Chartres kompakt - Sonja Ulrike Klug - E-Book

Chartres kompakt E-Book

Sonja Ulrike Klug

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Beschreibung

Facetten einer außergewöhnlichen Kathedrale Chartres ist eine der meistbesuchten Kathedralen Frankreichs. Erbaut im Mittelalter, gehört sie zu den bedeutendsten gotischen Bauwerken im weiteren Umkreis von Paris. Der Führer stellt die wesentlichen Besonderheiten vor: - Werdegang und Geschichte von der Zeit der Kelten, über die Romanik und Gotik bis zur Gegenwart, - Merkmale der Architektur, wie geometrische und harmonische Verhältnissen, - das Äußere der Kathedrale mit Westfassade, Königsportal sowie den Skulpturen des Nord- und Südportals, - die künstlerische Gestaltung der Glasfenster und Fensterrosen sowie - das Innere der Kathedrale mit dem berühmten Labyrinth und der Krypta. Zahlreiche farbige Abbildungen veranschaulichen den Inhalt. Der kompakte Führer kann zur Vor- oder Nachbereitung eines Chartres-Besuchs dienen oder während eines Rundgangs gelesen werden.

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Seitenzahl: 123

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Sonja Ulrike Klug

 

Chartres kompakt

 

 

 

 

 

 

Chartres kompakt

 

 

Die gotische Kathedrale im Überblick

 

 

Sonja Ulrike Klug

 

 

 

 

 

KlugesVerlag

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Copyright © Dr. Sonja Ulrike Klug, Kluges Verlag,

Menzenberger Str. 22, 53604 Bad Honnef (Deutschland)

 

Alle Rechte vorbehalten

 

2022

 

Das Werk einschließlich aller seiner Texte und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne ausdrückliche Zustimmung und schriftliche Genehmigung des Verlags unzulässig und strafbar.

 

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Einbandgestaltung: Aurélie Girod unter Verwendung von Fotos von jy cessay/Fotolia, Rolf Kranz/Wikipedia, Nina Aldin Thune/Wikipedia, Sebastian Schröder und Dr. Sonja Ulrike Klug

 

 

Inhalt

Vorwort

1.      Die Entwicklung der Kathedrale

Die vorchristlichen Ursprünge

Die erste christliche Kirche

Die zweite und die dritte Kirche

Die vierte Kirche, der romanische Fulbert-Bau

Die fünfte Kirche, die gotische Kathedrale von heute

Bauliche Aktivitäten in der Neuzeit

2.      Architektur und Geometrie

Der gotische Baustil

Grund- und Aufriss der Kathedrale

Die Bedeutung der Geometrie für den Kirchenbau

Die astronomische Ausrichtung des Kirchenschiffs

Geobiologische und geomantische Besonderheiten

3. Das Äußere der Kathedrale

Der Tempel der Wiedergeburt

Die beiden Türme und die Westfassade

Engel, Esel und Schwein auf der Südwestseite

Das Königsportal

Das Nordportal

Das Südportal

4. Das Innere der Kathedrale

Wandaufbau und Pfeiler

Das Labyrinth

Die Chorschranke und Notre-Dame-du-Pilier

Die Glasfenster

Ausklang von Chartres – Einklang für den Menschen von heute

5. Anhang

Literatur

Über die Autorin

Empfehlenswerte Bücher

 

Vorwort

Chartres unterscheidet sich von vielen anderen gotischen Kathedralen. Das spürt jeder, der einmal dort gewesen ist. In Chartres wirken besondere Energien. Sie laden die Menschen, die sich einige Zeit in das nähere Umfeld der Kathedrale oder in ihr Inneres begeben, mit starken Kräften auf.

Chartres ist die Kathedrale der Wiedergeburt des Menschen – der Wiedergeburt in ein höheres Bewusstsein, in das Christusbewusstsein. Während in vielen anderen Kirchen Symbole des Todes eine besondere Rolle spielen, ist dies in Chartres nicht der Fall: Kein Bischof oder hoher Würdenträger wurde jemals hier beerdigt, und Darstellungen des Gekreuzigten finden sich nur ausgesprochen spärlich. Stattdessen weist vieles auf die Wiedergeburt des Menschen hin: Notre-Dame de Chartres ist der Jungfrau Maria und außerdem Johannes dem Täufer geweiht, denn die Taufe ist das Zeichen für die Wiedergeburt. Die Symbolwelt in Chartres ist auf die Wandlung des Menschen und auf seine Erhöhung ausgerichtet, und dies, wie es scheint, schon von den frühesten vorchristlichen Anfängen her.

Die Kathedrale ist in ihrer Gesamtkonzeption wie auch in all ihren baulichen Details – bis weit in die nicht sichtbaren Bereiche hinein – „durchkomponiert“. Nichts wurde hier dem Zufall überlassen, nichts ist einfach nur Dekor oder überflüssiger Zierrat. Doch muss sich das Auge des modernen Besuchers erst daran gewöhnen, muss wieder „sehen“ lernen, um sich die ganze Bilder- und Symbolwelt, die ungewohnte Erhabenheit, Klarheit und Schönheit des Gebäudes zu erschließen.

Dieser kleiner Führer möchte dem Besucher der Kathedrale eine Orientierung geben. Er erläutert die Geschichte ebenso wie einige wesentliche Merkmale des gotischen Baus. Außerdem möchte er auf die Kräfte hinweisen, die hier im Hintergrund wirken. Neben dieses „Wissen“ sollte das unmittelbare „Erleben und Erfahren“ von Chartres treten. Denn erst der persönliche Besuch ermöglicht es, selbst mit den Energien der Kathedrale in Kontakt zu kommen. Viel Freude dabei wünscht Ihnen die Autorin

Dr. Sonja Ulrike Klug                   Bad Honnef, 2022

 

 

 

 

Die Entwicklung der Kathedrale

Bischof Fulbert predigt der Menge im romanischen Bau (André de Micy, 11. Jhrt.)

Für die Baugeschichte von Chartres werden im Allgemeinen „fünf Kirchen“ angegeben. Dies ist möglicherweise nicht ganz korrekt, entspricht aber dem, was sich historisch über beinahe zwei Jahrtausende hinweg noch einigermaßen verlässlich rekonstruieren lässt. Denn die frühen Kirchenbauten von Chartres lassen sich heute nicht mehr nachweisen; ihr Vorhandensein kann nur noch indirekt aus wenigen erhaltenen Schriften erschlossen werden. Wahrscheinlich hat es mehr als nur fünf zeitlich aufeinander folgende Bauten in Chartres am heutigen Ort der Kathedrale gegeben. Doch die Ursprünge von Chartres wie auch diejenigen des heutigen Ortes, an dem die Kathedrale steht, reichen weit in die vorchristliche Zeit zurück.

Die vorchristlichen Ursprünge

Von der keltischen Kultur wissen wir nicht sehr viel, weil die Kelten keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben. Noch weniger Gesichertes wissen wir von dem Ort der heutigen Kathedrale und der Stadt Chartres selbst. So müssen wir uns auf Legenden und auf einige wenige Überlieferungen aus späteren Zeiten verlassen, um die vorchristlichen Ursprünge der Kirche zu erkunden.

Samotes, der erste König und Gesetzgeber der Gallier bzw. Kelten, soll die Gomeriten, die Nachfahren von Noahs Sohn Japhet, nach Gallien geführt haben, wo sie eine Kolonie in der Mitte des Landes anlegten, die spätere Stadt Chartres. Der römische Feldherr Cäsar, der bekanntlich die Kelten und die Germanen unterwarf und ihr Territorium dem Römischen Reich einverleibte, schildert die Druiden in seinem bekannten Werk De Bello Gallico(Über den gallischen Krieg) als weise Priester, deren große Gelehrsamkeit Ursache für den hohen Wissensstand der Carnuten war.

Bemerkenswert ist der Hinweis Cäsars auf die astronomischen Kenntnisse der Druiden, die durchaus als „Priesterastronomen“ bezeichnet werden können. Die Priester vieler vorchristlicher Kulturen waren in der Lage, anhand der Beobachtung der Gestirne die Zeit zu messen, also die Länge des Tages wie auch der Monate und des Jahres zu bestimmen. Im Wort „Tempel“ steckt das lateinische Wort für Zeit, tempus; es weist noch darauf hin, dass heilige Stätten nicht nur religiösen Zwecken, sondern oft auch der Zeitmessung dienten. Voraussetzung dafür war, dass sie auf einer Anhöhe, einem Berg oder einem Hügel lagen, denn so konnten Visierlinien zu anderen benachbarten Hügeln oder Bergen gezogen werden, die für die genaue Bestimmung des Sonnenauf- und -untergangs, der Sommer- und Wintersonnenwende wie auch der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche und der Mondumläufe notwendig waren. Die heutige Kathedrale von Chartres liegt – wie viele andere Kirchen in Europa – auf einer solchen Anhöhe, einem Kalksteinhügel. Er mag bei den Kelten als religiöser Versammlungsort, als Gerichtsplatz, als Lehrstätte für die Ausbildung jüngerer Priester, als Heilstätte für Kranke und/oder als zentraler Orientierungspunkt für astronomische Messungen gedient haben.

Steinkreise, wie wir sie von den frühen Megalith-Kulturen her kennen, erfüllten oft astronomische Funktionen. Der bekannteste uns überlieferte Steinkreis ist Stonehenge, dessen Steinsetzungen klare Bezüge zur Sommer- und Wintersommerwende sowie Visierlinien erkennen lassen. Eine Beziehung zwischen der keltischen Kultur und der vorchristlichen Megalith-Kultur ist möglich, aber wissenschaftlich nicht erwiesen. Viele Megalith-Denkmäler sind tausend oder mehr Jahre älter, als das Keltentum derzeit datiert wird. In der Umgebung von Chartres finden sich an vielen Orten Denkmäler der vorchristlichen Megalith-Kultur; etliche Steinkreise wurden bereits im 19. Jahrhundert schriftlich dokumentiert. Von daher ist es möglich, dass am Ort der heutigen Kathedrale vor drei- oder viertausend Jahren ein Steinkreis oder ein Dolmen stand. Es ist davon auszugehen, dass viele christliche Kirchen in Europa auf dem Boden früherer vorchristlicher bzw. „heidnischer“ Kultstätten der Megalith-Zeit errichtet worden sind; Chartres wäre hier kein Einzelfall.

Im Hinblick auf die Kelten in Chartres berichtete Bischof Érard de la Marck im 16. Jahrhundert, dass die Druiden das Ende ihrer eigenen keltischen Kultur voraussahen. Sie wussten – durch den Kontakt mit anderen Mysterienstätten des Altertums wie auch durch hellseherische Kräfte –, dass mit dem Christentum ein neues Zeitalter heraufdämmerte. Dies stellte der Kirchenhistoriker Sébastien Rouillard 1609 in Form eines Bildes dar. Gezeigt wird darauf, wie Priester die Jungfrau Maria mit dem Kind verehren, die auf einem eichenbestandenen Hügel in einer Art Grotte positioniert ist. Zu ihren Füßen findet sich die Bezeichnung „Altar der Druiden“ (l’Autel des Druides).

Auch im Hinblick auf Maria gibt es einen Bezug zur vorchristlichen Zeit. Bereits im 19. Jahrhundert fand man in Chartres gallorömische Tonfiguren einer Muttergestalt, die mit einem oder mit zwei Kindern auf dem Arm dargestellt wird. Die Verehrung einer solchen „Muttergöttin“, der „großen Mutter“, ist in vielen Kulturen rund um die Welt verbreitet, die archetypisch das ewig-weibliche Prinzip aller Religionen und Kulturen verkörpert und auf das Prinzip der Geburt und der Wiedergeburt des Menschen verweist.

Noch heute existiert in der Krypta eine schwarze Madonna (La-Vièrge-de-Sous-Terre), die ein getreues Nachbild der Jungfrau sein soll, wie sie die Druiden in vorchristlicher Zeit verehrt hätten (siehe Abb. 1, S. 14). Die heutige Figur aus Birnbaumholz ist die Nachbildung eines Originals, das während der Französischen Revolution zerstört wurde. Ein auffälliges Merkmal kennzeichnet diese Jungfrau: Ihre Krone besteht aus Eichenblättern – ein Motiv, das im christlichen Umfeld eher ungewöhnlich ist, aber umso mehr auf das Keltentum verweist.

Abb. 1: Notre-Dame-de-Sous-Terre, Statue der Schwarzen Madonna in der Krypta (aus Birnbaumholz)

 

Es wird überliefert, dass bereits die Kelten am Ort der heutigen Kathe-drale einen Brunnen mit heilender Wirkung, Le-Puits-des-Saints-Forts („Brunnen der starken Heiligen“), gekannt haben sollen; man beachte den gleichen Wortstamm von „heil“ und „heilig“. Dieser Brunnen bestand in christlicher Zeit weiter fort, und er soll insbesondere Bischof Fulbert veranlasst haben, die Krypta der Kirche im 11. Jahrhundert zu einem Ort der Heilung auszubauen. Bis ins 13. Jahrhundert hinein hielten sich Kranke neun Tage und Nächte in der Krypta in der Nähe des Altars der Jungfrau auf, um geheilt zu werden. Zu ihrer Betreuung gab es einen besonderen Orden.

Erst der Klerus des 17. Jahrhunderts hielt das Trinken des heilbringenden Wassers für einen heidnischen Brauch und ließ den Brunnen zuschütten sowie im oberen Bereich zerstören. Über mehrere Jahrhunderte hinweg geriet sein Standort völlig in Vergessenheit. 1901 entdeckte René Merlet seinen wahren Standort wieder: Er befindet sich in der Krypta in der Höhe des Chorumgangs auf der nördlichen Seite (siehe Abb. 3) in unmittelbarer Nähe eines gallorömischen Mauerrestes, ist aber heute für Besucher nicht mehr zugänglich. Stattdessen wurde an anderer Stelle ersatzweise in der Krypta ein Brunnen gegraben, der jedoch kein Wasser führt. Merlet stellte fest, dass die Fundamente des Brunnens viereckig sind, was auf keltische Ursprünge hindeutet, der obere Teil aber rund ist, was auf spätere Überbauungen in römischer Zeit verweist. Der Brunnen hatte nach Merlet eine Tiefe von 33 Metern, gemessen vom Fußboden der Krypta aus; hinzu kommt der Wasserspiegel, der noch einmal eine Höhe von etwa drei Metern hatte.

Die erste christliche Kirche

Wie wurde Chartres christlich? Erneut müssen wir in Ermangelung gesicherten Wissens die Legende bemühen: Josef von Arimatheia, der Onkel von Jesus, wurde von einem Engel beauftragt, das von Christus beim letzten Abendmahl gebrauchte Gefäß, den Heiligen Gral, westwärts zu tragen, bis er einen Ort fände, wo sein Stab, in die Erde eingepflanzt, blühte. An dieser Stelle sollte der Gral seine Heimat finden. Josef und seine Begleiter brachen von Palästina auf und kamen auf dem Weg nach England, genauer gesagt nach Avalon, das heutige Glastonbury, auch in Chartres vorbei. Beeindruckt von dem Ort Chartres – möglicherweise auch von der dort schon vorhandenen Kultstätte oder der Verehrung der Jungfrau durch die Druiden – sandten sie einen Boten nach Ephesos zu Maria, der Mutter von Jesus, und baten um Erlaubnis, ihr den Ort weihen zu dürfen. Maria war einverstanden, und durch diese Weihe soll Chartres zum ersten Mal mit dem Christentum wie auch mit dem Heiligen Gral verbunden gewesen sein.

Nach einem Chartreser Manuskript aus dem 13. Jahrhundert, das auf den Gründer der Kirche von Sens zurückgehen soll, wurde allerdings schon um das Jahr 33 oder 40 das Evangelium an den Ort gebracht: Petrus schickte von Rom aus drei Schüler nach Gallien, und zwar Savinian, Potentian und Altin. Zwei von ihnen kamen nach Chartres und bekehrten die dortige Bevölkerung zum Christentum. Sie gründeten die erste christliche Kirche zu Ehren Marias – eine Kirche, über die uns nichts Genaueres überliefert ist.

Abb. 2: Blick ins Deckengewölbe des Längsschiffs, rechts die Orgel

Es dauerte nicht lange, bis die beiden vom römischen Statthalter Quirinus gefangen genommen und damit zu frühen Märtyrern wurden. Quirinus ließ viele Christen umbringen und angeblich in den heiligen Brunnen werfen. Selbst Modesta, seine eigene Tochter, die sich zum christlichen Glauben bekehrt hatte, verschonte er nicht und ließ sie töten. Sie hatte ihrem Vater angeboten, dass sie ihr Leben hergeben wollte, wenn er dafür den heiligen Altin oder den heiligen Potentian verschonte.

Dass die Toten tatsächlich in den Brunnen geworfen wurden, ist historisch wenig wahrscheinlich, weil er dann ebenso wie weitere Wasserquellen der Stadt, die von der Eure gespeist wurden, für sehr lange Zeit vergiftet worden und die Trinkwasserversorgung von Chartres gefährdet gewesen wäre. – Zum Andenken an die Tochter des römischen Statthalters, die selbst zur Märtyrerin wurde, findet sich seit dem 13. Jahrhundert an der gotischen Kathedrale eine große Gewändestatue der Modesta am rechten Vorhallenpfeiler des Nordportals.

Schließlich soll von Altin oder Potentian als erster Bischof Aventin eingesetzt worden sein. Er übte 30 Jahre unter dem römischen Statthalter Quirin sein Amt aus. Eine weitere Geschichte verbindet die Legende der Heiligen Familie mit den Aussagen des Chartreser Manuskripts: Maria Magdalena und ihre Geschwister Martha und Lazarus hätten mit Maximin, Altin und Eodald das Mittelmeer überquert, um der Christenverfolgung in Palästina zu entgehen. So seien sie nach Chartres gekommen, wo sie bereits eine Kirche vorfanden, die sie der heiligen Jungfrau weihten.

Josef von Arimatheia, Savinian, Potentian, Altin, Modesta, Maria Magdalena – welche der vielen Geschichten und Legenden um die Entstehung der ersten Kirche in Chartres ist nun wahr? Das Mittelalter hatte eine andere Perspektive auf die Realität, als wir es heute gewöhnt sind. Geprägt vom wissenschaftlichen Denken gehen wir häufig fälschlich davon aus, dass es nur eine Realität gebe und diese allein der Wahrheit entspreche. Diese eine Realität kann, so glauben wir, von der Wissenschaft herausgefunden werden; demzufolge müssten alle übrigen Realitäten falsch sein. Das Mittelalter hatte hier jedoch eine ganz andere Sicht: Es war nicht bedeutsam, welche der Legenden oder Narrative um die christliche Begründung von Chartres „wahr“ ist, wie es sich also „wirklich zugetragen“ hat. Es ging vielmehr darum, geschaute Urweisheiten oder Wahrheiten (Archetypen der Seele) in Bilder zu kleiden, die dann zu Mythen, Märchen, Legenden, Allegorien verwoben wurden. Auch wenn diese jeweils verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen lassen, so ist doch jede Deutung von ihrem individuellen Standpunkt aus gesehen wahr.