Zauberer des Zirkels - Sonja Ulrike Klug - E-Book

Zauberer des Zirkels E-Book

Sonja Ulrike Klug

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Beschreibung

Die Architekturgeschichte des Mittelalters steckt voller Überraschungen Schwer vorstellbar ist für uns heute, dass für die beeindruckenden Kirchen und Kathedralen der Romanik und Gotik relativ wenig Baupläne gefunden wurden. Wo ist die Mehrheit der Zeichnungen abgeblieben? Sind die Pläne in Europa vernichtet worden oder im Laufe der Zeit verloren gegangen? Oder sind sie gar nicht angefertigt worden? Obwohl kaum Architekturzeichnungen existieren, hat es zahlreiche Zirkel gegeben. Wozu und wie wurden sie eingesetzt? Konnte man komplexe Gebäude wie Kirchen und Kathedralen ohne Baupläne entwerfen? Die Autorin nimmt die Leser auf eine spannende kulturgeschichtliche Zeitreise mit Sie befasst sich mit der Verbreitung von Papyrus, Pergament und Papier und verfolgt die Schreib- und Rechenfähigkeit in Europa. Außerdem betrachtet sie das Baugeschehen auf historischen Abbildungen und zieht Vergleiche zur arabischen Baukunst. Nicht zuletzt zeigt sie, welche Zirkeltypen es gab und wie sich das zeichnerische Können der Baumeister bis zur Renaissance entwickelte. Die Einblicke in die Baugeschichte führen zu überraschenden Erkenntnissen: Die Architekten des Mittelalters dachten und planten ganz anders, als wir es uns heute vorstellen. Dr. Sonja Ulrike Klug beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit mittelalterlicher Baukunst. Sie hat mehrere Bücher über gotische Kathedralen publiziert, darunter "Kathedrale des Kosmos" und "Chartres kompakt".

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Sonja Ulrike Klug

Zauberer des Zirkels

Die Frage nach den Bauplänen des Mittelalters

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © Kluges Verlag, Dr. Sonja Ulrike Klug, Menzenberger Str. 22, 52604 Bad Honnef (Deutschland), [email protected]

2024

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Texte und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne ausdrückliche Zustimmung und schriftliche Genehmigung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Meister und Masterpläne im Mittelalter – Einführung

Die „Daten“ der Kathedralen

Ohne Plan gebaut für die Ewigkeit?

Spekulationen um den Verbleib der Pläne

Papyrus, Pergament und Papier – der lange Weg zu Schrifträgern und Schriftlichkeit

Mobile, leichte und bezahlbare Beschreibstoffe

Die Alphabetisierung im mittelalterlichen Europa

Präliterale Kulturen denken anders – oder warum das Pferd kein „heimliches Auto“ ist

Villard de Honnecourt, Vorbild für die Entwicklung der Bau- und Ingenieurtechnik

Die islamische Baukunst – wie man in den arabischen Ländern ohne Pläne baute

Ritzen, Reißen und Visieren – Werkrisse auf harten und weichen Materialien

Der kulturelle und wirtschaftliche Aufschwung des 12. und 13. Jahrhunderts

Die Entstehung und Verwendung der Risse auf Pergament

Geritzt – Stein, Holz und Wachs als Planträger

DieZeichenkünstedermittelalterlichenBaumeister

Bauwissen im Mittelalter – wie Architekten ihren Beruf erlernten

Zahl, Zirkel und Zeichenkunst – die Entwicklung vom Mittelalter bis in die Neuzeit

Das mittelalterliche Wissen über Zahlen, Geometrie und Mathematik

Zauberei des Zirkels – die erstaunliche Vielfalt der Zirkeltypen

Die Fortschritte in der Zeichentechnik der Renaissance

Von der Schubkarre zum Schreibgriffel – der Wandel des Architektenberufes

Von den Römern, über die Romanik bis zur Renaissance – Zusammenfassung

Ein falsche Theorie

Wie wurde wirklich geplant?

Anhang

Von A wie Alphabet bis Z wie Zentralperspektive – eine kulturhistorische Zeittafel

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweise

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Meister und Masterpläne im Mittelalter – Einführung

Die „Daten“ der Kathedralen

DassdieKathedraleNotreDamedeParisdurcheinenBrandmassivbeschädigtwurde,ist–so könntemanannehmen–eigentlichgarnichtschlimm.Schließlichexistierenwissenschaftliche3D-Daten,diekurzvordemUnglückanderUniversitätBambergerstelltwurdenund diederzeitgemeinsammitweiterenAufnahmenimRahmeneinesForschungsprojektesin ein komplettes 3D-Modell überführt werden1.

3D-Daten–dreidimensionaleundzweifelloscomputererzeugteVermessungsdaten–, dieeinenoriginalgetreuenWiederaufbauderKathedraleermöglichen.Daten,dieimComputermaßstabsgetreusimulieren,wiedasGebäudeinallenFacettenundEinzelheitenvor demBrandausgesehenhat;Daten,dieeserlauben,jedenZentimeter,jedenMillimeterdes gesamten Gebäudes aus beliebigen Richtungen und in perfekter 360-Grad-Rundumsicht zu zeigen; Daten, in die man sich bis ins kleinste Detail hinein- und bis in luftige Höhen hinauszoomenkann.AngesichtseinersolchvollständigenplanerischenBasismüssteeseinfachsein,NotreDamedePariswiederaufzubauen,wennmaneinmalvonbaupraktischen Problemen absieht.

DahattemanesimMittelalterbedeutendschwerer,wenneineKircheniederbrannte, washäufigervorkam.WievollzogsichderAufbau(oderWiederaufbau)einerKathedrale, alsesnochkeinecomputererzeugten3D-Datengab–jaalsesnochnichteinmalBaupläne gab?

EinbemerkenswertesPhänomenmittelalterlicherBaukunstistdasvölligeFehlenvon Bau-undKonstruktionsplänen,diesogestaltetsind,dasssichGebäudedamitvollständig planenlassen.FüretlicheBauwerkegibteszwarTeilpläneeinzelnerBauelemente,aberGesamtpläne haben sich niemals gefunden.

DieGotikhatteimVergleichzurRomanikgroßeFortschritteinderBaukonstruktion gemacht: Die Kirchenschiffe waren mithilfe äußerer Strebepfeiler breiter geworden als in der Romanik, die Gewölbekonstruktion erlaubte durch Spitzbögen statt Rundbögen höhere Decken,undzudemerreichtendieTürmemitmehrals120MeternbisherungekannteHöhen. Hinzu kamen weitere Innovationen wie kunstvoll gestaltete und großflächige Glasfenster. DochtrotzalldieserFortschrittegegenüberfrüherenBauwerkenbzw.Vorgängerkirchenaus derRomanikwurdenbisheutekeinerleiGesamtpläne,-skizzenoder-konstruktionszeichnungen gefunden – weder für die Romanik noch für die Gotik.

Ohne Plan gebaut für die Ewigkeit?

DennochwirdvonBau-undKunsthistorikernvielfachunterstellt,dassesnichtnurGesamtpläne,sonderninsgesamtsehrvielmehrPlänegegebenhabenmüsse,mitdenendieGebäudevorabkonstruiertwordenseien.SohältderBauingenieurDietrichConradinseinem Standardwerk„KirchenbauimMittelalter“fest,esseienetwa2.200ExemplaremittelalterlicherPläneüberliefert,doch„vonderMassemittelalterlicherBautensindkeineZeichnungen erhalten“2.

HatesdieBauplänewirklichgegeben?Sindsieverschollen,verlorengegangen,verbrannt, absichtlich oder unabsichtlich vernichtet worden? Sind sie „eine Sagengestalt, der man RealitätzusprichtundzurtatsächlichenExistenzverhilft“3,wiederKunsthistorikerGünther Bindingbemerkt?Oderhabensieniemalsexistiert?

Conrad konstatiert ein Vakuum im Zeichnungsbestand vor allem zwischen dem 4. und dem 13. Jahrhundert, das auch andere Bauhistoriker immer wieder erstaunt. Lediglich eine Ausnahme scheint es gegeben zu haben: den berühmten Klosterplan von St. Gallen,einenIdealplan,deretwaum820entstand,jedochniemals1:1bautechnischum- gesetzt wurde.

AusdemBlickwinkelmodernerArchitekten,IngenieureundStatikeristesinderTat kaumvorstellbar,dassdieBaumeisterimfrühenundhohenMittelalterkomplexeKirchen, BurgenundandereGebäudeohneWerkzeichnungenerrichtethabensollen.NebenConrad geht auch der Bauhistoriker Max Hasak davon aus, dass Architekturzeichnungen zu allenZeiten „notwendige, ja unerlässliche Hilfsmittel der Bauplanung“4gewesen seien. Konrad Hecht,AutoreinesbekanntenWerkesüberdenSt.GallenerKlosterplan,meint,imMittelalterhabemaneinenBau„nichtandersvorbereitetalsheute:miteinemaufdemReißbrett entwickeltenEntwurf“5.

Dagegensprichtjedoch,dassausderZeitvordem13.JahrhundertallenfallsDetail- bzw. Feinplanungen für einzelne Elemente einiger Gebäude (Werkrisse) auf Holz oder Stein, nichtaberEntwurfs-bzw.GrobplanungenfürdasgesamteGebäudeüberliefertsind6.Erstab Mittedes13.JahrhundertssindWerkrisseimGrößenverhältnis1:1sowie„einigermaßenproportionsgerechteZeichnungen“7erhalten,wie Binding bemerkt. Pläne mit Maßstabsangaben kennt man erst seit dem 15. Jahrhundert.

Der älteste maßstabsgerechte Plan stammt aus den 1420er-Jahren aus Bologna. Eine deutlicheZunahmeanArchitekturzeichnungenisterstabMittedes14.Jahrhunderts8und verstärktabMittedes15.Jahrhunderts9erkennbar.Abdem15.JahrhundertnahmenWerkzeichnungensogarrechtsverbindlichenCharakteranundwurdenineinigenBauhüttenBestandteil der Meisterprüfung10.

Spekulationen um den Verbleib der Pläne

Die „Lücke“ imVorhandensein von Bauplänen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts erklärenvieleBauhistorikerdamit,dasssieverlorengegangenoderabsichtlichvernichtetworden seien:

„SolcheZeichnungenmüsseneinstzuTausendenvorhandengewesensein.Vonihnenist nureinverschwindendkleinerTeilerhaltengeblieben.DieserRestistfastausschließlich denbewahrendenKräftenderSteinmetzhüttenWest-undSüddeutschlandszudanken“,so Hecht11.

AuchConradhältfest:

„Der Mangel an Zeichnungen von Bauwerken von der Römerzeit bis in das 13. Jahrhundert möchte daher durch Verlust erklärt werden. Pergament und später Papier – um solche Beschreibstoffe handelt es sich vorwiegend – waren immer durch Feuer undWasser besonders starkgefährdet.[…]IndiesenJahrhundertenmeintemanaber,dassdasinSteinGebaute ewigen Bestand habe und schloss daraus, dass sich die Aufbewahrung einer Bauzeichnung nach Fertigstellung eines Baues erübrige. Infolge desWertes, den die Zeichnungsträger darstellten (Pergament und Papier waren sehr teure Materialien), kam eine direkteVernichtung nicht in Frage. Man radierte bzw. schabte die Zeichnungen aus und verwendete den so neu gewonnenen Beschreibstoff (Palimpsest) bzw. freigebliebene Rückseiten“12.

Abb. 1: Schematische Darstellung eines Auszugs aus dem um 1220 entstandenen Glasfenster Histoire des Saint Silvestre im südöstlichen Chorumgang der Kathedrale von Chartres mit Steinmetzwerkzeugen (Hammer, Spitzfläche, rechter Winkeln, Mörtelkelle, Schablonen) sowie Bauelementen (Säule, Gesims und Kapitell). Ein Pergament als Bauplan ist nicht zu sehen.

Jean Gimpel, international anerkannter Spezialist für dieTechnikgeschichte des Mittelalters undu.a.AutordesbekanntenWerkes„DieKathedralenbauer“,istähnlichwieConradder Ansicht,manhättekeinenhinreichendenGrundgehabt,BauplänevonfertiggestelltenGebäudenaufzubewahren,undsiedeshalbvernichtet13.DerIngenieurPaulBooz,ehemaliger Münsterbaumeister in Freiburg im Breisgau, meint, es müssten schon vor dem 13. Jahrhundert Baupläne existiert haben, doch hätte man sie beim Übergang vom romanischen zumgotischenBaustilvernichtet,weilsienichtmehrverwendbargewesenseien14.Aberdie EinteilunginverschiedeneStilepochenwieRomanikundGotikentstanderstsehrvielspäter, undzuBeginnderGotikkonnteniemanddieweitere EntwicklungderBaustileoder -technikvorausahnen.

Wir erkennen insgesamt: Es existiert eine Fülle unterschiedlicher Meinungen bzw. Interpretationen darüber, wieso sich bis zum 13. Jahrhundert so wenig Baupläne erhalten haben. Die „blühenden“ Spekulationen lassen erahnen, dass dem Phänomen unerkannte Ursachen zugrunde liegen.

ConradkommtschließlichzueinerSchlussfolgerung,dieauchandereAutoreninähnlicher Weise ziehen:

„Der seit dem 4. Jahrhundert trotz aller Diskontinuität zu verzeichnende Stand der Bauproduktion lässt es ganz einfach unvorstellbar erscheinen, dass die hier besonders betrachteten Bauwerke ohne zeichnerische Vorarbeit entstanden sein könnten. So sei schließlichnochmalsfestgestellt,dassdasFehlenvonmittelalterlichenBauzeichnungenvordem 13.JahrhundertnichtdieFolgerungzulässt,dassesinjenerZeitkeineZeichnungengegeben hätte“15.

Nachfolgend zeige ich, dass Conrad, Hasak, Hecht, Gimpel, Booz und andere Bau- und Kunsthistorikerdennochirren,wennsieeinKontinuumimBauwissenseitderAntikebzw. seitVitruvannehmenundunterstellen,diemeistenBauplänemüsstenverlorengegangen oder absichtlich vernichtet worden sein.

Mittelalterliche Entwurfspläne aus der Zeit vor dem 13. Jahrhundert sind nicht etwa verschollen, sondern sie existieren überhaupt nicht – ungeachtetdesKönnensderdamaligenBaumeisterundderherausragendenarchitektonischenLeistungen,wiesieunsetwaindenromanischen undgotischen Kirchen,zumTeilauchimBurgenbau,nochheutesichtbarentgegentreten.

Zeigenwerdeichdies,indemich–überdieKunstgeschichteunddiePläneselbsthinaus– diekulturgeschichtlichenLinienderEpochevom11.biszum16.Jahrhundertnachzeichne unddamitdasThemaausunterschiedlichenPerspektivenbeleuchte:

Die Verfügbarkeit von Beschreibstoffen im Mittelalter (Papyrus, Pergament, Papier) gibt

einen

ersten

Hinweis

darauf,

warum

die

Zahl

der

überlieferten

Baupläne

vergleichsweise

gering ist.

ÜberdenGradderAlphabetisierungdereuropäischenBevölkerungzwischendem4.

und

17.

Jahrhundert

existieren

mittlerweile

etliche

von

Forschern

zusammengetragene

Quellen,

die

ein

zuverlässiges

und

teilweise

überraschendes

Bild

liefern,

in

das

sich

auch

die Berufsgruppe der Architekten einfügt.

Die

typischen

Merkmale

oraler

bzw.

präliteraler

Kulturen

im

Vergleich

zu

literalen,

in

denen Schrift und Schreiben allgemein verbreitet sind, wirft ein Licht auf die Art der WahrnehmungderMenschenimMittelalterundihrenUmgangmitSchriftlichkeit.

Eine sprachliche Analyse einiger Schlüsselformulierungen im Skizzenbuch von Villard de

Honnecourt

im

Vergleich

zu

Werken

anderer

Autoren

gibt

weiteren

Aufschluss

über

das

Selbstverständnis

von

(Buch-)Autoren

des

Mittelalters

und

ihrem

Verhältnis

zur

Leserschaft.

Die überlieferten Pläne und die Art ihrer Verwendung lässt Rückschlüsse auf vermeint

lich fehlende Pläne zu.

Eine kulturvergleichende Analyse der islamischen Architektur derselben Ära legt offen,

dassauchdiearabischeWeltdasProblemder„verschollenen“Bauplänefürepochale

Bauten,

vor

allem

bedeutende

Moscheen

und

Medresen,

aus

der

Zeit

des

8.

bis

14.

Jahr

hunderts kennt.

Die

Aufdeckung

einer

Fehlübersetzung

Vitruvs

zeigt,

woher

die

Behauptung

stammt,

im

MittelaltermüssemithilfevonPlänengebautwordensein.

Das Bildungswesen des Mittelalters einschließlich der Architektenschulung vor der Re

naissance

zeigt,

welchen

Einfluss

Baupläne

auf

die

Entwicklung

des

Architektenberufs

gehabt haben.

Das

im

Mittelalter

verfügbare

mathematische

Know-how

macht

deutlich,

was

Baumeis

ter gewusst haben können und was nicht.

Die Untersuchung von Bau- und Bauzeichen-Instrumenten, insbesondere verschiedener

Zirkeltypen,zeigtdieGrenzenmittelalterlichenPlanensundZeichnens.

InengerVerbindungmitdenInstrumentenstehtdieZeichenkunst,diesichab

dem

15. Jahrhundert progressiv entwickelte, verschiedene Projektionsarten dreidimensionaler Körper auf eine zweidimensionale Fläche hervorbrachte und damit das technische Zeich- nen revolutionierte.

Papyrus, Pergament und Papier – der lange Weg zu Schrifträgern und Schriftlichkeit

Mobile, leichte und bezahlbare Beschreibstoffe

Als Papyrus unterging

InderheutigenZeitstehenunsausreichendBeschreibstoffe,insbesonderePapier,zurVerfügung.FürjedeNotiz,jedenEntwurf,jedeArtvonSchriftstück,jedeZeichnung,gibtesstets genugpreiswertesPapierinallennurdenkbarenFormaten,FarbenundQualitäten.Dassdies infrüherenJahrhundertennichtderFallwarundeseinenregelrechtenMangelanPapier wieauchananderenBeschreibstoffengab,lässtsichausheutigerSichtkaumnochnachvollziehenundistlängstvergessen.Dochden„Luxus“,stetsgenügendpreiswertesPapierzur Verfügungzuhaben,genießenwirinEuropaerstseitdemspäten19.Jahrhundert.

ÜberdieBeschreibstoffedesMittelaltersweißmannichtviel,nurdassüberwiegend Pergamentbenutztwurde,istallgemeinbekannt.InderFachliteraturkursierenleiderimmer wieder etliche Irrtümer, die sich vor allem auf dieVerwendungszeiten und -gründe von Papyrus,PergamentundPapierbeziehen.HiereinekleineZusammenstellungnichtzutreffender Behauptungen:

Der

Historiker

Otto

Mazal

meint,

Papier

habe

Papyrus

als

Beschreibstoff

verdrängt,

weil

die

Produktion

des

Papyrus

unter

dem

Druck

der

wachsenden

Papiererzeugung

einge

stellt

worden

sei

16

.

Doch

das

stimmt

nicht:

Zwischen

der

Einstellung

der

Papyrusproduktion

und

der

Verbreitung

des

Papiers

liegen

in

Europa

rund

500

Jahre;

in

der

Zeit dazwischen

kannte

man

noch

kein

Papier

und

verwendete

ausschließlich

Pergament.

Jean

Gimpel

behauptet,

es

tauchten

ab

dem

14.

und

15.

Jahrhundert

vermehrt

Baupläne

auf

Pergament

auf,

denn

„der

Preis

für

Pergament

war

inzwischen

gefallen“

17

.

Doch

das

Gegenteil war der Fall: Ab dem 14. Jahrhundert verbreitete sich mehr und mehr das Papier,

das

sich

im

15.

Jahrhundert

genau

deshalb

durchsetzte,

weil

sein

Preis

im

Ver- gleich

zu

Pergament

extrem

sank.

Pergament

hingegen

blieb

teuer

und

knapp.

Baupläne wie

auch

andere

Schriftstücke

wurden

ab

dem

15.

Jahrhundert

zunehmend

auf

Papier statt auf Pergament gezeichnet

18

.

Die Paläographin Karin Schneider ist der Ansicht, man habe im Mittelalter Papyrus durch

Pergament

ersetzt,

weil

Letzteres

sich

als

viel

haltbarer

erwies

19

.

Das

ist

zwar

in

mancher

Hinsicht

richtig,

allerdings

war

Pergament

als

Beschreibstoff

bereits

seit

vor

christlicher

Zeit

bekannt,

und

das

nicht

nur

in

Europa.

Demnach

bestünde

die

Frage,

warum

man

in

Europa

überhaupt

Papyrus

so

lange

verwendete,

wenn

doch

Pergament

von

vornherein

vorteilhafter

gewesen

sein

soll.

Der

Germanist

Karl-Heinz

Göttert

meint,

Papier

sei

eine

Erfindung

der

Araber

20

,

obwohl

diese

nur

als

Mittler

bzw.

Kaufleute

zwischen

Ost

und

West

tätig

waren

und

Papier eine chinesische Erfindung ist.

Warum Papyrus und Pergament als Beschreibstoffe untergingen und wann Papier in Europa eingeführt wurde und sich verbreitete, ist kulturgeschichtlich weitgehend unbekannt. Die Entwicklung und Verfügbarkeit von mobilen, leicht tragbaren und hinreichend preiswerten Beschreibstoffen ist aber wichtig im Hinblick darauf, ab wann Bauzeichnungenerstelltwordenseinkönnen.

InEuropaschriebmanca.vom5.vorchristlichenJahrhundert21bisetwazum7.nachchristlichenJahrhundertaufPapyrus,derausderPapyrus-Pflanzehergestelltwird,undzwartraditionellundanscheinendausschließlichinÄgypten,woerbereitsseitdem4.oder3.Jahrtausendv.Chr.bekanntwar22.AlsBeschreibstoffwurdeerjahrhundertelangvondortingroßen Mengen über Byblos, einer Stadt in Syrien, nach Europa imTausch gegen andere Güter exportiert.PapyruswarauchdervorherrschendeBeschreibstoffdesantikenGriechenlands undderRömerzeit.VorherhattennurTon,Stein,HolzoderLederzurVerfügunggestanden, imVergleichzudenenPapyrusvieleVorteilebietet:Eristbiegsam,transportabel,leichtbe- schreibbar,undlässtsichzubeliebiglangenRollenaneinanderleimen.EswarderPapyrus, dermitseinermassivenVerbreitungdieEntwicklungderantikenGelehrsamkeitunddes Schriftstellertums in der Antike beflügelte.

AufgrundvielerpolitischerKrisenundVerwerfungeninÄgypten,dasabdem7.JahrhundertmehrfachenEroberungenunterschiedlicherislamischerGruppierungenausgesetzt war,kamesanscheinendzueinerKrisederPapyrusproduktion.MancheForschersindder Ansicht, die Papyrusflächen seien aufgrund der Ausdehnung der Landwirtschaft massiv geschrumpft23,sodassdiePapyrusstaudenverkümmertenundabdem7./8.Jahrhundertaus derPflanzekeinBeschreibstoffmehrhergestelltsowieexportiertwerdenkonnte.

DieletztenaufPapyrusverfasstenSchriftstückeimchristlichenEuropastammenetwa aus der Mitte des 7. Jahrhunderts aus der Merowinger-Dynastie. Das allerletzte nachweisbare Papyrus-Dokumentwurde1057imVatikanausgestellt,derjedochzudieserZeitbereitsfast ausschließlichPergamentverwendeteundwahrscheinlichnurseineletztenPapyrus-Vorräte aufbrauchte24.OhnePapyrussaßEuropa„aufdemTrockenen“,unddievorherflorierende VerbreitungundVervielfältigungvonSchriftenversiegte.LediglichinItaliensahesetwas besseraus,daaufSiziliennachwievorPapyrusingroßerMengewuchsunddortmöglicherweiseungefährbisins12./13.JahrhundertausderPflanzederBeschreibstoffhergestellt wurde25.VielleichtkonnteSizilienauchbereitsaufPapier-ExporteausderarabischenWelt zugreifen.

Pergament ersetzt Papyrus

NachdemVerlustdesPapyrusbehalfmansichinEuropamitPergament,dasauchschonin derAntikeinEuropawieimOrientgeläufigwarundgelegentlichbenutztwurde26.PergamentwirdausdenHäutenvonRindern,Kälbern,SchafenundZiegengewonnen,wobeiin Europa vorzugsweise Schafshaut verwendet wurde. Im Unterschied zum Leder wird Pergamentnichtgegerbt.DasFellderTierewirdeingeweicht,gereinigtundineineKalklauge eingelegt, wodurch sich Haare und anhaftende Fleischpartikel lösen. Anschließend wird die HautineinenRahmengespanntundmitMessernbehandelt,umHaareundUnebenheiten zuentfernenundeineglatteOberflächezuerzeugen.NachdemTrocknenwirddasPergamentmitKreideundBimssteingeglättet,damitesbeschreibbarist,undaufdasbenötigte Format zugeschnitten (vgl. Abb. 2 )27.

Abb. 2: Aus dem „Ständebuch“ von Jost ‚Amman/Hans Sachs (Nürnberg 1568) – dazu der Text von Hans Sachs: „Ich kauff Schaffell / Böck/ vnd die Geiß /Die Fell leg ist in die beyß /Darnach firm ich sie sauber rein /Spann auf die Ram jeds Fell allein /Schabs darnach / mach Permennt darauß /Mit grosser Arbeit in mein Hauß /Auß ohrn und klauwen seud ich Leim /Das alles verkauff ich daheim.“(„Ich kaufe Schafffell, Böcke und die Geiß,die Felle leg‘ ich in die Beiz‘,danach mach‘ ich sie sauber und rein,spann‘ auf den Rahmen jedes Fell allein.Schabe es danach, mache Pergament daraus,mit großer Arbeit in meinem Haus.Aus Ohren und Klauen siede ich Leim,das alles verkaufe ich daheim.“)

PergamenthatdenVorteil,dassesimUnterschiedzuPapyrusrobuster,beidseitigbeschreibbarundlängerhaltbarist.SowohlPapyrusalsauchPergamentsindabwaschbarund damitmehrfachverwendbar;davonzeugendiezahlreichensog.Palimpseste–Pergamente (undsehrwenigeerhaltenePapyri),derenTexteausradiertwurden,umsieerneutverwenden und beschriften zu können.

DochPergamenthatauchNachteile:DaeseinorganischesMaterialist,reagiertesempfindlich auf Feuchtigkeit. Kommt es direkt mitWasser in Berührung, geht es nach einer Weile in Fäulnis über. Unerwünschte Veränderungen treten allerdings auch schon ohne direkten Kontakt mit Wasser auf und können bereits durch eine zu feuchte Luft bewirkt werden.DadurchkanndasPergamentglasigwerdenundsichausdehnen;beimTrocknen schrumpft es ein und wird wellig.Wird Pergament mehrfach feucht und trocknet wieder, so blättert die Tinte darauf ab.

Es ist klar, dass all dies negative Folgen für Bauzeichnungen hat, die in ihren Proportionenverzerrtoderunleserlichwerdenkönnen.DaraufweisenPergament-Expertenwieauch Bauhistorikerhin,diesichmitmittelalterlichenWerkrissenaufPergamentbefassthaben28.

EinweitererNachteilvonPergamentwarseinhoherPreis.Weilessoteuerwar,wurdees überwiegendfürUrkundenundBücherverwendet,standaberfürAlltagsschriftgutmeist nicht zur Verfügung. Hier behalf man sich mit Wachstäfelchen als Erinnerungsstützen (vgl.Abb. 12)–odermussteschlichtwegaufeineVerschriftlichungverzichten.

Etwaabdem12.JahrhundertnahmderSchriftverkehrinEuropaerheblichzu,insbesondere inderpolitischenVerwaltungundderGerichtsbarkeit.DeutlichwirddiesamBeispielvon England:Zwischen1250und1350verzehn-bisverzwanzigfachtesichdortdieMengeder SchreibmaterialienwieauchdesSiegelwachses.MusstenzuBeginndes13.Jahrhunderts anlässlicheinesköniglichenGerichtstagesnureinpaarDutzendSchafeihrLebenlassen, so waren es um 1283 bereits 500Tiere29. Ähnlich sah es in Frankreich, im Vatikan und in Deutschland aus: Statistische Zählungen ergaben, dass sich die Anzahl der Urkunden vom11.zum12.Jahrhundertverzehnfachteundim13.Jahrhundertnochmalsverdoppelte; zugleichwuchsdieAnzahlhöfischerKanzleiendeutlich30.NacheinerstatistischenUntersuchung verneunfachte sich die Manuskriptproduktion vom 11. zum 12. Jahrhundert in ganzWesteuropa,umsichvom12.aufdas13.Jahrhundertnochmalszuvervierfachen31.In ErmangelungandererBeschreibstoffeverwendetemanausschließlichPergament.

Eswarabsehbar,dassesangesichtsdesprogressivenAnstiegsschriftlicherDokumente zunehmendschwierigergewesenwäre,densteigendenBedarfanBeschreibstoffenweiterhin überPergament zu decken:Tierhäute waren auf die Dauer zu teuer, zumal dieTiere verschiedeneFunktionenalsNahrungs-undRohstofflieferantenfürdieTextilindustrieerfüllten.Es konntenichtfürjedesanstehendeDokument,jedenBrief,jedesGerichtsurteil(oderjeden Werkriss)einweiteresTiergeschlachtetwerden.DieshätteirgendwannzumExodusder Rinder,Kälber,SchafeundZiegengeführt,derenWolleundMilchdringendfürBekleidung undErnährungbenötigtwurden.WasbeispielsweisedieWolleanging,soexistiertenlangfristige Verträge zwischen den Lieferanten der Landwirtschaft, z. B. dem Zisterzienser-Orden in England und der Tuchindustrie in Italien.

Wäre Papyrus zu dieser Zeit noch verfügbar gewesen, so wäre es naheliegend gewesen, dass man ihn als Beschreibstoff aufgrund des hohen Bedarfs ergänzend zum Pergament weiterhinverwendethätte.DochdiepaläographischenBelegezeigeneindeutig,dassdies nichtderFallgewesenist:PapyruswarinEuropaim11.Jahrhundertbereitsvollständigverschwunden.

EinwachsenderBedarfanBeschreibstoffenaufgrundvonfehlendem Papyrus und immer weniger ausreichendem bzw. teurem Pergament – so war die Situation, als in Europa im 12. Jahrhundert die Blüte der Gotik begann und die Europäer zum ersten Mal mit dem neuartigen, noch unbekanntenPapierinBerührungkamen,undzwaraufdemWegüberdas muslimischbesetzteSpanien.

DieUmayyaden,dieausdemzentralasiatischenRaumkommendvondenAbbasidenaus ihremangestammtenReichvertriebenwordenwaren,durchwandertendennordafrikanischenRaumundgründetenschließlich756n.Chr.imSüdenderiberischenHalbinselin al-AndalusdasEmiratvonCordoba.Mitsichbrachtensiediebereitsweitentwickeltearabi scheWissenschaftundLiteraturundführteninnerhalbvoneinbiszweiJahrhundertenauch dasKnow-howderPapierherstellungein,dasdieArabervondenChinesenübernommen hatten.Um750wardiearabischeWeltüberdenHandelsknotenpunktSamarkand(heutein Usbekistan),anderSeidenstraßegelegen,unddieGegendumKhorasanmitdemvonden ChinesenerfundenenPapiererstmalsinBerührunggekommen.

Die Erfindung des Papiers in China und seine Verbreitung über die arabische Welt

InChinahattesichbereitsabdem11.Jahrhundertv.Chr.einausgedehntesbürokratisches Staatswesenentwickelt.ZunächsthattemanKnochen,Muscheln,Elfenbein,Schildkrötenpanzer,Stein,TonundschließlichBambusstreifenundSeidealsBeschreibstoffeverwendet. ImLaufederZeitgewannBambusmehrundmehrdieOberhand,dochseinenormesGewichtundseinaufschmaleStreifenunddamitkurzeTextebegrenztesFormaterwiesensich alsgroßeSchwäche.AlseinmaldiekaiserlicheBuchsammlungtransportiertwerdenmusste, benötigtemanganze2.000Karrenladungen.ZudemließensichdiesperrigenBambustexte inderBibliotheknurschwerineineübersichtlicheOrdnungbringen.Sokames,dassCai Lun(ca.50–121n.Chr.) –chinesischerBeamteundBeraterdesKaisers,u.a.zuständigfür dieAusstattungdeskaiserlichenHaushaltsunddieAnfertigungvonMöbelnundSchwertern–damitbeauftragtwurde,einenbesserenBeschreibstoffzuentwickeln32.

Um105n.Chr.sollCaiLuninChinadasPapiererfundenhaben, dochwahrscheinlichhaternurbereitsbestehendeHerstellungsverfahren verbessert. Denn es wurden bereits vor dieser Zeit entstandenechinesischePapierfragmentegefunden.DieErfindung derPapiermachereiwarehereinkontinuierlicherProzessalseineinmaliges Ereignis33.

Auf Cai Lun soll das folgendeVerfahren der Papierherstellung zurückgehen: Die Rinde des MaulbeerbaumeswirdinWassereingeweichtundintensivzersetzt.SiewirdmiteinemgroßenMörserzerstampft,umdieeinzelnenFasernaufzuspaltenundaufquellenzulassen,bis sie eine Art Brei, die sog. Pulpe, bilden. Aus der Pulpe wird mit einem Schöpfsieb jedes Blatt PapiereinzelnmitderHandgeschöpft,wobeidasBlatteineArtFasermatteimSiebbildet. NachdemdieFlüssigkeitherausgepresstwordenist,wirddasPapierzumTrocknenaufgehängt,bisesbeschreibbarist.HäufigwirdeszuvornochmiteinemSteingeglättet.

StattderRindedesMaulbeerbaumes,derlängstnichtüberallwächst,wurdeninChina wieauchimarabischenRaumjenachRegionauchandereRohstoffeingleicherWeiseverwendet,z.B.Hanf,Fischernetze,Flachs,LeinenundvorallemLumpenausaltenabgetragenenTextilien34.InsbesondereHadernundLumpendientendenArabernundspäterden EuropäernalsRohstoffderPapierherstellung.

Die Produktion von Papier aus Maulbeerbaumrinde ist derjenigen von Papyrus nicht ganzunähnlich.DerentscheidendeUnterschiedbestehtjedochinderintensiverenZersetzung(Mazerierung)derRohstoffe,dieesermöglicht,einMaximumanPapierblätternaus derPulpe(demRohstoffbrei)zugewinnen.BeiderPapyrusherstellungwerdendiePflanzenfasern nicht aufgeweicht, sondern in Streifen geschnitten und jeweils zwei Bahnen horizontal undvertikalübereinandergelegtundsolangegeschlagen,bissiesichüberdenAustrittder wieKlebstoffwirkendenStärkemiteinanderverbundenhaben.NachdemTrocknenund PolierenistderPapyrusschließlichbeschreibbar.

DasPapierverbreitetesichnachCaiLunsHerstellungsverfahreninnerhalbvonrund 1.500JahrenüberdiegesamteWelt.NachOstenindenasiatischenRaum,v.a.nachKorea undJapan,kamesübermissionierendebuddhistischeMönche.VonChinaausindenWestenbisnachEuropagelangteesüberdieSeidenstraßemithilfederAraber,diesich,ganzin derTraditionMohammeds,alsHändlerundKaufleuteverstanden.DieAraberlerntenum 750imGrenzgebietzuChinainSamarkandzumerstenMalPapierkennen,nutztenesaber zunächstnicht.DochalssichauchindermuslimischenWeltderRückgangdesPapyrus schmerzhaftbemerkbarmachteundesabsehbarwar,dasssichderBedarfanBeschreibstoffen dortebenfallsnichtmitPergamentalleindeckenließ,gingmangegenEndedes8.oderzu Beginn des 9. Jahrhunderts dazu über, eigene Papiermanufakturen zu errichten und sie nach chinesischem Vorbild zu führen35.

DieerstePapierherstellungentstandimgrößtenislamischenZentrum,derHauptstadt Bagdad,undbaldfolgtenweitereManufaktureninKairo,DamaskusundanderenbedeutendenislamischenStädten.FortanwurdePapieralsVerbrauchsgutgenutztundüberdie SeidenstraßeauchbisindenNahenOstenexportiert.EsgelangteüberdasMittelmeerin deneuropäischenRaum,wobeibisheutenichtganzklarist,obeszuerstnachSizilienoder nach Spanien kam.

AlsmitdemPapiernunendlicheinBeschreibstoffinausreichenderMengezur Verfügungstand,setzteindermuslimischen WelteineregelrechteKulturblüteein: Wissenschaft, Literatur und Bildung begannen sich geradezu sprunghaft zu entwickeln.Während Europa noch im intellektuellen „Dornröschenschlaf“ verharrte, war die arabische Kultur der europäischen bald um mehrere Jahrhunderte voraus. In Bagdad entstand 825 unter dem Abbasiden-Kalifenal-Mamumdasberühmte„HausderWeisheit“,einewissenschaftlicheAkademie,inderzahlreicheWerkeausdergriechischenAntikeinsArabischeübersetztwurden. Mathematik,Astronomie,MedizinundLiteraturnahmeneinenenormenAufschwung,und politische Herrscher wie auch vermögende Privatleute der arabischenWelt unterhielten und pflegtenumfangreicheBibliotheken.ImBagdaddes11.Jahrhundertsgabesbereitsmehrals hundert Buchläden36.

AuchimarabischbesetztenSpanienentstandgenauwiezuvorinBagdadeineKulturblütemitUniversitätenundGelehrten,vondenenvieleausBagdaddenWegnachSpanien fanden. In Städten wie Cordoba, Xativa (naheValencia), Sevilla undToledo hatten sich im 11. Jahrhundert bereits nachweislich Papiermanufakturen etabliert37. Während selbst die BibliothekdesVatikansnochbisins14.Jahrhundertkaum2.000Bändeumfasste,solldiejenigevonAl-HakamII.im10.JahrhundertinCordobabereits400.000Bändegehabthaben, wobeialleinderWerkindexschon44Bändehatte38.

BekanntlicherobertendiespanischenKönigeindersog.ReconquistainmehrerenSchübenübermehrereJahrhundertedasislamischbesetzteSpanienzurückundrechristianisierten es.BereitsimJahre1086warToledo,dasetwaindergeografischenMitteSpaniensliegt, zurückgewonnenworden.ToledowareineStadt,inderMoslems,JudenundChristenüber Jahrhundertefriedlichzusammenlebten,auchnachderReconquista.

Der „Beschreibstoff der Ungläubigen“ erreicht das christliche Europa

InToledoscheinenChristenzumerstenMalnichtnurmitderarabischenKultur,sondern auchmitdemBeschreibstoffPapierinBerührunggekommenzusein.Ausgelöstwurdedies durchPetrusVenerabilis(1092–1156),von1122bis1150AbtdesKlostersvonCluny.Er besuchteCordobaundToledoundgabinderdortigenberühmtenÜbersetzerschuledieerste ÜbersetzungdesKoransundandererislamischerSchrifteninsLateinischeinAuftrag.

Die Übersetzerschule inToledo spielte eine besondere Rolle als „Relaisstation“ zwischen derarabischenKulturundderdurchsieinitiiertenWeiterentwicklungdereuropäischenKultur,dieabdem12.Jahrhundertintellektuellaufzuholenbegann.DerÜbersetzerschuleist eszuverdanken,dassvieleverschollenegriechischeundlateinischeManuskriptederAntike,diemaninmühseligerSucharbeitüberTausendevonKilometernzusammengetragen hatte,zuerstfürdieMoslemsausdemAltgriechischeninsArabischeunddannimAuftrag vonEuropäernausdemArabischenwiederuminsLateinische,dieGelehrtensprachedes Mittelalters,übersetzt wurden.DieweltberühmteÜbersetzerschuleinToledowurdegeleitet vomErzbischofGerhardvonCremona(ca.1114–87),deru.a.dieWerkevonHippokrates, Archimedes,Galen,den„Almagest“vonPtolemaiosundEuklids„Elemente“ausdemArabischen ins Lateinische übersetzte.

AlsPetrusVenerabiliserstmalseinenKoranindenHändenhielt,kamerdamitzugleich zum ersten Mal mit Papier in Kontakt. Was er über den Koran und den neuartigen Beschreibstoff Papier dachte, ist in seinem „Traktat gegen die Juden“ (Tractatus contra iudaeos) überliefertundleiderwenigschmeichelhaft:

„Legit,inquit(iudaeus),DeusinCoelislibrumTalmuth.Sedcuiusmodilibrum?Sitalem quales quotidie in usu legendi habemus utique ex pellibus arietum, hircorum, vel vitulorum, siveexbiblis,veljuncisorientaliumpaludumautexrasurisveterumpannorum,siveex qualibet alia viliore materia compactos, et pennis avium vel calamis palastrium locorum, qualibettincturainfectisdescriptos“39.

„GottimHimmel,sagtderJude,liestdenTalmud.AberwelcheArtBuchistdas[=der Koran]?Essiehtsoauswiedas,waswirtäglichzumLesenverwenden,gemachtausSchafs-, Ziegen-oder Kalbsleder[=Pergament]oderaus (Rohrkolben-)Barke ausden Sumpfländern des Orients [= Papyrus], doch es ist gemacht aus dem Abgeschabten alter Kleider [= Lumpen], aus dem ein zusammengefügter Stoff von wertloser Beschaffenheit [= Papier] hergestellt wird. Beschrieben wird es mit Vogelfedern oder gespitzten Schilffedern und gefärbter Tinte“40.

Esistunübersehbar:PetrushältvonPapiernichtviel,esistfürihn