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Ein regionaler Politthriller der Extraklasse. Stocker ist einiges gewohnt, aber dieser Job hat es in sich: Dem "Baron", einem einschlägig bekannten Geldwäscher, sind drei Millionen abhandengekommen, die für den Wahlkampf der umstrittenen "Partei für Bayern" bestimmt waren. Das Geld muss wieder her, bevor die Auftraggeber etwas merken – denn die machen unmissverständlich klar, dass sie kein Pardon kennen. Doch in dunklen Ecken rund um den Chiemsee warten schon alte Bekannte auf Stocker, die ihm das Leben zur Hölle machen. Und aus dem Jäger wird ein Gejagter.
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Seitenzahl: 354
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Heinz von Wilk wuchs in Rosenheim auf. Früh entdeckte er seine Liebe zum Rock’n’Roll und speziell dessen Beigaben. Nach vielen bunten Tagen und zu vielen langen Nächten rund um den Globus lernte er in Osnabrück das norwegische Model Liv kennen. 1990 zogen sie und der beratungsresistente Rauhaardackel Herr Josef an die Costa Blanca. Dort betrieben die drei eine Immobilienfirma und verkauften TV- und Filmstars exklusive Villen mit Meerblick. 2006 kamen sie wieder zurück nach Rosenheim. Der mittlerweile verstorbene Herr Josef, der bis zum Ende nicht glaubte, dass er ein Hund ist, spukt manchmal durch das große Haus, während Heinz von Wilk weiter seine skurrilen Krimis schreibt. Ein Ende ist nicht abzusehen. Mehr über den Autor und seine Bücher:
www.heinz-von-wilk.de
Dies ist ein Roman. Einige Handlungen und Personen sind frei erfunden, andere nicht. Die Restaurants, Kneipen, Hotels, Geschäfte und die mehr oder weniger bemerkenswerten Orte gibt es, bis auf die »Endstation«, alle. Genau wie manche der im Buch beschriebenen Menschen. Aber Sie würden sie nicht erkennen, selbst wenn der eine oder andere auf der Straße an Ihnen vorbeigeht. Oder in der Bäckerei neben Ihnen steht. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind deswegen nur manchmal gewollt und somit auch mehr oder weniger rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Thomas Stankiewicz/Lookphotos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-569-5
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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… und wieder mal: für Liv
Gegen Mitternacht schaltete Stocker das Alarmsystem hinter der Theke ein. Er vergewisserte sich, dass in der Küche alles abgestellt war, und rüttelte an der stählernen Hintertür. Er schnüffelte an einem leeren Glas, das noch auf dem Herdblock stand, grinste und ging zurück in den Gastraum. Nacheinander knipste er die Lichter aus und ließ vorne die Rollos runter.
Im fahlen Licht der Notbeleuchtung schlurfte er die knarrende Holztreppe zu seiner Wohnung hoch und setzte sich seufzend auf das alte Sofa. Unter dem Tisch vor dem Fernseher lag Chefdackel Josef auf dem Rücken in seinem Korb und schnarchte leise.
Stocker sortierte mit müden Augen die Post. Drei Wein-Reklamen, ein Schreiben von der Bank, vier Rechnungen und eine bunte Karte. Segelschiffe, die in einen Sonnenuntergang glitten. Er drehte sie, betrachtete lächelnd die vielfarbige Briefmarke und die kleine, akkurate Handschrift:
Da bin ich wieder mal. Jeder muss seine eigene Geschichte fertig erzählen. Was, wenn er in seinem Kopf schon die Stimmen aus der Zukunft hört, während die Erlebnisse aus der Vergangenheit wie Geisterschiffe durch sein Denken gleiten? Ich vermisse dich. G.
Er schaute auf den Poststempel und rechnete nach, dass die Karte sechs Tage unterwegs gewesen war. Keine schlechte Zeit für ein buntes Stück Pappe vom anderen Ende der Welt nach Atzdorf bei Prien.
Sie lebt, und es geht ihr gut, dachte er sich und warf die Karte in eine blaue Schachtel unter dem Sofa zu den anderen. Dann ging er ins Bad, blickte in den Spiegel und stellte erstaunt fest, dass er immer noch lächelte.
Irgendwann weckte ihn das Knurren des Hundes. Stocker setzte sich im Bett auf, sah auf die Uhr und lauschte in die Dunkelheit. Das Knurren aus dem Wohnzimmer wurde bedrohlicher, und Stocker stand vorsichtig auf. Dann hörte er kleine Steine wie einen Hagelschauer gegen eines der Schlafzimmerfenster prallen.
Josef bellte einmal laut auf. Stocker trat ans Fenster, stellte sich schräg hinter die Gardine und schaute durch einen kleinen Spalt hinunter auf den Parkplatz vor der Kneipe.
Unter dem milchigen, trüben Lichtkegel der Laterne neben dem Kastanienbaum stand eine Frau und klopfte sich mit den Händen gegen die Oberarme. Weiße Atemwölkchen kamen aus ihrem Mund.
Stocker öffnete das Fenster. »Was ist?«
Eine gedämpfte Stimme drang durch den leichten Nebel: »Ich bin’s. Lass mich rein. Ist wichtig.«
Stocker beugte sich hinaus und grinste. »Nellie, du bist gefeuert. Fristlos. Brauchst du wieder eine Schulter zum Ausweinen? Mir gehen langsam die Schultern aus.«
Sie trat drei Schritte vor. »Du kannst mich nicht feuern, du Clown. Mach auf, oder glaubst du, ich stehe gerne hier draußen?«
Stocker seufzte. »Ich hab nichts an. Und warum glaubst du, so mit mir reden zu können, Mädel?«
»Ich bin kein Mädel, sondern ein wandelnder Risikofaktor. Und jetzt mach auf. Mir ist schon lange nichts mehr peinlich, nicht mal du!«
»Na dann.« Stocker schloss das Fenster, schlüpfte in einen schäbigen gestreiften Bademantel und hob den Hund aus dem Korb. »Die Tante Nellie hat wieder mal Stress, Josef. Der Onkel Zeno liegt bei einer Dame, also müssen wir ran. Tut mir leid.«
Mit Josef auf dem Arm ging Stocker zum Kneipeneingang, schloss auf, und Nellie glitt an ihm vorbei ins Halbdunkel. »Sperr die Tür wieder zu. Sicher ist sicher.«
»Ist wer hinter dir her?«
Sie schüttelte den Kopf, und er merkte, dass sie zitterte, obwohl es hier drin immer noch gemütlich warm war. Nellie trat hinter die Theke, hob eine Flasche Gin aus dem Spiegelregal und fischte ein Tonic aus dem Kühlschrank. Hastig goss sie sich drei Fingerbreit Gin in ein hohes Glas, füllte mit dem eiskalten Tonic auf und nahm einen großen Schluck. »Ahhh, das funzt rein!«
Stocker schaltete die Beleuchtung über der Theke ein und betrachtete Nellie: brauner Pullover, gefütterte Jeans, sandfarbene UGG-Boots und einen langen schwarzen Louis-Vuitton-Schal um den Hals.
Nussbraune Augen mit einem leichten Silberblick unter dunkelbraunen Brauen, die nichts über die Echtheit ihres kurzen weißblonden Haares aussagten, starrten ihn an. »In was für einer Kacke steckt ihr jetzt schon wieder?«
Stocker setzte den Hund ab, der sofort schwanzwedelnd zu Nellie lief, und sagte: »Definiere ›Kacke‹. Und was meinst du mit ›ihr‹?«
Sie musterte ihn misstrauisch und versuchte, ihn in Grund und Boden zu starren.
Stocker dachte amüsiert, dass sich Augen mit Silberblick nicht für bedrohliches Starren eigneten. »Also, fassen wir zusammen. Du bist hier, es ist drei Uhr in der Frühe, und ich sehe dir bei einem flüssigen Frühstück zu. Der Hund freut sich, ich nicht. Was liegt an?«
»Vor meinem Haus hat ein Kerl gewartet, als ich vorhin von der Arbeit nach Hause gekommen bin. Alt. Um die siebzig. In einem mistneuen schwarzen E-Mercedes. Er hat mich an die Karre rangewunken wie eine Straßennutte, und ich musste mich runterbeugen, um ihn zu verstehen. Kam mir vor wie die Bückware in der Bahnhofstraße. Er sagte: ›Meine verehrteste Dame, hätten Sie die Güte, unverzüglich Herrn Stocker aufzusuchen? Geben Sie ihm diesen Zettel. Und entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, ich bedaure es wirklich außerordentlich, Sie zu belästigen. Ihre Lebenspartnerin schläft tief und fest in der Wohnung oben. Und im Kühlschrank steht eine Flasche von Ihrem Lieblings-Champagner. Roederer, Cristal Brut. Habe mir erlaubt, selbigen dort als kleinen Dank zu deponieren. Und nun entschuldigen Sie mich. Au revoir.‹ Das hat er gesagt! Hey, wer redet heutzutage noch so? Dann ist die Scheibe nach oben geglitten, und der Typ war weg.«
Stocker kratzte sich an der Brust. »Wo ist der Zettel?«
Nellie trank, rülpste und fischte ein Stück Papier aus der Hüfttasche ihrer Jeans. »Hier!«
»Warst du in deiner Wohnung oben?«
Sie nickte. »Klar, gleich nachdem der Kerl weggefahren ist. Pia hat tief und fest geschlafen, im Kühlschrank stand tatsächlich eine Flasche Roederer. Blank gewienert, ohne Abdrücke. Ich hab sie extra ans Licht gehalten. An der Wohnungstür waren keinerlei Spuren. Auch sonst nirgendwo.«
»Sicher?«
»Ja, doch, sicher. Mann, wir sind jetzt, wie lange … fünf Jahre, glaube ich, zusammen, oder? Geschäftlich, meine ich. Und so einiges hab ich in dieser Zeit von euch beiden gelernt. Wo steckt Zeno? Wieder mal mitten in der Frau aus dem Autohaus?«
»Wahrscheinlich.« Stocker schaute seufzend auf den Zettel. Mit akkurater Handschrift stand da:
08.00 Uhr, heute. Burger King, Münchener Str. Drinnen. Alleine.
Stocker ging mit dem Stück Papier in der Hand zum Ausguss hinter der Theke, zündete den Zettel an und ließ die Asche in das Stahlbecken schweben. »Okay, er war alt, und weiter? Kannst du ihn beschreiben? Kam er dir bekannt vor? Hast du ihn schon mal gesehen? Hier? In der Stadt? Irgendwo?«
Nellie leerte ihr Glas, zog die Schultern hoch und meinte: »Nein, den hab ich noch nie vorher gesehen. Ein alter Kerl eben. Wenig Haare, fast Glatze, schmale schwarze Augen, wie bei einem Reptil. Figur? Was ich so gesehen habe: dünn. Hat irgendwie gewirkt wie ein Leguan, der Kerl. Und seine Klamotten? Dunkler Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Weiche schwarze Lederhandschuhe. Alles teuer, aber alt. Das war’s. Nein, unter dem Handschuh der rechten Hand war am Ringfinger eine Ausbeulung. Großer Ring, Siegelring vielleicht, keine Ahnung.«
»Stimme? Akzent?«
»Tiefe, kratzige Stimme. Kein Akzent. Mehr weiß ich nicht. Kann ich jetzt endlich ins Bett?«
»Hallo? Du bist hierhergekommen und hast mich und Josef aus der Kiste gescheucht, schon vergessen? Wo ist dein Auto?«
»Hab ich oben an der Straße gelassen. Ich wollte erst sehen, ob hier unten irgendwas Außergewöhnliches ist. Also, dann bin ich mal weg, ja? Gute Nacht, ihr beiden, bis morgen.«
Sie stellte das Glas ab, tätschelte Josef zärtlich am Hinterkopf und ging. Stocker schloss hinter ihr ab, nahm den Hund hoch und sagte: »Klingt nicht so gut. Oder was meinst du dazu?«
Nach dem dritten Läuten klickte es in Stockers Handy, und Zeno knurrte: »Weißt du eigentlich, wie spät es ist, hm?«
»Aber sicher. Drei Uhr achtundvierzig. Warum? Wo ist denn deine Uhr? Auf dem Nachttisch?«
Eine verschlafene Frauenstimme im Hintergrund: »Schatz, wer zum Teufel ist das? Leg auf!«
»Mein Partner. Und er ist nüchtern. Das ist um diese Zeit kein gutes Zeichen.« Und zu Stocker: »Blas deine Sprüche in eine Tüte und leg sie dann in die Küche. Ich hör sie in der Frühe ab.«
»Warum bist du so grantig? Hast du vielleicht schon geschlafen, mein Kleiner?«
»Nein, ich musste eh aufstehen, weil mein Telefon geklingelt hat. Schluss jetzt, was ist?«
»Ich muss um acht Uhr im Burger King in Rosenheim, unten am Roxyberg, sein. Keine Ahnung, warum. Nellie war grad hier, ein Typ hat sie bei sich zu Hause bedroht. Kein normaler Typ.«
»Warte, warte, immer langsam. Ist was mit Nellie? Ist sie verletzt?«
»Nein. Aber der Kerl ist ohne Spuren zu hinterlassen in ihrer Wohnung gewesen, hat eine Flasche Schampus in den Kühlschrank gestellt, sich die schlafende Pia angesehen und dann unten im Auto auf Nellie gewartet.«
»Was hat das mit uns zu tun?«
»Er hat Nellie einen Zettel gegeben. Da steht drauf, ich soll alleine in ein paar Stunden im Burger King sitzen.«
»Dann geh und kauf dir einen Kaffee. Hey, die Donuts sind gut. Nimm die mit Zimt. Die essen sie in den dänischen Krimis immer. Zimtschnecken.«
Stocker hörte, wie Zeno zu der Frau neben ihm sagte: »Nicht aufstehen, nichts anziehen! Gleich kommt dein feuriger Ritter auf seinem weißen Hengst wieder, mein Schatz!«
Und die Frau im Hintergrund stöhnte laut und seufzte: »Scheiß auf den Ritter, ich nehm diesmal das Pferd. Los, Don Quichotte, hau schon ab.«
Stocker klopfte auf sein altes Nokia. »Hallo, Stocker an Erde, bist du noch da?«
Jetzt gähnte Zeno herzhaft und grunzte: »Okay, mein Alter. Bis später. Dich kann man ja nicht einmal alleine zum Burger King lassen. Ich bin da, du wirst mich aber nicht sehen. Mach dir keine Sorgen, der Onkel Zeno passt auf dich auf. Over and out. Ich hab hier noch schnell was zu tun.«
Kurz vor acht. Stocker fuhr in seinem braunen ’82er 240D-Benz zum dritten Mal die Münchener Straße entlang, bog beim Auerbräu wieder rechts ab und beim Autohändler an der Ecke ebenfalls.
Oben am Roxyberg, Ecke Am Roßacker und Schmettererstraße, schaute er sich um und fuhr vor dem Tapas-Laden rechts ran.
Früher, in seiner Kindheit, war hier das Roxy-Kino gewesen. Sonntagnachmittags um drei war Kindervorstellung. Eintritt zwanzig Pfennige. Es wurden meist »Fuzzy-Filme« gezeigt. Das waren schnell gedrehte Schwarz-Weiß-Westernklamotten.
Der Held, ein zahnloser Bart-Zausel mit nach oben geschlagener Hutkrempe, bekam immer mächtig eine aufs Maul. Oder auch schon mal eine Schaufel auf den Kopf. Was ihm aber völlig egal war und ihn nicht daran hinderte, die Bösen zu erledigen und am Schluss des Filmes mit seinem Pferd singend in den Sonnenuntergang zu reiten.
Das Kino war sonntags immer rappelvoll. Eines Sonntags kam der kleine Stocker an die Kasse des Roxy, legte seine zwanzig Pfennige hin und wollte dafür »Fuzzy und der Weisheitszahn« sehen.
Aber der Eintrittspreis war auf fünfzig Pfennige gestiegen, und die hatte er nicht.
Großes Wehklagen. Der Kassierer schaute ihn an und schob eine Eintrittskarte über die Granitplatte: »Jetzt hast du bei mir Schulden, kleiner Mann.«
Auf der Straße beobachtete Stocker Menschen, die ohne aufzuschauen den kleinen Berg hinabschlurften. Ein Müllwagen fuhr klappernd vorbei.
Es war kühl und trocken, um die fünf Grad, viel zu kalt für diese Jahreszeit.
Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und starrte rüber. Er trug einen leichten braunen Mantel aus Wolle, konservatives Hundszahnmuster, mit Raglanärmeln. An den Füßen hatte er dünne schwarze Slipper, und ganz offensichtlich fror er. Stocker nickte, und der Mann im hässlichen Mantel, Zeno, nickte ebenfalls und ging den Berg hinunter. Weiße Atemwolken kamen aus seinem Mund, so, als würde er eine E-Zigarette rauchen.
Stocker betrat den Burger-Laden exakt um acht Uhr. An mehreren Tischen saßen übernächtigte rotäugige Teenies und kauten plappernd an undefinierbarem Zeug. Zwei Säufer gossen sich aus einem Flachmann heimlich eine klare Flüssigkeit in die Kaffeebecher. Hinter der Theke langweilte sich ein Schwarzer, der so tat, als würde er das nicht bemerken, und in der Küche klapperte Besteck. Es roch nach Fett, Donuts und Kaffee. Nach geplatzten Träumen und verpassten Gelegenheiten.
Eine Szene, wie geschaffen für einen Maler wie Edward Hopper.
Am Tisch neben der Toilette kauerte ein alter Kerl in teuer aussehenden dunklen Klamotten über einer Zeitung. Stocker ging an den lärmenden Teenies und den Säufern vorbei und klopfte auf die Tischplatte. Darauf standen zwei dampfende Kaffeebecher. Der Alte deutete auf einen der Becher und sagte, ohne aufzusehen: »Schön, dass Sie es einrichten konnten, Herr Stocker. Hier: Espresso, doppelt, mit einem kleinen Schuss Milch, ohne Zucker. So trinken Sie ihn am liebsten, nicht wahr? Bitte setzen Sie sich doch. Es dauert nicht lange.«
Der Alte las den Artikel zu Ende, und Stocker schaute sich die Zeitung an: Frankfurter Rundschau, ungefähr acht Wochen alt.
Er faltete die Blätter zusammen und zog rasselnd Luft ein. »Alte Zeitungen liebe ich. Wissen Sie, wenn man liest, was vor ein paar Monaten so alles passiert ist, welche Probleme die Leute da hatten und wie sich die Dinge dann letztendlich entwickelt haben … Echt witzig, besonders in der Politik.«
Der Mann schlürfte an seinem dampfenden Kaffee. »Nun, andererseits ist das Hier und Jetzt, also die Gegenwart, die Produktionsstätte unserer Zukunft. Meiner und auch Ihrer, mein Freund.«
Stocker trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Zeug. »Lassen wir den Small Talk. Sie haben jemanden aus meinem Team bedroht. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass so was böse enden kann. Wenn Sie jünger wären, würde ich Sie fragen, ob Sie Lust darauf haben, schnell mal einen Liter Blut direkt aus der Nase zu spenden.«
Der Grauhaarige starrte nickend in seinen schwarzen Kaffee. Stocker ließ ihm fast eine Minute, bevor er sagte: »Also, was soll das? Wer sind Sie, was wollen Sie?«
Der Mann schaute Stocker immer noch nicht an, und der musste sich vorbeugen, um die dünne, raschelnde Stimme zu verstehen: »Wir haben niemanden bedroht. Wenn wir das tun, sieht manches anschließend anders aus. Und mein Name tut nichts zur Sache. Sie sind mir empfohlen worden.« Der Alte hob langsam den Kopf, blickte sich in dem Laden um, dann spähte er durch die Frontscheibe nach draußen: »Wo ist Ihr Partner? Da draußen, nehme ich an. Es ist kalt. Holen Sie ihn, er kann ruhig reinkommen.«
Stocker ging nicht auf seine Frage ein. »Auf dem Zettel stand ›alleine‹. Hier bin ich. Lassen Sie Ihren Spruch ab, dann gehe ich wieder.«
Der Grauhaarige musterte Stocker. »Ich habe gewisse Probleme. Aber der Herr von und zu, Sie wissen schon, unser Freund mit dem gewaltigen Anwesen in Chiemsee-Nähe, der meinte, Sie wären ihm noch einen Gefallen schuldig. Codewort ›Gerlinde‹. Er sagte auch, Geld würde Sie und Ihren Partner schon lange nicht mehr interessieren, also sei etwas Überzeugung vonnöten, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Dafür entschuldige ich mich in aller Form. Ich wollte der Dame nichts antun, nur erreichen, dass sie Sie dazu bringt, hier zu erscheinen.«
Stocker schob sich vom Tisch hoch. »So nicht, mein Lieber. Man kann mich oder uns zu nichts zwingen. Ja, ich bin hier. Aber nur, um Ihnen zu sagen, dass Sie persönlich bald kalt wie Eis sein werden, wenn Sie oder sonst jemand noch einmal in die Nähe meines Teams kommt. Haben Sie das verstanden? Herr von und zu, wie Sie ihn nennen, der kennt mich und die Leute, mit denen ich arbeite. Und er wird Ihnen bestätigen, wozu wir in der Lage sind, wenn man uns herausfordert. Haben Sie einen guten Tag.«
Der alte Mann starrte Stocker mit seinen schwarzen kleinen Schlangenaugen an, ohne mit den Lidern zu zucken. Dann tippte er lächelnd mit drei Fingern auf die Zeitung, die zwischen ihnen lag: »Hier steht: Das Leben ist wie ein unlösbares Kreuzworträtsel. Man versteht die Fragen, aber die Antworten existieren noch nicht. Und oft passen sie nicht zur Frage. Wir beide sind noch nicht fertig, Herr Stocker. Auch Ihnen einen guten Tag.«
Als Stocker aus dem Burger King trat, sah er Zeno auf der anderen Straßenseite vor dem Optiker-Laden stehen. Er hatte die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen, und die ersten Sonnenstrahlen, die ihn schräg von oben trafen, ließen ihn aussehen, als würde er gleich Feuer fangen.
Zeno ging leicht humpelnd zwei Schritte näher an den Straßenrand, um einen besseren Blick in die Samerstraße zu haben. Dabei klopfte er mit der Hand leicht auf seinen rechten Oberschenkel. Dort, wo vor einigen Jahren die Pistolenkugel wie ein glühender Finger durch seinen Quadrizepsmuskel fuhr und einen Teil davon zerfetzte, wohnte seitdem der Phantomschmerz. Erstaunlicherweise mochten viele Frauen dieses Handicap, dieses hilflos wirkende schlurfende Humpeln.
Nachdem Stocker beim Bergmeister noch zehn warme Brezen und beim Lohberger ein Pfund Honigschinken geholt hatte, fuhr er ohne Umwege zurück nach Atzdorf. Wer sollte ihn auch verfolgen? Die, die was von ihm wollten, wussten, wo er zu finden war.
In der Küche der »Endstation« wischte Nellie den Fliesenboden. Zeno saß schon am Tisch und hob die Beine, als Nellie mit dem Putzbesen auf ihn zukam: »Pass auf, Albin, es ist saurutschig hier. Die wischt den Küchenboden mit Shampoo. Wahrscheinlich denkt sie, er hat Schuppen.« Er drehte den Laptop und winkte beide zu sich. »Hier, ich hab ihn geknipst. Nellie sagt, das ist er.«
Sie lehnte sich auf den Besenstiel und kniff die Augen zusammen. »Yepp!«
Zeno nickte. »Er heißt Schukau. Alter Nazi. Hat bei den Republikanern mitgemischt, dann ist ihm der Haufen aber zu zahm geworden. Schukau war in den Achtzigern mal Staatssekretär. Dann ist er von heute auf morgen von der politischen Bühne verschwunden. Er hat aber hinter den Kulissen den Ausputzer für Politiker gemacht, die Mist gebaut haben. Zusammen mit ein paar Ex-BND-Leuten hatte er eine Truppe, die unter dem Namen ›die Mechaniker‹ eine Menge Sauereien angerichtet haben. Vertuschungen, Tatorte reinigen, die eine oder andere Leiche verschwinden lassen. Hatte auch viel mit Schwarzgeld zu tun, der Mann. Angeblich hat er einer bayerischen Politiker-Ikone und seiner Familie geholfen, an die dreihundert Millionen Mark in die Schweiz zu verschieben. Und die Kohle ein paar Jahre später in bar wieder rauszuholen. Gegen den ist der Werner Mauss ein Erdmännchen. Ich dachte, der Schukau wäre, wie der Rest seiner Truppe, schon längst tot. Na ja, ist er ja fast, wenn man ihn sich so anschaut. Hast du Brezen dabei?«
»Ja.« Stocker drückte auf die Tasten des Kaffeeautomaten neben dem Kühlschrank und holte drei Tassen aus dem Regal darüber. Dann fischte er die Butter aus den Tiefen des AEG und kramte zwischen Camembert und Salami nach Leberkäse. »Nellie, wie hat deine Pia das Ganze denn aufgenommen?«
Nellie lehnte den Besen an die Wand und setzte sich zu Zeno. »Die hat überhaupt nichts mitgekriegt. Als ich zu Hause war, hab ich mich noch mal hingelegt, davon ist sie aufgewacht. Sie hat sich in der Küche was zu trinken aus dem Kühlschrank geholt und dabei wohl den Schampus gesehen. Damit kam sie ins Bett, küsste mich und meinte, das wäre ja toll, dass ich Champagner mitbringe. Rothaarige sind voll schmerzfrei. Das ist wegen der Sommersprossen, glaube ich. Die ticken einfach anders. Soll ich euch mal was Typisches über sie erzählen? Passt auf: Gestern Abend hat sie sich den Föhn an die Muschi gehalten. Ich sag: ›Was wird das denn jetzt?‹, und sie: ›Ich wärm nur schnell dein Abendessen auf.‹ Was fällt dir da noch ein?«
Stocker reichte grinsend den Kaffee rüber. »What you see, is what you get!« Dann kam er mit den anderen Sachen zum Tisch, und jeder griff sich eine Breze und ein Blatt von dem Honigschinken. Zeno biss ab, zeigte mit einer Brezenhälfte auf den Bildschirm und meinte kauend: »Was mich wundert, der Kerl hat bestimmt seine eigenen Kontakte für Drecksarbeit. Denen war ja nix zu schade. Die haben für religiöse Spinner gearbeitet, für Rechte, für Linke, für Nazis in Südamerika, das ganze Spektrum. Pecunia non olet. Die haben sogar mal Geld für den deutschen Ku-Klux-Klan verschoben, hat mir einer meiner Kontakte erzählt. Schukau wohnt in München. Was macht der hier in Rosenheim? Und warum, was auch immer es ist, macht er es nicht selber? Weshalb geht er zu Enno von B., und warum schickt der ihn zu uns?«
Stocker schluckte, spülte mit Kaffee nach und reichte Nellie die Butter rüber. »Keine Ahnung. Seit dem letzten Ding, das wir für den EvB gemacht haben, war der Deal, dass wir uns in Zukunft erfolgreich aus dem Weg gehen. Du warst doch dabei. Aber weißt du was? Ich will das alles gar nicht so genau wissen. Ich möchte eigentlich nur in Würde vor mich hin altern, bloß lässt man mich ja nicht. Ach, was soll’s. Nellie, gibst du mir mal Zenos Handy? Das liegt schräg hinter dem Schinken.«
Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Dann tippte er eine Nummer ein, stellte das Gerät auf laut und legte es mitten auf den Tisch. Vier Klingeltöne, und eine Männerstimme knurrte: »Wer spricht?«
Zeno verdrehte die Augen, und Stocker sagte: »Hol mir den Herrn von Bernbach an den Knochen, aber pronto. Sag, der Chefkoch aus Atzdorf ist an der Strippe.«
»Sie sind das. Witzig wie immer. Warten Sie, ich gehe nach nebenan, Herr von Bernbach liest die Zeitung. Ich frage ihn, ob er mit Ihnen sprechen will.«
Man hörte Rascheln, eine murmelnde Stimme, dann: »Was wollen Sie, Stocker? Sie sollen hier nicht anrufen. Haben Sie das vergessen?«
»Nein. Gestern Nacht hat ein gewisser Schukau oder eine seiner Kreaturen meine Mitarbeiterin bedroht. Was will der Kerl von uns?«
Enno von Bernbach lachte, und das dünne Lachen ging abrupt in ein keuchendes Husten über. Er atmete röchelnd ein, und Stocker fragte: »Und wie geht’s sonst so?«
»Ach, hören Sie doch auf. Bin gespannt, welche meiner Krankheiten das Rennen macht. Und ja, ich habe gute Ärzte. Lauter Spezialisten. Aber was passiert? Kaum ist einer von den Kerlen fertig mit mir, fängt der nächste an und entdeckt was Neues. Manchmal denke ich, schlechtere Ärzte wären mir lieber. Aber was soll’s, die Prostata gewinnt letztendlich immer. Man muss nur alt genug dazu werden. Nun, Sie haben also Schukau getroffen.« Der Mann atmete jetzt wieder normal. »Der Mann ist da an was dran, mit dem ich nichts zu tun haben will.«
»Aber wir, ja?«
»Vielleicht. Es geht um etwas, das Ihnen Spaß machen wird.«
»Danke, aber ich erwäge nicht, Interesse zu zeigen.«
Zeno und Nellie nickten unisono. Stocker sprach weiter: »Ich habe ihm erklärt, dass er sich von uns fernhalten soll.«
»Klingt nicht so gut.« Von Bernbach schnalzte mit der Zunge: »Das Ende einer jeden Reise liegt im Moment des Aufbruchs verborgen. Konfuzius. Oder F. J. Strauß. Oder beide gleichzeitig. Egal. Bitte besuchen Sie einen Freund von mir. Der ist in der RoMed-Klinik in Prien, Privatstation, dritter Stock, Zimmernummer weiß ich nicht genau. 323, glaube ich. Er heißt Baronewski. Bringen Sie ihm eine Flasche Brunello mit. Tun Sie mir den Gefallen? Bitte! Und dann entscheiden Sie selber, was Sie machen. Schauen Sie, ich bin dann Schukau los, und Sie, Sie haben was gut bei mir. Na?«
Stocker seufzte. »Okay. Ich fahre nachher rüber. Gute Besserung für Sie. Hallo?«
Aber der Mann hatte schon aufgelegt.
Die RoMed-Klinik Prien lag direkt am Chiemsee. Von den Zimmern im dritten Stock des neuen Bettenhauses aus hatte man einen unfassbaren Blick über den See bis zum Alpenrand auf die Kampenwand hinüber.
Bei der Betrachtung der Postkartenidylle mit dem glitzernden Wasser, den vielen Booten und der dunkelgrünen Alpenkulisse überlegte Stocker, ob sich der Architekt anstelle eines Honorars wohl ein Penthouse auf dem Dach dieses Neubaus gesichert hatte.
Die Glastür des Aufzugs schloss sich hinter ihm, und er schaute erst auf seinen Zettel: »Z. 323«, und dann rechts den langen Gang hinunter. Ganz am Ende kam eine Ärztegruppe aus einem Zimmer. Der Chefarzt, ein großer, aschblonder und schlanker Mann, überragte sein Team um Kopfeslänge. Einer der Assistenzärzte, ein müde wirkender Schwarzhaariger mit Brille, nickte, während ihm der Professor etwas erklärte. Der Mann links, ein Hüne mit der Figur eines Bodybuilders, grinste und hauchte seine Brille an.
Stocker grüßte, ging an den dreien vorbei und zu dem Raum, den die Ärzte gerade verlassen hatten. Auf sein dreimaliges Klopfzeichen hörte er dumpfes Gemurmel und öffnete die massive Tür.
In dem bestimmt an die vierzig Quadratmeter großen Eckzimmer stand nur ein Bett, nahe der Balkontür. Darauf saß im Schneidersitz ein beleibter, kleiner Mann und starrte auf seinen Laptop. Der Kerl trug einen glänzenden dunkelblauen Seidenbademantel. Auf dem Rücken war in goldenen Buchstaben »The Peninsula Hongkong – Your romantic Getaway« gestickt. Umgeben waren die Stickereien von zahlreichen goldenen Minidrachen, die sich entweder anbrüllten oder gelangweilt gähnten, so genau konnte Stocker das nicht sehen. Vor dem Bett standen weiße Badelatschen, ebenfalls mit Goldinschrift: »Bachmair-Weißach-Mizu-Onsen Spa«.
Der Mann kommt rum, dachte sich Stocker und ging zum Tisch an der Wand des Nobelzimmers. Dort lagen eine teuer aussehende Büffelleder-Aktentasche, ein weißes matt glänzendes iPhone und eine Rolex, in Weißgold.
Auf dem weißen Nachtschränkchen neben dem Bett stand eine Flasche Soldera Brunello di Montalcino. Stocker sah sich das Etikett an und wusste, dass dieser Wein unter neunhundert Euro die Flasche nicht über die Theke ging. Im Laden, wohlgemerkt.
Der kleine Mann fuhr sich nervös über die schütteren grauen Haare und streckte Stocker einen erhobenen Zeigefinger hin: »Bin gleich so weit. Ein Skype noch, da kommt schon die Verbindung.«
Stocker setzte sich an den Tisch und schaute sich im Zimmer um. Über ihm hing ein großer Plasmafernseher. Gegenüber gab es verschiedene medizinische Anschlüsse an der Wand. In der Ecke stand ein Minibar-Kühlschrank. Sieht nicht so aus, als wenn hier jemand wegen einer nicht diagnostizierbaren Krankheit im Sterben läge, dachte er sich.
Der Mann auf dem Bett zeigte auf die Weinflasche, und als Stocker den Kopf schüttelte, deutete er zur Minibar. Stocker stand auf, ging vor dem kleinen Kühlschrank in die Knie und angelte sich eine Flasche Orangensaft aus einem der gut gefüllten Fächer.
Aus dem Kühlschrank kam ein Duft von weißen Trüffeln, und Stocker nahm erstaunt das Glas mit den kleinen Kugeln, die wie große Macadamianüsse aussahen, aus dem Fach. »Da geht das Aroma flöten, die sollen nicht im Kühlschrank stehen«, sagte er, aber der Mann auf dem Bett wedelte nur mit der Hand und sprach in den Laptop: »Ja, jetzt sehe ich dich. Ich? Bin seit zwei Tagen hier. Was? Weil mich hier keiner sucht. Wie es ist? Na ja, wie in einem Krankenhaus eben. Was? Nein. Ich bin ganz oben. Erdgeschoss wäre zu gefährlich. Wie ich das gemacht habe? Ich hab der Chefsekretärin erzählt, ich hätte chronische Anatidaephobie. Das hat sie mir natürlich nicht geglaubt, aber es hat geholfen. Was das ist? Anatidaephobie ist die Angst, von einer Ente angestarrt zu werden. Das kann dir im Erdgeschoss schon mal passieren. Hier oben im dritten Stock aber eher nicht. So, zum Geschäft. Das Grundstück habe ich reserviert. Von meinen Freunden im bayerischen Landtag habe ich Signale, dass das mit der Umwidmung zum Industriegebiet klappen könnte. Was? Nein. Ich muss mehr über deine Klienten wissen, was die herstellen und so weiter.«
Der Mann auf dem Bett schnippte mit den Fingern, zeigte auf den Brunello und auf ein leeres Weinglas auf seinem Nachttisch. Stocker roch am Flaschenhals, goss das Glas halb voll und gab es dem Mann. Der nickte und drückte den Stöpsel des Kopfhörers tiefer in sein linkes Ohr.
Stocker konnte die Antwort des Gesprächspartners nicht hören, sah aber kurz auf den Laptop. Der Mann auf dem Bildschirm war um die vierzig Jahre alt, Brille, unrasiert, und saß in einem Café oder Restaurant in einem afrikanischen oder arabischen Land. Im Hintergrund sah man Gestalten in Kaftanen Tee trinken, über dem Kopf des Mannes drehte sich träge ein riesiger Ventilator, auf dessen drei elfenbeinfarbenen Blättern große Fliegen saßen.
Stocker setzte sich wieder, und der Kerl auf dem Bett fluchte: »Was heißt, du weißt es nicht? Stellen die überhaupt was her? Weiß keiner? Na super. Pass auf, wenn die nichts herstellen, dann beseitigen oder entsorgen sie was. Hast du daran schon mal gedacht, hm?«
Er klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn und nahm einen kräftigen Schluck von dem Brunello. »Was heißt das, sie haben irgendwas mit Stromumwandlung zu tun?« Seine Augen wurden schmal, er beugte sich näher an den Bildschirm. »Wenn die hier Transformatoren, Öfen oder Ähnliches aufstellen wollen, verbrennen die vielleicht was mit PCB oder was weiß ich. Und das Zeug verschmutzt dann die Luft und gelangt in die Nahrungskette und so weiter. Da haben wir sofort die Grünen am Arsch. Die winken nur mal kurz im Fernsehen mit der Krebs-Statistik, und wir sind weg vom Fenster. Das kann ich mir nicht erlauben. Was hast du über die Green-Leaf-Leute rausgekriegt? Bist du da wenigstens weiter?«
Der Mann auf dem Bett schaute zu Stocker rüber, lächelte gequält und hob die linke Hand ans Ohr mit dem Hörer. »Nichts Neues? Na, dann sag ich dir mal was: Die haben in den letzten zehn Jahren mindestens ebenso oft den Firmennamen geändert. Aus dem USA-Geschäft sind die ganz raus. In vierzehn Staaten laufen Prozesse gegen die. Mit der amerikanischen Betriebserlaubnis von denen würde ich mir nicht mal den Hintern abwischen, aus Angst vor Pickeln. Was? Die Firmengelände, die die in den Staaten hinterlassen haben, die waren jedes Mal ein Sanierungsfall im siebenstelligen Bereich. Der Witz war, dass sie in Amerika die Sanierungen ein paar Firmen überlassen, die ihnen auch gehören. Wenn die Prozesse bei den Amis blöd laufen, dann ist die Summe, zu der Bayer-Monsanto verbrummt worden ist, nur so was wie Flaschenpfand. Weißt du was? So langsam kann ich deinen Angstschweiß riechen, mein Lieber. Hau ab und lass die Dattelklauer machen, was sie wollen. Aber nicht hier bei uns. Ende und over.«
Der Dicke klappte den Laptop zu und drehte sich zu Stocker. »Was ist mit meinem Porsche? Habt ihr die Karre hochgenommen und gründlich durchgeschaut? Irgendwas rappelt da ab hundertachtzig.«
Stocker schaute den Mann verwundert an, öffnete den Mund, um was zu sagen, aber der Kerl hob schnell einen Finger. »Nein, Sie sind nicht der Porsche-Mann. Was zum Teufel wollen –«
In dem Moment klingelte und summte das iPhone auf dem Tisch, und der Bademantel-Kerl auf dem Bett wedelte ungeduldig mit der Hand. Stocker reichte ihm seufzend das Telefon, stand auf und ging zur bodentiefen Glaswand neben der Tür zum Balkon.
Der Mann auf dem Bett knurrte ins Telefon: »Was? Nein. Hab ich nicht. Genau genommen hab ich noch gar nicht angefangen, über die Sache nachzudenken. Warum? Ich sag dir mal was zu deiner Mail und was ich drüber weiß. Dem ersten Satz deiner Geschichte wird viel zu viel Bedeutung beigemessen. Wenn ich das schon höre. Der erste Satz muss reinhauen, der muss sitzen. Was? Nein, jetzt hörst du mir zu. Ich scheiß auf deine enthusiasmierte Rezension. Genau, du hast mich richtig verstanden. Was ich mache? Ich lass den verkackten ersten Satz in der Präsentation weg und fang mit dem zweiten an. Was? Wie? Jetzt pass mal auf, du Ganglien-Leichtgewicht …«
Stocker hörte nicht mehr zu. Das Warten machte ihm bei der Aussicht auch nichts aus. Er stellte sich ganz nah an die Scheibe, sodass seine Nase fast das warme Glas berührte. Damals, beim Militär, da lernte man das Warten. In der Gebirgsjägerbrigade 23, einer Spezialeinheit, die in Bad Reichenhall stationiert war, zum Beispiel. Da liegst du nächtelang in einer bitterkalten Felsspalte und wartest. Immer den Finger am Abzug, immer hellwach. Auch der Spotter, der Beobachter neben dir, muss hellwach sein. Da lernst du, mit allen Sinnen zu arbeiten, aber auch das Abschalten. Gehirn auf, alles raus und um dich einfach nichts mehr wahrnehmen.
In dem Zustand befand sich Stocker, als der Mann auf dem Bett rief: »Hallo? Sind Sie jetzt im Stehen eingeschlafen?«
Stocker drehte sich um und sagte: »Nein. Mein Name ist Albin Stocker. Man hat mich gebeten, hier aufzutauchen. Ich habe bei Erstgesprächen einen Honorarsatz von fünfhundert Euro pro angefangener Stunde. Von mir aus können Sie telefonieren und skypen, so lange Sie wollen. Die Uhr läuft, seit ich dieses Zimmer betreten habe.«
Der kleine Kerl grinste, kratzte sich an der Brust und nahm noch einen Schluck von dem Brunello. »Ein Mann, der gleich zur Sache kommt, das gefällt mir.«
Er griff nach der Steuerung seines Bettes, fuhr das Kopfteil hoch und lehnte sich an. »Ich habe von Ihnen gehört. Im letzten Jahr war das, glaube ich. Sie haben unter einer Bande von Ost-Mafiosi ziemlich aufgeräumt, sagte man mir.« Er schnippte mit den Fingern: »Ja klar, und vor Jahren die Schießerei in Bernau auf diesem Hügel. Wie in einem Western. Aus diesen Informationen habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie jemand sind, der sich durchsetzen kann. Sie halten Druck aus und geben Druck weiter. Das imponiert mir. Solche Leute findet man heutzutage nicht mehr oft.«
Stocker schaute den Mann an und sagte nichts.
»Herr Stocker, mein Name ist Baronewski. Ich mache hauptsächlich Asset-Protection. Aber auch Transaktionen, die sich in Grauzonen bewegen. Das führt ab und an zu Problemen. Deswegen kommen Sie ins Spiel.«
»Ich bin in keinem Spiel. Was ist eine Asset-Protection, und warum sind Sie hier in der Klinik?«
»Mein jährlicher Durchcheck. Sie wissen schon, Magen, Darm, Herz, Innereien. In den letzten Jahren war ich deswegen immer in einer Privatklinik bei Starnberg. Aber die haben einen neuen Professor. Der ist so berühmt geworden, dass er mittlerweile neben dem Krankenhaus einen eigenen Friedhof besitzt. Und die Klinik hier wurde mir empfohlen, weil die häusliche Sterberate minimal ist. Und ich muss sagen, hier passt alles. Na ja, sie haben keinen Sternekoch, und auch meinen Hauswein muss ich mir bringen lassen, aber sonst … Tja, und Asset-Protection? Das könnte man auch ›Vermögensschutz‹ nennen, ab einer gewissen Summe natürlich. Da bieten wir Dienstleistungen wie die Familienheim-Schaukel, die Güterstands-Schaukel oder halt eine privatnützige Stiftung an, Sie verstehen?«
»Nein. Nicht im Geringsten.«
Baronewski streckte sich und gähnte: »Schauen Sie mal, der Winterkorn, der hat seiner Frau noch schnell schlappe dreieinhalb Millionen zugeschubst. Über die Schweiz und ohne einen Cent Schenkungssteuer zu zahlen. Das war, als er merkte, dass er wegen des Dieselskandals die Schlinge um den Hals bekam. Oder, auch gut: Ein Ehepartner schenkt dem anderen ein unfassbar wertvolles Seegrundstück mit Villa drauf. So, nach einem oder zwei Jahren kauft er alles vom Partner zurück. Für sehr viel Geld. Zweistelliger Mio.-Betrag oder so. Jetzt kommt’s: Der Partner darf den Erlös behalten. Ohne Steuer, ohne alles. Der Fiskus kriegt Blähungen, kann aber nichts machen. Und wir, meine Partner und ich, wir haben unsere zehn Prozent an der Sache. So was machen wir. Und eben ein bisschen Geld waschen für notleidende Parteien. Auch da ist gut dran zu verdienen.«
»Bei den Schleckers hat das aber nicht funktioniert, oder?«
»Was? Nein, die hatten ja auch nicht uns zur Seite stehen. Was wollte ich eigentlich?« Baronewski kratzte sich am Kopf und schaute sich um. Dann zog er die Schublade des metallenen Nachttischchens raus und entnahm ihr ein Blatt Papier, das er Stocker reichte: »Hier. Um das geht’s. Kennen Sie diese Partei? PfB, die Partei für Bayern? Nein? Ist ein ziemlich neuer Verein. Obwohl, ich muss sagen, schon der Name ist Kacke. Fängt flach an, geht schwach weiter.«
»Warum denn?«
»Firmen- und Parteinamen müssen auch abgekürzt oder verlängert gut klingen. Und da muss man aufpassen. Ein Beispiel: Shell, das sind die Shellisten. Oder Aral, das sind automatisch die Aralisten, richtig? Aber PfB, kurz PB … die Bepissten? Wer will denn so was? Oder der Mitsubishi Pajero. Kennen Sie bestimmt, der Geländewagen. Wissen Sie, was ein pajero in spanischsprachigen Ländern ist? Ein Wichser, in Akademikerkreisen auch zärtlich Onanist genannt. Das haben die Mitsubishi-Leute lange nicht gemerkt, die haben sich nur gewundert, dass die Karre in Nordamerika und in Spanien nicht so gut verkauft wurde. In England wurde das Modell aber ganz schnell in Shogun umgetauft. Tja, was soll’s. Auf jeden Fall, diese PfB hat ein paar sehr solvente Gönner, die ihr Geld aber auch, wie soll ich sagen?, außerhalb der normalen Geschäftszeit verdienen. Viel Geld. Das wird natürlich schnell grau und muss gewaschen werden. So, und genau da komme ich ins Spiel. Ich kenne Waschmaschinen, die groß genug sind, um das zu machen. Ich weiß, wo die stehen und wie man sie bedient. Und ich sorge dafür, dass die Knete blütenrein duftend und mit Stammbaum zum Empfänger kommt. Dafür nehme ich eine Kommission. Das war der gute Teil. Der schlechte Teil ist, dass ich sozusagen mit Leib, Leben und meinem Ruf dafür bürge, dass alles glattläuft. Und nun …«, der Mann rieb sich mit der flachen Hand über die grau behaarte Brust, »nun sind mir so um die drei Millionen abhandengekommen. Geben Sie mir mal die Flasche rüber? Danke.«
Baronewski schenkte sich den Rest in sein hohes Weinglas und trank. »Ahhhh, der hilft der alten Pumpe beim Klopfen. Wissen Sie, drei Millionen in Fünfhundertern wiegen grade mal sechs Komma zweiundsiebzig Kilo. Und nehmen so viel Platz ein wie … na ja, vielleicht acht Liter Flüssigkeit. Das hat den Umfang eines kleinen Rucksackes oder so. Handlich, praktisch, gut. Und darüber reden wir jetzt. Wie Sie die Flocken für mich und meinen Klienten wiederfinden.«
Stocker schüttelte den Kopf. »Kein Interesse.«
Der Kleine zupfte am Kragen seines Bademantels, griff in die goldverbrämte Brusttasche und meinte: »Moment. Schauen Sie mal, hier ist ein Barscheck über fünfzehntausend Euro. Den nehmen Sie mit. Und denken über die Sache nach. Wenn Sie und Ihr Team den Job machen wollen, rufen Sie mich an. Die Nummer steht da auf dem Kontrollabschnitt. Wenn Sie es nicht machen, rufen Sie mich auch an. Das Geld können Sie dann einer wohltätigen Einrichtung spenden, ausgeben, noch einen Hund kaufen oder der PfB geben. Letzteres würde ich aber eher nicht tun. Bei der Vergangenheit haben die keine Zukunft. Was meinen Sie?«
»Warum ersetzen Sie das verlorene Geld nicht stillschweigend selber?«
Baronewski lächelte gequält. »Das wäre möglich, kommt aber irgendwann raus. Dann bin ich unglaubwürdig bei denen, die ich beliefere. Und die, die mich beklaut haben, denken, das Ding kann man doch noch mal durchziehen. Zahlt er einmal, zahlt er immer. Hier, da habe ich noch was, das sollten Sie mir unterschreiben.«
Stocker nahm das Schriftstück und las stirnrunzelnd. »›Geheimhaltungsvertrag‹. Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
»Doch. Vorher reden wir nicht weiter. Sie unterzeichnen, dass vom Inhalt unseres Gespräches und den daraus resultierenden Unternehmungen Ihrerseits niemand außer mir erfährt. Sie setzen nur mich in Kenntnis. Bla, bla, bla …«
Stocker zerriss das Dokument und legte dem Mann die Papierfetzen vor die Füße aufs Bett. »Nein. Ich werde nichts unterschreiben, weil ich nicht für Sie arbeiten werde.«
Er hob den Scheck hoch und wedelte damit vor dem Gesicht Baronewskis. »Diesen Scheck bekommt meine Mitarbeiterin, die von einem Ihrer Clowns erschreckt wurde. Damit soll sie mit ihrer Lebenspartnerin in Urlaub fahren oder was auch immer. Der Herr Schukau wird sich von uns fernhalten. Sie werden sich von uns fernhalten. Leben Sie wohl, Herr Baronewski.«
An der Tür drehte sich Stocker noch mal um. »Probieren Sie mal den 2010er Brunello Cerretalto, von Casanova di Neri. Kostet die Hälfte und hat einen besseren Abgang.«
Stocker schlenderte um seinen alten Benz herum, bückte sich und schaute in die Radkästen. Dann ging er am Heck in die Knie und linste unter den Wagen. Alte Gewohnheit, aber ihm war klar, dass an seinem Auto ein GPS-Tracker angebracht worden sein könnte, während er oben im Krankenzimmer war. Er nahm sich vor, das später genauer zu überprüfen.
Während er langsam vom Parkplatz fuhr und rechts in die Harrasser Straße einbog, schaltete er das Radio ein. Bayern 1 brachte »Tulsa Time«.
Stocker mochte Countryrock, drehte die Anlage mit den zwölf Lautsprechern lauter und öffnete mit der rechten Hand das Stahl-Schiebedach.
Die lange und übersichtliche Straße ermöglichte es ihm, nach Verfolgern Ausschau zu halten. Jetzt, um diese Zeit, herrschte wenig Verkehr. Indem er abwechselnd über und unter dem Tempolimit blieb, konnte er im Rückspiegel sehen, ob es ihm andere Fahrzeuge gleichtaten.
Er wusste nicht, wie ernst er das Gespräch mit Baronewski nehmen sollte. Aber es konnte nie schaden, sein Umfeld im Auge zu behalten. Hinter ihm war nichts Verdächtiges zu sehen. Stocker bremste bis auf knappe dreißig Kilometer pro Stunde ab. Ein Wohnmobil mit holländischer Nummer fuhr dicht auf ihn auf, und der Fahrer hupte und zeigte ihm den Finger.
Stocker fuhr grinsend links in die Seestraße ein, blieb auf ihr bis zum Kreisel beim Bahnübergang und bog dann in die Hallwanger Straße, um beim Metzger Moritz noch gebratenes Roastbeef und Remoulade zu kaufen.
In Atzdorf angekommen, ging er mit dem Josef eine Runde und legte sich dann aufs Ohr.
Nachmittags traf Zeno mit den restlichen Einkäufen für die Küche ein, kurz vor fünf betrat Nellie die Gaststube. Stocker, der hinter der Theke die Kühlschränke auffüllte, winkte ihr zu. »Deine Pia, wie lange bist du jetzt mit ihr zusammen?«
Nellie runzelte misstrauisch die Stirn. »Fast drei Monate, warum? Kommt jetzt die Frage: ›Und wie lange musst du noch?‹«
»Nur so. Du wechselst ja öfters mal. Was meinst du, ist es diesmal die Richtige?«
Nellie stieß genervt die Luft aus. »Pff … Woher soll ich das jetzt wissen? Aber zu deiner Beruhigung: Bis die Richtige auftaucht, kann ich ja problemlos mit den Falschen rumvögeln. Noch weitere Fragen zu meinem Liebesleben?«
»Nein. Was macht Pia beruflich?«