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"Wie lange kann ich dich noch lieben, wenn du dich nicht mehr an deine Gefühle für mich erinnerst?“ Gabriela und Dawson waren das perfekte Bilderbuchpaar. Sie hatten bereits Pläne für ihre Zukunft geschmiedet, als der Wind sie plötzlich auseinandertreibt. Während Gabrielas Leben in Trümmern liegt, versucht Dawson, so gut es geht, normal weiterzuleben. Für sie ist es unerträglich, Dawson so sorglos und unbekümmert zu sehen, während sie nicht mehr weiß, wie sie ihr Herz wieder zusammensetzen kann. Doch Dawson hat sie vergessen. Er weiß nicht, dass sie sich bereits in der High School ineinander verliebt hatten. Auch an die geplante Hochzeit, die im Mai stattfinden sollte, erinnert er sich nicht. All seine Erinnerungen an die Liebe zu Gabriela – sie sind durch den Unfall plötzlich fortgewischt. Als Gabriela schon aufgibt, machen ihre Schwestern ihr Mut: Wahre Liebe findet immer wieder zusammen. Doch stimmt das wirklich? Lohnt es sich, die Liebe noch einmal von vorn zu beginnen und aufs Neue für Dawson zu kämpfen?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Vanessa Fuhrmann
Chellston Bay
Afterlife
Chellston Bay – Afterlife
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag
Lektorat und Korrektorat: Désirée Kläschen
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter
Verwendung von Motiven von rawpixel
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von Motiven von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die vergessen haben, wie es ist, wahrhaftig zu lieben.
Und für Aiko, meinen Seelenhund. Für immer.
Manchmal ist Zeit alles, was zählt.
Und manchmal ist Zeit unser schlimmster Feind.
Gabriela
Zeit ist kostbar. Doch leider wird das den meisten Menschen erst dann bewusst, wenn sie längst verloren ist.
Zeit mit der Familie.
Zeit mit einem geliebten Menschen.
Zeit mit Freunden.
Zeit für sich selbst.
Wir alle haben längst vergessen, dass jeder Augenblick geschätzt, gelebt und geliebt werden sollte. Viel zu schnell sind diese Momente vorbei. Nur eine Erinnerung. Doch selbst diese verblasst. Stück für Stück. Wie eine Sanduhr, die nach und nach abläuft. Man kann dem Sand förmlich beim Rieseln zusehen.
Es tut weh.
Der Schmerz, zu wissen, dass unsere Zeit verloren ist. Der Wind hat sie leise davongetragen. Die Erinnerungen sind nur noch Sandkörner in der Wüste. Wie soll ich sie da wiederfinden? Wie soll er sie wieder finden?
Immer glaubte ich, dass das Leben perfekt ist.
Nun ja – ich lebte in einer Traumwelt. Wusste nichts davon, dass sie bald zu Staub zerfallen würde.
Und was bleibt?
Erinnerungen. Sandkörner. Verlorene Zeit.
Aber vor allem unendliche Schmerzen.
Gabriela 1 Jahr zuvor
Sonntage sind die perfekten Tage, um etwas zu unternehmen.
Einen Ausflug zu machen. Ein Abenteuer zu erleben.
Zeit mit der Person zu verbringen, die man liebt.
Und – o mein Gott – ich liebe Dawson schon seit einer halben Ewigkeit. Immer noch lasse ich meinen Blick verstohlen zu ihm wandern. Obwohl wir doch händchenhaltend durch Chellston Bay schlendern, direkt auf den Park zu. Es ist kein Geheimnis, dass Dawson Miller mit seinen dunkelblonden, verstrubbelten Haaren, den definierten Muskeln, die aber niemals zu viel sind, und den hellblauen Augen für attraktiv befunden wird. Das ist auch einer der Gründe, weshalb sich viele junge Frauen von ihm fast ihre gesamte Hauseinrichtung herrichten lassen. Mich stören die Blicke, die sie ihm schenken, manchmal. Und eben dann gefällt es mir, seine Hand ein Stück fester zu drücken und ihm anbetende Blicke zuzuwerfen.
»Irgendwann wirst du mir die Hand noch brechen«, lacht Dawson in diesem Moment. Sofort befinde ich mich wieder in der Realität. Die jedoch in keiner Weise das Lächeln von meinem Gesicht wischt. Im Gegenteil: Es wird ein Stück breiter.
›Du solltest mit einem Lächeln durchs Leben gehen‹, sagt meine Abuela immer. Und genau das bin ich im Begriff zu tun.
»Wenn die Blicke der Damen von Chellston Bay endlich weniger werden, dann werde ich vielleicht weniger doll zudrücken«, erkläre ich ihm.
Er fährt sich durch das dunkelblonde Haar und schüttelt dann den Kopf, während sich auf seinen Lippen ein neckisches Grinsen ausbreitet. Das kenne ich bereits zu gut. Ich weiß, was jetzt kommt.
»Tja, die werden leider nicht weniger. Immerhin bin ich der angesagteste Schreinermeister hier in der Stadt!« Dawson besitzt tatsächlich die Frechheit, mir dabei schelmisch zuzuzwinkern.
»Pff«, schnaube ich. »Dawson Miller, darf ich dich daran erinnern, dass du gleichzeitig auch der einzige Schreiner hier bist? Wir leben schließlich nicht in Charleston oder einer anderen Großstadt. Außerdem könntest du die Blicke der Frauen deutlich reduzieren, indem du mir endlich einen Ring an den Finger steckst.«
Dawson schüttelt nur lachend mit dem Kopf. »Ich kann dir nur immer wieder sagen, dass der Tag kommen wird. Wenn er perfekt ist.«
Mein Seufzen ist ohrenbetäubend laut. Ich ziehe es extra in die Länge.
»Ach, Querida, wir sind doch schon so lange zusammen! Meinst du nicht, es wäre endlich an der Zeit? Ich dachte, dein größter Wunsch sei es, mit mir einmal eine Familie zu gründen.«
»Das ist er auch immer noch«, versichert mir Dawson. Diesmal ist er es, der meine Hand etwas fester drückt.
Ein Glitzern tritt in seine Augen und ich atme erleichtert aus. Er meint es ehrlich. Natürlich.
»So, hier sind wir.«
Wir stehen am Eingang des Talestown Parks. Ein schwarzes Eisentor, das geschwungene Muster in sich trägt, markiert den Einlass. Links und rechts davon beginnt eine sandfarbene Mauer, die irgendwann in eine grüne, dichte Hecke übergeht, die den Talestown Park komplett umzingelt und so eingrenzt.
Sofort lächle ich wieder. Der Talestown Park ist mit Abstand mein liebster Park in der Stadt. Er hat etwas magisch Mystisches an sich und ist für mich eine Art Ruheoase.
»Ich liebe es, wenn wir hier unsere Sonntage verbringen«, stoße ich aus.
Dawson stößt mit seiner freien Hand das Tor auf.
»Und genau deswegen sind wir immer wieder hier, Gaby.«
Sobald wir das Tor durchschritten haben, befinde ich mich in einer völlig neuen Welt.
Links und rechts der Wege stehen alte Eichenbäume, deren Äste mit Spanish Moss übersäht sind. Sie strahlen Ruhe aus und haben gleichzeitig etwas Majestätisches an sich. Unter ihnen hindurch über die knirschenden Wege zu laufen, fühlt sich heilend an. An Sonntagen wie diesen komme ich raus aus meinem Job, auch wenn ich diesen über alles liebe. Ich nehme Abstand von meiner wilden, manchmal etwas lauten, aber trotzdem liebevollen Familie und genieße das Hier und Jetzt. Zwar sind an einem sonnigen Tag wie heute etliche Familien oder andere Paare hier unterwegs, aber dennoch fühlt es sich ruhiger an, als um diese Uhrzeit durch die Innenstadt an den geschlossenen Geschäften vorbeizugehen. Der Lärm der Stadt wird immer leiser, je tiefer wir in den Park hineinkommen. Ich vernehme kein Brummen von Autos mehr.
Unser Weg führt uns bis zum See, der von Weidebäumen gesäumt wird. Kinder füttern Enten, während ein einsames Ruderboot über das Wasser schippert.
»Hier ist es schön, lass uns hier picknicken«, rufe ich aus.
Dawson nickt und gemeinsam breiten wir unsere mitgebrachte Decke am Ufer des Sees aus.
Dawson stellt den Picknickkorb ab, dann setzen wir uns auf den weichen, türkisfarbenen Stoff.
»Ich hab tatsächlich schon etwas Hunger«, stößt er aus und reibt sich seinen Bauch. In seinem karierten Hemd sieht er mehr wie ein Cowboy aus als ein Schreiner. Und dennoch habe ich seinen Stil schon immer geliebt. Bereits in der High School ist er mir damit aufgefallen.
»Was hast du heute Leckeres gezaubert?«, will Dawson wissen.
Ich hole eine Dose aus dem Korb, in die ich unsere Sandwiches gepackt habe.
»Heute gibt es nichts typisch Spanisches. Tatsächlich habe ich uns Sandwiches mit Erdnussbutter und gebratener Banane gemacht. Weil du sie doch so gern magst.«
»Dann immer her damit. Ich kann nicht länger warten. Danke, Gaby. Du bist die beste Freundin, die sich ein Mann wünschen kann, weißt du?«
Ich winke ab. »Du versuchst nur dich wegen deiner Neckerei vorhin wieder bei mir einzuschleimen. Vergiss es.«
»Nichts da mit Einschleimen! Ich meine es absolut ernst, Liebste, das weißt du doch.«
Er legt den Kopf schief und sieht mich entschuldigend an.
Eingehend mustere ich ihn. So als würde er mir zum ersten Mal gegenübersitzen. Dabei habe ich ihn in der High School bereits gemustert, als er noch vereinzelte Pickel im Gesicht hatte, die aber seiner Schönheit keinen Abbruch getan haben. Restlos bin ich ihm verfallen. Damals wie heute lässt er mein Herz schnell schlagen.
Ich beuge mich zu ihm hinüber und versiegle seine Lippen mit meinen.
Dawson seufzt tief. »Eindeutig besser als ein Erdnussbutter-Sandwich mit gebratener Banane«, sagt er, nachdem wir uns voneinander gelöst haben. »Trotzdem hätte ich meines jetzt gern.«
Ich reiche ihm das Sandwich und gemeinsam essen wir. Dabei genieße ich jede Sekunde. Es gefällt mir, zuzusehen, wie Dawson isst und sich gleichzeitig mit mir unterhält. In unserer Beziehung war schon immer ich diejenige, die wie ein Wasserfall redet, während er eher schweigsam ist. Wenn er aber spricht, dann liebe ich es, dem Klang seiner ruhigen, tiefen Stimme zu lauschen. Auch wenn mir das Zuhören oft wahnsinnig schwerfällt. Diesmal hänge ich an seinen Lippen.
»Weißt du, Gaby, eines Tages hätte ich gern einen Hund. Das ist irgendwie der nächste Schritt, weißt du? Also bevor wir eine Familie gründen. Ein Hund sollte in jede Familie gehören. Außerdem könnte er mir bei meiner Arbeit helfen. Oder nun ja – mir natürlich eher Gesellschaft leisten, anstatt mit anzupacken, aber du weißt, was ich meine.«
Er fährt sich nervös durch sein dunkelblondes Haar und lächelt schief.
Ich nicke. »Natürlich, Querida. Einen Hund kann ich mir auch sehr gut für uns vorstellen. Vor allem aber für dich. Ein felliger Freund würde wirklich gut zu dir passen.«
Das Grinsen auf seinen Lippen wird noch breiter.
»Meinst du?« Ich verstärke mein Nicken. »Ja. Du warst schon immer sehr tierlieb, außerdem hast du das große Glück, dass du am Rand von Chellston Bay direkt am Wald wohnst. Bei dir ist es so ruhig, man könnte denken, man wäre auf dem Land. Ein Hund würde sich dort wohlfühlen.«
»O ja! Und danach bekommen wir Kinder, die mit dem Vierbeiner spielen werden«, träumt Dawson.
In diesen Traum stimme ich direkt mit ein, nehme mir aber fest vor, Dawson eines Tages mit einem Welpen zu überraschen. Denn ich glaube, das würde ihn glücklich machen.
Schließlich beginnt er das Thema zu wechseln und erzählt von seinem Bike.
»Dawson?«, unterbreche ich ihn schließlich.
»Ja?«
Er legt den Kopf schief, seine Augen funkeln eindringlich und wie immer ist er mir kein Stück böse, dass ich ihn unterbreche. Er ist sich bewusst, dass ich seine Leidenschaft für Motorräder nicht teile, sondern herzlich wenig davon halte.
»Findest du nicht auch, dass sich in den Südstaaten die Menschen noch modischer kleiden als anderswo?«
Dawson zuckt mit den Schultern. »Gaby, ich habe nicht so sehr den Sinn für Mode wie du. Das ist eher dein Fachgebiet.«
Ich lächle. »Stimmt. Aber irgendwie finde ich das. Hier in Chellston Bay sind an einem Sonntag die Leute alle hübsch gekleidet. Sie machen sich Gedanken darüber, was sie anziehen. Die Frauen sind noch oft in Kleidern unterwegs. Das ist irgendwie schön, auch wenn es ein Klischee von früher ist, als Hosen in der Damenwelt noch verpönt waren. Aber irgendwie gefällt es mir. Ich bin froh, hier aufgewachsen zu sein.«
»Ich auch«, erwidert Dawson. »Aber am allermeisten deswegen, weil ich dich nie kennengelernt hätte, würde ich nicht hier leben.«
Mein Herz schmilzt bei seinen hoffnungslos romantischen Worten dahin. Es ist, als würde uns eine rosarote Blase umgeben und immer weiter hinauf zu den Wolken tragen.
»Ich liebe dich, Dawson. Jetzt und für immer«, hauche ich, beuge mich ein Stück zu ihm hinüber und schließe genüsslich die Augen, als Dawson die letzte Distanz zerstört, mein Gesicht in seinen starken Händen wiegt und mit seinen Lippen die meinen streichelt. Voller Zärtlichkeit küsst er mich. Der perfekte Kuss an einem Sonntag im Talestown Park. Ich seufze zufrieden auf, als wir uns voneinander lösen.
»Es ist schön, dass wir heute hierher in den Park gekommen sind«, gebe ich zu.
Dawson nickt. »Finde ich auch. Das hast du toll geplant, Gaby.«
Ich grinse breit. »Tja, ich bin eben ein Planungsmensch durch und durch.«
Doch auch der schönste Nachmittag neigt sich einmal dem Ende entgegen.
Die Zeit am Sonntag verfliegt meiner Meinung nach schneller als an allen anderen Tagen. Morgen würde Dawson schon wieder seinen Aufträgen in der Schreinerei nachgehen, während ich mich mit Camila an die Entwürfe für unsere nächste Modekollektion setzen werde. Der Alltag hat uns viel zu schnell wieder.
Mir muss die Traurigkeit darüber anzusehen sein, als wir gemeinsam die Decke zusammenfalten, nachdem wir vorher alle unsere mitgebrachten Utensilien wieder im Korb verstaut haben.
»Lass den Kopf nicht hängen, Gaby. Wir sehen uns morgen Abend zum Essen bei deinen Eltern.«
»Noch schöner wäre es, wenn wir endlich zusammenziehen würden«, gebe ich zu.
»Das werden wir. Aber weißt du noch, du sagtest zu mir, dass du damit bis nach unserer Hochzeit warten wolltest. Weil das romantischer ist.«
»Stimmt. Und dazu stehe ich noch. Aber komm jetzt, lass uns zurückgehen.«
Der Rückweg führt uns am Wunschbrunnen vorbei. Er liegt unter schweren Eichenästen, die eine Art Dach über ihm bilden. Der Brunnen selbst ist sogar älter als Chellston Bay. Zumindest sagt man sich das. Seinen Rand zieren Figuren von übernatürlichen Wesen. Es gibt ein Einhorn, einen Drachen, eine Elfe. Er ist wunderschön und der Legende nach soll er Wünsche erfüllen. Allerdings nicht wie es in manchen Städten Brauch ist, indem man eine Münze hineinwirft. Nein, man muss dreimal hineinspucken und dabei an seinen Wunsch denken.
Ich hatte allerdings erst einmal einen: damals, als ich mich in Dawson verliebt hatte. Meine Spucke benutzte ich dazu, mir zu wünschen, dass er dieselben Gefühle für mich entwickeln würde. Er tat es. Ansonsten wären wir wohl kaum hier.
»Ich hatte immer nur diesen einen Wunsch. Und der läuft nun hier neben mir«, seufze ich.
Dawson lächelt und drückt meine Hand kurz fest, ehe er sie loslässt und in Richtung des Brunnens schlendert.
Mit seinen Fingern streicht er über die Figur des Einhorns und blickt gedankenverloren in den Brunnen hinab.
»Damals habe ich nicht an das Schicksal geglaubt. Hätte mir jemand etwas von Wünschen und diesem Brunnen erzählt, dann hätte ich ihn wahrscheinlich für verrückt erklärt.«
»Aber jetzt?«, frage ich ihn neugierig. »Jetzt glaubst du wohl daran?«
Dawson nickt. »Weil mein Wunsch erfüllt worden ist.« Sofort werden meine Wangen warm und ich eile zu Dawson und schmiege mich fest an ihn. Doch etwas ist anders. In seinen Augen liegt ein so mächtiges Funkeln, dass mir beinahe davon schwindelig wird. Ich kann nicht deuten, was er mir damit sagen möchte. Allerdings nimmt er mit einem Mal wieder Abstand zu mir. Sein Blick wandert kurz hinunter zum Boden, als würde er dort nach einem verloren gegangenen Gegenstand suchen. Dann hebt er den Kopf wieder und sieht mich mit einer festen Entschlossenheit an.
Als er hinunter auf die Knie sinkt, halte ich den Atem an.
Bereits mein ganzes Leben war und bin ich eine Träumerin. Die kleine Gabriela wollte stets das Märchen einer Disney-Prinzessin erleben. Der Frosch, der durch einen Kuss zum Prinzen wird. Cinderella, deren Schuh ihren Prinzen zu ihr trug. Ich habe mich in Happy Ends verloren, in der Hoffnung, dass es für mich auch eines gibt. In diesem Augenblick ist es das: mein Happy End.
Dawson kniet vor mir und aus der Hosentasche seiner abgewetzten Jeans holt er eine kleine, schwarze Schatulle hervor.
Mein Herz überschlägt sich vor Freude und ich halte den Atem an. »Dawson ...«, flüstere ich, während sich meine Augen schon jetzt mit Tränen füllen.
Seine hellblauen Iriden finden meine, ehe er die Schatulle öffnet und einen Ring entblößt, dessen Stein dieselbe Farbe hat wie seine Augen. Das Sonnenlicht bricht sich darin und lässt ihn heller funkeln und strahlen als die Sonne. »Gaby, du hast schon so lange auf diese Frage gewartet. Und ich auf den perfekten Moment. Der ist heute. Glaub mir, Gabriela, ich trage diese Schatulle schon länger mit mir herum. Nur wollte ich warten, bis alles perfekt ist. Weil du es für mich bist. Du bist mein Für-Immer und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit dir durchs Leben zu gehen. Du bist die Frau, die ich mir an meiner Seite wünsche.«
Mir rinnen die Tränen über die Wangen. Ich kann sie nicht mehr aufhalten und schniefe gerührt, wische sie mit meinem Handrücken fort. »Dawson, du ... ich ...« Doch die richtigen Worte wollen meinen Mund einfach nicht verlassen, dazu bin ich zu sehr gerührt.
»Du brauchst nichts zu sagen, Gaby. Ein einziges Wort genügt. Möchtest du meine Frau werden?«
In diesem Moment ist es endgültig um mich geschehen. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und weine vor Freude los. Die Welt verschwimmt hinter meinen Augen in einem rosaroten Schleier. Ich kann nicht fassen, dass Dawson mein Mann werden möchte. Die Liebe meines Lebens, er ... er will sich für immer mit mir verbinden. Nichts könnte mich glücklicher machen, doch es fällt mir schwer, selbst dieses eine Wort über die Lippen zu bringen, weil die Tränen mich zu sehr hindern. Doch schließlich schaffe ich es:
»JA!«, rufe ich zwischen all meinen Schluchzern.
Ich nehme wahr, wie Dawson den Ring aus der Schatulle nimmt. Automatisch strecke ich ihm meine Hand entgegen und er schiebt den Ring über meinen Finger. Dabei fällt mir auf, dass seine Hände zittern. Er ist ebenso aufgeregt wie ich.
»Ich liebe dich«, seufze ich und schlinge meine Arme um seinen Hals.
»Und ich dich, Gabriela.«
Zärtlich küsst er mich. Mein erster Kuss als Verlobte von Dawson Miller. Tausende Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch. »Wir heiraten! Ich kann es nicht fassen! Wir heiraten wirklich«, rufe ich nach dem Kuss aus. Inzwischen sind meine Freudentränen weitestgehend versiegt. Dawson nickt. » Es wird Zeit, denn du hast recht. Ich will nicht nur die freien Abende mit dir verbringen, sondern jeden Augenblick. Meinen gesamten Alltag will ich mit dir teilen. Nach der Hochzeit wirst du zu mir ziehen und wir werden unser gemeinsames Für-immer-Leben beginnen.«
Wie wild nicke ich. »O ja, das werden wir. Wann wollen wir heiraten? Eine Hochzeit will schließlich geplant werden.«
Dawson fährt sich durch sein Haar. »Und niemand könnte das besser als du«, stellt er fest.
Meine Wangen werden warm. »Stimmt. Schon immer habe ich von einer Hochzeit im Mai geträumt – eine Maihochzeit. Hast du etwas dagegen?«
»Nein«, erwidert mein Verlobter.
Verträumt seufze ich auf. »Super! Dann habe ich auch noch genug Zeit, um alles genau zu planen und zu organisieren. Und – o mein Gott! Was wird meine Familie nur dazu sagen? Wann sagen wir es ihnen?«
»Wann du möchtest, meine Hochzeitsplanerin – meine Verlobte. Am meisten wird sich sicher deine Abuela freuen. Sie wartet doch schon seit Jahren darauf, dass ich dich endlich frage.«
»Da hat sie genauso ungeduldig gewartet wie ich«, lache ich.
»Stimmt.«
»Ach, Dawson, du hast mich heute zur glücklichsten Frau auf der ganzen Welt gemacht.« Dawson küsst meine Stirn und sagt: »Genau das ist mein Plan gewesen. Den perfekten Moment abpassen und ihn noch perfekter machen.«
»Das ist dir wahrlich gelungen. Bald sind wir Mann und Frau.«
Überglücklich schnappe ich mir wieder seine Hand. Während wir den Talestown Park verlassen, sinnieren wir über das Leben nach – unsere gemeinsame Zukunft und welches Glück sie für uns bereithält. Und wir fangen an, unsere Hochzeit zu planen.
Gabriela 1 Jahr später
Wenn ich etwas hasse, dann ist das Chaos. Ich als eine Planerin mag es nicht, wenn Dinge nicht reibungslos ablaufen. Dass heute so ein Tag voller Chaos wird, hätte ich nicht gedacht. Immerhin verliefen die Vorbereitungen für meine große Maihochzeit bisher ohne Zwischenfälle. Nun sind es nur noch wenige Wochen bis zum großen Tag – der Tag, dem ich seit meiner Kindheit entgegenfiebere, seit ich den ersten Prinzessinnen-Film aus dem Studio von Walt Disney gesehen habe. Ziemlich kitschig, aber etwas Kitsch sollte in jedes Leben gehören. Das macht die Welt noch bunter und fröhlicher. Unruhig laufe ich im Wohnzimmer meines Elternhauses auf und ab. Dabei ist mir bewusst, dass mich meine ältere Schwester Sierra mit einem äußerst kritischen Blick mustert.
»Wann kommt sie denn endlich?«, seufze ich und werfe zum gefühlt hundertsten Mal einen Blick auf die alte Standuhr, die neben dem Fernseher steht. Der Zeiger ist wieder zehn Minuten weiter vorangeschritten, nur kommt es mir so vor, als würden wir seit Stunden auf meine kleine Schwester warten und nicht erst fünfunddreißig Minuten.
»Camila wird sicher gleich kommen«, wirft Sierra ein.
»Aber was, wenn nicht?«, rufe ich theatralisch aus und raufe mir mein Haar. Was ich nicht hätte machen sollen, denn so bringe ich meine Frisur nur durcheinander.
»Du übertreibst maßlos.« Sierra rollt mit den Augen. Für diese Geste hätte ich ihr am liebsten ein paar ihrer schwarzen Haare ausgerissen, auch wenn mir das wohl eine Predigt meiner Mutter eingebracht hätte.
›Ihr streitet wie kleine Kinder!‹, würde sie sagen.
»Es ist mein Junggesellinnenabschied«, stoße ich aus. »So etwas habe ich nur einmal im Leben. Aber natürlich ist Ms. Camila Brighton am heutigen Tag zu spät. Ich hätte sie eigenhändig aus unserer Wohnung mit hierher schleifen müssen.«
Sierra schüttelt den Kopf. »Ich kann nichts dafür, dass du sie dort alleingelassen hast. Wahrscheinlich kümmert sie sich noch um eine dringende Angelegenheit in eurem Laden.«
»Ich hoffe zumindest, dass sie eine gute Ausrede hat«, nuschle ich und mustere mit finsterem Blick wieder die alte Standuhr. Hasse es, zu sehen, wie der Zeiger sich immer weiterbewegt.
Meine Freundinnen und Cousinen – sie alle sind da und abfahrbereit. Sierra hat sie nur hinaus in den Garten geschickt, damit sie meinen Wutausbruch nicht mitbekommen.
In diesem Augenblick kommt mein Vater zusammen mit Abuela und meiner Mutter ins Zimmer. George, mein Dad, sticht dabei zwischen Abuela und Mom deutlich heraus. Seine afroamerikanischen Wurzeln sind nicht zu übersehen.
»Kind«, ruft meine Abuela. »Du siehst nicht sehr entspannt aus.« »Wie könnte ich auch!«, rufe ich und weise mit einer kleinen Kopfbewegung verärgert auf die Uhr. »Camila scheint Spaß daran zu haben, den Junggesellinnenabschied ihrer Schwester zu verpassen.«
Meine Mutter Sara legt ihren Kopf schief und kommt auf mich zu. Beruhigend zieht sie mich in ihre Arme und drückt mir einen Kuss ins Haar. »Ach, Gabriela! Sieh nicht alles so pessimistisch, Camila ist sicher bald da. Du weißt doch, dass Zuspätkommen eine ihrer Eigenschaften ist und sie es fast nie schafft, pünktlich zu sein.«
»Klar weiß ich das! Nur ... nur ...«, stammle ich und breche ab, weil mir nichts mehr einfällt.
»Nur, dass du aufgeregt bist, weil die Hochzeit bald bevorsteht, richtig?«, ergänzt Abuela. Die Falten im Gesicht meiner Großmutter werden noch deutlicher sichtbar, als sie mich liebevoll anlächelt. Sie hat mich erwischt.
»Natürlich bin ich aufgeregt! Sierra, warst du vor deiner Hochzeit nicht auch schrecklich nervös?«
Meine große Schwester nickt. »Ja, klar. Das gehört schließlich dazu. Allerdings nicht so sehr wie du. Bei dir muss alles perfekt geplant und organisiert sein. Du merkst gar nicht, wie dein Stresspegel dadurch immer weiter in die Höhe schießt.«
Ich stoße ein Schnauben aus. »Das ist eben mein Ding! Nur weil ich darauf bestanden habe, die gesamte Hochzeit ohne Hilfe allein zu planen, bedeutet das nicht, dass ich deswegen gestresst und dementsprechend mies gelaunt bin. Es liegt ganz allein an Camila.«
»Gib nicht deiner Schwester die Schuld«, mischt sich nun mein Vater ein. Seine sanftmütige Stimme beruhigt mich wenigstens ein bisschen. Schon immer ist Dad der Ruhepol in meiner verrückten Familie gewesen. Schließlich fließt durch den Rest meiner Familie spanisches, feuriges Blut.
»Sie kümmert sich sicher um den Laden und hat damit eine gute Ausrede«, ergänzt er.
»Trotzdem sollte Pünktlichkeit eine Tugend sein, die selbst Camila beherrschen sollte.« Nach wie vor bleibe ich stur.
»Gaby, deine Nervosität wegen der Hochzeit verstehe ich, jedoch dachte ich, dass wir uns heute einen schönen Wellnesstag machen. Nichts, was mit Terminstress zu tun hat.«
Die Aussage meiner Schwester quittiere ich mit einem Augenrollen, denn eigentlich hat sie recht – wir haben nichts zu einer festen Zeit gebucht. Es ist nur wichtig, dass wir im Laufe des Tages am Wellnesshotel ankommen. Die Spa-Angebote können wir dann flexibel wahrnehmen.
Plötzlich wird die Tür zum Wohnzimmer mit so großer Wucht aufgestoßen, dass sie an die Wand knallt. Gleichzeitig zucken wir alle zusammen. Camila stürmt ins Zimmer und stützt schweratmend die Hände in ihre Hüfte. Dann blickt sie in die Runde.
»Bin ich etwa zu spät?«
Dabei besitzt sie auch noch die Frechheit, breit zu grinsen. Typisch! Camila liebt eben große Auftritte.
»Du hättest ruhig ein einziges Mal in deinem Leben pünktlich sein können«, fauche ich.
Mein forscher Ton sorgt dafür, dass Camila etwas kleiner wird und einen Schritt zurückmacht.
Unsere Mutter sieht warnend zwischen uns hin und her. »Ich möchte keinen Streit! Ihr seid schließlich keine kleinen Kinder mehr, die sich die Köpfe einschlagen müssen.«
Hah! Habe ich nicht genau so einen Satz prophezeit?
Ich seufze. »Camila, wir wollten schon vor einer Dreiviertelstunde losfahren! Warum bist du erst jetzt hier? Standest du etwa im Stau? Denn das bezweifle ich in einer Kleinstadt wie Chellston Bay.«
»Nein! Ich war nur noch kurz im Laden und natürlich stand eine Kundin vor der verschlossenen Tür. Sie hat mich durch das Schaufenster gesehen, und obwohl ausgemacht war, dass heute das La Belleza geschlossen bleibt, konnte ich nicht widerstehen und habe sie hereingelassen. Weißt du, sie sah sehr verzweifelt aus. Stell dir vor, sie hatte kein passendes Outfit für die Beerdigung ihres Schwiegervaters. Wenn das nicht mal ein Grund ist, das Geschäft für sie allein zu öffnen ... Nun ja, wie dem auch sei. Die Dame hat ziemlich lange gebraucht, um sich schließlich für ein – halt dich fest – schwarzes Kostüm zu entscheiden. Tut mir leid, Schwesterherz!«
Camila wirft mir ihren unschlagbaren Welpenblick zu. Dabei ist sie sich nur zu gut bewusst, dass niemand ihm widerstehen kann. Auch nicht die zukünftige Braut, die eigentlich ziemlich sauer auf ihre kleine Schwester ist. Meinen gesamten Tagesplan hat sie dadurch durcheinandergewirbelt. Außerdem hat meine gesamte Familie ihre Augen auf mich gerichtet. Sie alle warten darauf, dass ich mich endlich beruhige. Und so atme ich tief durch und versuche, positiv auf den heutigen Tag zu blicken – immerhin ist Camila überhaupt aufgetaucht. Das ist doch wenigstens etwas.
»Entschuldigung angenommen«, seufze ich. »Aber wenn du an meiner Hochzeit auch zu spät kommst, dann musst du dich leider auf was gefasst machen! Denn ohne Ringe und Trauzeugin wird nicht geheiratet!« Mahnend hebe ich einen Finger und Camilas Augen weiten sich.
»Okay! Ich geh dann schon mal meinen Sarg aussuchen«, erklärt sie und kichert hinter vorgehaltener Hand.
»Nicht so dramatisch, Kinder«, warnt Abuela. »Macht euch jetzt einen schönen Tag! Gabriela hat sich diesen mehr als verdient. Nach all der Planung soll sie heute endlich einmal entspannen können. Sorgt mir dafür, Sierra und Camila. Als Schwestern ist das eure Pflicht.«
»Wird gemacht!«, ruft Camila sofort und Sierra nickt.
»Dann los, wir sollten keine Zeit mehr verlieren«, weise ich meine Schwestern an.
Wir verabschieden uns von Mom, Dad und Abuela und gehen hinaus in den Garten, wo unsere Cousinen sowie ein paar Freundinnen von mir warten. Ich gebe ihnen die Adresse des Wellnesshotels und alle Mädels verteilen sich auf die Autos. Ich selbst fahre mit Camila und Sierra. Obwohl wir uns als Schwestern oft in die Haare kriegen und gänzlich verschieden sind, sind wir doch wie Pech und Schwefel. Die beiden sind meine besten Freundinnen. Ihnen vertraue ich neben Dawson von allen Menschen auf diesem Planeten am meisten.
»Wir müssen allerdings noch einen kurzen Abstecher zu Dawsons Schreinerei machen«, verkünde ich, sobald Sierra den Motor des Wagens gestartet hat.
»Hast du dort etwas vergessen?«, will Camila von der Rückbank aus wissen.
»Nein. Aber ich will mich nur noch ... von ... von ihm verabschieden.« Automatisch lächle ich und Camila rollt mit den Augen. Das kann ich im Rückspiegel sehen.
»Ihr seid doch nur einen Tag und eine Nacht getrennt. Meinst du nicht, dass ihr auch einmal ohneeinander könnt?«, will Camila wissen.
»Das hat nichts damit zu tun«, erkläre ich. »Dawson und ich wohnen ja auch erst ab der Hochzeitsnacht zusammen. Also sind wir sowieso in den Nächten getrennt. Allerdings will ich ›tschüss‹ sagen. Das ... das gehört sich so. Ich habe irgendwie das Bedürfnis danach. Wir sind schließlich nach dem heutigen Tag keine Junggesellen mehr.«
»Ich verstehe dich, Gaby«, mischt sich Sierra ein. »Schließlich habe ich mich auch heute Morgen von meinem Mann und den Kindern verabschiedet. Natürlich mache ich an der Schreinerei Halt.«
»Danke, Sierra«, stoße ich aus.
Nun kann ich mich endlich entspannt zurücklehnen.
Ich sehe aus dem Autofenster und beobachte, wie die Gebäude von Chellston Bay an uns vorbeiziehen. Meine Abuela hat recht: Nach all der Organisation tut mir Entspannung mit Sicherheit gut. Gerade in den letzten Tagen stand ich gehörig unter Strom. Doch nun freue ich mich auf meinen Junggesellenabschied. Das soll einer dieser Momente werden, an die ich mich immer erinnern werde. Bald schon bin ich Dawsons Frau – Gabriela Miller. Heute bin ich mit meinen Mädels ein letztes Mal als Gabriela Brighton unterwegs.
Schon immer habe ich Dawsons Haus geliebt. Sein Wohnhaus und die dazugehörige Schreinerei sind immer noch Teil von Chellston Bay – zumindest offiziell. Denn er hat sich sein Heim in den Chellston Woods geschaffen – inmitten des Waldes, fernab der lauten Hauptstraße. Hier herrschen Ruhe und eine friedliche Idylle, die ich bisher nirgends in der Kleinstadt finden konnte.
Nach der High School hat sich Dawson sein eigenes Handwerk aufgebaut. Als Schreinermeister ist es daher umso passender, dass er mitten zwischen dem Grün der Bäume lebt.
Die Wände seines Hauses und der Schreinerei, die einer Art großem Schuppen gleicht, sind natürlich aus Holz. Dawson liebt seinen Job, sonst hätte er niemals begonnen, diesen Weg zu gehen.
Sierra parkt direkt vor Dawsons Haus, wo schon etliche Motorräder stehen. Bei deren Anblick muss ich kurz schlucken, dennoch akzeptiere ich Dawsons andere Leidenschaft ebenso.
»Ich bin gleich zurück, ihr könnt so lange im Wagen warten«, verkünde ich, als Sierra den Motor ausstellt.
Schnell steige ich aus dem Auto und stelle verwundert fest, dass ich nirgends Barkeys Gebell hören kann. Geschweige denn, dass der kleine, neugierige Welpe auf mich zugerast kommt. Dafür begrüßt mich jemand anderes – Dawson. Heute sieht er etwas weniger wie ein Cowboy aus. In seiner schwarzen Lederkluft wirkt er wie ein Mitglied eines Biker-Clubs.
»Hey, Gaby! Was machst du denn hier?«, freut sich mein zukünftiger Ehemann und drückt mir vor all seinen Freunden einen dicken Kuss auf die Lippen.
Im Hintergrund höre ich ein paar der Männer anerkennend pfeifen und rolle mit den Augen.
»Ich bin nur hier, um mich zu verabschieden«, verkünde ich und füge hinzu: »Wo hast du Barkey gelassen?«
»Mein Vater passt auf ihn auf«, sagt er. »Die Jungs und ich bleiben auch über Nacht weg ... Ich glaube kaum, dass wir nach unserem Besuch im Sweet Lemon Pub noch in der Lage sein werden, auf unsere Motorräder zu steigen.« Er seufzt und wirkt nicht gerade glücklich über den Plan seiner Freunde, ihn in eine Kneipe zu entführen, wo offensichtlich jede Menge Bier und Whiskey fließen wird. Dawson war dafür nie der Typ.
Ich runzle die Stirn. »Sicher, dass dein Vater mit dem kleinen Rabauken fertig wird? Schließlich ist er nicht mehr Jüngste auf den Beinen ...«
»Dad humpelt zwar, Gaby, aber er ist deswegen nicht unfähig, auf einen Hund aufzupassen. Außerdem würde ich den kleinen Barkey nicht einfach irgendwem anvertrauen – er war ein Geschenk von dir und daher passe ich auch gut auf ihn auf.«
»Okay. Du hast ja recht«, gebe ich zu. Frank Miller, Dawsons Vater, kann seit seinem Unfall nicht mehr richtig laufen. Er humpelt und hat für lange Strecken immer einen Gehstock dabei. Der betagte Mann war früher mit seinem geliebten Truck unterwegs und hat damit sein Geld verdient. Der Unfall hat ihm damals die Beine unter dem Boden weggezogen. Seitdem ist er nicht mehr der Frank, den Dawson mir kurz nach unserem Zusammenkommen auf der High School vorgestellt hat. Trotzdem mag ich ihn sehr.
»Dawson, wir wollen endlich aufbrechen. Beeil dich!«, ruft in diesem Augenblick sein jüngerer Bruder Drake.
Dawson sieht mir tief in die Augen. »Also bis morgen Nachmittag, Gaby. Viel Spaß mit deinen Mädels in der Wellnessoase. Macht euch eine schöne Zeit.«
»Und du pass bitte auf dich auf«, flüstere ich. »Fahr nicht zu schnell und ... und trink nicht zu viel.
»Das werde ich, mach dir keine Sorgen.«
Zur Bekräftigung drückt er mir einen Kuss auf die Stirn. Tief atme ich den Geruch seiner Lederkluft ein.
Er fehlt mir schon jetzt, obwohl wir nur eine Nacht voneinander getrennt sind. Verrückt, wie Liebe es schafft, zwei Menschen aneinanderzubinden. Man will nicht mehr ohne den anderen sein.
»Wenn du zurückbist, bekommst du auch deinen Ring wieder«, verkünde ich. Nach unserer Verlobung habe ich Dawson ebenfalls einen schlichten Ring gekauft. Diesen verwahre ich jedes Mal, wenn er auf seinem Motorrad unterwegs ist, damit er nicht verloren geht oder beschädigt wird. Aus diesem Grund befindet er sich seit gestern in meinem Schlafzimmer und wird dort sicher in einem Kästchen neben dem Bett verwahrt.
»Natürlich«, erwidert Dawson freudig.
Plötzlich ertönt ein lautes Hupen.
Ich seufze. Nicht auch noch Sierra und Camila! »Schwesterherz! Du hast dich beschwert, dass ich zu spät bin, und jetzt bist du es«, ruft Camila mir durch die heruntergelassene Scheibe des Autos zu.
»Ich komme schon«, entgegne ich und wende mich ein letztes Mal meinem Verlobten zu. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, erwidert Dawson. »Nichts macht mich glücklicher, als bald dein Mann zu werden.«
Seine Worte sorgen für ein wohliges Kribbeln in meiner Magengegend. Endlich schaffe ich es, mich umzudrehen. Als ich ins Auto steige, winke ich noch kurz und beobachte, wie er auf seine Harley Davidson steigt.
»Keine Sorge, Gaby«, meint Camila. »Dawson wird nichts Dummes anstellen, da bin ich mir sicher.«
»Ihm vertraue ich – aber nicht Drake. Er hat bestimmt hinter meinem Rücken eine Stripperin besorgt, obwohl so etwas weder Dawson noch ich wollten«, zische ich.
»Du bist ihm aber die wichtigste Person auf der Welt. Da wird keine Stripperin etwas daran ändern. Er möchte dich heiraten und niemanden sonst.«
»Stimmt«, gebe ich zu und lehne mich zurück. »Du kannst losfahren, Sierra. Lass uns endlich unseren Mädelstrip beginnen.«
Meine große Schwester startet den Motor des Wagens und macht auf dem Hof kehrt, um durch den Wald zurück zur Hauptstraße zu fahren.
Sobald wir Chellston Bay hinter uns lassen, kribbeln meine Zehen und Finger vor Aufregung. Das hier ist er nun: der Beginn von etwas Großem und Einmaligem. Erst der Junggesellenabschied, dann die Hochzeit. Bald würde es endlich so weit sein. Das Happy End zu dem Märchen, das ich mir als Kind immer erträumt habe.
Dawson
Eigentlich werden Junggesellenabschiede überbewertet. Das ist zumindest meine persönliche Meinung. Gaby meint, sie gehören zu einer Hochzeit eben dazu. Daher wollte sie nicht darauf verzichten, während ich so etwas nicht gebraucht hätte. Doch schlussendlich habe ich mich darauf eingelassen. Nur habe ich auf einen entspannten Trip unter Männern gehofft und nicht auf ein Saufgelage. Wahrscheinlich steckt hinter allem Drake. Mein jüngerer Bruder meint mit Sicherheit zu wissen, was das Beste für mich ist. Nur hätte er mich vorher besser fragen sollen, denn dann wüsste er, dass ich dem Feiern schon lange abgeschworen habe.
Wenigstens geht es nur in den Sweet Lemon Pub. Die Kneipe etwas außerhalb von Chellston Bay ist nicht weit entfernt und gibt mir ein gutes Gefühl. Immerhin war ich schon oft dort und kenne den Inhaber. Gestern habe ich allerdings ein Gespräch über eine Stripperin gehört. Auch das ist sicher auf Drakes Mist gewachsen. Um ehrlich zu sein, habe ich darauf am wenigsten Lust. Ich bin zu alt für solche Dinge. Ich komme mir schon jetzt schäbig und betrügerisch vor, obwohl ich noch nicht einmal sicher sein kann, dass die Gerüchte über diese Stripperin stimmen.
»Hey, Träumer, bist du endlich so weit?«, will mein Bruder wissen und kommt direkt neben mich gefahren.
»Bin ich«, gebe ich zu und starte dann den Motor meiner Harley. Schon immer bin ich stolz auf mein Baby gewesen. Sie trägt mich überall hin und sorgt dafür, dass ich das Gefühl von Freiheit erleben kann. Wenn der Alltag über mich hereinbricht, ist sie meine Flucht. Nur heute wäre ich lieber zu Gabriela ins Auto gestiegen, anstatt mich auf mein Bike zu setzen.
»Dann los!«, ruft mein Bruder und meine Freunde stimmen ihm zu. »Wir fahren über die Heaven’s Bridge. Das ist der beste und einfachste Weg, um von Chellston Bay aus zum Sweet Lemon Pub zu gelangen«, fügt Drake hinzu.
»Alles klar«, erwidere ich cool und ziehe mir meinen Helm über den Kopf. Der schwarze Lack meines Motorrads glänzt im Sonnenlicht. Noch ein letztes Mal prüfe ich, ob auch alles richtig sitzt. Sicherheit steht für mich immer an erster Stelle.
Dann nicke ich Drake zu und folge den Jungs, die vom Hof fahren, bevor ich die Führung des Zuges übernehme.
Der Fahrtwind in meinem Gesicht fühlt sich unglaublich gut an und mit einem Mal kann ich wieder frei atmen. Das ist es, was das Motorradfahren für mich ausmacht. Und vielleicht – ja vielleicht würde der heutige Tag doch nicht so schlecht werden. Plötzlich fange ich tatsächlich an, mich auf den Pub zu freuen. Immerhin war ich damals Teil bei den Restaurierungsarbeiten. Ein bisschen Bier und Whiskey, was ist schon dabei? Zeit mit meinen Freunden zu verbringen, nur darauf kommt es doch eigentlich bei einem Junggesellenabschied an, oder etwa nicht?
Inzwischen haben wir wieder die Hauptstraße erreicht und fahren durch das Industriegebiet der Stadt, auch wenn dies nicht sonderlich groß ist. Langsam lichten sich die Gebäude und schließlich kommt die Heaven’s Bridge in mein Sichtfeld. Sie ist alt und das Geländer aus Eisen zeigt an einigen Stellen bereits Rost. Links und rechts von ihr führen Hänge hinab in die Tiefe aus grünen Bäumen, gemischt mit dem glitzernden Wasser des Timber Rivers.
Ich fahre über die Brücke und reiße mit einem Mal die Augen auf. Was ist das? Das darf nicht sein! Nein! Ich habe keine Chance mehr zu bremsen. Mein Herz klopft wie wild, als ich den Truck sehe, der mir entgegenkommt. Doch nicht er ist das Problem, sondern das Auto, das gerade dabei ist, den Truck zu überholen. Es fährt auf meiner Fahrbahn.
Fuck! Tausende von Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ich drücke die Bremse, gleichzeitig lenke ich instinktiv nach links, weil das Auto erschreckend nah ist und ich sonst einem Zusammenstoß nicht mehr entkommen kann.
Nur, dass ich es damit noch schlimmer mache. Plötzlich ist da der Truck, der riesige Truck, direkt vor meinem kleinen Bike.
Vor meinem inneren Auge sehe ich Gaby, die mir sagt, dass ich auf mich aufpassen soll. Dass sie mich liebt und wie sehr sie sich auf die Hochzeit freut. Ihr breites, ehrliches Lächeln erscheint in meinem Kopf so deutlich, als stünde sie direkt vor mir. Wie ein Engel ... ein Schutzengel, den ich jetzt mehr als alles andere brauche.
Doch es ist zu spät. Das Unausweichliche tritt ein.
Zwar bremst der Truck ebenso, aber er schafft es nicht rechtzeitig.
Und mit einem Mal wird alles um mich herum schwarz und ich falle ... falle ins tiefe Nichts.
Gabriela
Ich fühle mich wie neu geboren, als ich nach meiner Thai-Massage zurück in den Thermalbereich des Wellnesshotels trete. Entspannt lasse ich mich auf eine der Liegen nieder, direkt zwischen Sierra und Camila.
»Du siehst relaxt aus«, stellt meine kleine Schwester fest. »War wohl doch nicht so schlimm, dass ich etwas zu spät gekommen bin. Wir haben nichts verpasst.«
»Ach, halt die Klappe«, sage ich zu ihr, lächle allerdings dabei.
Das kleine Wellnesshotel etwas außerhalb von Chellston Bay ist das perfekte Ziel gewesen. Ich habe es tatsächlich geschafft, vom Trubel der Hochzeitsvorbereitungen Abstand zu nehmen und abzuschalten. Keinen einzigen Gedanken verschwende ich an den großen Tag, der in drei Wochen stattfindet. Ich grüble auch nicht darüber nach, was noch alles bis dahin zu erledigen ist. Stattdessen schwebe ich im Hier und Jetzt auf einer wattebauschigen rosa Wolke. »Ich finde toll, dass du jetzt so strahlst«, wirft Sierra ein. »Ist das nicht das, was du dir von deinem Junggesellinnenabschied gewünscht hast?«
»Tatsächlich ja«, gebe ich zu. »Es ist einfach schön. Aber ich vermisse Dawson natürlich.« Leise kichere ich und Camila rollt mit den Augen.
»Du verstehst das, wenn du selbst einmal bis über beide Ohren verliebt bist«, erklärt Sierra. »Obwohl ich selbst schon fünf Jahre verheiratet bin, vermisse ich meinen Mann und meine Kinder. Klar, so ein Tag ohne die ganze Rasselbande mag entspannt sein, dennoch hätte ich sie jetzt auch gern bei mir.«
»Ich brauche mich nicht zu verlieben«, protestiert Camila. »Als Frau kann man schließlich auch ohne einen Mann glücklich sein.«
»Das ohne Zweifel«, antwortet Sierra. »Dennoch ist die Liebe und eine feste Partnerschaft etwas ganz Besonderes.«
»Wohl wahr«, seufze ich und lächle, während meine Gedanken zu Dawson schweifen.
»Mir ist das alles zu schmalzig«, murrt Camila. »Ich wette, ihr beide denkt gerade an eure Männer, anstatt euch zu fragen, ob wir drei nicht einmal den Whirlpool aufsuchen wollen.«
Sie stemmt sich von ihrer Liege hoch und sieht zwischen mir und Sierra fragend hin und her. Schnell raffe ich mich auf.
»Ich komme mit.«
»Dann werde ich euch natürlich auch folgen.« Sierra steht ebenfalls auf und hakt sich bei mir unter.
Zu dritt schlendern wir zum Whirlpool und lassen uns in das sprudelnde, warme und wohltuende Wasser gleiten.
Seufzend schließe ich die Augen. »Danke, ihr beiden. Für diesen Tag heute.«
»Dabei hatten wir mit der Organisation gar nichts zu tun«, lacht Camila. »Aber du warst eben schon immer das Planungstalent in unserer Familie.«
Bestätigend nicke ich. »Ohne mich hättest du das La Belleza in einem völligen Chaos aufgebaut.«
»Schwesterherz.« Der mahnende Unterton in ihrer Stimme sorgt dafür, dass ich meine Augen wieder öffne und sie direkt ansehe. »Und ohne mich würde es das La Belleza aber auch nicht geben.«
Ich nicke. »Stimmt. Gebe ich zu. Nur gemeinsam konnten wir das schaffen.«
»Und ich bin dafür eure liebste Kundin und unglaublich stolz auf euch – noch immer«, meldet sich Sierra zu Wort.
»Eigentlich sollten wir den heutigen Tag auch zum Anlass nehmen, auf unser Modegeschäft anzustoßen. Immerhin ist es jetzt schon zwei Jahre geöffnet und läuft immer noch außerordentlich gut.« Camilas Vorschlag gefällt mir so gut, dass ich eilig aus dem Whirlpool klettere und mich an jemanden des Hotelpersonals wende, der uns kurzerhand drei Gläser Sekt bringt.
Schnell tauche ich wieder zu meinen Schwestern in das warme Nass ein und reiche jeder ein Glas.
»Auf das La Belleza«, rufe ich.
»Darauf, dass wir Schwestern sind«, ergänzt Camila.
»Und auf Gabys bevorstehende Traumhochzeit«, fügt Sierra hinzu.
Wir lassen die Gläser aneinander klirren. Alles ist so unglaublich perfekt, als wären wir in einem lebendig gewordenen Traum.
Nachdem wir unseren Sekt getrunken haben, lehne ich mich wieder entspannt zurück, als jemand vom Personal direkt auf den Whirlpool zusteuert.
Ich hebe mein Glas in die Luft. Sicher möchte die Dame es uns nur abnehmen. Jedoch macht sie nicht die geringsten Anstalten, die leeren Gläser entgegenzunehmen. Stattdessen sieht sie mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.
»Gabriela Brighton?«
»Ja, die bin ich«, gebe ich zu.
»Es ist ein dringender Anruf für Sie eingegangen.«
Die Augen der Hotelangestellten bohren sich fest in meine.
Ich schlucke. Wer könnte das sein? Dawson vielleicht? Mit Sicherheit hat er Sehnsucht nach mir und hat festgestellt, dass sich mein Handy im Flugmodus befindet. Da er natürlich weiß, in welchem Hotel wir uns aufhalten, wird er direkt dort angerufen haben. Mein Herz macht einen Salto vor Glück. Er ist so romantisch. Das habe ich schon immer an ihm geschätzt, denn die meisten gleichaltrigen Jungen in der High School hatten nicht die geringste Ahnung von Romantik, geschweige denn wie man junge Frauen liebevoll behandelte.
»Ich gehe kurz mit. Bin gleich zurück«, erkläre ich meinen Schwestern, die beide nicken.
Dann schlüpfe ich aus dem Pool und laufe schnell zurück zu meiner Liege, wo ich mich hastig in mein Handtuch hülle und meine Flip-Flops anziehe. Anschließend folge ich der Dame nach draußen vor den Wellnessbereich. Dort weist sie auf eines der Telefone an der Rezeption.
»Nur zu«, sagt sie und ich gehe hinüber und nehme den Hörer ab.
»Hallo? Dawson?«, rufe ich in den Hörer.
Doch es ist nicht mein Verlobter, der antwortet. Sondern eine Frau, deren Stimme ich keiner, die ich kenne, zuordnen kann.
»Spreche ich mit Gabriela Brighton?«, will die Frau am anderen Ende der Leitung wissen.
»Ja«, antworte ich und füge hinzu: »Mit wem spreche ich?«
»Ich rufe vom Chellston-Bay-Hospital an.«
Mein Herz setzt für winzige Augenblicke aus. Vom Krankenhaus? Was hat das zu bedeuten?
»Ist etwas mit meiner Abuela?«, frage ich, weil mir meine Großmutter aufgrund ihres Alters als Erstes in den Sinn kommt.
»Nein«, antwortet die Dame. »Drake Miller hat gesagt, dass ich Sie informieren soll. Ihr Verlobter Dawson Miller hatte einen schweren Unfall. Er wurde vor Kurzem hier eingeliefert.«
Mit einem Mal wird mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Mein Herz zersplittert in Abertausende von Teilen. Das kann nicht wahr sein. Sicher erlaubt sich Drake nur einen Scherz mit mir und Dawson geht es blendend.
Meine Knie fühlen sich unglaublich weich an, drohen mir jede Sekunde wegzubrechen.
»Ist das wirklich wahr?«, bringe ich flüsternd über die Lippen.
»Ich würde Sie nicht anrufen, wenn es nicht so wäre.«
Meine Welt verschwindet von jetzt auf gleich in tiefster Dunkelheit.
»Aber was ... was ist passiert? Geht es ihm gut? Le-lebt er?« Bei den letzten Worten gerate ich ins Stammeln, weil ich Angst habe, die Antwort zu hören.
»Sein Bruder und die Ärzte werden Ihnen alles vor Ort erklären.«
»Das ist nicht das, was ich hören will«, rufe ich aus. »Geht es ihm gut? Sagen Sie mir doch irgendetwas!«
»Ich habe leider keine Befugnis dazu. Sie sind keine Familienangehörige. Lassen Sie sich von Dawsons Bruder alles berichten.«
Am liebsten hätte ich den Hörer des Telefons genommen und gegen die Wand geschmissen. Warum zum Teufel konnte sie wenigstens nicht mit ›Ja‹ auf die Frage antworten, ob es ihm gut geht? Das hätte mir schon gereicht. Bedeutete das etwa, dass es schlecht um Dawson steht?
Mein Herz fängt an, schnell zu pochen. Ich schaffe es gerade noch, den Anruf mit einem ›Danke‹ zu beenden. Danach lasse ich den Hörer kraftlos sinken und gleite hinunter auf den Boden. In meinen Augen sammeln sich Tränen und ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen.
Noch immer kann ich es nicht begreifen. Es kommt mir so unfassbar falsch vor.
Mein Dawson ... Warum ausgerechnet er? Und ein Unfall, wie konnte es nur dazu kommen?
Die Dämme brechen und ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Mein Leben zieht vor meinen Augen an mir vorbei. Denn was, wenn es Dawson nicht gut geht, was wenn ... Ich traue mich gar nicht, den Gedanken in meinem Kopf zuzulassen, aber ich kann nichts dagegen machen. Weil er zur Realität gehören könnte. Nur hoffentlich ... hoffentlich nicht. Dass er im Krankenhaus ist, ist für mich ein gutes Zeichen. Viele Menschen versterben noch direkt an der Unfallstelle. Was würde ich tun, wenn die Liebe meines Lebens nicht mehr hier ist?
»NEIN!«
Das Wort verlässt laut meine Lippen, während ich immer noch auf dem Boden kauere und weine. Was soll ich jetzt nur tun? Ich bin unfähig, mich zu bewegen. Mein gesamter Körper ist gelähmt. Es fühlt sich so an, als hätte mir die Dame am Telefon das Herz aus der Brust gerissen. Dabei ist es gut, dass sie mir Bescheid gegeben haben.
»Gaby?«
Die Stimme meiner großen Schwester sorgt dafür, dass ich es schaffe, meinen Kopf anzuheben und nach oben zu blicken.
Sierra und Camila sind hier. Die beiden mustern mich eingehend.
»Was ist denn passiert?«, fragt Camila vorsichtig.
»Könnte ich ohne Dawson überhaupt überleben?«, frage ich mit zitternder Stimme.
»Schwesterherz, du musst nicht ohne ihn leben. Ihr werdet in ein paar Wochen heiraten und seid dann immer zusammen. Es sei denn ... er hat dir ... Hat er etwa ...?«
Sie reißt entsetzt ihre Augen auf, doch ich schüttle den Kopf.
»Nein. Er hat nicht angerufen, um mir zu sagen, dass alles vorbei ist. Das wäre .. das wäre sogar besser gewesen. Aber ...«
Ich breche ab und eine Flut von Tränen bricht über mich herein. Laut schluchze ich auf, bis ich eine Hand tröstend auf meinem Rücken spüre. Sierra hat sich neben mich gekniet und sieht mich mit ihren grünen Augen an.
»Wir können dir nicht helfen, wenn wir nicht wissen, was los ist. Komm schon, steh erst einmal vom Boden auf.«
Sie reicht mir ihre Hand, die ich ergreife. Langsam zieht sie mich auf die Beine, die sich immer noch wacklig anfühlen. Als würden sie plötzlich nicht mehr zu meinem Körper gehören.
»Wir haben uns Sorgen gemacht, weil du so lange weg warst«, erklärt Camila. »Tja, es war wohl berechtigt. Warum weinst du so sehr?«
Ich schlucke. Meine Lippen beben, als ich den Mund öffnen will, um meinen Schwestern alles zu erklären. Kraftlos schließe ich ihn wieder, presse die Lippen aufeinander und schüttle stumm den Kopf. »Ich ... ich kann nicht ... Es ... es darf einfach nicht wahr sein!«
Mit einem Mal verändern sich die Gesichter meiner Schwestern. Schock und Trauer machen sich in ihnen breit. Gefühle, die ich gerade in jedem Winkel meines Körpers spüre.
»Was ist mit Dawson passiert?« Sierra legt den Kopf schief. Ihre Augen wandern voller Mitleid über mein Gesicht. »Er ... er hatte einen Unfall«, presse ich über meine Lippen. Nun, da ich es ausgesprochen habe, fühlt es sich noch ein Stück realer an. Als wäre ich diejenige, die den Unfall gerade zur Realität erklärt hat. Dabei war es die Dame am Telefon.
»Was ... Wie?«, will Camila wissen. »Und was ist mit Dawson?«
»Die Frau am Telefon hat mir keine weiteren Informationen geben wollen«, seufze ich. »Drake hat ihr nur gesagt, sie soll mich kontaktieren und darüber informieren. Dawson ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, aber wie es ihm genau geht, das wurde mir nicht gesagt. Ich habe solche Angst! Niemals bin ich bereit, ihn zu verlieren. Er und ich ... wir gehören doch zusammen!«
Erneut fängt mein Körper an zu beben und ich unterdrücke ein Schluchzen. Den Tränen jedoch kann ich keinen Einhalt gebieten.
Sierra zieht mich in ihre Arme. »Es tut mir so leid«, flüstert sie. »Aber glaub mir, alles wird wieder gut! Wir fahren jetzt zurück nach Chellston Bay und auf direktem Weg ins Krankenhaus. Dort wirst du Dawson sehen und feststellen, dass alles halb so wild ist. Du wirst schon sehen.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mich loslässt und mich aufmunternd ansieht.
»Und ich werde unseren Cousinen und deinen Freundinnen Bescheid geben, dass du nicht länger hier bist«, erklärt Camila.
»Da-danke«, stammle ich. »Aber ich will euch nicht den Tag verderben, ihr –«
»Wir haben jetzt garantiert nicht mehr den Nerv dazu, den Spa-Bereich in Ruhe zu genießen«, unterbricht mich Camila. »Zieh du dich mit Sierra schnell um und packt eure Sachen. Ihr müsst auf schnellstem Weg ins Krankenhaus.«
»Komm schon!«
Sierra packt meine Hand, was gut ist, denn ohne sie wäre ich wie versteinert stehen geblieben.
Wie in Trance bin ich, als sie mich zu den Umkleidekabinen schleppt, wo ich in meine Kleidung schlüpfe. Danach bringt mich Sierra in die Lobby und verschwindet kurz, um das Gepäck von unseren Zimmern zu holen.
Ehe ich mich versehe, sitzen wir beide im Wagen und nehmen direkten Kurs auf Chellston Bay. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht mehr, wie ich in ihr Auto gelangt bin. Wer hat mich angeschnallt? War ich das selbst oder hat mir meine Schwester geholfen?
Nichts ergibt mehr einen Sinn. Es kommt mir mit einem Mal lächerlich vor, dass ich mich heute Morgen so sehr über Camilas Verspätung aufgeregt habe. Sogar der ganze Junggesellenabschied ist in meinen Augen nun völlige Zeitverschwendung. Zeit, die ich mit Dawson hätte verbringen können. Hätte es die heutigen Aktivitäten nicht gegeben, dann wäre der Unfall nicht passiert. Fest balle ich meine Hände zu Fäusten und starre auf sie hinab. Was, wenn Drake mir mit Tränen in den Augen entgegenkommt, wenn ich das Krankenhaus betrete? Wie würde ich reagieren? Ein Leben ohne Dawson ist sinnlos. Er ist meine Sonne, mein Mond und meine Sterne. Meine gesamte Zukunft steht allein in seinen Augen geschrieben. Schon jetzt, obwohl ich noch nicht mal weiß, wie sein Zustand ist, fühlt sich mein Herz so schwer an. Jemand hat ein tonnenschweres Gewicht drangehängt und mir keine Wahl gelassen.
»Deine Knöchel sind schon ganz weiß«, reißt mich Sierra aus meinen Gedanken.
Automatisch lockere ich meine Hände wieder ein bisschen.
»Tut mir leid. Ich ... ich bin in Gedanken. Was sein könnte, wenn ... Du weißt schon.« »Du solltest positiv denken, Gaby. Die Dame hat gesagt, er ist im Krankenhaus. Das bedeutet nicht, dass er tot ist. Ihm geht es gut, davon bin ich fest überzeugt.«
Leider schaffe ich es, die Dinge nicht ganz so gut zu sehen wie meine Schwester.
Die restliche Fahrt über schweigen wir. Ich bin froh, als wir das Ortsschild von Chellston Bay passieren. Das Krankenhaus liegt unweit des Hafens. Doch an die salzige Seeluft mag ich gar nicht denken. Dawson und ich haben uns einmal mit einem Boot hinaus aufs Meer fahren lassen. Es war ein Geschenk von ihm, zu einem unserer Jahrestage. Der Gedanke daran tut nur jetzt so unendlich weh. Er brennt in meinem Kopf und hinterlässt tiefe Narben. Weil ich Angst habe, nie wieder mit Dawson gemeinsam auf einem Schiff zu sitzen.
»Wir sind da. Schaffst du es allein oder soll ich dich begleiten?«, fragt mich meine Schwester.
Wir befinden uns auf dem Parkplatz des Krankenhauses.
»Komm mit rein, ich möchte gar nicht allein sein«, flüstere ich.
Sierra nickt verständnisvoll und gemeinsam laufen wir auf den Eingang der Klinik zu. Schon immer habe ich Krankenhäuser gehasst. Der Geruch nach Desinfektionsmittel bohrt sich direkt in meine Nase, sobald wir durch die elektrische Eingangstür treten. Alles ist so weiß und steril. Ohne jegliche Liebe. Wäre Dawson nicht hier, würde ich auf der Stelle wieder umkehren und das Gebäude verlassen. Doch für ihn kämpfe ich.
Sierra spricht am Empfang mit jemandem, der uns die Station und die Zimmernummer nennt. Wie ein Zombie folge ich meiner Schwester in den Aufzug.
Pling. Die Türen öffnen sich und ich trete mit zitternden Beinen hinaus.
Wir laufen den Gang entlang, bis uns plötzlich jemand entgegenkommt, den ich nur zu gut kenne: Es ist Drake, Dawsons Bruder. Sein kurzes Haar ist heller als das von Dawson, die beiden haben außerdem dieselbe Statur und Größe.
»Gabriela! Du bist da!«, ruft Drake, als er uns sieht. Eilig joggt er auf uns zu.
Sein blondes Haar ist zerzaust und steht wirr in alle Richtungen ab. Seine grauen Augen sind rot unterlaufen. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Drake Miller hat geweint. Wenn er das tut, dann muss es einen Grund dafür geben. Einen Grund, der mich zerstören wird, da bin ich mir ganz sicher. Sofort bei dem Gedanken daran sammeln sich wieder Tränen in meinen Augen.
»Wie geht es Dawson? Ist er stabil?«, spricht meine Schwester die Frage aus, die ich nicht in der Lage bin zu stellen.
»Erst einmal: Er ist stabil«, antwortet Drake.
Ich reiße die Augen auf. »Was? Wie?«
»Er ist stabil, Gabriela. Er wird wieder nach Hause können. Er ...«
»Er ist nicht tot?«
»Nein, er hatte wahnsinnig großes Glück«, erklärt Drake.
Erleichterung macht sich in mir breit und eine große Last fällt von meinen Schultern. Ich wische über meine Augen, jage die Tränen fort, die nun keinen Platz mehr hier haben.
»Aber wie kam es überhaupt zu einem Unfall?«, will ich wissen.
»Nun ja, Dawson ist an der Spitze gefahren.