Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die bedeutende Kathedrale im Überblick Die Kathedrale von Chartres ist ein einzigartiges Zeugnis gotischer Baukunst. Mit ihrer außergewöhnlichen Geschichte, ihren beeindruckenden Portalen, den vielen Originalfenstern aus dem Mittelalter und ihren Energien ist die Kathedrale für viele Besucher aus aller Welt ein Magnet. Der Kathedral-Führer behandelt umfassend die Geschichte und die architektonischen Besonderheiten. Er geht auf die Portale, die Skulpturen, das Labyrinth und die Glasfenster ebenso ein wie auf die berühmte mittelalterliche Kathedralschule von Chartres. Außerdem nimmt der Führer Bezug auf die geistigen und energetischen Zusammenhänge, die in dieser uralten Mysterienstätte des Abendlandes wirken. Zahlreiche, meist vierfarbige Abbildungen und praktische Besuchertipps mit Webseiten rund um die Organisation eines Chartres-Besuches runden den Inhalt ab. Die Autorin Sonja Ulrike Klug befasst sich seit über 20 Jahren mit historischen Themen rund um den Kathedralenbau und hat zahlreiche Bücher und Artikel über Chartres und über die Kulturgeschichte mittelalterlicher Baupläne und Baumeister geschrieben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 198
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sonja Ulrike Klug
Chartres – der Kathedral-Führer
Geschichte, Architektur, Schule, Skulpturen, Labyrinth und Glasfenster
der französischen Kathedrale
KlugesVerlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © Dr. Sonja Ulrike Klug, Kluges Verlag,
Menzenberger Str. 22, 53604 Bad Honnef (Deutschland)
2024
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Texte und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne ausdrückliche Zustimmung und schriftliche Genehmigung des Verlags unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen, Data-Mining sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt
Vorwort
1. Die Entwicklung der Kathedrale
Die vorchristlichen Ursprünge
Die erste christliche Kirche
Die zweite und die dritte Kirche
Die vierte Kirche, der romanische Bau von Bischof Fulbert
Die fünfte Kirche, die gotische Kathedrale von heute
Bauliche Aktivitäten in der Neuzeit
2. Architektur und Geometrie
Der gotische Baustil
Grund- und Aufriss der Kathedrale
Die Bedeutung der Geometrie für den Kathedralenbau
Die astronomische Ausrichtung des Kirchenschiffs
Geobiologische und geomantische Besonderheiten
3. Das Äußere der Kathedrale
Die beiden Türme und die Westfassade
Engel, Esel und Schwein – drei allegorische Gestalten auf der Südwestseite
Die Skulpturen des Königsportals
Die Skulpturen des Nordportals
Die Skulpturen des Südportals
4. Das Innere der Kathedrale
Wandaufbau und Pfeiler
Das Labyrinth
Die Chorschranke und Notre-Dame-du-Pilier
Die Glasfenster
5. Die Schule von Chartres
Die sieben freien Künste
Bedeutende Lehrer der Kathedralschule
Ausklang des Chartreser Denkens
Chartres für den Menschen von heute
Anhang
Literatur
Nützliche Hinweise und Websites für Besucher
Bildnachweise
Über die Autorin
Empfehlenswerte Bücher
„Tempel der Menschheit! Denn der Gott, dem er gebaut war, ist nicht der Gott eines engen dogmatischen Bekenntnisses. Der Christus, der hier verehrt wurde, ist der, der in die Mysterien des Menschseins eintrat und sie offenbarte, der Hohepriester der Menschheit“ (Richter, S. 86).
„Von dieser Kirche wissen viele Menschen in der ganzen Welt. Und wer wirklich etwas von ihr ‚weiß’, muss sie lieben. Und solche gemeinsame Liebe knüpft einende Bande um Menschen über die ganze Erde hin, über die Unterschiede der Völker hinweg und die Grenzen der Staaten …“ (Heyer, S. 8).
„Wem jemals das Glück zuteil wurde, verständnisbegabten Sinnes Chartres besuchen zu können, dem wird sein Leben lang unvergesslich das Bild der herrlichsten und wunderbarsten aller Kathedralen wie ein innerer Dom vor der Seele stehen“ (Heyer, S. 7).
Es ist etwas Besonderes an Chartres. Etwas, worin sich Chartres von vielen anderen gotischen Kathedralen unterscheidet – etwas, das jeder spürt, der einmal dort gewesen ist. In Chartres wirken hohe Energien. Sie laden die Menschen, die sich einige Zeit in das nähere Umfeld der Kathedrale oder in ihr Inneres begeben, mit starken Kräften auf. Jeder, der diesen heiligen Ort besucht – gleich ob aus spirituellen, kirchlich-religiösen oder einfach nur aus touristischen Beweggründen – fühlt diese außergewöhnlichen Energien, die in anderen Kirchen oder Kathedralen nicht in dieser Weise spürbar sind. „Chartres hat zu mir gesprochen“, erzählen mir immer wieder Besucher der Kathedrale, die von ihrem Chartres-Ausflug verwandelt zurückkamen, weil sie dort mit ihrem höheren Selbst in Kontakt gekommen sind.
Was ist es, das diesen einzigartigen Kraftort ausmacht? Worin liegt sein Zauber, sein Faszinosum? Ist es die herausragende Geometrie mit dem goldenen Schnitt, der ein unmittelbares Gefühl von gelungener Proportion, Harmonie und Schönheit vermittelt? Sind es die klaren, schnörkellosen, beinahe strengen Linien, die die Außenansicht des gotischen Baus bestimmen? Sind es die wunderbaren Glasfenster aus dem Mittelalter, die mit ihrem geheimnisvollen blau-roten Leuchten das Kirchenschiff in ein mystisches Licht tauchen? Oder sind es die zahlreichen Gewändefiguren am Westportal, die mit ihrem entrückten, glückseligen Lächeln von einem erhabeneren Leben künden?
Es ist all dies, aber es ist noch viel mehr: Chartres ist die Kathedrale der Wiedergeburt des Menschen – der Wiedergeburt in ein höheres Bewusstsein, in das Christusbewusstsein. Während in vielen anderen Kirchen Symbole des Todes eine besondere Rolle spielen, ist dies in Chartres nicht der Fall: Kein Bischof oder hoher Würdenträger wurde jemals hier beerdigt, und Darstellungen des Gekreuzigten finden sich nur ausgesprochen spärlich auf lediglich drei Glasfenstern. Stattdessen weist vieles auf diese Wiedergeburt des Menschen hin: Notre-Dame de Chartres ist der Jungfrau Maria und außerdem Johannes dem Täufer geweiht, denn die Taufe ist das Zeichen für die Wiedergeburt. Die Reliquie der Kathedrale ist der Schleier, den Maria bei Jesu Geburt getragen haben soll. Die Symbolwelt in Chartres ist auf die Wandlung des Menschen und auf seine Erhöhung ausgerichtet, und dies, wie es scheint, von den frühesten vorchristlichen Anfängen her.
Die Kathedrale ist in ihrer Gesamtkonzeption wie auch all ihren baulichen Details – bis weit in die nicht sichtbaren Bereiche hinein – „durchkomponiert“. Nichts wurde hier dem Zufall überlassen, nichts ist einfach nur Dekor oder überflüssiger Zierrat. Doch muss sich das Auge des modernen Besuchers erst daran gewöhnen, muss wieder „sehen“ lernen, um sich die ganze Bilder- und Symbolwelt, die ungewohnte Erhabenheit, Klarheit und Schönheit des Gebäudes zu erschließen. Unsere „weltlichen Behältnisse“, in denen wir heute üblicherweise leben, unsere Häuser und sonstigen Bauten, sind rechteckig, gleichförmig, rein funktional, betont schmucklos bis langweilig und vom Bauhausstil der 1920er-Jahre geprägt. Ungewohnt erscheint darum dem Betrachter zunächst das Kirchenschiff von Chartres in seiner Größe, seiner Fülle, seinem architektonischen wie künstlerischen Detail- und Gestaltungsreichtum, der auf den ersten Blick unverständlich wirken kann, so dass man geneigt ist, das Wesentliche in der Fülle der Darstellungen zu übersehen.
Dieses Buch möchte dem Besucher von Chartres eine Orientierung geben. Es möchte die unsichtbare Geschichte ebenso wie einige wesentliche sichtbare Elemente des gotischen Baus vor Augen führen und erläutern. Und es möchte darauf hinweisen, welche Kräfte hier im Hintergrund wirken. Neben dieses „Wissen“ sollte dann das unmittelbare „Erleben und Erfahren“ von Chartres treten. Denn erst der persönliche Besuch ermöglicht es dem Leser, selbst mit den hohen Energien der Kathedrale in Kontakt zu treten.
Dr. Sonja Ulrike Klug
„Diese Kathedrale ist mehr als nur ein Meisterwerk; sie ist eine Wesenheit aus Stein“ (Merz, S. 97).
„Man wird die Herrlichkeit der Kathedrale nie ganz verstehen, wenn man nicht sieht, dass sie doch nur die letzte reiche Blüte aus einem unsichtbaren Stamm ist, dessen Wachstum durch unausdenklich lange Zeiten geht und der immer wieder trieb und ausschlug, und wenn man nicht dem leisen und doch mächtigen Leben in diesem unsichtbaren Stamm zu lauschen bereit ist. Durch ein Jahrtausend fast können wir sein lebendiges Sprossen zurückverfolgen. Dann verlieren sich die Wurzeln in einem Dunkel voller Geheimnisse, die man aber immer noch ahnen kann. Welch unendliche Kraft, die es vermochte, dass jede Zerstörung immer nur die Möglichkeit zu neuer strahlenderer Größe wurde!“ (Richter, S. 11).
Für die Baugeschichte von Chartres werden im Allgemeinen „fünf Kirchen“ angegeben. Dies ist möglicherweise nicht ganz korrekt, entspricht aber dem, was sich historisch über beinahe zwei Jahrtausende hinweg noch einigermaßen verlässlich rekonstruieren lässt. Denn die frühen Kirchenbauten lassen sich heute nicht mehr nachweisen; ihr Vorhandensein kann nur noch indirekt aus wenigen erhaltenen Schriften erschlossen werden. Wahrscheinlich hat es mehr als nur fünf zeitlich aufeinander folgende Bauten in Chartres am heutigen Ort der Kathedrale gegeben.
Die erste Kirche geht auf die christlichen Anfänge in der Zeit zwischen ca. 350 und 743 zurück.
Für die zweite Kirche der merowingischen Zeit war die Zeit zwischen 743 und 858 maßgeblich.
Die dritte Kirche aus der Karolingerzeit wurde von Bischof Giselbert errichtet und stand zwischen 858 und 1020.
Die vierte Kirche, der sogenannte „Fulbert-Bau“ – zugleich der erste, der sich bautechnisch teilweise noch rekonstruieren lässt und historisch gut belegt ist – wurde im romanischen Stil errichtet und stand zwischen 1020 und 1194.
Die fünfte Kirche schließlich ist die gotische Kathedrale, wie wir sie heute kennen. Sie wurde im Wesentlichen zwischen 1194 und 1220 errichtet.
Doch die Ursprünge von Chartres wie auch die Ursprünge des heutigen Ortes, an dem die Kathedrale steht, reichen weit in die vorchristliche Zeit zurück, mindestens bis in die Zeit der Kelten, möglicherweise aber noch etliche Jahrhunderte – oder Jahrtausende – darüber hinaus.
Von der keltischen Kultur wissen wir nicht sehr viel, weil die Kelten keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben. Noch weniger Gesichertes wissen wir von dem Ort der heutigen Kathedrale und der Stadt Chartres selbst. So müssen wir uns auf Legenden und auf einige wenige Überlieferungen aus späteren Zeiten verlassen, um die vorchristlichen Ursprünge der Kirche zu erkunden.
Samotes, der erste König und Gesetzgeber der Gallier bzw. Kelten, soll die Gomeriten, die Nachfahren von Noahs Sohn Japhet, nach Gallien geführt haben, wo sie eine Kolonie in der Mitte des Landes anlegten, die spätere Stadt Chartres. Der römische Feldherr Cäsar, der bekanntlich die Kelten und die Germanen unterwarf und ihr Territorium dem Römischen Reich einverleibte, schildert die Druiden in seinem bekannten Werk De Bello Gallico(Über den gallischen Krieg, VI, 13 f.) als weise Priester, deren große Gelehrsamkeit Ursache für den hohen Wissensstand der Carnuten war:
„Zu einer bestimmten Jahreszeit kommen sie an einem heiligen [geweihten] Ort im Gebiet der Carnuten zusammen, das als Mitte ganz Galliens gilt. Von überall treffen hier alle zusammen, die Streitigkeiten haben, und gehorchen den Entscheidungen und Urteilen der Druiden. …
Die Druiden ziehen gewöhnlich nicht in den Krieg … Viele begeben sich freiwillig in die Lehre. Man sagt, dass sie dort eine große Anzahl von Versen auswendig lernen und so einige zwanzig Jahre in der Lehre bleiben. Sie glauben, dass es nicht göttliches Gebot sei, diese Lehre Büchern anzuvertrauen, während sie in allen übrigen öffentlichen wie privaten Angelegenheiten die griechische Schrift benutzen. Dies scheint mir aus zwei Gründen so eingeführt zu sein: Sie wollen weder, dass die Lehre unter den Menschen verbreitet wird, noch dass die Lernenden im Vertrauen auf das Geschriebene ihr Gedächtnis weniger üben. Denn bei den meisten geschieht es, dass sie, gestützt auf das Schriftliche, ihre Sorgfalt beim Lernen und ihr Gedächtnis vernachlässigen. Vor allem wollen sie davon überzeugen, dass die Seelen unsterblich sind und nach dem Tode vom einen zum anderen wandern. Sie glauben, dass man am meisten zur Tüchtigkeit angespornt wird, wenn man die Todesfurcht überwunden hat. Außerdem untersuchen sie intensiv die Gestirne und ihre Bewegung, die Größe des Weltalls und der Erde, die Natur der Dinge, die Kräfte wie auch das Vermögen der unsterblichen Götter, und sie geben dies an die Jugend weiter.“
Aus der Beschreibung Cäsars geht nicht eindeutig hervor, ob der genannte zentrale Versammlungsort der Kelten wirklich Chartres war. Es könnte sich auch um das südlicher gelegene Orléans (Cenabum) gehandelt haben, das als Hauptstadt der Carnuten galt.
Bemerkenswert ist der Hinweis Cäsars auf die astronomischen Kenntnisse der Druiden, die durchaus als „Priesterastronomen“ bezeichnet werden können. Die Priester vieler vorchristlicher Kulturen waren in der Lage, anhand der Beobachtung der Gestirne die Zeit zu messen, also die Länge des Tages wie auch der Monate und des Jahres zu bestimmen. Im Wort „Tempel“ steckt das lateinische Wort für Zeit, tempus; es weist noch darauf hin, dass heilige Stätten nicht nur religiösen Zwecken, sondern oft auch der Zeitmessung dienten. Voraussetzung dafür war, dass sie auf einer Anhöhe, einem Berg oder einem Hügel, lagen, denn so konnten Visierlinien zu anderen benachbarten Hügeln oder Bergen gezogen werden, die für die genaue Bestimmung des Sonnenauf- und -untergangs, der Sommer- und Wintersonnenwende wie auch der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche und der Mondumläufe notwendig waren. Die heutige Kathedrale von Chartres liegt – wie viele andere Kirchen in Europa – auf einer solchen Anhöhe, einem Kalksteinhügel.
Abbildung 1: Über viele Kilometer sichtbar erhebt sich die Kathedrale über die Ebene der Beauce.
Von daher ist es wahrscheinlich, dass in Cäsars Text tatsächlich Chartres gemeint ist und dass der Ort der heutigen Kathedrale in vorchristlicher Zeit als zentrale heilige Stätte der Kelten auf dem Festland vielfältige Funktionen erfüllte: Er mag als religiöser Versammlungsort, als Gerichtsplatz, als Lehrstätte für die Ausbildung jüngerer Priester, als Heilstätte für Kranke und als zentraler Orientierungspunkt für astronomische Messungen gedient haben.
Steinkreise, wie wir sie von den frühen Megalith-Kulturen her kennen, erfüllten oft astronomische Funktionen. Der bekannteste uns überlieferte Steinkreis ist Stonehenge, dessen Steinsetzungen klare Bezüge zur Sommer- und Wintersommerwende sowie Visierlinien erkennen lässt. Eine Beziehung zwischen der keltischen Kultur und der vorchristlichen Megalith-Kultur ist möglich, aber wissenschaftlich nicht erwiesen. Viele Megalith-Denkmäler sind tausend Jahre alt oder älter, als das Keltentum derzeit datiert wird. Es ist möglich, dass die Druiden die überlieferten Megalith-Denkmäler einer älteren Kultur – also Menhire, Dolmen, Steinkreise und Steinreihen – für ihre Zwecke nutzten; es ist aber auch möglich, dass diese Megalith-Denkmäler keltischen Ursprungs sind. Bei den Kelten steht allerdings eher als der Bezug zum Stein ihr enger Bezug zur Natur, speziell zur Eiche, im Vordergrund. Das Wort „Druide“ setzt sich zusammen aus keltisch „dru“ für „Eiche“ und „wid“ für „Wissen“. Es ist bekannt, dass die Kelten ihre Versammlungen gerne in Eichenhainen abhielten, und auch in der heutigen Kathedrale spielt die Eiche mancherorts eine Rolle. So stehen zum Beispiel einige der Gewändefiguren des Nord- und des Südportals auf „drehenden“ Säulen, die mythologisch den Weltenbaum darstellen; die Säulen sind unübersehbar mit Eichenlaub geschmückt (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: „Rotierende“ Säulen mit Eichenlaub, Gewändefiguren am Südportal
In der Umgebung von Chartres finden sich an vielen Orten Denkmäler der vorchristlichen Megalith-Kultur; etliche Steinkreise wurden bereits im 19. Jahrhundert vom statistischen Amt der Region Eure et Loire schriftlich dokumentiert. Von daher ist es möglich, dass am Ort der heutigen Kathedrale vor drei- oder viertausend Jahren ein Megalith-Denkmal, ein Steinkreis oder ein Dolmen, stand. Nach wie vor gibt uns die Megalith-Kultur mit ihren Steinsetzungen, die nicht nur in Europa, sondern rund um den Globus zu finden sind – bis nach Ägypten und Südamerika –, Rätsel auf und verweist auf eine einst möglicherweise weltweit umspannende und im Hinblick auf die offenkundigen astronomischen Kenntnisse auch hochentwickelte Urkultur, die heute verloren und in Vergessenheit geraten ist. Es ist davon auszugehen, dass viele christliche Kirchen in Europa auf dem Boden früherer vorchristlicher bzw. „heidnischer“ Kultstätten der Megalith-Zeit errichtet worden sind; Chartres wäre hier kein Einzelfall.
Im Hinblick auf die Kelten in Chartres können wir uns auf die Schrift des Bischofs Érard de la Marck aus dem 16. Jahrhundert stützen, der Folgendes berichtet:
„Als Cäsar noch nicht nach Gallien gekommen war, … lebten einige der Besten unter den Carnuten – Männer, die in diesen geheimen Dingen sehr bewandert waren – durch Gottes übergroße Barmherzigkeit in ständigem Glauben und in der Erwartung an eine ‚Jungfrau, die gebären wird’ (‚Virgo paritura’). Bald gelangte sogar der überaus fromme Fürst der Carnuten zu dieser Einstellung. Er stellte auch das erhabene Bild der Jungfrau, die das Kind trägt, zur Verehrung für sich und die Seinen in einem Heiligtum der heidnischen Götter an einem geheimen Ort auf …“ (zit. nach Halfen, S. 26).
Es scheint, dass die Druiden das Ende ihrer eigenen keltischen Kultur voraussahen. Sie wussten – durch den Kontakt mit anderen Mysterienstätten des Altertums wie auch durch hellseherische Kräfte –, dass mit dem Christentum ein neues Zeitalter heraufdämmerte. Und sie mögen auch erkannt haben, dass es in diesem neuen Fische-Zeitalter, das mit der Sichtbarkeit des Sternzeichens Fische zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche am 21. März um das Jahr null begann, geistig dunkler werden würde um die Menschheit. Immer dichter senkte sich der Schleier des Irdischen auf die Menschen und hinderte sie an einem direkten Kontakt zu höheren geistigen Mächten. Aber der tiefere Fall in die Materie ist ebenso Teil der menschlichen Entwicklung wie ihr späterer erneuter Aufstieg in ein höheres Bewusstsein, dem die Kathedrale geweiht ist. Der Aufstieg ins Christusbewusstsein wird mit dem Eintritt ins sogenannte Wassermann-Zeitalter beginnen, wenn die Sonne noch in diesem Jahrhundert am 21. März im Sternzeichen des Wassermanns aufgeht.
Dass die Druiden das Heraufdämmern des Christentums mit Maria als hervorragender Gestalt voraussahen, stellte der Kirchenhistoriker Sébastien Rouillard in einem Werk aus dem Jahre 1609 in Form eines Bildes dar (vgl. Abbildung 3). Gezeigt wird darauf, wie Priester die Jungfrau Maria mit dem Kind verehren, die auf einem eichenbestandenen Hügel in einer Art Grotte positioniert ist. Zu ihren Füßen findet sich die Bezeichnung „Altar der Druiden“ (l’Autel des Druides).
Abbildung 3: Druiden verehren die Virgo paritura – die Jungfrau, die gebären wird (Stich aus dem 17. Jahrhundert von S. Rouillard in dem Werk Parthenie ou Histoire de la très auguste et très dévote Église de Chartres).
Auch im Hinblick auf Maria gibt es einen Bezug zur vorchristlichen Zeit. Bereits im 19. Jahrhundert fand man in Chartres gallorömische Tonfiguren einer Muttergestalt, die mit einem oder mit zwei Kindern auf dem Arm dargestellt wird. Die Verehrung einer solchen „Muttergöttin“, der „großen Mutter“, ist in vielen Kulturen rund um die Welt verbreitet. Ob Ischtar, Artemis, Sophia, die keltische Belisama oder die ägyptische Isis mit dem Horusknaben: Die Muttergöttin verkörpert archetypisch das ewig-weibliche Prinzip aller Religionen und Kulturen – und sie verweist auf das Prinzip der Geburt und der Wiedergeburt des Menschen.
Noch heute existiert in der Krypta eine schwarze Madonna(La-Vièrge-de-Sous-Terre), die ein getreues Nachbild der Jungfrau sein soll, wie sie die Druiden in vorchristlicher Zeit verehrt hätten (siehe Abbildung 5). Die heutige Figur aus Birnbaumholz ist die Nachbildung eines Originals, das während der Französischen Revolution zerstört wurde. Ein auffälliges Merkmal kennzeichnet diese Jungfrau: Ihre Krone besteht aus Eichenblättern – ein Motiv, das im christlichen Umfeld eher ungewöhnlich ist, aber umso mehr auf das Keltentum verweist.
Abbildung 4: Notre-Dame-de-Sous-Terre, Statue der Schwarzen Madonna in der Krypta
In der Gegend um Chartres gab es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen seltsamen keltischen Brauch: Zum Jahreswechsel wünschte man sich gegenseitig l’éguilanleu. Diese inzwischen unverständlich gewordene Formel bedeutet so viel wie le gui l’an neuf – die „Neujahrsmistel“, die nach einem Bericht des antiken Historikers Herodot von den Druiden zur Wintersonnenwende nach Opferung eines weißen Stiers (= Hinweis auf das Stier-Zeitalter) mit goldener Sichel abgeschnitten wurde.
Auf dem Bild von Rouillard gibt es noch ein weiteres hervorstechendes Element: den BrunnenLe-Puits-des-Saints-Forts („Brunnen der starken Heiligen“) neben dem Altar. Es wird überliefert, dass bereits die Kelten am Ort der heutigen Kathedrale einen Brunnen mit heilender Wirkung gekannt haben sollen; man beachte den gleichen Wortstamm von „heil“ und „heilig“. Dieser Brunnen bestand in christlicher Zeit weiter fort, und er soll insbesondere Bischof Fulbert veranlasst haben, die Krypta der Kirche im 11. Jahrhundert zu einem Ort der Heilung auszubauen. Bis ins 13. Jahrhundert hinein hielten sich Kranke neun Tage und Nächte in der Krypta in der Nähe des Altars der Jungfrau auf, um geheilt zu werden. Zu ihrer Betreuung gab es einen besonderen Orden, die Dames des Saints-Lieux-Forts, die die Kranken wie in einem Hospital versorgten und pflegten. Hier lebte offenbar eine vorchristliche Tradition weiter, wie sie ähnlich in Asklepios-Heiligtümern gepflegt worden war.
Erst der Klerus des 17. Jahrhunderts hielt das Trinken des heilbringenden Wassers für einen heidnischen Brauch und ließ den Brunnen zuschütten sowie im oberen Bereich zerstören. Über mehrere Jahrhunderte hinweg geriet sein Standort völlig in Vergessenheit. 1901 entdeckte René Merlet seinen wahren Standort wieder: Er befindet sich in der Krypta in der Höhe des Chorumgangs auf der nördlichen Seite (vgl. Abbildung 8) in unmittelbarer Nähe eines gallorömischen Mauerrestes, ist aber heute für Besucher nicht mehr zugänglich. Stattdessen wurde an anderer Stelle ersatzweise in der Krypta ein Brunnen gegraben, der jedoch kein Wasser führt. Merlet stellte fest, dass die Fundamente des Brunnens viereckig sind, was auf keltische Ursprünge hindeutet, der obere Teil aber rund ist, was auf spätere Überbauungen in römischer Zeit verweist. Der Brunnen hatte nach Merlet eine Tiefe von 33 Metern, gemessen vom Fußboden der Krypta aus; hinzu kommt der Wasserspiegel, der noch einmal eine Höhe von etwa drei Metern hatte. Der Brunnen spielt für die Architektur der heutigen gotischen Kathedrale eine zentrale Rolle, wie wir noch sehen werden.
Chartres hat vorchristliche Ursprünge, die mindestens in die Zeit des Keltentums (ca. 500 v. Chr.), möglicherweise aber noch weiter bis in die Zeit der Megalith-Kultur (ca. 3000 bis 1200 v. Chr.) zurückreichen. Am Ort der heutigen Kathedrale sollen die Kelten bereits einen Brunnen mit heilendem Wasser genutzt und eine Virgo paritura, eine „Jungfrau, die gebären wird“, verehrt haben. Möglicherweise befand sich dort ein Megalith-Denkmal – ein Steinkreis oder Dolmen – und ein Eichenhain, die von den Druiden als religiöser Versammlungsort, Gerichtsplatz, Schule und Orientierungspunkt zur Zeitmessung genutzt wurden.
Wie wurde Chartres nun christlich? Erneut müssen wir in Ermangelung gesicherten Wissens die Legende bemühen: Josef von Arimatheia, der Onkel von Jesus, wurde von einem Engel beauftragt, das von Christus beim letzten Abendmahl gebrauchte Gefäß, den Heiligen Gral, westwärts zu tragen, bis er einen Ort fände, wo sein Stab, in die Erde eingepflanzt, blühte. An dieser Stelle sollte der Gral seine Heimat finden. Josef und seine Begleiter brachen von Palästina auf und kamen auf dem Weg nach England, genauer gesagt nach Avalon, das heutige Glastonbury, auch in Chartres vorbei. Beeindruckt von dem Ort Chartres – möglicherweise auch von der dort schon vorhandenen Kultstätte oder der Verehrung der Jungfrau durch die Druiden – sandten sie einen Boten nach Ephesos zu Maria, der Mutter von Jesus, und baten um Erlaubnis, ihr den Ort weihen zu dürfen. Maria war einverstanden, und durch diese Weihe soll Chartres zum ersten Mal mit dem Christentum wie auch mit dem Heiligen Gral verbunden gewesen sein. Diese Legende ist darum so gefällig, weil sie einen „eleganten Bogen“ von Chartres zur Heiligen Familie, zum Heiligen Gral und zu einer weiteren mystischen Stätte, nämlich Avalon in England, schlägt; sie datiert um das Jahr 70 herum.
Nach einem Chartreser Manuskript aus dem 13. Jahrhundert, das auf den Gründer der Kirche von Sens zurückgehen soll, wurde allerdings schon um das Jahr 33 oder 40 das Evangelium an den Ort gebracht: Petrus schickte von Rom aus drei Schüler nach Gallien, und zwar Savinian, der einer der 72 Jünger Jesu gewesen sein soll, Potentian und Altin. Zunächst kamen die drei nach Sens und bekehrten Serotin und Eodald. In Sens, wo sich noch heute eine gotische Notre-Dame-Kathedrale befindet, errichteten sie die erste Kirche. Während Savinian in Sens blieb, zogen Potentian und Serotin nach Troyes, ebenfalls bis heute Ort einer gotischen Kathedrale. Altin jedoch wanderte mit Eodald eine alte Römerstraße entlang über Orléans nach Chartres. Die beiden hatten es leicht, die dortige Bevölkerung zum Christentum zu bekehren, da in Chartres bereits durch die Druiden seit längerer Zeit die heilige Jungfrau verehrt wurde, und so gründeten sie die erste christliche Kirche zu Ehren Marias – eine Kirche, über die uns nichts Genaueres überliefert ist.