sie schon weg. Na ja, in spätestens neun Monaten würden meine Mitschüler auch schnallen, dass ich nicht schwanger war. Bis dahin würden sie alle halt wieder blöde Sprüche reißen, was ich ohnehin gewohnt war.

Seth starrte seinen Kaffee mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was ist denn?«, fragte ich ihn.

»Da schwimmt eine Kugel Eis drin.«

»Und?«

»Ich trinke stets Kaffee. Keinen Eiskaffee.«

Ich blinzelte verwirrt. »Was ist da jetzt so schlimm dran?«

»Ich bin zu alt für Veränderungen.«

»Ich bin auch eine Veränderung.«

Seth ignorierte den Einwand. »Ich mag kein Eis.«

»O ihr Götter!«, fluchte ich genervt.

Ich fischte das Vanilleeis mit meinem Löffel heraus und knallte es mir als zusätzliche Garnierung auf meinen Eisbecher.

Was Lyndsay nicht ahnen konnte, war, dass ich wirklich für zwei bestellt hatte. Ich führte den ersten Löffel an meinen Lippen vorbei in die Nähe meiner Haare. Schmatzend machte sich Kurt, ein kleiner Nilflughund und mein Hexentier, über das Vanilleeis her.

Seit ich gestorben war, ließ mich Kurt nicht mehr allein aus dem Haus gehen. Mit ihm an meiner Seite war ich ein bisschen stärker, schneller und hatte geschärfte Sinne, wenn er sich nicht selbst ins Aus katapultierte: Nach fünf Löffeln litt Kurt unter einer Gehirnfrostung, weil er sich nicht beherrschen konnte.

Ich wischte seinen Sabber mit einer Serviette weg und konnte nun endlich selbst das Eis genießen.

»Warum wolltest du mich jetzt eigentlich treffen?«, fragte ich meinen Dad. »Sagst du mir endlich, wann wir ein ordentliches Kampftraining abhalten?«

»Mayhem, du bist vor nicht einmal zwei Wochen fast gestorben. Willst du es nicht etwas langsamer angehen?«

»Ich fühle mich ausgezeichnet!«, rief ich etwas zu aufgebracht. »Ich will nicht mehr länger warten. Ich will wieder kämpfen. Ich will, nein, ich muss stärker werden!«

Ich unterlegte meinen Wunsch mit einem kleinen Erdbeben. Ich ließ den Boden nur ein bisschen wackeln. Ein paar Gläser klirrten, und die vier Mädchen im Café schrien unisono auf.

Seth war erstaunt. »Seit wann kannst du denn Erdbeben verursachen?«

»Seit Netflix wieder mal wahllos Serien absetzt!«

Seth lehnte sich zurück. »Gut, gut! Glaubst du, deine Großmutter könnte übermorgen die Theorie ausfallen lassen? Dann widmen wir uns weiter deiner kämpferischen Ausbildung.«

Ich lächelte zufrieden, selbst der Gott stimmte in mein Grinsen ein. »Und jetzt genieß dein Eis.«

Allzu viel Zeit war für das Genießen allerdings nicht drin. Drei Minuten später betraten neue Gäste den Laden. Das laute Mädchenlachen hätte ich immer und überall erkannt. »Hallo, May!«

»Viv!« Ich lächelte. »Warum bist du nicht bei deinen Schwestern? Und oh, hi, Shane.«

»Nee. Elvezia hat ein Essay für die Uni vergessen und muss das heute unbedingt fertig schreiben.«

Meine beste Freundin Vivienne und Voodoo-Priesterin in Ausbildung hatte sich bei ihrem menschlichen Freund Shane Sterling untergehakt.

Der arme Kerl wusste weder, dass sein bester Freund Noah noch lebte noch dass seine Freundin mit Voodoo-Puppen umgehen konnte.

»Hi, May«, grüßte er artig zurück und kommunizierte damit schon mal viel freundlicher als die anderen Menschen mit mir. »Also, soll ich uns einen Latte macchiato zum Mitnehmen holen?«

Viv nickte und sah, nachdem er abgezogen war, wieder zu mir herüber. »Hallo, Maaay.«

Warum grüßte mich Viv noch einmal? Und warum um alles in der Welt grinste sie so breit? Das war schon beinahe unheimlich. Dann blickte sie zu meinem Dad und checkte ihn ab. – War das möglich?! Meine beste Freundin verschlang gerade meinen Vater mit ihren Augen!

Ich war ehrlich entsetzt.

Viv, du hast einen Freund! Hier bei dir!, teilte ich ihr per Telepathie mit.

Ja? Na und? Ich darf ja wohl noch andere Kerle außer Shane heiß finden!Und dieser Kerl ist ja mal megaheiß. Da verbrennt man sich glatt die Zunge! Woher kennst du ihn? Bist du über Noah hinweg? Hast du ihn schon geküsst? Warum sagst du mir nichts? Warum …

Auf mich prasselten unendlich viele Fragen auf einmal ein.

STOPP! Du verstehst das nicht.

»Ach, Viv, ich habe dir Seth noch gar nicht vorgestellt.«

Ich grinste, als ihr die Augen fast aus dem Schädel kugelten, da ihr klar wurde, wer da eigentlich saß.

»Viv, das ist mein Dad Seth, Gott des Chaos, des Krieges, der Wüste et cetera, bla, bla, bla. – Seth, das ist meine beste Freundin Viv aus dem Denaux-Coven. Sie ist streng genommen eigentlich eine Laveau.«

Vivs Familie hatte nach dem gewaltsamen Tod der berühmten Marie Laveau, Vivs Großmutter, den Nachnamen wechseln müssen. Vivs Tante lebte noch in New Orleans, Viv, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter waren hierhergezogen.

»Hallo!« Mein Dad hob die Hand zum Gruß. »Ich kannte deine Großmutter Marie noch. Ich habe ihr mal bei einem schlimmen Zombieproblem in New Orleans geholfen.«

Mir ist gerade unheimlich schlecht, May, schickte mir Viv per Telepathie.

Tja, ich bin eher froh, dass du nicht versuchst, meine Stiefmutter zu werden.

Hör auf, das ist nicht witzig!, keifte Viv. Ich habe gerade eine alte Mumie abgecheckt!Iiiih.

Als ihr Freund zurückkam, machte sich Viv mit ihm schnell aus dem Staub.

»Habe ich sie etwa eingeschüchtert?«, fragte mich mein Vater.

KAPITEL2

wie? menschenopfer zählen nicht als nahrhafte abendmahlzeit?

Ich kam pünktlich zum Abendessen nach Hause. Kaum hatte ich einen Fuß ins Innere unseres riesigen Anwesens gesetzt, zog mir der Geruch von würzigen Kräutern und frischem Gemüse in die Nase.

Kurt, der sich beim Nachhausefahren in die Kapuze meines Hoodies verkrochen hatte, weil ich immer noch nicht in der Lage war, seine Form zu verändern, so wie es Hexen in meinem Alter eigentlich können sollten, regte sich mittlerweile auch wieder. Seine lederartigen Flügel streiften über meinen Nacken, als er sich suchend vornüberbeugte.

Mein Magen verlangte währenddessen knurrend, dass ich dieses herrlich duftende Essen auf der Stelle suchen und verschlingen sollte.

Allzu viel von dem Eisbecher hatte ich nämlich nicht mehr verspeisen können, weil Seth plötzlich eine seiner vielen Anekdoten zum Besten geben wollte.

In den letzten zwei Wochen hatte er mir so einige Geschichten aus seiner Vergangenheit erzählt, obwohl ich keine Lust darauf hatte – aber wurde ich gefragt? Nein.

Unter anderem erzählte er mir, wie damals Rom in Brand geraten war: Nero war tatsächlich daran schuld gewesen, weil er Seth mit seiner Leier so gelangweilt hatte, bis der entnervte Gott ein Haus in Brand gesteckt hatte. Oder davon, wie Seth versehentlich den Prager Fenstersturz, der zum Dreißigjährigen Krieg geführt hatte, durch ein »spaßiges« Gerangel verursacht hatte.

Heute hatte ihn das Eis in meinem Becher dazu gebracht, mir ausschweifend darüber zu erzählen, wie es damals auf der Titanic gewesen war. Ja, mein Dad war auf der Titanic mitgefahren, hatte jedoch ausnahmsweise nicht dafür gesorgt, dass der Dampfer gegen den Eisberg geknallt war.

»Manchmal machen Menschen eben dumme, dumme Fehler«, hatte er mir erklärt. »Nicht immer ist ein Chaosgott schuld. Nur meistens.«

Auf jeden Fall war mein Dad mit der Titanic herumgeschippert, dann war sie auf den Eisberg aufgelaufen und langsam gesunken. Mein Dad hatte sich an eine alte Mumie – die Leute damals standen auf Mumien – geklammert, die sich als sein alter Freund Madu herausgestellt hatte. Mit ihm war er dann ans Festland getrieben. Er hatte das Bad im Pazifik genossen, während viele Menschen im Eiswasser ertrunken waren. Madu stand nun in einem seiner zwei Dutzend Luxusapartments, die über die ganze Welt verstreut lagen.

Was ich daraus lernen sollte? Nichts! Mein Vater schien nur äußerst mitteilungsbedürftig zu sein.

Ich schüttelte die Gedanken an den Mumienfreund ab, bevor ich weiter in Richtung Küche marschierte.

In den letzten vier Wochen bot sich mir jedes Mal das gleiche Bild: Meine Familie, die seit meiner Geburt nur aus meiner Mom, meiner Tante und meiner Gran bestanden hatte, lachte und scherzte mit einer vierten Person. Einem Jungen mit hellbraunen Haaren und blauen Augen. Noah. Bei seinem Anblick zog sich mein Herz so schmerzhaft zusammen, dass ich sogar ein leises Schluchzen unterdrücken musste.

Noah hatte mir meinen ersten richtigen Liebeskummer beschert, und als wäre das nicht schlimm genug, konnte ich ihm nun nicht einmal aus dem Weg gehen, da er seit seiner Auferstehung bei uns im Haus lebte.

Als Oberste Hexen der Stadt waren wir dazu verpflichtet, ihn bei uns aufzunehmen, weil er als scheinbar Toter nirgendswo hinkonnte. Man konnte nun nicht einfach seine Auferstehung verkünden, genauso wenig wie wir seine Erinnerungen an die übernatürliche Welt löschen konnten.

Aber Noah würde ohnehin nur noch ein paar Monate hierbleiben. Er hatte mir gesagt, dass er im Herbst aufs College gehen wollte, und auch wenn es wehtat, sich das einzugestehen: Es war der perfekte Neuanfang für ihn.

Ich wusste zwar nicht, wohin ihn sein weiterer Weg führen würde, doch es war klar, dass es ganz, ganz weit weg sein würde. Vielleicht in einen anderen Bundestaat, womöglich sogar auf einen anderen Kontinent.

Ich für meinen Teil würde im besten Fall auf das College in der Nachbarstadt gehen, die nicht einmal eine Autostunde von hier entfernt lag. Damit blieb ich ganz in der Nähe der anderen Übernatürlichen, die meine Hilfe brauchten. Ganz zu schweigen davon, dass mich Noah sowieso nicht bei sich haben wollte …

Erst als ich einen der Stühle am Esstisch quietschend zurückzog, bemerkte meine Familie endlich, dass ich auch im Raum – im Haus! – war.

Tante Harmony ließ vor Schreck einen Fleischspieß zu Boden fallen. Ihr Kater Mister Mittens machte sich gleich laut schnurrend darüber her. »May ist ja schon zu Hause!«

»Schon seit fünf Minuten«, grummelte ich leise.

Ich widmete meine Aufmerksamkeit unserem Esszimmertisch, der wie immer nur für vier Personen gedeckt war, weil sich meine Mutter hauptsächlich flüssig ernährte. Er roch immer noch leicht angekokelt, nachdem es vor ein paar Wochen einen Zwischenfall mit mir und meinen Eltern gegeben hatte.

Natürlich versuchte ich gerade einfach nur angestrengt zu verhindern, dass mein Blick zu Noah hinüberglitt …

Obwohl, einen kleinen Seitenblick durfte ich ja wohl riskieren. Was sollte schon passieren?

Ich hob den Kopf und sah zur Küchenzeile. Sofort durchzuckte mich ein imaginärer Blitz, als Noah direkt in meine Augen blickte. Die Fledermäuse in meinen Bauch stoben wild auseinander, heißes Blut schoss in meine Wangen und meine Lippen verzog ich zu einem angedeuteten Lächeln – und das alles innerhalb eines Flügelschlages.

Als Noah bemerkte, dass ich ihn anstarrte, wandte er den Kopf ab. Kein Lächeln, aber auch kein angewidertes Gesicht. Absolute Leere.

Seit seiner Wiederauferstehung wirkte Noah so anders, beinahe so gefühlskalt und distanziert wie ein Vampir – und damit kannte ich mich gut aus.

Noah war jedoch kein Blutsauger geworden.

Seine unaufgeregte Aura verriet mir, dass er ein gewöhnlicher Mensch war.

Nur ein Mensch, versuchte ich mich selbst zu trösten. Er würde ein gewöhnliches Menschenleben führen, in dem Hexen wie ich nun einmal keinen Platz besaßen.

Zudem war es in meiner Nähe ohnehin viel zu gefährlich für ihn: Als Tochter des Seth, eines Gottes, der seit Jahrtausenden Katastrophen, Kriege und Seuchen brachte, stand ich in der Beliebtheitsskala der anderen Hexenfamilien und anderen Übernatürlichen ganz unten. Als schwacher Mensch konnte Noah sich kaum gegen Angriffe von Wesen wie Drachen und Feen wehren.

Menschen sind kein Date-Material, machte ich mir erneut bewusst. Verliebe dich nie in einen Menschen. Nach Noah nie wieder!Einmal ist keinmal!

»Wie war es?«

Plötzlich saß mir meine Mutter gegenüber. Sie schwenkte ein Glas mit Blut in der Hand, was mich dazu veranlasste, so gut ich konnte durch den Mund zu atmen. Ich hasste den ekelhaften Geruch von Blut!

»Wie war was?«

»Na, dein Treffen mit Seth.«

Ich merkte sofort, dass sie versuchte, jegliche Gefühlsregung in ihrer Stimme zu unterdrücken. Meine Mom hasste meinen Dad dafür, dass er uns sofort und ohne jegliches Zögern verlassen hatte, nachdem ich das Licht der Welt erblickt hatte. Doch dass er nach all den Jahren nun meine Nähe suchte, machte sie rasend vor Wut.

»Seth wollte nur ein bisschen mit mir reden«, erzählte ich ihr. »Ich denke, er macht sich noch Sorgen um mich.«

Immerhin war ich sein einziges Kind, seine einzige lebende Blutsverwandte – und ich war erst vor wenigen Wochen erdolcht worden.

Sie schnaubte abfällig und stürzte das ganze Glas Blut auf ex hinunter. »Hat er etwas über mich gesagt?«, fragte sie mich dann direkt.

»Äh … Was soll er da schon sagen?«

In letzter Zeit sah mein Dad regelmäßig hier vorbei. Meine Mom bleckte dann meist die Fangzähne und verzog sich so angesäuert in ihr Schlafzimmer, dass wir die Tür schon dreimal reparieren durften.

Sie warf die Hände in die Luft. »Was weiß ich?«

Das war mehr als seltsam. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, lag mir die Annahme nahe, dass meine Mom langsam wieder Gefühle für meinen Dad entwickelte. Das war so was von absurd! Ich hatte erlebt, wie meine Mom ihn mehrfach erdolcht und ihm ein Veilchen nach dem anderen verpasst hatte. Sie betrachtete ihn mehr als unsterblichen Sandsack denn als Flirt-Material.

»Destiny, setz dich ordentlich hin und steck deine Fänge weg. Es ist Zeit für das Essen«, kündigte meine Gran an.

Im nächsten Moment kamen auch schon die gesamten Töpfe mit dampfendem Essen angeflogen. Auf meinem Teller landete ein mit Käse überbackener Nudel-Gemüse-Auflauf, den ich mir als einzige Vegetarierin wenigstens mit niemandem außer Kurt teilen musste. Besagtes Hexentier krabbelte über meine Schulter auf den Tisch und fing Sekunden später bereits laut zu schmatzen an.

Ich wollte mich ebenfalls aufs Essen stürzen, als sich der Stuhl neben mir bewegte. Noah hatte doch tatsächlich den Platz neben mir am Esstisch gewählt, obwohl er die letzten Wochen so getan hat, als würde ich gar nicht existieren.

Sieh ihn nicht an! Sieh ihn nicht an! O ihr Götter, er wird echt immer heißer!

»Ist was, May?«, fragte er mich, nachdem ich ihn ein paar Sekunden zu lange unverhohlen angeglotzt hatte.

Ertappt zuckte ich zusammen. »Ich dachte, du hättest einen fetten Pickel auf der Stirn.«

Danke dafür, Mund, was du die meiste Zeit, ohne nachzudenken, von dir gibst!

Kein Problem, Hirn.

Ohne ein weiteres Wort wandte Noah den Blick ab, seine Nasenflügel waren jedoch genervt oder wütend gebläht.

War dieses seltsame Verhalten für menschliche Männer normal? Wenn ja, würde ich mir mal ernsthaft Gedanken darüber machen, ob sie wegen dieses unmöglichen Gebarens nicht irgendwann von einer kompetenteren Subspezies abgelöst werden würden.

Noahs Teller war vollgehäuft mit Fleischspießen, Kartoffelspalten und Gemüse, darüber Knoblauchsoße. Ich wollte nicht klagen, dass Noah uns die Haare vom Kopf fraß und Gran nun öfter einkaufen gehen musste. Das Essen schmeckte für ihn wahrscheinlich viel besser als vorher …

Ein paar Minuten lang herrschte einvernehmliche Ruhe am Esstisch. Ich teilte mein Essen mit Kurt, meine Mom schwenkte ihr Blutglas und starrte es mit trüben Augen an, während sie jede Minute mindestens einmal seufzte. Es schien so, als wäre das Blut geronnen und schmeckte ihr schlecht.

Da fiel mir auch wieder ein, was ich mit Seth besprochen hatte. »Seth möchte am Mittwoch ein Kampftraining abhalten«, sagte ich zu meiner Großmutter.

Gran kaute etwas zu lange auf einer Kartoffel herum. Dann legte sie das Besteck weg und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Ach so? Will er das?«

»Ich will besser im Kämpfen werden«, gab ich zu. »Und Seth ist wohl der beste Trainer, den es dafür auf der Welt gibt.«

»Das mag wohl wahr sein«, sagte sie. »Kampfstärke allein ist jedoch nicht alles. Wissen ist ebenfalls Macht, May.«

»Seth hat viele Schlachten verloren, weil er sich zu oft von seinem Temperament hat verleiten lassen«, mischte sich nun auch Tante Harmony ein. »Und du bist auch sehr temperamentvoll, May.«

Ich schnaubte.

Wie sollte ich denn auch anders sein? Meine halb vampirische Mutter war – wenn es drauf ankam – nicht weniger frenetisch und hitzköpfig als mein göttlicher Chaos-Vater.

»May braucht das Kampftraining.«

Erstaunt blickte ich zu Noah, der sich gerade zum ersten Mal seit Langem für mich eingesetzt hatte. Es war schön, dass sich jemand für mich einsetzte, weil normalerweise Grans Worte in Stein gemeißelt waren.

»Ich meine, sie hat auf beiden Seiten klare Defizite, aber sie muss einfach mal lernen, wie man kräftig zulangt.«

»Ich zeig dir mal, wie ich zulangen kann!«

Rumms!

Ich schwang eine herumliegende Gurke wie ein Schwert gegen Noah. Immer und immer wieder schlug ich mit dem Gemüse auf ihn ein, oder besser gesagt: ich versuchte es zumindest. Er wich jedem Schlag gekonnt aus, sprang auf den Stuhl oder duckte sich unter den Tisch.

Ich musste wirklich eine miserable Kämpferin sein, wenn sogar ein einfacher Mensch meinen Angriffen mit Leichtigkeit ausweichen konnte.

»Hey! Was soll das?!«, fragte er, als ich es endlich geschafft und ihn in eine Ecke getrieben hatte.

»Sei froh, dass ich kein echtes Schwert herbeigezaubert habe!«, blaffte ich zurück. »Du bist so ein Arschloch, Noah!«

Kurz sah er etwas schuldbewusst aus.

»May.«

Angstschweiß bildete sich auf meiner Stirn, als sich die bedrohliche Aura meiner Großmutter hinter mir aufbaute. Sie riss mir das Gemüse aus der Hand.

»Reiß dich gefälligst zusammen! Willst du deinem Vater wirklich so sehr nacheifern?«

»Lass sie doch etwas herumtollen!«, winkte meine Mom ab. »Dann kann May wenigstens gut schlafen.«

»Ich esse in meinem Zimmer«, ließ ich die Anwesenden wissen und holte meinen Teller und mein Hexentier.

Ohne noch einen Blick auf Noah zu werfen, verließ ich die Küche und war schon fast die Treppe hochgegangen.

Ich hörte ihn noch fragen: »Was habe ich denn getan?«

Was er getan hatte? Fragte er wirklich, was er getan hatte?

Was hatte ich ihm getan?

KAPITEL3

who you gonna call? würden die ghostbuster noah jagen?

In meinem Zimmer angekommen, rief ich sofort Vivienne an, um mich bei ihr lautstark auszukotzen. Der Appetit war mir nach dem Zwischenfall ohnehin vergangen, und so blieb mehr für Kurt, der sich geradewegs selbst ins käseinduzierte Fresskoma beförderte.

Nachdem ich Vivs vollständigen Namen dreimal laut vor dem Spiegel gesagt hatte, veränderte sich mein Spiegelbild. Ähnlich wie bei einem stillen Gewässer, dessen Oberfläche durch einen Kiesel gestört wurde, warf das Glas des Spiegels Wellen, bevor ich dem Antlitz meiner besten Freundin entgegensah.

»Hi, May!«

Viv strahlte über das ganze Gesicht. An ihrem Hals erkannte ich trotz ihrer dunklen Haut einen noch dunkleren Knutschfleck, und ihre schwarzen Locken waren zerzauster als sonst.

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Shane ist grad gegangen«, erklärte sie mir beinahe atemlos. Sie schnippte mit den Fingern, und sofort erwachte Albert, ihre Oberste Voodoo-Puppe, auf der Kommode zum Leben. Er griff sich eine Bürste und fing an, ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen.

»Lässt du ihn denn schon ins Haus?«, fragte ich erstaunt. Eigentlich hätte ich auch gleich fragen können: Hast du ihm etwa gesagt, dass du eine Hexe bist?

In Vivs Zuhause standen öfter mal Totenschädel herum, dazu kamen aufgehängte Haarsträhnen und natürlich die ganzen Voodoo-Puppen, die Haushaltshelferlein spielen durften.

Hinter Viviennes Rücken sah ich allein Dutzende von ihnen in ihrem Zimmer herumstehen. Und zwar nicht, weil Vivienne noch mit ihnen spielte – obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie sich die sauteuren Monster-High-Exemplare nicht nur kaufte, um an ihnen verschiedenste Zauber auszuprobieren.

»Nein! Spinnst du?« Viv schüttelte den Kopf. »Snuggles häutet sich gerade! Da sind er und Mom immer wahnsinnig schlecht gelaunt.«

Snuggles war – mal nebenbei erwähnt – eine riesige Albino-Boa und das Hexentier von Vivs Mom. »Aber ich habe ihn mal vor unser Haus mitgenommen«, erklärte sie mir. »Damit er nicht noch misstrauischer wird. Und er wollte nicht mal reinkommen, nachdem wir ein bisschen auf der Veranda rumgemacht haben.«

Ich grinste. »Hast du beim Rummachen ohnehin nicht an meinen Dad gedacht?«

»Oh, mon dieu, bitte hör auf damit, May!« Sie warf die Hände in die Luft und verdrehte die Augen. »Meine Mom hat mir nur erzählt, dass dein Dad der Gott des Chaos ist. Ich habe nun mal nicht gewusst, dass er so attraktiv ist! Ich habe ihn mir viel älter vorgestellt. Mit einem langen weißen Bart und so welligem weißen Haar.«

»Du meinst, wie Zeus aus dem Hercules-Film von Disney?«

»Nein …« Kurze Pause. »Ja. Das ist doch eigentlich egal! Ich hab halt gedacht, dass du mit einem neuen Kerl über Noah hinweg bist.«

Ich schüttelte betrübt den Kopf. »Nein.« Schnief. »Er war heute wieder total scheiße zu mir.«

»Ach, Süße, was ist denn passiert?«

»Ich hab nichts getan, und dann hat er mich als total blöd und nichtsnutzig hingestellt! Warum ist er nur so gemein zu mir, Viv?«

»Soll ich zu dir kommen?«, fragte sie. »Wir machen uns Kakao mit Marshmallows und suchen uns den miesesten Film raus, den wir finden können. Kennst du schon den, wo ein Pastor zum Dinosaurier wird?«

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Das hörte sich echt himmlisch an, aber irgendwie wollte ich im Moment keine Leute um mich haben. Allerdings fühlte ich mich allein auch ziemlich unwohl …

Wenn ich mal einen Moment ehrlich mit mir sein durfte: Ich wollte einfach, dass Noah wieder wie ein Geist an meiner Seite klebte und mich nervte.

»Schon gut, Viv«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Ich bin irgendwie total müde. Ich glaube, ich lege mich in zwei Stunden ohnehin ins Bett.« Und dann heule ich mir einfach die nächsten drei Stunden wegen Noah die Augen aus, fügte ich stumm hinzu. Wie gestern.

»Ach, May«, seufzte meine Freundin. »Es tut mir so leid. Noah und du, ihr habt echt gut zusammengepasst. Ihr hättet ein süßes Pärchen werden können.«

Statt Vivienne anzusehen, starrte ich an die Stelle auf meine schwarze Kommode, wo der Lack allmählich abblätterte.

Sie sprach leider die Wahrheit: Noah und ich hatten uns eine Zeit lang wirklich gut verstanden und sogar im gleichen Bett miteinander geschlafen. Ich fühlte mich unleugbar zu ihm hingezogen, und eigentlich hatte ich angenommen, dass er Ähnliches für mich empfand.

Bereits zum zweiten Mal hatte Noah mir wehgetan, obwohl ich mir hoch und heilig geschworen hatte, dass ich nichts für ihn empfinden will.

Erneut konnte ich ein Schniefen nicht unterdrücken.

»Soll ich wirklich nicht zu dir kommen?«, bot sich Viv an. »Wie gesagt: Mom ist ohnehin mies drauf, und wenn ich bei dir übernachte, kommen wir vielleicht mal pünktlich zum Unterrichtsbeginn.«

»Weißt du, was du tun kannst?«, sagte ich dann zu ihr. »Du suchst mir einen übernatürlichen Kerl. Damit kann ich die Akte Noah vielleicht endlich abschließen und verbrennen.« Ich hob meine Hand und schwarze Flammen tanzten wie lichttrunkene Motten um meine Finger. »Und ihn gleich mit dazu.«

»Du weißt, dass das nicht so einfach geht, May. Du bist immer noch wahnsinnig verschossen in ihn. Das würde alles nur schlimmer machen.«

»Er liebt mich aber nicht mehr!«, zischte ich. »Wahrscheinlich rennt er wieder zu seiner Ex Larissa zurück! Wäre nach seiner Aktion an Halloween nicht verwunderlich.« So reagierte ich oft, wenn ich traurig war: Sofort loderte in mir eine helle Flamme der Wut und des Zornes hoch. Erst jetzt verstand ich, dass es wohl von meiner wahren Identität als halbe Kriegsgöttin herrührte.

Plötzlich, ohne Vorankündigung oder sonstige höfliche Floskeln, wurde die Tür so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand knallte und durch die Erschütterung einige Bücher im angrenzenden Regal umfielen. Wie die personifizierte Finsternis glitt meine Mom in einem engen schwarzen Kleid in den Raum.

»Hallo, Vivienne«, begrüßte sie meine Freundin so überschwänglich, wie es ein Wesen wie sie nur konnte. »Wie geht’s dir denn so?«

Mir wich das Blut aus dem Gesicht. Meine Mom war ein Vampir – inklusive ausgeprägtem Gehör. Ob sie mitbekommen hatte, dass ich noch in Noah verliebt war? Beziehungsweise dass ich überhaupt in ihn verknallt gewesen war?

Nein. Nein! NEIN!

Meine Mom würde ihm das noch mitten ins Gesicht sagen! Zwar nicht aus Bosheit, sondern einfach aus dem Grund, weil sie solche emotionalen Grenzen nicht kannte.

»Äh … gut, Miss Setek.« Viv war ebenfalls erbleicht. »Und dann … Bye, May.«

Zum Abschied warf sie mir noch einen Blick zu, den ich so deutete, dass ich mich nach dem Gespräch mit meiner Mom ruhig noch einmal melden könne.

Ich nickte ihr zu und ihr Bild verschwand aus dem Spiegel. Ein bisschen genervt fuhr ich zu meiner Mom herum. »Was gibt’s denn so Wichtiges?«

Kurz entschlossen legte ich mich aufs Bett. Kurt landete auf meinem Bauch und spreizte die Flügel weit auseinander, sodass es aussah, als hätte ich ein Batman-Logo auf dem Bauchnabel. Dabei sah er mich mit seinen dunklen Knopfaugen an, ohne zu blinzeln. Ihm war … schlecht. Er war mal wieder überfressen.

Lautlos schlich sich meine Mom ans Bett heran. »Sei nicht böse auf den Jungen.«

Ich schnaubte laut.

Jetzt entschuldigte sie sich auch noch für ihn?! Sollte das ein schlechter Scherz sein?

Ohnehin war meine Mom nicht sehr gut im Entschuldigen. Tja, wenn man wie sie zum Teil Vampir war, dann war man einfach ein bisschen … kalt. Ich hatte sie lieb und wusste, dass ihr die Sache anscheinend am Herzen lag, aber das änderte nichts an der Wut, die ich in diesem Moment auf Noah hatte. Ganz im Gegenteil! Meine Mom musste sich tatsächlich für ihn entschuldigen! Das war doch echt das Letzte!

»Für Noah ist nun alles anders«, fuhr meine Mutter indes fort. »Er war ein Mensch, dann ein Geist und nun … Er hatte ganz andere Pläne mit seinem Leben. May, versuch ihn doch zu verstehen.«

Was denn verstehen? Er hätte mein Herz haben können! Ich hätte Noah liebevoll unterstützt – nicht nur als Hexe, deren göttliche Aufgabe das war, sondern auch als seine Freundin! Ging zu zweit nicht alles leichter?

»Noah wird seine Familie nie wiedersehen. Er lebt wieder, dennoch kann er nie wieder ein Wort mit ihnen wechseln.«

Ich streichelte Kurts Kopf. Er schloss die Augen und schnurrte wie eine Hauskatze.

Zugegeben: Noah tat mir ja auch ein bisschen leid, aber das war doch kein Grund, so arschig zu mir zu sein. Ich hätte niemals gewollt, dass er für mich starb.

»Noah ist jetzt ein Teil dieses Covens. Äh, ich meine natürlich dieser Familie. Noah ist ein Teil dieser Familie. Er wird von uns genauso beschützt wie ein heimatloser Vampir oder eine obdachlose Sirene. Darum darf er auch hier wohnen.«

»Bis er aufs College geht«, zischte ich. »Das sind nur noch ein paar Monate.«

Ich sah Noahs Zukunft schon vor mir: Er würde irgendein weit entferntes College besuchen, wo niemand ihn kannte. Mit seinem guten Aussehen und seiner – eigentlich – netten, aufgeweckten Art würde er sich sehr schnell Freunde machen. Bei der ersten Party im Studentenwohnheim würde er rasch ein Mädchen kennenlernen. Das würde er dann in derselben Nacht noch vögeln. Die Kleine würde ihm ihre Nummer geben – und er würde nie anrufen. Bei der nächsten Party würde er wieder jemanden kennenlernen und es würde genauso enden.

Das konnte er ja auch gern so machen. Er wusste ja nicht, dass mir der Gedanke die Luft zum Atmen raubte.

Meine Mom seufzte schwer. »Ach, May …«

Jetzt hörte sie sich schon an wie Viv. Ach, die arme, arme May. Wie erbärmlich sie war, wenn sie sich in ihrem Liebeskummer suhlte.

Ich setzte ein falsches Lächeln auf. »Ich verzeihe Noah sowieso. Bin nur schlecht gelaunt, weil ich meine Tage bekomme. Du weißt ja.«

»Oh. Na dann.«

Meine Mom kaufte mir diese Lüge ohne jeglichen Zweifel ab. Schade. Ich hätte mir gewünscht, sie hätte mehr nachgebohrt.

An der Tür drehte sich meine Mutter noch ein letztes Mal um.

»Und eines noch: Sag deiner Freundin, dass sie lieber bei ihrem gleichaltrigen Menschenfreund bleiben soll. Hexen, die Götter gedatet haben, leiden am schlimmsten.«

KAPITEL4

ein bisschen chaos hat noch keinem geschadet

Ich war ein seltsames Wesen. Geboren aus Blut- und Chaosmagie, hatte ich ein paar eigenartige Fähigkeiten geerbt. Mit ein bisschen mehr Übung und Selbstkontrolle – vielleicht erlangte ich die ja endlich, wenn ich mehr Innere Ruhe-Tee trank – würde ich irgendwann Herrin über das Wetter werden. Blitz, Sturm, Hagel – kein Problem für mich. Mein Dad war schließlich nicht nur der Gott des Chaos und des Krieges, der Wüsten und Oasen, sondern auch der Herrscher über Unwetter, die es mächtig in sich hatten.

Leider hatte ich überdies auch eine total unbrauchbare Fähigkeit erworben: Ab und zu träumte ich von meinem Vater.

Ja, das war so unangenehm, wie es sich anhörte!

Ich sah dann immer Geschehnisse aus seinem langen Leben, wie die Ermordung seines Bruders, seine Streitereien mit Horus und all das Chaos, das nun mal in ein paar Jahrtausenden Unleben so zusammenkommt.

Aber … Auf diese Weise hatte ich auch erfahren, dass ich ihm sehr wohl etwas bedeutete. Ich hatte miterlebt, dass ich ihm alles andere als egal war.

Das war gar nicht so selbstverständlich: Man hatte als siebzehnjährige vegetarische Teenie-Hexe, der von Blut kotzübel wird, schon reichlich Bedenken, ob ein Kriegsgott wie Seth einen als Tochter akzeptierte. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, mein Vater wäre nur ein Büroangestellter aus einem Vorort und kein Gott mit einem ganz anderen Bodycount …

Doch zurück zum Thema: In dieser Nacht steckte ich also wieder einmal in einer Episode von Seths unmodernes Leben fest. Also irgendwo tief in den schier endlosen Wüsten Ägyptens, wahrscheinlich sogar lange vor den ersten Pharaonen, als noch unbekannte Könige das Land regierten: Ich befand mich in der Zeit der sogenannten nullten Dynastie, wie mir mein halbgöttlicher Instinkt verriet. Ich war in einer Zeit gelandet, in der die Menschheit noch nicht einmal die ersten Hieroglyphen entwickelt hatte.

Ich stand in einem steinernen Haus, das durch die hohen Wände und schier endlosen Böden schon fast einem Palast ähnelte. Oder war das etwa ein uralter Tempel?

Meine nähere Umgebung wurde lediglich von mehreren Holzfackeln erhellt. Dementsprechend konnte ich nicht viel erkennen, außer dass es hier drin ziemlich kahl war und ich deswegen am liebsten Happy Home Designer spielen und ein paar Monstera und Sukkulenten in dem Raum platzieren wollte.

Ich drehte mich ein wenig nach rechts, wo mich mein Dad mit steinernem Blick anstarrte – oder, besser gesagt, eine riesige Statue von ihm. Sie war aus schwarzem Stein gemeißelt und mit reichlich Gold verziert: sein Krummschwert, seine spärliche Bekleidung und das beneidenswerte Augen-Make-up bestanden aus dem Edelmetall.

Man hatte ihn in seiner Tiergestalt verewigt, die ich immer noch mehr als bizarr empfand: Der Kopf war der eines komischen Ungetüms mit langer Schnauze und ebenfalls langen eckigen Ohren – es war nicht vergleichbar mit irgendeinem Tier, das heute noch existierte.

»WUARGH!!!«

Plötzlich hallte ein animalischer Schrei durch das Gebäude und ich zuckte zusammen. Kam der etwa von der Statue?

Die schwarzen Augen blickten ins Nichts.

Nein.

Aber wer brüllte dann sonst so herum, als wären die Desserts in der Cafeteria schon wieder mit Schweinegelantine zubereitet worden?

Die Antwort kam in Form meines Dads – in seinem rein menschlichen Aussehen – in den Raum gestürmt. Er rannte mit puren Tornados in den grauen Augen direkt auf mich zu.

»Ka-Kannst du mich sehen?«

Vor der Statue standen mehrere Schalen mit Weihrauch und Opfergaben in Form von Fladenbrot, geräuchertem Fleisch und Obst. Der Chaosgott kickte mit seinem nackten Fuß das ganze Zeug um, warf die Fackeln zu Boden und stand auch kurz davor, seine Statue mit bloßen Händen zu zerstören – hätte ihn ein anderer Mann nicht an seinem Arm gepackt und zurückgerissen.

»Beruhige dich, Seth. Entehre doch deinen eigenen Tempel nicht, nur weil du wütend bist.«

Dad schrie noch einmal auf und riss sich dann von dem anderen Mann, der zweifelsohne ebenfalls ein Gott war, los. Dieser trug wie mein Vater teures Leinen, überragte Seth um einen Kopf und seine schwarzen Haare waren lang und glatt.

»Das ist nicht gerecht!«, brüllte Seth in altägyptischer Sprache, und die Erde unter mir bebte. Warum hatte ich auf einmal ein Déjà-vu?

»Ich habe das Land rechtmäßig erobert!«

»Die Ermordung deines Bruders war alles andere als eine ›rechtmäßige Eroberung‹«, kommentierte der andere Gott trocken. »Auch wenn wir über Osiris’ Tölpelhaftigkeit streiten können.«

Seth schnaubte laut. »Ägypten gehört mir! Mir allein! Sieh doch nur, wie das Reich mit mir neu erblüht!« Er ballte eine Hand zur Faust und reckte sie dem anderen Mann entgegen. »Kein Feind traut sich unser Land anzugreifen, weil sie wissen, dass ich weder sie noch ihre Liebsten am Leben lassen würde, wenn sie nur einen Fuß über die Grenze setzen.«

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Auch Horus hat als Sohn des Osiris Anspruch auf das Land.«

»Osiris gehört doch nun endlich das Jenseits! Soll er das doch mit Horus teilen!«

Mein Vater tobte, während sein Gesprächspartner gelassen blieb. »Horus ist wie ich ein Himmelsgott. Er kann nicht einfach so Herrscher der Unterwelt werden. Außerdem gibt es noch Anubis …«

Seth leckte sich mordlustig über die Lippen, und sein Schwert erschien in seiner Hand. »Oh, da kann ich sicher ein bisschen nachhelfen.«

»Du wirst Horus nicht töten, Seth!«, donnerte der andere Gott mit lauter Stimme, bevor er etwas versöhnlicher fortfuhr. »Glaub mir, ich finde es auch nicht gut, dass Horus geboren wurde. Er kann mir meinen Anspruch auf den Himmel streitig machen, aber er ist ein Kind. Er ist nicht wie wir, die schon so geboren wurden. Einige deiner Hexen haben doch auch Kinder, oder? Dir ist also nicht fremd, wie langsam sie sich entwickeln.«

Beleidigt grummelte mein Vater. Das Schwert löste sich in schwarzen Rauch auf. »Sei nicht immer so ein Spielverderber, Re.«

Meine Augen wurden groß.

Das war dann tatsächlich der Gott Re, einer der wenigen ägyptischen Götter, die ein eher positives Verhältnis zu meinem Vater hatten. Seth hatte Apophis, die alles verschlingende Chaosschlange, die sich im schlimmsten Fall die Sonne einverleibt hätte, getötet und somit Res Freundschaft gewonnen.

Der Gott grinste. »Ich versuche dich nur vor einem großen Fehler zu bewahren. Wenn du Horus etwas antust, dann wird Isis dich töten. Er ist der einzige Grund, warum sie es noch nicht getan hat. Sie will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich würde Isis zuerst erledigen.«

»Unterschätze deine Schwester nicht«, riet ihm Re. »Horus ist Isis’ Sohn, und Isis liebt ihn über alles. Du hast ihr schon den Ehemann genommen. Nimmst du ihr auch noch den Sohn, so wird ihre Rache fürchterlich sein.«

»›So wird ihre Rache fürchterlich sein‹.« Seth verdrehte genervt die Augen. »Na gut. Ich habe keine Lust mehr auf diese unsinnige Diskussion. Ich werde Horus in Ruhe lassen.« Er hob einen Finger. »Vorerst.«

Re wirkte sichtlich beruhigt, und Seth wandte sich seiner heiligen Statue zu beziehungsweise der selbst angerichteten Sauerei zu seinen Füßen.

»Wie sieht es denn hier aus?! Sina! SINA! Komm sofort her!«

Ein paar Sekunden später tauchte eine Priesterin auf, die mit ziemlicher Sicherheit eine von Seths Hexen war. Das machte sie damit auch zu einer meiner Vorfahrinnen. Mit ihrer dunklen Haut, den kinnlangen Haaren, den dunkelbraunen, mandelförmigen Augen, aber vor allem durch die angespannte Kieferpartie sah die Hexe meiner Gran gar nicht einmal so unähnlich. Vielleicht war sie ihre Urururgroßmutter?

Die Priesterin Sina verschränkte die Arme vor der Brust. »Was denn?«, fragte sie genervt. »Ich wollte gerade die rituelle Reinigung für die anderen Priester vorbereiten!«

»Es sieht hier unmöglich aus.«

»Ja! Und daran bist du schuld! Glaubst du, ich habe nicht gehört, wie du hier rumgewütet hast? Mein Baby ist davon aufgewacht! Du hast deine jüngste Hexe zum Weinen gebracht, du unsensibler Gott!«

Dad zuckte mit den Schultern. »Und?«

»Na toll! Du machst es also kaputt und ich muss es aufräumen?«

»Ja. Für was habe ich Hexen?«

»Für magische Probleme!«, brummte sie. »Und um deine Kultstätte zu pflegen.«

Mein Vater wollte etwas sagen, doch Sina ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Nicht, um für Ordnung zu sorgen, wenn du aus Trotz etwas kaputt gemacht hast!«, fauchte sie meinen Vater giftig an. »Ich bin doch nicht deine Putzfrau!«

Sie marschierte erhobenen Hauptes davon, doch man hörte sie noch laut vor sich hin fluchen: »Denkt er, ich mache seinen Saustall sauber? Pah! PAH! Gott des Chaos? Wohl eher Gott der Unordnung!«

»Muss ich das jetzt wirklich selbst machen?«

Seth drehte sich um, und mit einem Fingerschnipsen war alles wieder sauber.

»Ich bin erstaunt über deine Hexen.«

»Ja, da erwartet man doch ein bisschen Dankbarkeit von ihnen, oder?« Seth schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen schließlich Magie eingehaucht. Es hat mich einen ganzen Monat lang geschwächt, als ich ihnen ihre magischen Gaben geschenkt habe.«

»Du lässt dir diese aufmüpfigen Worte also einfach so gefallen?«

Seth zuckte erneut mit den Schultern. »Ich verbiete meinen Hexen und Hexern nichts. Ich hasse es, mich an Regeln zu halten, und ich will, dass sie so werden wie ich: mächtig, respektiert, unangepasst. Das pure Chaos. Trotzdem wäre ein bisschen Dankbarkeit ab und an ganz nett, ja!«

Sina kam zurück in den Raum gestampft und warf einen Besen wie einen Speer. Natürlich fing Seth den Gebrauchsgegenstand mühelos mit einer Hand ab.

»Danke, o du mächtiger Seth. Darf ich mich nun endlich auf die rituelle Waschung vorbereiten oder soll ich dich zuerst noch ein bisschen ehrfürchtig anbeten? Die Knie mach ich mir trotzdem nicht schmutzig.«