Chaoskuss - Teresa Sporrer - E-Book

Chaoskuss E-Book

Teresa Sporrer

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Beschreibung

Das Leben der 17-jährigen May wäre so viel einfacher, wenn sie sich nur mit den typischen Teenie-Problemen herumschlagen müsste. Doch May ist nicht wie die anderen – sie ist eine Hexe. Und trotzdem muss sie an ihrer Schule das normale Mädchen spielen. Immerhin ist sie nicht das einzige übernatürliche Wesen dort, weshalb es neben dem alltäglichen Highschoolwahnsinn auch Stress mit nervigen Vampiren, streitlustigen Walküren oder unzufriedenen Dämonen gibt. Aber dann lädt Noah – ein Mensch! – sie auf eine Halloweenparty ein und plötzlich scheint doch ein bisschen Normalität in Mays Leben einzukehren. Aber nicht für lange …

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chaoskuss

DIE CHAOS-REIHE BAND 1

TERSEA SPORRER

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat & Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Pärchenillustration: Beth Gilbert

May: Agnieszka Gromulska

Bildmaterial Cover und Innenlayout: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-457-4

Alle Rechte vorbehalten

INHALTSWARNUNG

Erwähnung und Diskussion von/um Freitod

Erwähnung eines sexuellen Übergriffes

inhalt

Das Leben ist (k)ein Fantasyroman

1. Du nennst mich Hexe, als wäre es etwas Schlechtes …

2. Große Pause der Monster AG

3. Ist es ein Vogel? Ein Flugzeug? Nein, eine Riesenfledermaus!

4. Unterricht – oder: Nicht-Sterben-Training

5. Wie Thor von Target

6. Eau de Vampir von Karma

7. Ich bin wohl doch eine Basic Witch

8. Die beste Party ist eine May-Party, denn eine May-Party fände nie statt

9. Ich bin nicht bezaubernd – ich bin behexend!

10. Never mess with the witch

11. Mein Leben ist wie Paranormal Activity – nur mit mehr Drama

12. Darf ich stattdessen bitte von einem heißen Schlaf-Paralyse-Dämon heimgesucht werden?

13. I’m a good Witch … Jk. I’m bad too

14. Brich mein Herz – und ich breche meiner Voodoo-Puppe beide Arme

15. Keine Hexe, die etwas auf sich hält, baut heute noch ein Häuschen aus Teig

16. Maryland Ghost Hunters, Folge 69: Der perverse Geist im Setek-Anwesen

17. The Ghost with the most … problems

18. Wirkt Insektenspray auch bei Banshees?

19. You can’t sit with us – Hallo? Hörst du mir zu?

20. Es ist eine Chaos-Hexe! Meinen Glückwunsch!

21. Besonders zu sein ist nichts Besonderes, wenn man nicht besonders sein will

22. Na, ich hoffe, das Ende ist nicht so enttäuschend wie bei Game of Thrones

23. I don’t get mad – I get wicked

24. Nein, in mich ist kein Geist gefahren

25. Best Witches

26. Wer braucht Trash-TV, wenn er meine Eltern hat?

27. Die Waffe einer Frau ist ein wunderschönes Krummschwert

28. Kann man eigentlich auch Tassen mit der Aufschrift worst Dad kaufen?

29. Wenigstens hat er mich mal zum Shoppen mitgenommen

30. It’s party time, witches!

Letztes Kapitel

Mayhem is rising

Mays Grimoire

Drachenpost

Ich akzeptiere das Chaos.

Ich bin mir nicht sicher, ob es mich akzeptiert.

BOB DYLAN

das leben ist (k)ein fantasyroman

PROLOG

Ich wusste schon immer, dass ich eine Hexe bin.

Das war kein dunkles Familiengeheimnis, das eines Tages aufgedeckt wurde und mein ganzes Weltbild ins Wanken brachte. Keine geheime Organisation, die mich an ein mysteriöses Internat voller attraktiver Mitschüler brachte. Es existierte keine rätselhafte Prophezeiung mit inkludiertem heißen, aber grummeligen Gefährten für mich, in den ich mich natürlich unsterblich verliebte.

Nein, es war alles viel … gewöhnlicher.

Versteht mich nicht falsch! Es wäre mir sogar lieber gewesen, wenn mein Leben noch eine Spur normaler gewesen wäre. Ich hatte meine Kindheit bei meiner Großmutter, Mutter und Tante in einer verschlafenen Stadt in Maryland verlebt. Ich war die erste Hexe einer neuen Generation in diesem Coven und wurde natürlich von allen verhätschelt, außer …

» Wenn du noch einmal einem Kind auf dem Spielplatz erzählst, dass du eine Hexe bist, bekommst du einen Monat lang Fernsehverbot«, hatte meine Mutter eines Tages an meinem Bett gesagt. Ich musste ungefähr vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Sie drohte nie, denn ihre vampirischen Gene machten sie Furcht einflößend genug. In meiner Erinnerung glänzten ihre Fangzähne im Licht meines Nachtlichts wie die Fänge einer Kobra. »Sei ein braves Geschöpf des Chaos, sonst holt dich noch Anubis, der Herr der Unterwelt. Wenn dein Herz nicht rein ist, dann wird Ammit es mit einem Happs verschlingen. Und jetzt gute Nacht und schlaf schön, mein kleiner Schatz.«

Unser Coven ging auf Hohepriesterinnen aus dem Alten Ägypten zurück, und selbst nach Jahrtausenden war unsere Magie ungebrochen stark. Schon als kleines Kind wurde ich deshalb in Magie unterrichtet und bekam Kampftraining. Selbstverständlich von meiner Familie und nicht auf einer edlen Zauberschule, die wie ein Luxusinternat anmutete und nur Models als Schülerinnen und Schüler beherbergte. Meine Tante Harmony brachte mir Heilzauber bei, die sie als Ärztin ab und zu anwendete. Meine Mutter war im Gegensatz spezialisiert auf alles, was zerstörerisch war. Manchmal musste ich mitten in der Nacht Unterricht nehmen, weil meine Mutter das Sonnenlicht als Halbvampirin nicht gut vertrug. Ich selbst hatte absolut keine vampirischen Attribute abbekommen, weshalb ich dann bei strahlendem Sonnenschein hundemüde zur Schule musste. Meine Großmutter beherrschte als Matriarchin der Familie alles und wachte streng über mein Kampftraining.

Eigentlich dachte ich immer, dass ich irgendwann – in einem Jahrhundert oder zwei – in ihre Fußstapfen treten würde, aber dann …

Dann kam er.

Und alles, was er mit sich brachte, war Chaos.

KAPITEL1

du nennst mich hexe, als wäre es etwas schlechtes …

Der Tag begann damit, dass mir eine Voodoo-Puppe eine Ohrfeige verpasste. Das war nicht so schlimm, wie es sich vielleicht anhörte. Voodoo-Puppen besaßen ähnlich wie Puppen weiche Watteärmchen, lediglich der sackähnliche Stoff kratzte an meiner Wange und störte meinen tiefen Schlaf.

» Steh endlich auf, May!«, zeterte eine weibliche Stimme. »Wegen dir kommen wir wieder mal viel zu spät zum Unterricht! Ich will nicht schon wieder nachsitzen!«

Vorsichtig blinzelte ich. Albert, die gewalttätige Voodoo-Puppe, blickte mich mitleidslos an. Das kleine Ding war mit einem pinken und einem schwarzen Knopfauge ausgestattet und der Mund mit einem schwarzen Faden zugenäht worden. Der Körper und somit auch Kopf und Gliedmaßen bestanden aus braunem Sackstoff.

Albert hatte noch einen winzigen Arm zum erneuten Schlag erhoben, als er plötzlich zur Seite kippte und leblos liegen blieb.

» Na. Das wurde ja auch Zeit.« Ein Mädchen mit schwarzen Korkenzieherlocken und dunkler Haut beugte sich über mich. Ihre dunkelbraunen Augen blitzen abschätzig, was hervorragend zu den trotzig verzogenen Lippen passte. »Stehst du nun endlich auf oder muss ich härtere Geschütze auffahren? Wie kann man nur so verschlafen sein?«

Meine beste Freundin Vivienne – kurz Viv genannt – war eine kreolische Voodoo-Priesterin, und auch wenn sie wie ich erst in der Hexenausbildung steckte, würde ich mich nie freiwillig mit ihr und ihren Puppen anlegen.

Aber ich war so müde …

» Nur noch eine Minute, Viv. Nur noch ei…«

Ich war nur eine Sekunde weggetreten, als sich etwas Spitzes in meinen Oberarm bohrte.

» AUA!«, fuhr ich hoch.

Albert war auferstanden und schwang seine Stecknadel wie ein Schwert hin und her. Dabei zog er die schwarzen Filzaugenbrauen in Rage wütend zusammen.

Bevor er mich noch einmal stechen konnte, rollte ich mich schnell zur Seite – und flog prompt aus dem Bett. Mein Gesicht küsste auf eine äußerst unromantische Art den kalten, staubigen Steinboden. Hätte ich doch nur auf meine Gran gehört und gestern Abend den Boden gestaubsaugt … Fusseln im Mund waren echt widerlich!

Grummelnd drehte ich mich auf den Rücken – nur um Alberts wortwörtliches Sackgesicht zu sehen. Er linste über den Bettrand, das Schwert triumphierend in die Luft gestreckt.

Ich ergab mich meinem Schicksal und schnippte mit den Fingern. Meine dunkelgraue Schlafanzughose verwandelte sich in eine schwarze Jeans und aus dem Oberteil wurde ein enges Top mit schwarz-rotem Flanellhemd. An meinem rechten Handgelenk befand sich stets ein Lederarmband mit einem goldenen Ankh-Anhänger, das ich nie abnahm. In der ägyptischen Kultur stand das kreuzähnliche Symbol für Lebenskraft. Der Anhänger war ein Geschenk zu meiner Geburt und eigentlich für eine Halskette gedacht gewesen. Meine Mutter – aber auch meine Gran und Tante Harmony – schwiegen bis heute, wer mir dieses Geschenk gemacht hatte, und ich fragte mich, ob noch weitere Verwandte in Ägypten lebten und warum wir keinen Kontakt zu ihnen pflegten oder sie zumindest ab und an besuchten.

In letzter Zeit musste ich häufig daran denken, weil meine Kräfte …

» Bist du nun endlich wach?«, fauchte Viv mich an.

Der sackgesichtige Kämpfer ließ immer noch sein Schwert über meinem Kopf kreisen. Gerade als ich mir den Mistkerl vorknöpfen wollte, griff Viv schnell nach der Puppe. In ihren Händen verwandelte er sich sofort wieder in ein lebloses Stück Stoff. Seufzend ließ sie sich auf mein Bett sinken und verstaute Albert in ihrem roten Rucksack.

» Ja-ha!«, antwortete ich ihr genervt und sprang auf die Füße. Schwarze Vans ersetzten meine flauschigen Socken, ehe ich den Boden berührte.

» Gut.«

Zuerst hetzte Viv Albert auf mich, und jetzt las sie seelenruhig auf meinem Bett Nachrichten auf ihrem Handy, während ich eilig meine Schulsachen für den Tag in dem Chaos meines Zimmers zusammensuchte.

» Wollen wir nicht los?«

» Wir kommen sowieso zu spät«, sagte Vivienne und ließ ihre Kaugummiblase platzen. »Ich schreibe meinen Schwestern, dass sie ihre Finger von meinen Paketen lassen sollen, wenn sie heute eintreffen und wir wieder beim Nachsitzen hocken. Es war so schwer, an Knochen und Blut ranzukommen, das der Zoll nicht abfängt. Ich musste die Familie in New Orleans anbetteln, und du weißt, dass ich das nicht mag.«

Vivienne sah wie ich wie ein normaler Teenager aus mit ihren Baggy-Jeans und dem engen Crop-Top, aber sie war ebenfalls eine Hexe. Voodoo-Priesterinnen arbeitet vor allem mit … mit organischem Material für ihre Zaubersprüche. Das störte mich nicht – solange es nicht mein Blut oder meine Organe waren.

Da Vivienne einen Moment lang nicht aufpasste, schleuderte ich ihr per Telekinese eines meine roten Polsterkissen an den Hinterkopf. Ein kleiner Akt der Rache, der meinen angekratzten Hexenstolz wiederherstellen sollte.

Viv hob eine Hand. »Na warte!«

Ich war von den vielen Ringen an ihrer Hand so neidvoll abgelenkt gewesen, dass ich das heranfliegende Deospray samt fieser Nebelwolke zu spät bemerkte. Vor lauter Schreck atmete ich noch einmal extratief ein. Schwer hustend taumelte ich ein paar Schritte nach hinten.

Hexen maßen nicht nur gern ihre Stärke und Magiebegabung in solchen kleinen, aber recht harmlosen Auseinandersetzungen. Ganz im Gegenteil! Wir wurden oft sogar ermutigt, uns zu messen, weil wir in einem Notfall auch schnell eingreifen mussten.

Man hatte uns Hexen in der Geschichte viele Namen und Bezeichnungen gegeben. Viele davon waren abschätzig, andere zeigten eine gewisse Verehrung unserer Künste.

Wir Hexen waren in erster Linie Kämpferinnen. Kriegerinnen. Beschützerinnen. Wir beschützen die anderen übernatürlichen Kreaturen, von Vampiren über Walküren bis hin zu Dämonen und Sukkuben – sorgten dafür, dass sie kein Leid von Menschen zu befürchten hatten und umgekehrt. Es klang seltsam, aber Menschen konnten uns Übernatürlichen durchaus auch Leid zufügen.

» Ich habe gewonnen!«, jauchzte Vivienne siegessicher. »Du kennst deine Strafe, oder?«

So kampflos ergab sich eine Hexe des Setek-Coven ganz sicher nicht.

» Schachmatt«, flötete ich.

Bevor meine beste Freundin überhaupt reagieren konnte, wickelte sich meine Bettdecke eng wie die Bandagen einer Mumie um ihren Körper. Nur ihr lockiger Kopf lugte hervor, als sie wie eine schwarz-rot gestreifte Raupe auf dem Bett herumzapelte.

» Argh! Ich … krieg … Ich kann den Zauber nicht lösen.«

Ich schulterte meinen Rucksack, stemmte die Hände in die Hüften und warf meine schwarzen Haare über meine Schulter. »Ach ja?«

» Ja.«

» Nun. Du weißt, wie ich meine Muffins am liebsten mag. Freue mich schon auf morgen.«

Vivienne stöhnte so laut, dass selbst ein T-Rex bei ihren Lauten schlotternde Knie bekommen hätte.

Ich ließ sie noch einen Moment zappeln, um mein Handy auf der Kommode vom Ladestecker zu befreien. Dabei fiel mein Blick zufällig auf die Fotos, die ich zwischen Spiegel und Rahmen gesteckt hatte. Auf den meisten war ich mit Vivienne und Ephraim zu sehen.

Ephraim … Das warme Gefühl in meiner Brust wurde von einem stechenden Schmerz zerstört, der mich kurz zusammensinken ließ.

Ephraim und ich waren schon immer Freunde gewesen – ich kannte ihn sogar schon länger als Viv, weil seine Mutter als Kinderkrankenschwester in genau jenem Krankenhaus arbeitete, in dem meine Tante Harmony als Ärztin für innere Medizin tätig war.

Auf den Fotos sah Ephraim weitgehend normal aus: sonnengebräunte Haut, dunkelbraune Haare, grüne Augen hinter einer schwarzen Brille – nur ein Deko-Objekt, um menschlicher zu wirken! – und süße Grübchen, die nur beim Lächeln zum Vorschein kamen.

Aber ich kannte auch seine wahre Gestalt, sein wahres Aussehen als vollblütiger Dämon: schwarze, widderartige Hörner; Augen so dunkel wie eine Sonnenfinsternis und Krallen so scharf wie Messer. Dazu kamen lederartige Flügel, die einen ganz einhüllen konnten.

Ich hatte kein Problem mit seinem dämonischen Aussehen. Penelope tauchte andauernd in ihrer Sukkubus-Form bei mir zu Hause auf und hatte mir schon paarmal mit ihrem herzförmigen Schweif aus Versehen ins Gesicht geschlagen, da bewirkte das Aussehen eines Schedim-Dämons nicht einmal eine hochgezogene Augenbraue. Meiner Meinung nach fand ich es durchaus anziehend, aber Ephraim …

Ich schluckte schwer. Er war total durchgedreht …

» Ist das dein Ernst, May?« Vivienne lag auf meinem Bett und rollte wie eine aufgebrachte Monsterraupe hin und her. »Genau deswegen kommen wir immer zu spät zum Unterricht. Denk nicht einmal dran, den Spiegel zu benutzen!«

Ich schüttelte den Kopf, um meine wehmütigen Gedanken zu vertreiben.

War es so verwunderlich, dass ich mich nicht aus dem Bett bewegen konnte? Es war jedes Mal wieder peinlich, wenn ich Ephraim in der Schule begegnete und daran dachte, wie wir uns gegenseitig ausgezogen und geküsst hatten – bevor er völlig Dämon geworden war.

» May!«, grollte die Raupe, die ehemals meine beste Freundin gewesen war. »Ich schwöre dir, wenn ich mich in deiner Bettdecke verpuppe und dann grässliche Schmetterlingsflügel wie eine Banshee bekomme, dann …«

Ich zupfte an meinem Zauberspruch und zerfetzte die unsichtbaren Bande, die Vivienne in eine schlecht gelaunte Frühlingsrolle verwandelt hatten.

Meine Freundin fuhr sich durch die Haare, schnappte sich ihre gigantische Handtasche, die sie unverständlicherweise als Schultasche verwendete, und schritt hoheitsvoll aus meinem Zimmer. Sie würde jetzt ungefähr zehn Minuten sauer auf mich sein. Ihr Schmollrekord lag bei neun Minuten und sechsunddreißig Sekunden – und da hatte sie bei der Entschuldigung schon fast geheult.

Eigentlich wollte ich hinter Viv gleich zur Haustür hinaus, aber dann sah ich im Vorbeigehen eine Person halb tot über dem Küchentisch liegen. Tante Harmony war wie so oft beim Lesen der Zeitung am Frühstückstisch über ihrem Müsli eingeschlafen. Neben ihr stand noch eine unberührte Tasse Kaffee. Sie trug sogar noch ihren weißen Arztkittel und das Stethoskop um den Hals.

Ich bedeutete Vivienne stehen zu bleiben und marschierte zu meiner komatösen Tante. An der Stuhllehne baumelte noch eine weiße Kühltasche, und wie ich mit Bauchschmerzen feststellen musste, war sie noch gefüllt. Mir kam fast die Galle hoch, als ich die Blutbeutel mit zwei Fingern herausfischte und sie in den Kühlschrank verfrachtete. Meine Tante ließ die Blutkonserven für meine Mutter aus dem Krankenhaus mitgehen, und bis jetzt hatte niemand Verdacht geschöpft oder diese Sache einfach als unwichtig abgestempelt.

Ich achtete darauf, dass ich nicht zu viel an das Blut dachte, dass in den Beuteln hin und her schwappte. Zähflüssiges Blut, das so ekelhaft nach Metall stank und nach Salz …

» Uh …«

Ich war die Tochter einer Halbvampirin, aber bei Blut drehte sich mir mein Magen komplett um. Das lag an einem Vorfall in meiner Kindheit, als ich meiner Mom nacheifern wollte und einen ganzen Beutel auf ex getrunken hatte. Ich wollte mich wie sie in Nebel auflösen können oder an den Wänden hinaufkrabbeln! Ich musste doch zumindest ein bisschen Vampir sein, hatte ich mir eingebildet. Stattdessen hatte ich das ganze Blut sofort wieder erbrochen. Ich war keine Vampirin. Nur eine dumme Hexe.

Keine Hexe.

Mir fiel ein Blutbeutel direkt aus der Hand, und ich rechnete schon mit einer Sauerei auf den Fliesen, zu der sich dann auch mein Erbrochenes gesellen würde. Doch Vivienne hatte sich nahezu heldenhaft auf den Boden geworfen.

» May«, sagte Viv besorgt. »Alles okay? Du bist ganz blass im Gesicht.«

Nicht nur das: Auf meiner Haut hatte sich sogar ein schwacher Schweißfilm gebildet. Mir war so gewesen, als hätte jemand etwas direkt in mein Ohr geflüstert, aber es befand sich nur Viv im Raum und Tante Harmony schnarchte in die Müslischüssel.

» Ich bin so froh, dass ich keine Voodoo-Hexe bin«, grinste ich schief und versuchte meine Verunsicherung zu verbergen. »Ich glaube, ich würde nur kotzen.«

» Ich bin auch froh, dass du keine Voodoo-Hexe bist. Ich habe gesehen, wie du deine Sachen flickst. Handwerklich bist du schon mal nicht begabt.«

Mit einem grässlich gurgelnden Geräusch, das so klang, als würde sich in der Toilette eine Verstopfung lösen, schreckte Tante Harmony aus dem Schlaf hoch. Sie drehte sich um und starrte mich und Viv lange an. Die Verschlafenheit lag bei uns ganz eindeutig in der Familie.

» Oh, May, du bist es! Bin ich etwas eingeschlafen? Oh, und hallo, Vivienne. Ist etwa ein Wochentag? Moment! Habe ich Schicht? Bekomme ich Warzen?«, schrie sie hysterisch und pflückte sich die Müslistücke aus dem jugendlichen Gesicht.

Meine Tante sah allerhöchstens aus wie fünfundzwanzig und gab sich für dreißig aus, aber in Wahrheit war sie schon ein halbes Jahrhundert alt.

Ich war siebzehn, sah aus wie siebzehn, aber mit genug Make-up und einem leichten Sehfehler konnte ich mich in Clubs ab einundzwanzig schleichen. Zumindest hatte es bis jetzt einmal geklappt!

Nach meiner Pubertät würde sich mein Alterungsprozess dann extrem verzögern. Meine Mutter war einhundertunddrei Jahre alt und sah keinen Tag älter als dreißig aus.

» War eine anstrengende Schicht, oder?«

» Kannst du laut sagen!« Tante Harmony nahm einen Schluck Kaffe und spuckte ihn sofort zurück in die Tasse. »Bei Sobek! Das Gebräu ist ekelhaft.« Sie stand auf und leerte das Zeug in den Abfluss.

» Ich will ja nichts gegen Menschen sagen, weil ich genau weiß, dass wir nicht anders wären, wenn wir diese Gebrechen hätten, aber man sollte nicht wegen ein bisschen Kopfweh oder Magenkrämpfen in die Klinik kommen.«

» Wäre dann der Baseballschläger im Rektum besser?«, sagte Viv und kicherte.

»Überzeugt. Ich jammere nie wieder über einen Patienten mit Heuschnupfen. Den Katzenjammer nehme ich nur zu gern.«

Wie aufs Stichwort und erstaunlich laut für eine anmutige Katze kam Mister Mittens, das Hexentier meiner Tante, in die Küche getapst und verlangte mit einer Mischung aus Schnurren und Miauen nach Fressen. Mein Hexentier brauchte ich gar nicht zu suchen. Es war genauso verschlafen wie ich.

» Müsstet ihr eigentlich nicht schon längst in der Schule sein?«, fragte Tante Harmony bei einem Blick auf ihre Armbanduhr und leerte dabei versehentlich das Katzenfutter auf den Boden.

» Verdammt! Bye, Tante Harmony!«

» Wir kommen doch eh immer zu späääät!«, rannte Viv mir nach.

* * *

Auf dem Weg zur Schule versuchte ich mir noch schnell das vergessene Make-up ins Gesicht zu zaubern und eine Bürste brachte meine verfilzten Haare in Ordnung.

» Au, au, au«, jammerte ich, weil die Bürste keine Gnade bei meinen dichten Wellen zeigte. »Ah … Ah, verdammt!«

Vivienne grinste süffisant. Ihrer Meinung nach war das die karmische Bestrafung für meine Verschlafenheit.

» Ich finde es so gemein, dass du dich mit Magie schminken kannst«, schnaubte sie dann. Sie verschränkte ihre Finger ineinander, hob die Arme und gähnte herzhaft. »Bei mir sieht das immer dämlich aus. Wie bei Malen nach Zahlen. Glaubst du, das liegt an meiner Gesichtsblindheit? Ich kann mir die Schminke im Gesicht nicht richtig vorstellen.«

Magie war eine Sache von Konzentration – so trocken und langweilig sich das nun auch anhörte: Es war leider die Wahrheit. Ich musste mir vorstellen, dass meine Wimpern meine grauen Augen dicht und schwarz umrahmten und ein dunkler Lipgloss meine Lippen zur Geltung brachte, und schon war das Make-up da. Auf gleiche Weise hatte ich mir heute vorgestellt, dass Viv von meiner Decke eingehüllt wurde.

Doch leider brachte das auch ein paar Nachteile mit sich. Ich hatte mir schon mal einen unvorteilhaften Pony gezaubert. Blöderweise konnten meine Haare nicht schneller wachsen, nur weil ich eine Hexe war. Ich war ja nicht Bayonetta. Also musste ich meinen Fauxpas mit Klammern und Haargummi so lange verstecken, bis meine Haare nachgewachsen waren.

Seitdem kämmte ich meine Haare nur noch auf die klassische Art und versuchte gar nicht, mir den Friseurbesuch durch Magie zu ersparen.

» Gut, ich bin dann fertig.«

Ich klappte den Spiegel zu, griff nach der Bürste und warf beides in den Rucksack. »Und pünktlich schaffen wir es nun auch noch!«

» Hast du dann Lust auf den neuesten Tratsch?«, fragte mich Vivienne und klatschte begeistert in die Hände.

Ihre Schrittgeschwindigkeit nahm merkbar ab.

» Lass hören.«

Viv hatte ihre Augen und Ohren überall in der ganzen Stadt. Sie war seit ein paar Monaten mächtig genug, Insekten oder ähnliches Viehzeug in eine Art Zombie zu verwandeln und geschickt als Spione zu verwenden. Auf diese Weise überwachte sie die Schülerschaft, auch weil meine Fähigkeiten noch nicht ausgereift genug waren, mich um alles allein zu kümmern. Es kam selten vor, dass Menschen sich entschlossen, einen auf Supernatural zu machen und die krafttechnisch überlegenen übernatürlichen Wesen zu jagen, aber die Existenz von Jägern wollte ich an dieser Stelle keinesfalls leugnen.

Und wenn sie nebenbei ein bisschen Schulklatsch mitbekam, freute das Viv noch viel mehr.

» Noah Simons hat sich von Larissa Adams getrennt.«

Ich wusste nicht, welche Reaktion sie erwartet hatte, aber mein uninteressiertes Schweigen schien sie aufzuregen. »Ach komm, das gibt doch Probleme! Für Larissa beginnt gerade die Zeit.«

» Für Larissa beginnt gar nichts. Sie ist ein Mensch.«

Keine von uns, blieb mir im Hals stecken.

Ja, womöglich hegte ich eine kleine Abneigung gegen Larissa – aber nicht ohne triftigen Grund!

Larissa war Cheerleader-Co-Kapitänin und eine der beliebtesten Schülerinnen an der Highschool. Sie war so … normal. Das schien ihr das Anrecht darauf zu geben, all jene zu verspotten, die sich nicht normal verhielten, und glaubt mir: Ein Haufen Übernatürlicher benahm sich nun mal nicht menschlich.

Bestes Beispiel: Ingrid! Sie war eine Austauschschülerin aus Norwegen, mit blonden Haaren und blauen Augen – und einem Faible für Kampfsportarten. Sie war nämlich eine kämpferische Walküre wie in der nordischen Mythologie und konnte an keiner Schulhofprügelei vorbeigehen, ohne nicht zwei oder drei Hiebe an den Mann zu bringen.

Für Menschen war dieses Verhalten mehr als befremdlich, für Ingrid jedoch der allergrößte Spaß auf Erden. Sie fand es nur gemein, dass sie keine Waffen benutzen durfte.

Das Wichtigste war aber, dass wir wirklich versuchten, uns in die menschliche Gesellschaft einzugliedern. Nur konnte man manche Triebe nicht unterdrücken. Ich selbst hatte noch keinen Tag ohne Magie durchgestanden – und wenn ich nur das Popcorn zubereitete oder die Wäsche schneller trocknen ließ.

» Ich glaube, dass sie kein Mensch ist«, warf Vivienne ein.

Bei der geringen Zahl an übernatürlichen Wesen in Relation mit Menschen war es vollkommen natürlich, dass viele sich ineinander verliebten und Kinder zeugten – und eins davon war Larissa. Wir Übernatürlichen hatten oft Beziehungen mit Menschen. Mein Vater – auch wenn ich ihn nicht kannte – war ein Mensch gewesen. Im Gegensatz wie bei Larissa war die Magie allerdings immer so stark, dass Nachkommen von Hexen immer auch selbst Hexen wurden.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.«

Larissa war nur ein dummer und unwissender Mensch – und sie sollte sich über diese Unwissenheit freuen. Ich konnte sie mir nicht als Übernatürliche vorstellen.

» Ich weiß, dass du sie nicht magst, aber die Geschichte ist dennoch erstklassig. Sie hat einfach nach dem Lacrosse-Spiel mit Noah Schluss gemacht – in der Männerdusche!«

» Was?«

» Sie ist einfach eiskalt reingestürmt und hat mit Noah vor versammelter Mannschaft Schluss gemacht. Sie hat nicht einmal weggesehen bei den ganzen halb nackten Kerlen! Selbst mir war das unangenehm!«

» Sag nicht …«

Vivienne nickte strahlend. »Ich habe meinen ersten Vogel wiedererweckt! Von dahin ist es nur ein kleiner Sprung zum Säugetier, also zum Menschen! Wenn es noch erlaubt wäre, versteht sich.«

Der Hexenrat hatte schon vor Jahrzehnten die Erschaffung von Zombies verboten. Diese waren nämlich nicht nur schwer zu kontrollieren, sondern auch verdammt aggressiv. Sie konnten jemanden den Arm abreißen, und sie liebten Gehirne so sehr, dass sie alles dafür tun würden, um an die graue, wabbelige Hirnmasse zu kommen.

In der heutigen Zeit konnte wie bei The Walking Dead und den Zombie-Games ein einzelner hirnfressender Untoter eine ganze Hysterie auslösen. Wobei man betonen musste, dass Zombies keine weiteren Zombies durch neckisches Anknabbern erzeugen konnten, das konnten nur Voodoo-Hexen wie Viv.

» Wir sind aber noch nicht fertig«, sagte Viv, die Voodoo-Puppen ohnehin bevorzugte. »Larissa datet wohl jetzt schon Tim Cassidy, du weißt schon, der …«

Meine Freundin quasselte unaufhörlich weiter, aber ich fand die nähere – und altbekannte – Umgebung viel interessanter als ihre Worte. Larissa, Noah und ihr Liebes-Sechseck interessierten mich gar nicht. Ich streute nur gelegentlich ein »Wow« und »Das gibt’s doch nicht!« ein, damit sich das Gespräch für sie nicht so einseitig anfühlte.

Dabei kamen wir der Schule und dem Stadtkern immer näher.

Unser Wohnhaus stand wirklich sehr weit außerhalb der Stadt, damit es keine Zeugen für missglückte Zauber und die Treibjagden meiner Mom gab.

Die hohen Bäume wurden nach und nach von alten Strommasten und kleineren, verlassenen Häusern mit Maklerschildern in den Fenstern abgelöst. Je näher wir dem Zentrum kamen, desto größer und moderner wurden hier die Gebäude.

Hier war eine kleine, bedeutungslose Stadt im Bundesland Maryland. Meine Großmutter und ihre Mutter hatte es nach den grausamen Schlachten in Gettysburg um 1863 hierhin verschlagen, um Exorzismen an Soldaten durchzuführen und neu verwandelte Vampire und Werwölfe zu unterstützen. Wenn es Krieg gab, dann stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen durch übernatürliche Krankheiten selbst zu Geschöpfen der Finsternis wurden, wenn ich mal so melodramatisch sein durfte.

Als meine Großmutter kurz darauf mit meiner Mutter schwanger war, befahl ihnen der Rat, für die nächsten Jahrzehnte hierzubleiben – nur für den Fall, dass Poltergeister oder Schlimmeres durch die Taten der Menschen entstanden. Na ja, es wurden viele Jahrzehnte …

» Das hat sie wirklich gebracht, May! Kannst du das glauben? Wie dumm muss man sein?«, kreischte Viv nahezu hysterisch neben mir und riss mich aus meinen Grübeleien.

Mir entwich nur ein verwirrtes »Hm?«. Glücklicherweise standen wir in Sichtweite der Schule, und wir hatten nur noch fünf Minuten, um es rechtzeitig in die Klasse zu schaffen. Sie konnte mich in der Pause dann dafür rügen, dass ich ihr nicht zugehört hatte und …

Schwarz.

Schmerz.

» Geht es dir gut, May?«

Vivs Kopf schwebte plötzlich über mir. Ihre Locken kitzelten meine Nase.

Ich wollte schon mit einem »Natürlich« bejahen, da zuckte ein scharfer Schmerz durch meinen Kopf.

Was war gerade passiert?

Ich war eine Hexe.

Ich wurde nicht krank. Mir wurde nicht schwindelig. Ein Dämon konnte auch nicht so einfach Besitz von mir ergreifen. Zudem waren die einzigen Dämonen hier Ephraim, sein kleiner Bruder und seine Eltern. Ich bezweifelte, dass jemand Lust auf einen Schultag mit abschließendem Kampftraining mit meiner Gran hatten.

» Schon gut! Es ist nichts passiert!«, schrie eine männliche Stimme und jemand kam lautstark angerannt. Götter, mein Schädel brachte mich um!

»Ich habe nur die Hexe erwischt! Dir geht’s doch gut, oder?«

Nun schob sich ein weiterer Kopf in mein Blickfeld – und am liebsten hätte ich diesem Gesicht gleich einen Schlag verpasst. Um ehrlich zu sein … Aus einem reinen Reflex heraus hatte ich schon die Hand hochschnellen lassen.

Er wich der Attacke aus. »Ich habe mich doch entschuldigt!«

» Das habe ich aber nicht gehört!«, knurrte ich.

Die pulsierenden Kopfschmerzen nahmen ab – aber nur weil ich eine Hexe war, wie mein Peiniger fallen gelassen hatte. Für ihn war es eine Beleidigung – für mich nur die Wahrheit.

Er seufzte. »Es tut mir leid …« Pause. »Äh. Ma-Maria? Marissa? Mary!«

» MAY! Mein Name ist May!«

Ich rappelte mich irgendwie hoch. Ich glaubte, dass Vivienne mir dabei half. Meine Jeans zierte nun ein weiteres Loch – unterm Arsch! Ganz toll!

Noah Simons starrte mich an. Ja, genau der Noah, über den Viv und ich vorhin erst geredet hatten. Dem Anschein nach war er nun ein Dämon, denn die Erwähnung seines Namens hatte seine unheilige Existenz herbeibeschworen.

Oder er war beim Lacrosse-Training auf dem Sportplatz, dem Vivienne und ich gefährlich nahe gekommen waren.

» Geht es dir gut?«, fragte Noah und ich versuchte krampfhaft, ihm nicht den dämlichen Ball postwendend in sein Gesicht zu schleudern.

Über mich und Noah gab es nicht viel zu sagen: Wie es in einer Kleinstadt üblich war, hatten wir immer die gleiche Schule besucht. Ich erinnerte mich sogar daran, dass wir in der Vorschule ab und an miteinander gespielt hatten.

Aber dann kapierte er – wie alle anderen meiner Mitschüler auch –, dass ich anders war. Dass meine Familie anders war. Nämlich total durchgeknallt – um ein paar fiese Lästereien unter Eltern zu zitieren –, weil meine Mom ihr Geld mit Tarotkarten verdiente und meine Großmutter das Pendel unterstützend dabei schwang.

» Wenn ihr alle so miserabel schießt, dann wundert es mich nicht, dass wir landesweit die Schlechtesten im Sport sind«, verwandelte sich meine Aggression in Sarkasmus. Ich hob den Ball hoch und warf ihn Noah ins Gesicht. Nicht fest, aber es war eine Genugtuung, zu sehen, dass er ihn nicht einmal auffangen konnte.

» Sag das noch mal, Hexe!«

Plötzlich stand Noah direkt vor mir. In seiner rechten Hand hielt er den Lacrosse-Schläger, in der anderen seinen Helm.

Er war groß, trainiert und sonnengebräunt – unheimlich gut aussehend, wie ich zugeben musste. Mit dunkelbraunen Haaren und blauen Augen, deren Beschreibung sicher in dem ein oder anderen Liebesbrief vorgekommen waren.

» Ein bisschen Herumblödeln wird ja wohl noch erlaubt sein«, entgegnete er von oben herab. »Außerdem beginnt die erste Stunde gleich. Ich dachte nicht, dass noch jemand hier draußen ist, der nicht zum Team gehört.«

» Wann blödelt ihr nicht herum?«, gab ich spitz zurück.

Ich lächelte nur, als Noahs Auge genervt zu zucken begann. Ich war heute alles andere als gut drauf, und Noahs Attacke hatte meine Laune in die tiefsten Tiefen des Duat sinken lassen.

» May, lass ihn!«

Sie berührte mich an Arm, und kurz darauf schickte sie mir per Telepathie: Seine Freundin hat vor drei Tagen mit ihm Schluss gemacht! Es liegt gerade einmal das Wochenende dazwischen.Natürlich ist er schlecht drauf.

Ich zischte. Wenn ich ein Mensch wäre, hätte ich dafür jetzt ein ordentliches Schädel-Hirn-Trauma, das er mit einer miesen Entschuldigung wiedergutmachen will!

Noah schenkte mir einen noch giftigeren Blick, ehe er seinen Helm aufsetzte und zum Spielfeld zurücktrottete.

Ich hätte ihn beinahe kampflos ziehen lassen, aber dann murmelte er hörbar: »Blöde Hexe!«

Praktischerweise erschien genau in diesem Moment der Trainer am Spielfeldrand. Als Noah nah genug an ihm ran war, ließ ich allein mit der Kraft meiner Gedanken einen kleinen Erdhügel sprießen. Noah stolperte, ruderte mit den Armen und hielt sich an einem einzigen Ding fest: der Hose des Trainers.

Ich drehte mich weg, damit ich keine Lehrerschlüpfer sehen musste, aber ich hörte die anderen Spieler lauthals lachen.

»SIMONS! NACHSITZEN!«, brüllte der Trainer. »Und einhundert Liegestütze! SOFORT! Keine Widerrede, oder ich sperre dich für die nächsten Spiele!«

Ich lächelte zufrieden und hakte mich bei meiner besten Freundin unter. Was für ein toller Morgen heute doch war! Die Sonne schien! Die Vögel zwitscherten und ich hatte meinen Hexenstolz erneut verteidigt.

» Spinnst du, May?«

Viv hatte genau gespürt, dass ich mich an der Magie bedient hatte.

» Er hat’s verdient! Außerdem sind die Menschen sowieso nicht in der Lage zu sehen, was sich da vor ihrer Nase abspielt. Umsonst gelten wir nicht alle als Mythen und Legenden, als Urban Legends und Creepypastas.«

Vivienne sagte nichts, sondern folgte mir nur mit zusammengezogenen Augenbrauen zum Raum 301, wo wir beide den gleichen Geschichtskurs belegt hatten.

» Ich meine, sieh dir unsere werten Mitschüler an«, schwang ich eine unnötige Rede und öffnete die Tür zum Kursraum. »Die denken nur an Dates, Partys und an den Abschluss an dieser erbärmlichen Schule, damit sie endlich von all den furchtbaren Lehrerinnen und Lehrern wegkommen.«

» Ist das so, Miss Setek?«

Nicht nur Vivienne hatte meinem Vortrag entgeistert gelauscht, sondern auch Mrs. Wolf, unsere Geschichtslehrerin, und der ganze Kurs.

Durch den Vorfall mit Noah hatte ich total die Zeit vergessen! Die Stunde musste bereits begonnen haben.

Die Lehrerin klopfte mit der Kreide an die Tafel. »Ich wiederhole mich: Ist das so, Miss Setek?«

Dabei mochte mich Mrs. Wolf als einige der wenigen Lehrerinnen an der Schule sogar! Ich war eine der besten Schülerinnen in Geschichte, was nicht verwundern sollte, wenn man bedachte, dass meine Familiengeschichte bis ins Alte Ägypten zurückreichte.

» Nein«, murmelte ich und senkte den Kopf.

» Miss Setek und Miss Denaux, ihr beide werdet heute nachsitzen.«

KAPITEL2

große pause der monster ag

Auch beim Mittagessen wurde meine Laune nicht besser. Dabei war das Essen in unserer Cafeteria eigentlich ganz genießbar. Heute gab es für mich als Vegetarierin Nudeln mit Tomatensoße, Vanillepudding und vegane Brownies.

» Hallo«, knurrte ich missmutig in die Runde und knallte mein Tablett mit Essen auf den Tisch.

» Oh, da hat aber jemand einen schlechten Tag!«, zwitscherte Penelope mit ihrer zuckersüßen Honigstimme, die Menschen um den Verstand bringen konnte, mich aber momentan nur gewaltig nervte. »Was ist denn los, Süße?«

Ich hatte keine Lust zu antworten, sondern massakrierte mit dem Löffel lieber den wehrlosen Vanillepudding.

Als wäre die Sache mit Noah und dem daraus resultierenden Nachsitzen nicht schon Demütigung genug für den Tag, hatte ich noch erfahren dürfen, was wir als Nächstes im Unterricht durchnehmen würden: Die Hexenprozesse von Salem.

Alle Schüler im Raum hatten sich zu mir und Vivienne umgedreht. Dabei war ich mit den Salem-Hexen nicht mal im Ansatz verwandt! Sie waren irgendwelche Hexen aus England gewesen, während – zum hundertsten Mal! – meine Familie aus Afrika stammte. Dort hatten sie Priesterämter bekleidet, bevor sie sich vor der Eroberung der Römer bis zur Neuzeit weitestgehend in Europa versteckt hielten, weil man sie sonst auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Schließlich war dann meine bis auf meine Urgroßmutter geschrumpfte Familie mit den spanischen Pionieren in die Neue Welt ausgewandert.

Ich hatte noch nicht die ganze Familiengeschichte gelernt, weil ich ohnehin schon genug mit meinen Kursen beschäftigt war.

» May?«, drang eine männliche Stimme an mein Ohr, und ein allzu bekannter Duft stieg mir in die Nase.

Ephraim hatte neben mir Platz genommen.

» Willst du meinen Körper?«, fragte ich meinen besten Freund, der zufällig auch mein Ex war. »Du kannst ihn dir gern für ein paar Tage ausleihen. Ich hätte nur zu gern mal eine Auszeit von all dem hier. Am Nachmittag muss ich beziehungsweise du nachsitzen, nur damit du es weißt.«

» Dämonen können nur von Menschen Besitz ergreifen – und da nicht einmal von jeden«, mischte sich auch noch das andere männliche Exemplar am Tisch ein – Eric. »Lernt ihr Hexen gar nichts mehr?«

» Wow! Du verstehst auch keinen Spaß!«, keifte ich den Vampir an. »Das war Ironie.«

Wenn ich ehrlich war: Nein, das war absolut neu für mich! Ich hatte gedacht, dass Dämonen durchaus Besitz von Übernatürlichen ergreifen konnten. Puh, gut, dass ich noch keine voll ausgebildete Hexe war!

Ich mochte meine Schützlinge. Dass ich eng mit Ephraim befreundet war, musste ich wohl nicht noch einmal betonen. Penelope war manchmal ein bisschen … zu viel, weil sie sich als Sukkubus immer bei mir und Ephraim eingemischt hatte, aber ich verstand auch, dass sie sich von sexueller Energie ernähren musste. Dann gab es noch Eric, den ich am liebsten die Gabel in sein Herz gerammt hätte. Ebenso wie Penelope sah er nur aus wie ein Teenager, war aber schon viel älter. Da er sich aber geweigert hatte, irgendeinen Job für den Hexenrat anzunehmen, hatten sie den Vampir hierhin strafversetzt, wo meine Mom ein Auge und einen Fangzahn auf ihn werfen konnte.

» Ich darf als Stellvertreter der Hexe May die heutigen Geschehnisse einmal zusammenfassen«, begann Viv zu erzählen. »Wenn ihr euch fragt, warum unser Sonnenschein noch mieser drauf ist als sonst: Sie kam nicht aus dem Bett, Albert hat sie wieder mal wecken müssen, und dann hat Noah Simons ihr einen Lacrosse-Ball mitten ins Gesicht geschleudert. Dann hat sie sich mit Magie gerächt und wir haben das Klingeln überhört, weshalb wir nachsitzen dürfen, weil sie liebevoll die ganze Schule beleidigt hat. Das Wichtigste ist: Wisst ihr schon, dass Noah und Larissa sich getrennt haben?«

Eric stöhnte genervt und murmelte ein paar Schimpfwörter in einer europäischen Sprache.

» Wer?«, fragte Ephraim und richtete sich seine Brille.

Das mochte ich an Ephraim. Während Viv meist ein bisschen überdreht war, verhielt sich der Dämon viel ruhiger und interessierte sich nicht für das Leben an der Highschool. Er wirkte einfach bodenständiger als Viv, und manchmal brauchte ich so einen Felsen. Ein bisschen Normalität war nie verkehrt.

» Noah Simons ist also wirklich wieder Single, ja?«

Penelope sprang so schnell von der Bank auf, dass der Dämon und der Vampir gleichzeitig erschraken. Sie überprüfte schnell ihr Make-up im Handspiegel, wobei sie das nicht gebraucht hätte. Sie wirkte auf alle, die das weibliche Geschlecht anziehend fanden, unwiderstehlich. Sie war auch wirklich wunderschön mit ihren langen honigblonden Haaren und den veilchenblauen Augen, der reinen marmorweißen Haut – und ich würde für ihre Wimpern töten!

Sie berührte den herzförmigen Anhänger an ihrem Hals und klimperte mit besagten Wimpern. »Da probiere ich doch gleich mal mein Glück, oder?«

» Muss das sein?«, fragte ich.

» Liebe May, ich hatte seit einer Woche kein Date mehr, und ich brauche bald eines, sonst verhungere ich erbärmlich. Wenn du dich nicht opfern willst, dann muss ich jetzt einen jungen Mann verführen.«

» Date« hieß in ihrem Fall natürlich Sex.

Da Penelope sich immer brav an die Regeln für Sukkuben hielt – allerhöchstens einmal in der Woche ein Date zu haben und niemals zu viel Lebenskraft zu stehlen –, sagte ich nur: »Wenn es sein muss.«

Mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen hopste sie in Richtung Noah und seine Sportlerkumpels.

» Hallo, meine Freunde!«

Wie ein Blitz – im wahrsten Sinne des Wortes – schlug Ingrid neben mir ein. Die Bank gab eindeutig nach, als sie sich darauf fallen ließ.

» Hallo … Ingrid«, begrüßte ich sie verspätet, weil mein Gehirn ihr Eintreffen erst verarbeiten musste. »Du bist ganz schön spät dran.«

Ingrid aß nicht immer mit uns. Sie war wie viele Walküren eine Einzelgängerin und nutzte ihr Auslandssemester in Amerika in erster Linie fürs Schulschwänzen und Kampftraining.

» Bin noch in eine Schlägerei geraten«, sagte sie und zuckte ungerührt mit den Schultern. »Konnte einfach nicht daran vorbeigehen.«

Sie drehte sich mit einem Lächeln zu mir. »Sehe ich noch schlimm aus?«

Na, was hieß bei ihr schon schlimm? Um ihr linkes Auge herum heilte bereits ein Bluterguss und ihre Lippe war ein bisschen aufgeplatzt. Ich hatte sie tatsächlich schon in weitaus schlimmerer Verfassung zusammenflicken dürfen. In ihrer ersten Schulwoche an dieser Highschool war sie in eine Auseinandersetzung unter Betrunkenen geraten und hatte dabei eine gebrochene Nase kassiert.

Ich holte einen Lippenbalsam mit Heilkräutern aus meiner Tasche und schmierte ihn Ingrid auf die aufgeplatzte Lippe. »Nicht wirklich schlimm.«

» Danke schön!« Sie fuhr sich mit den Fingern durch das weißblonde Haar, das ganz verfilzt war. Ein paar Kieselsteine und Grashalme rieselten auf den Tisch und auf die Sitzbank. »Die Kerle sehen übrigens viel schlimmer aus als ich.«

Sie stürzte einen vollen Teller Nudeln hinunter, und kurz darauf folgte schon der zweite. »Hast du keinen Appetit?«, fragte sie mich und deutete auf meinen Teller.

» Musst du heute auch nachsitzen?«, fragte Viv.

» Hm? Ach, nein. Das waren irgendwelche Idioten, die sich an einer Straßenkreuzung wegen eines kleinen Autounfalls geprügelt haben. Da dachte ich mir, dass ich gleich mit einsteige.«

» Das ist doch die Höhe!« Fluchend kam Penelope zurück. »Oh, hi, Ingrid.«

» Tagchen, Penny.«

Ohne etwas zu sagen, stand Eric auf und marschierte aus der Cafeteria. Na endlich! Er war und blieb ein Idiot, und ich mochte seine Anwesenheit gar nicht. Wenn er am Tisch saß, konnte ich mich nicht entspannen. Was seltsam war, da ich durch meine Mom sämtliche Vampireigenheiten gewohnt war.

» Stellt euch vor: Noah hat mich abblitzen lassen!«, regte sich der Sukkubus auf. »Mich! Einen Sukkubus! Merkt man mir langsam etwa mein wahres Alter an?« Sie seufzte mit dem Handrücken an der Stirn und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Seid ehrlich.«

» Wenn du dich so theatralisch verhältst: Ja.«

Penelope sah wie siebzehn aus – und das würde sich ihr ganzes Leben lang nicht ändern. Gewandelte Übernatürliche verharrten in einer Starre, während Viv, Ephraim, Ingrid und ich uns zwar langsam, aber stetig veränderten.

» Ich glaube, dass er doch noch ein bisschen in sie verliebt ist«, seufzte Penelope. »Ich kann mich täuschen, aber sie war seine erste Liebe. Ich muss sagen, dass ich das total süß finde. Schlecht für mich, aber echt süß.«

Ich rettete meine Nudeln vor Ingrids gierigem Blick. »Noah Simons ist nicht süß!«

» Wir wissen alle, dass du nicht auf Menschen stehst, May«, sagte Penelope. »Außer sie sind seit fast dreißig Jahren tot und waren Sänger bei Nirvana, aber Noah Simons ist wirklich kein schlechter Vertreter seiner Art.«

Ich zog es vor, vieldeutig zu schweigen.

Beziehungen mit Menschen endeten immer in einer Tragödie – da war kein Hauch Theatralik an diesem Fakt.

KAPITEL3

ist es ein vogel? ein flugzeug? nein, eine riesenfledermaus!

Freust du dich aufs Nachsitzen?«, fragte Ephraim mit einem sarkastischen Grinsen im Gesicht.

Wir schlenderten gerade langsam den Schulflur entlang, Viv war kurz in Richtung Toiletten entschwunden, um ihre Schwestern daheim noch mal zu ermahnen, nicht ihre Sachen anzufassen.

» Natürlich. Zwei Stunden in einem Abstellraum sitzen mit der Crème de la Crème der Schule.«

» Du weißt schon, dass du in den Top Ten der Schüler bist, die am allermeisten nachsitzen mussten?«

Im krassen Kontrast zu mir hatte Ephraim noch nie nachsitzen müssen. Er war strebsam, benahm sich gut und kam niemals zu spät zum Unterricht. Alles Attribute, die man nicht unbedingt mit einem Dämon in Verbindung bringen wollte, der Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.

Ich seufzte. »Ich bin nachtaktiv. Ein bisschen Vampir steckt dann wohl doch in mir.«

Keine. Hexe.

Die zwei Worte dröhnten erneut in meinen Kopf und brachten mich zum Anhalten. Hier war doch jemand!

Ephraim stupste mit seinem Zeigefinger gegen meine Stirn. »Erde an May.«

» Ich … Ich war gerade wieder mal mit den Gedanken woanders. Sorry.«

Als ich gerade etwas über die letzte Stunde Kunst sagen wollte, eines der wenigen Fächer, die ich mit Ephraim gemeinsam hatte, flog er mir praktisch in die Arme. Seine Brille rutschte von der Nase und landete auf dem Boden.

» Pass auf, wo du rumstehst, Freak.«

Niemand anderes als Larissa, Noahs gefürchtete Ex, hatte Ephraim das angetan.

Als sie mich erblickte, verzog sie abschätzig die Lippen. »Deine kleine Freundin ist ja auch hier. Ah! Ich habe ganz vergessen, dass ihr nicht mehr zusammen seid.« Sie tippte sich mit dem Finger gegen ihre Stirn. »Ist auch besser so. Eure Beziehung war ja wirklich armselig.«

» Hau einfach ab, Larissa!«, zischte ich sie wütend an.

Mein Blick wanderte zu Ephraim.

Er war wie erstarrt. Seine Fingernägel begannen schon sich schwarz zu verfärben und spitzer zu werden. Wenn er sich nun vollends vor einem Menschen verwandeln würde, wäre das meine Schuld. Ich musste darauf aufpassen, dass sich niemand von meinen Schützlingen in einem unpassenden Moment offenbarte.

Allerdings wollte Larissa eh nicht mehr länger mit uns abhängen. »Bye, ihr Loser!«

Als Noahs Ex an mir vorbeimarschierte, warf sie sich ihre roten Haare über die Schulter und ließ noch ein pikiertes Schnauben hören. Egal, egal, egal! Sie konnte sich so aufführen, wie sie wollte. Meine Gran war ausgeflippt, als sie erfahren hatte, dass ich mich mit einem Zauber an ihr gerächt und ihr hartnäckige Krätze angezaubert hatte. Meine Mom hatte es ganz amüsant gefunden.

Ich drehte mich wieder zu Ephraim.

» Alles wieder okay?«, fragte ich vorsichtig.

Er lehnte an einem Spind, die Augen fest zugekniffen, und atmete tief ein und aus. Als erst vor Kurzem erwachsen gewordener Dämon konnte ihn faktisch jede Kleinigkeit zur Verwandlung bringen.

Schnell setzte ich ihm die Brille auf die Nase. Sie war mit einem Zauber belegt, der die Verwandlung etwas bremsen konnte.

» Jetzt passt es wieder«, presste er beinahe atemlos hervor. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Ich hasse es, wenn das passiert.«

» Hey«, flüsterte ich mit sanfter Stimme und legte eine Hand auf seine Schulter. Das komische Bauchgefühl ignorierte ich in diesem Moment. Hier ging es um mehr als eine kurze Teenager-Beziehung. »Es ist doch gar nichts passiert. Kein Grund, sich aufzuregen.«

Doch Ephraim sprang zur Seite. »Ich sollte besser nach Hause gehen. Bye, May.«

Ich streckte meine Hand aus. »Warte.«

Doch Ephraim hatte schon den halben Flur hinter sich gelassen. Entmutigt ließ ich meine Hand sinken.

» Bäh!« Mir blieb keine Zeit, mich zu grämen, da Vivienne zurückkam. »Draußen ist es so schön, und wir müssen in der Schule sitzen. Ich könnte genauso gut daheim rumsitzen und Netflix schauen.«

Mit hängenden Schultern schlurfte ich hinter ihr in die Folterkammer, die man der Schule als Raum fürs Nachsitzen verkauft hatte. Neben uns beiden waren noch vier weitere Schüler verdonnert worden, den restlichen Tag in einem stickigen Raum zu verbringen.

Als Noah mich und Viv erspähte, zog er verwundert die Augenbrauen zusammen. Wäre er nicht gewesen, dann wäre ich nicht einmal hier!

Bei sechs Stühlen war es schwer, Noah zu ignorieren – oder ein bisschen Abstand zwischen uns zu bringen: Viv setzte sich neben Noah und ich mich vor ihn.

» Sieh mal an.« Ich spürte, dass er die Beine ausstreckte und mit seinen Füßen gegen meinen Stuhl drückte. »Hast du ein bisschen Hokuspokus betrieben? Ein Blutritual durchgeführt? Oder warum darf eine Hexe nachsitzen?«

» Ja, ich bin eine Hexe.« Ich drehte mich zu Noah um. »Und Viv ist auch eine Hexe. Also kannst du dir die Beleidigungen in den Arsch schieben, weil du nur die Wahrheit sagst.«

» Das war doch nur ein blöder Spruch. Reg dich ab.«

Ich konnte in Noahs Miene lesen, dass er das als Sarkasmus deutete. Das war auch so typisch Mensch! Einfach die Augen vor der Realität zu verschließen und die Wahrheit nicht hören zu wollen.

Doch dann kehrte das Grinsen schnell wieder in sein Gesicht zurück. »Deine Freundin hat mich in der Pause angegraben.«

» Penelope? Na und?«

Ich wusste nicht, ob ich Penelope wirklich als meine Freundin bezeichnen wollte. Sie war mein Schützling, aber ich glaube, mehr war da nicht zwischen uns.

» Ich kann mir denken, was sie wirklich von mir wollte.«

Überrascht zog ich eine Augenbraue in die Höhe. Woher wollte er wissen, dass Penelope nur mit ihm schlafen wollte, weil sie ein Sukkubus war und ihre Reserven aufladen musste?

Dann wurde es mir klar.

Ich stöhnte leise. »Warum sollte ich Penelope anstiften, dich zu verführen? Bist du vielleicht ein bisschen paranoid in der Birne?«

Er wollte etwas sagen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

» Wirklich? Nur weil du mir versehentlich einen Ball ins Gesicht geschleudert hast? Wow, das Bild von Hexen war nie gut, aber das ist die Höhe. Und was würde es meiner Rache«, ich machte extra Gänsefüßchen, »helfen, wenn du mit Penelope was anfängst?«

»Ä hm … Larissa würde mir sicher den Hals umdrehen, wenn ich nach unserer Trennung gleich eine andere am Start gehabt hätte.«

» Soll ich dir was sagen, Noah?« Ich schlug mit der Hand auf die Faust. »Larissa ist eine blöde Kuh. Sei froh, dass du sie los bist.«

» Du kennst Larissa nicht so, wie ich sie kenne. Was weißt du schon?«

Unserer Auseinandersetzung war etwas lauter geworden, sodass uns die anderen Schüler alle anglotzten.

» Penelope hatte recht. Du hängst wirklich noch an ihr. Erbärmliches Menschlein.«

» Menschlein?«

» Ich bin eine Hexe, schon vergessen?«, sagte ich mit trockener Stimme und drehte mich einfach um.

Ich würde Menschen nie verstehen.

May, hast du sie noch alle?, fuhr mich Viv so laut in Gedanken an, dass ich zusammenzuckte.

Ich blickte sie an – sie sah noch saurer aus als heute Morgen.

Was denn?

Das heute Morgen war ja noch ein bisschen lustige Situationskomik, aber bei den Loas, warum verrätst du ihm, dass wir Hexen sind?

Der Idiot glaubt das eh nicht.

Sei trotzdem vorsichtig. Vivienne schüttelte den Kopf. Ich will nicht wie Marshmallows auf dem Scheiterhaufen geröstet werden.

Du bist eine Hexe des Feuers, du kannst nicht so einfach …

Pass trotzdem auf!

Aber um Noah Simons musst du dir doch keine Sorgen machen! Der Kerl ist Sportler und sein Kopf sicher so hohl wie der Lacrosse-Ball.

Viviennes Falten auf der Stirn wurden zu riesigen Kratern. Doch die Sache war für sie erledigt. Sie kramte ihr Buch für den Literaturkurs aus ihrer Tasche und begann zu lesen.

Kurz darauf erschien auch schon der Lehrer, der die ehrenvolle Aufgabe hatte, uns eine Stunde lang beim Nichtstun beizuwohnen. Er schien genauso begeistert wie wir zu sein, denn er zeigte nur stumm auf die Uhr, hob einen Finger und las dann in einem Magazin über Autos.

Ich verbrachte die Stunde mit meinen Geschichtshausaufgaben und beobachtete Noah heimlich. Hin und wieder fiel mein Stift runter, damit ich einen Blick auf den Sportler erwischen konnte. Einmal begegneten sich unsere Blicke, und ich wurde ganz rot, weil er mich beim Spionieren erwischt hatte.

Die Stunde hatte sich bereits ihrem Ende genähert, als eine Schülerin lauthals loskreischte und aufgeregt zum Fenster deutete. Ein großer dunkler Fleck flatterte direkt auf meiner Augenhöhe herum.

» Oh, ihr Götter, das kann doch nicht wahr sein.«

Kannst du laut sagen.

Meine Hand schoss in die Höhe. »Darf ich bitte kurz auf die Toilette?«

Ohne auf die Antwort des ohnehin abgelenkten Lehrers zu warten, schnappte ich mir den Flurpass und rannte zu den Mädchentoiletten. Dort wartete ich, bis alle Kabinen frei waren, verriegelte die Tür und riss das Fenster auf.

Gemütlich segelte mein Flughund herein und ließ sich ins Waschbecken fallen.

» Kurt! Was machst du hier?«

Mein Hexentier Kurt gehörte passend zu meinen Wurzeln den Nilflughunden an. Er hatte schwarze Knopfaugen, denen man keinen Wunsch ausschlagen konnte, hellbraunes Fell und dunkle Flügel. Das Mädchen hatte sich wohl auch so erschrocken, weil er zwar wie eine normale Fledermaus aussah, aber einfach fünfmal so groß war.

Vor über zehn Jahren war er einfach so in den Garten geflattert, nachdem er sich in eine Orangenkiste aus Ägypten geschmuggelt hatte, weil er mich suchen wollte. Weil er die Verbindung zu mir gespürt hatte.

Kurt ließ ein Fiepen erklingen.

» Was? Gran wartet auf mich? Aber … Oh, verdammt. Ich habe heute Kampftraining, oder?«

Kurt zuckte mit den Flügeln.

» Kannst du schnell nach Hause fliegen und Gran Bescheid geben, dass ich in zehn Minuten da bin?«

Kurt hob salutierend einen Flügel an und schwang sich dann aus dem Toilettenraumfenster.

Vor dem Toilettenraum hatte sich inzwischen eine Schlange gebildet, und sogar der Hausmeister stand schon mit dem Werkzeugkoffer vor der Tür.

»Ä hm. Die Tür geht doch ganz normal auf und zu«, sagte ich und demonstrierte es, bevor ich mich schnell aus dem Staub machte.

Das Nachsitzen war offiziell beendet, als ich zurück in den Raum kam. Viv hielt meinen Rucksack hoch. »Was wollte Kurt?«

» Ich hätte heute Unterricht bei meiner Gran gehabt.«

» O May, sie wird durchdrehen!«

Viv wusste, dass meine Großmutter das Hexenstudium ab und zu ein bisschen zu ernst nahm. Ich verabschiedete mich deshalb schnell von ihr und fand mich wieder bei den Toiletten ein.

Normalerweise hasste ich diese Art zu reisen, aber meine Gran würde sich sonst noch eine Bestrafung für mein Zuspätkommen ausdenken.

Ich fuhr mit den Fingern ein paarmal über die glatte Spiegeloberfläche, bis sie sich verflüssigte. Mein Spiegelbild verschwand und stattdessen erschien dort mein Zimmer.

So. Hoffentlich überstand ich das jetzt ohne Blessuren.

Ich nahm Anlauf und sprang durch den Spiegel.

KAPITEL4

unterricht – oder: nicht-sterben-training

Spoiler: Es klappte.

Aber ich legte einen ordentlichen Bauchklatscher auf den Teppich hin und nicht, wie geplant, auf dem weichen Bett. Missmutig über meine eigene Unfähigkeit blieb ich ein paar Sekunden so liegen.

»Was für ein absoluter Scheißtag!«

Da war ich nicht einmal voreingenommen, weil das nachfolgende Kampftraining mich auch noch körperlich total auslaugen würde.

Kurt flatterte herbei und rieb zur Aufmunterung mit seiner pelzigen Schnauze an meiner Wange. Das fühlte sich zwar schön an, heiterte mich aber nicht auf.

» Lass Frauchen einfach auf den Boden liegen, ja?«

Doch der kleine Flughund ignorierte meine Anweisungen, krabbelte unter meine Haare und schmiegte sich an meinen Hals. Seine kalte Nase an meiner Haut löste ein wohliges Schaudern aus.

» Okay. Ich stehe ja schon auf.«

Mit Kurt auf meiner Schulter rappelte ich mich hoch und kickte meinen Schulrucksack unters Bett. Da würde ich ihn mit Sicherheit morgen finden – schließlich hatte Gran alle Wichtel vor einem Monat ausgeräuchert. Wenn wir schon mal bei Gran waren: Eher widerwillig verließ ich mein Zimmer, um sie zu suchen. Sie brüllte schon einmal nicht quer durchs Haus, was ich als gutes Omen auffasste – das aber ein ganz anderes Problem mit sich brachte …

Unser Haus hatte vor gut zwei Jahrhunderten noch einem reichen Politiker gehört, der hier mit seiner ganzen Familie inklusive seiner als Hausangestellte getarnten Geliebten gelebt hatte. Es gab an die drei Dutzend Zimmer, einen verwinkelten Keller und einen gigantischen Garten. Ein viel zu großes Haus für vier Personen und zwei kleine Hexenfamiliare, aber laut des Hexencodex waren wir verpflichtet, andere Übernatürliche aufzunehmen, wenn diese unsere Hilfe brauchten.

Was ich damit sagen wollte, war, dass es alles andere als einfach war, meine Großmutter zu finden.

» Gra-«

Die aufgeregte Stimme meiner Mutter verschluckte meinen Ruf: »HALT DICH DA RAUS!«

Daraufhin erwiderte eine unbekannte – männliche! – Stimme etwas. Ein Mann – in unserem Haus?

Ich musste Gran finden, bevor sie mir irgendwelche Extraaufgaben aufbrummte.

Aber …

Am Ende gewann meine unstillbare Neugier und ich folgte den erhitzten Stimmen, bis ich vor Moms Arbeitszimmer stand. Durch den Spalt in der Tür drang der Geruch von Weihrauch, süßlichem Parfüm und … Blut. Es war nur ein schwacher Hauch, aber in meiner Brust breitete sich sofort wieder ein nahezu überwältigendes Gefühl von Ekel aus.

» Mo…«, wollte ich schon beginnen und mich wie eine gute Tochter nach ihrem Wohl erkundigen. Ich war überhaupt nicht neugierig, mit wem sie sich da lautstark stritt. Ich wollte sie nur nicht unterbrechen, weshalb ich mich lauschend an den Türrahmen lehnte und ins Zimmer lugte.

Im Innenraum war es ziemlich dunkel. Meine Mutter hatte jeglichen Sonnenstrahl, der ihre Haut wie Säure verzehren konnte, mit schweren dunklen Vorhängen ausgesperrt.

Die zwei Gestalten konnte ich dennoch ausmachen: An dem Tisch, an dem meine Mom für ihre Kunden gewöhnlich Tarotkarten legte oder Entscheidungen auspendelte, saß meine Mutter und der Fremde. Mom saß mit der Blickrichtung zur Tür und hätte mich sicher gesehen, hätte sie den dunkel gekleideten Fremden vor sich nicht mit ihrem finsteren Blick fast getötet.

» Nein. Nein, nein, nein!« Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt, fast so, als wollte sie ihn auf keinen Fall versehentlich berühren. »Nein!«

O ja, sie war wütend. Fuchsteufelswild. In dieser Gemütslage konnte sie Furcht einflößend – manchmal gar monströs – wirken.

Ich sah meiner Mom auf den ersten Blick ziemlich ähnlich: Wir beide waren hochgewachsene, schlanke Frauen mit langem, dichtem schwarzem Haar. Doch es gab ein paar Dinge an ihr, die sie von ihrem vampirischen Vater geerbt hatte, wie –