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Unkonventionell und gnadenlos: ein rasanter Trip durch die Rosenheimer Unterwelt Albin Stocker und sein Partner Zeno sind Problemlöser – sie fangen da an, wo die Polizei aufhört. Ihr neuester Auftrag führt sie zu den dunklen Seiten Rosenheims: In den Bunkeranlagen unter dem Bahnhof liegt etwas, das viele haben wollen. Es geht um eine Menge Geld, mächtige Männer im Hintergrund und um eine offene Rechnung. Vorsicht ist geboten – denn diesmal kommt es knüppeldick.
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Seitenzahl: 370
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Heinz von Wilk, 1949 geboren, ist in Rosenheim aufgewachsen und als Musiker viele Male um die Welt gereist. Er betrieb eine Künstleragentur in Osnabrück, anschließend eine Immobilienfirma im spanischen Denia. Heute lebt er mit Frau und Rauhaardackel Josef, der aber nicht weiß, dass er ein Hund ist, im Chiemgau. 2011 erschien sein erster Krimi der »Stocker«-Serie »ChiemseeJazz«.
Dies ist ein Roman. Fast alle in der Geschichte vorkommenden Personen, Ereignisse und manche Orte sind entweder verändert oder frei erfunden. Auch fast alle Namen sind fiktiv, bis auf die Countryband Chiemsee Cowboys und den mysteriösen Scharfschützen Axel M. Die gibt es. Mehr über Axel M. will der Autor nicht preisgeben, um Teile der Leserschaft nicht unnötig zu beunruhigen.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heinz Wohner/Lookphotos
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-322-6
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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»Was glauben Sie, warum mein Ex-Sicherheitschef aus dem Gefängnis geflohen ist? Er hätte doch nur noch ein halbes Jahr oder so vor sich gehabt. Na, was denken Sie?«
Die Augen des alten Mannes sahen aus wie Glasmurmeln, die man in einen Brotteig gesteckt hatte, der dann alt, hart und grau geworden war. Das dunkelgrüne Glitzern in ihnen erinnerte Stocker an die Scherben einer zerbrochenen Weinflasche. »Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.«
Der Mann presste die dünnen, trockenen Lippen zusammen, seufzte und sagte dann mit brüchiger Stimme: »Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen, Herr Stocker?«
»Die Bahnhofstraße. Menschen, die es eilig haben oder auch nicht. Autos, Fahrräder, den Rosenheimer Bahnhof. Warum?«
Stocker drehte sich vom Fenster des Büros im ersten Stock der Tagesklinik weg. Der Alte saß im Stuhl hinter dem Schreibtisch. Seine braunfleckigen Hände, die er mit verschränkten Fingern vor sich auf der polierten Holzplatte liegen hatte, sahen aus wie Krallen eines großen Raubvogels.
»Es gab zwei Bunker im Süden des Bahnhofs und einen im Norden. Der im Norden ist noch vorhanden. Schauen Sie mal, da, wo die Taxis stehen. Genau da drunter ist er.«
Der dünne alte Mann atmete durch den Mund und sah nach oben, als wäre ihm plötzlich was eingefallen. »Es gab elf Luftangriffe auf Rosenheim. Das ist nicht viel im Vergleich zu anderen Städten.« Er schwieg, atmete rasselnd ein, und seine Augen glitzerten im Licht der Neonröhren, die das Zimmer in ein unwirkliches, grelles Tageslicht tauchten. »Im Juni letzten Jahres haben sie angefangen, mit Baggern da rumzugraben. In der Gegend des ehemaligen Haupteinganges.«
Es hatte aufgehört zu regnen, und der Himmel begann sich aufzuklären. Wind kam auf, und die Fahne vor dem Telekom-Gebäude gegenüber hing am Mast wie ein nasser Lappen. Verdreht und tropfend, während das Nylonseil im Wind wie ein entzündeter Nerv stetig gegen die Stange zuckte.
»Um ehrlich zu sein, interessiert mich das alles herzlich wenig. Was genau wollen Sie von mir, Herr von Bernbach? Doch keine Konversation über historische Ereignisse oder über Ihren … wie soll ich sagen … Ex-Mann für alle Fälle?«
Der Alte starrte auf seine Hände. »Mein Vater hat mir eine Klapperschlange geschenkt. Die war in einem großen, runden Glas, das mit gelblichem Formaldehyd gefüllt war. Die Schlange hatte ihr Maul weit offen und gegen das Glas gepresst. Die Augen blinkten im Licht wie Diamanten, und man konnte die Fangzähne mit den Löchern sehen, aus denen bei einem Biss das tödliche Gift kommt.« Der Mann verstummte und schloss kurz die Augen. »Nach vielen Jahren im Glas waren mit der Zeit die Farben der Schlangenhaut verblasst, und der Körper begann, sich in fadenförmige Striemen aufzulösen.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
Von Bernbach lachte krächzend. »Mein Vater wollte mir mit diesem Geschenk klarmachen, dass das Böse auch dann noch böse bleibt, wenn man glaubt, es sei tot oder weggesperrt. Meine Macht reicht weit, das wissen Sie. Auch bis in ein spanisches Gefängnis hinein. Aber Luc Telchen, den Sie Timo nennen, hat alles überlebt. Gut, er hat bei einem Kampf während des Freiganges auf dem Hof ein Auge verloren, aber die drei Angreifer hat er getötet. Wissen Sie, wie sie ihn im Foncalet-Knast danach nannten? Den Unsterblichen. Keiner hat mehr gewagt, gegen ihn vorzugehen. Und jetzt ist er ausgebrochen und wahrscheinlich schon irgendwo hier in der Gegend.«
Stocker stieß die Luft aus und ging zum Schreibtisch. Er stützte sich mit den Händen auf die blank polierte Platte und beugte sich zu dem Alten. »Lieber Herr von Bernbach, das ist doch in erster Linie Ihr Problem. Sie haben dafür gesorgt, dass er in Spanien im Bau gelandet ist. Okay, zugegeben, mit meiner Hilfe. Und jetzt ist er raus. Na und? Wenn er mir in die Quere kommt, ist er so gut wie tot. Denn auch mein Partner wartet nur darauf, ihn in die Finger zu kriegen. Aber wissen Sie, was mich wundert? Sie haben eine kleine Armee, die für Sie arbeitet und Sie beschützt. Sie haben beste Verbindungen bei der Polizei und in der Politik. Bis ganz nach oben. Zeno und ich dagegen, wir sind genau zwei, das kann man zählen, wie man will. Wir betreiben eine Kneipe in Atzdorf am Chiemsee und haben auch keinen Elektrozaun mit Kameras obendrauf um unser Grundstück, so wie Sie. Also, was genau wollen Sie?«
»Luc war mein engster Mitarbeiter. Er hatte Einsicht in die meisten meiner Aktivitäten, und ja, er war mein Mann fürs Grobe. Aber das wissen Sie ja alles. Was Sie nicht wissen, ist, warum er hierhergekommen ist. Das hat unmittelbar mit mir und auch mit dem Abriss des Bunkers da drüben zu tun. Eine mir nahestehende Investorengruppe hat das Gelände gekauft und plant diverse Bauten. Luc denkt wahrscheinlich, der gesamte unterirdische Komplex wird verfüllt oder gesprengt oder was weiß ich.«
»Wie gesagt, das interessiert mich wenig. Lassen Sie das ganze Areal rund um die Uhr bewachen, und wenn er auftaucht, greifen Sie sich den Kerl. Wozu sollten Sie mich und meinen Partner brauchen?«
»Weil ich nicht mehr weiß, wem von meinen Leuten ich trauen kann und wem nicht. Ich habe einen Maulwurf in meiner Truppe, und ich weiß nicht, wer es sein könnte.« Der Alte sog zischend Luft durch die geschlossenen Zahnreihen. »Natürlich habe ich meinen engsten Mitarbeiterkreis neu besetzt. Denn das waren ja fast ausschließlich Telchens Leute. Aber ich kann nicht den ganzen Apparat austauschen. Alle meine Männer sind Profis, Spezialisten, die ich mir aus der ganzen Welt zusammengekauft habe. Aber einer oder mehrere sind das schwache Glied in der Kette, und im Moment tappe ich völlig im Dunkeln.«
»Und Sie denken, er will Ihnen an den Kragen?« Stocker setzte sich in den Besucherstuhl und verschränkte die Beine.
»Ich würde noch etwas weiter gehen. Er will mich und meine Familie. Und er will Geld, viel Geld. Er kannte fast alle meine Verbindungen, deshalb weiß er, wo er es holen kann. Dazu braucht er Kapital, weil er Helfer bezahlen muss. Seine Konten habe ich gesperrt, seine Schließfächer sind leer. Jedenfalls die, die wir finden konnten. Aber raten Sie mal, wo er höchstwahrscheinlich einen größeren Betrag in bar gebunkert hat? Im wahrsten Sinne des Wortes, meine ich?«
Stocker lächelte und zeigte mit dem Daumen zum Fenster. »Da drüben? Im Bunker? Nee, oder?«
Der alte Mann schaute auf seinen faltigen Handrücken. »Doch. Das nehme ich jedenfalls stark an. Wo das Versteck sein soll, das weiß ich nicht, denn die unterirdische Anlage ist ziemlich weitläufig. Es gibt da unter der Erde zwei Haupträume, diverse Nebenräume, Versorgungsstollen und Gänge. Wir haben natürlich die Pläne, aber die helfen nur bedingt weiter.«
»Moment. Sie haben mir doch gerade erzählt, der Eingang ist im letzten Jahr zugebaggert worden.«
»Es gibt noch zwei Notausgänge. Einer davon ist in einem kleinen Häuschen neben einem Reiterstellwerk. Das liegt zwischen den Gleisen. Und der andere Ausgang ist im Keller des Bahnhofs. Davon weiß heute fast niemand mehr, glaube ich.«
Stocker lehnte sich zurück. »Und Sie? Woher haben Sie die Informationen über das Versteck?«
Ein freudloses Grinsen schlich sich in das alte Gesicht. »Wir haben einen seiner engsten Ex-Mitarbeiter … wie soll ich sagen … nachhaltig befragt. Leider ist er während des Gesprächs unerwartet verstorben. Wir vermuten, dass dieser Mann das, was in dem Bunker ist, holen sollte, um es Luc Telchen zu übergeben. Tja, jetzt muss er es selber bergen.«
»Interessant, wirklich.« Stocker schaute sich um. »Warum bin ich jetzt im ersten Stock im Büro eines Arztes und höre mir das an?«
Von Bernbach beugte sich etwas nach vorne und hustete. »Verzeihung. Also, Sie sind hier, weil ich den Vater des Besitzers dieses Hauses gut kannte. Und Sie sind hier, weil wir sprechen können, ohne dass mein Fahrer oder meine Sicherheitsleute mitbekommen, dass wir reden. In einem Arztbüro können wir auch nicht abgehört werden. So, und jetzt zur Sache.«
Er kramte einen Moment in seiner braun karierten abgetragenen, aber teuer aussehenden Jacke und legte dann einen Memorystick auf die Schreibtischplatte. Nachdem er das kleine schwarze Plastikteil vorsichtig mit seinem dürren Zeigefinger über den Tisch geschoben hatte, sagte er: »Da drauf ist alles, was ich über Luc Telchen habe. Er war ja vor seiner Zeit bei mir beim BND und hat für die CIA Jobs erledigt. Hier haben Sie Akten, Fotos, seine Vorlieben, seine Verbindungsleute und Helfer. Finden Sie ihn und neutralisieren Sie das Problem. Ich biete Ihnen und Ihrem Partner je eine Million plus einen satten Bonus. Und natürlich Spesen in unbegrenzter Höhe.«
Stocker winkte ab, aber der alte Mann hob nur seine Hand. »Warten Sie. Ich weiß, dass Sie und Ihr Partner bereits einige Millionen haben. Ich weiß auch, wo. Schauen Sie, ich könnte Sie erpressen. Aber das tue ich nicht. Ich bitte Sie darum. Bitte helfen Sie mir in dieser Sache. Das ist auch in Ihrem Sinne, glaube ich.«
Stocker kniff die Augen zusammen. »Das klingt sehr nach einer versteckten Drohung. Ist es das?«
»Nein. Aber Luc Telchen weiß möglicherweise, wo Ihre verehrte Gerlinde ist. Und wo die Gelder sind, die sie mir gestohlen hat. Wir beide haben nach wie vor unseren Deal, dass ich der Frau nichts tue. Von mir aus kann sie hundert Jahre alt werden. Seit einigen Wochen lebt sie in Willemstad, Curaçao. Haben Sie das gewusst? Wollen Sie ihre neue Telefonnummer?«
Stocker schüttelte den Kopf, der Alte seufzte und meinte: »Luc Telchen wird sich aber nicht an eine Abmachung halten, die ich mit Ihnen getroffen habe. Er wird sich das Geld holen, sobald er hier fertig ist, und er wird die Frau töten. Wollen Sie das?«
Stocker starrte den Alten an. Der fuhr fort: »Schauen Sie, ich kann Ihnen jede Information besorgen, die ich erhalte. Sie wissen, dass meine Verbindungen bis in die höchsten Kreise reichen. Aber ich kann mir nicht erlauben, dass die deutsche Polizei Luc Telchen in die Finger bekommt. Wissen Sie, was er in so einem Fall machen würde?«
Stocker nickte und der Alte auch. »Genau. Einen Deal würde er vorschlagen. Und in Politikerkreisen und in Teilen unserer feinen Gesellschaft gäbe das ein Erdbeben. Ich kann ihn auch nicht von meinen Leuten suchen lassen, denn dann wüsste er immer, was läuft, und wäre gewarnt. Kommen wir ins Geschäft?«
»Ich spreche das mit meinem Partner durch. Wenn er mitmacht, dann nehmen wir uns der Sache an. Wie kann ich Sie erreichen?«
Von Bernbach griff wieder in eine seiner Jackentaschen und holte ein altes grünes Handy hervor. »Hier, nehmen Sie das. Schicken Sie morgen eine SMS. Nur ›ja‹ oder ›nein‹. Das reicht. Behalten Sie das Handy, ich rufe Sie an, wenn ich was Neues für Sie habe. Rufen Sie mich nicht an, denn ich werde nach jedem Kontakt eine neue SIM-Karte benutzen. Wenn Sie jetzt dieses Büro verlassen, dann gehen Sie bitte die Treppe nach oben und warten eine Viertelstunde. Wo ist Ihr Partner?«
Stocker grinste. »Der ist da draußen irgendwo und passt auf.«
»Leben Sie wohl, Herr Stocker. Und bitte geben Sie mir eine positive Nachricht.«
Stocker klopfte mit den Fingern auf das Steuerrad und starrte missmutig durch die beschlagene Frontscheibe. Die Ampelanzeige sprang auf Grün, aber Stocker bewegte grübelnd die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben.
»Fahr an, Junge, grüner wird’s nicht.« Zeno, der immer mehr wie dieser dünne bayerische Schauspieler mit den schütteren rotblonden Haaren aussah, hob den Kopf. Dann beugte er sich wieder nach vorne über das geöffnete Handschuhfach des alten braunen 240D. »Hörst du mir überhaupt zu?«
Er wühlte in dem Durcheinander vor sich, und als Stocker nur knurrte, sagte er: »Keine Antwort ist auch eine. Du mich auch. Also, ich liebe es ja, wie du deinen Zorn so unaufgeregt vorführst. Hier, schau, die beiden da drüben an der Kreuzung, das sind welche aus der Bernbach-Truppe. Und vor dem Ärztehaus war auch mindestens einer. Verstehst du meine Worte? Hallo, Erde an Stocker?«
»Was? Ach so, ja. Der Alte will, dass wir Timo finden. Er ist ausgebrochen und wahrscheinlich schon in der Gegend.«
Zeno warf die Klappe des Handschuhfachs mit einem Knall zu. »Das sagst du so nebenbei?«
Stocker nickte und fischte den Stick aus seiner Brusttasche. »Da ist alles drauf, was Bernbach hat. Er bietet uns zwei Mios, alle Spesen extra plus einen kräftigen Bonus.«
»Und, was hast du gesagt?«
»Dass ich erst mit dir darüber reden will.«
Zeno schlug ihm auf die Schulter. »Du bist ein echter Kumpel, danke. Aber weißt du was? Den Kerl würde ich mir sogar umsonst vornehmen. Nein, ich würde dafür bezahlen, wenn ich das machen dürfte. Natürlich greifen wir uns den Knaben. Gib mir den Stick, ich fange gleich damit an, sobald wir zu Hause sind.«
Er öffnete das Fach vor sich wieder. »Als ich noch bei den Zielfahndern war, haben wir Wetten mit den anderen Teams abgeschlossen, wer seinen Mann zuerst hatte. Die meisten von Timos Truppe sind Blindfische, Nullchecker. Den haben wir bald. Jetzt lach doch mal, Mann.«
»Mein Gesicht ist schon abgereist, und ich bin auch gleich weg«, sagte Stocker. »Was suchst du denn da überhaupt?«
»Das, was drin sein sollte. Ich hab hier irgendwo zwei Schokoeier, Vollmilch-Mandel. Die sind aber nicht mehr da. Dafür das Zeug. Was, bitte, ist das?«
Zeno hielt mit zwei Fingern ein gelbes Baumwolltuch hoch, circa dreißig mal dreißig Zentimeter, mit dem Aufdruck: »VORSICHT PISSIGER HUND!«
Stocker gähnte. »Das ist für unseren Josef. Irgendwer hat ihm sein schwarzes ›Bloodhound Gang‹-Halstuch geklaut. Und als echter Dackel muss er doch stetig an seinem Abschreckungs-Potenzial arbeiten, oder? Was deine Eier anbelangt, die hast du in dem anderen Benz versteckt. In dem, der uns im letzten Herbst abgefackelt worden ist. Hast du das schon vergessen? Außerdem hast du eh Übergewicht.«
Beleidigt schloss Zeno das Fach. »Ich bin eins neunundsiebzig vom Boden weg, und ich habe exakt zweiundachtzig Kilo. Alles pure Muskelmasse, Knochen und Samenstränge. Zweiundachtzig ist übrigens mein astrologisches Glücksgewicht, nach dem chinesischen Horoskop. Und da muss ich mich eben ab und zu echt zwingen, dass ich was esse, um mein Gewicht zu halten. Abnehmen bringt nämlich im Jahr des Pferdes Unglück. Jetzt mach lieber mal Musik, aber leise, ja?«
Stocker drückte seufzend ein paar Knöpfe am Armaturenbrett, und aus den zwölf High-End-Lautsprechern im Inneren des alten stumpf-braunen Mercedes ertönte Bruce Springsteen, der Boss, mit »Glory Days«.
Zeno nickte im Takt der Drums. »Yes. Da hätte sogar ich wieder mal Lust zum Tanzen.«
»Du tanzt nicht, du eskalierst unkontrolliert. Deswegen kriegst du auch keine Mädels ab. Aber das wäre jetzt ein abendfüllendes Thema, gell? Pass auf, zu unserem Job. Wenn der Kerl hier ist, wer sagt uns, dass er immer noch so aussieht wie zuletzt? Der Bursche ist ein Profi, ein Chamäleon. Und es ist nicht so leicht, ein Chamäleon sichtbar zu machen, oder?«
»Doch«, sagte Zeno, »ist es schon. Das Chamäleon selber siehst du vielleicht nicht, deswegen musst du seine Umgebung verändern, dann wird es sichtbar. Das ist ein alter Trick. So haben wir früher bei der Zielfahndung gearbeitet, und so funktioniert das auch heute noch, glaub es mir.«
Der Gedanke an seinen Peiniger kratzte Zeno ein kaltes Lächeln ins Gesicht. »Er hat Stress. Er ist auf der Flucht. Okay, bis hierher hat er es vielleicht geschafft. Aber jetzt braucht er seine Sachen, die er hier versteckt hat. Seine Pässe, sein Geld, seine Waffen, sein Was-weiß-ich. Das ist sein Umfeld. Hier sind seine Verbindungen, seine Kontakte, seine Helfer. Und wenn wir dieses Umfeld verändern, dann ist er wie ein Fisch auf dem Trockenen. Gib mal dein Handy rüber.«
»Warum?«
»Weil ich Antiquitäten mag. Los, lass rüberwachsen!«
Zeno schnappte sich Stockers Nokia und schloss den kleinen Stick seitlich an dem Mobiltelefon an. »Na bitte. Geht doch. Und schon haben wir alles da drauf.«
Dann steckte er das kleine schwarze Plastikteil in Stockers Hemdtasche, wählte eine Nummer auf dem Handy und wischte mit der anderen Hand über die von innen beschlagene Frontscheibe. »Ja? Wer? Ich kenne keine Uschi. Das ist doch die Nummer von Chavez, oder? Was? Ist mir herzlich egal, ob er schläft. Weck ihn, Mädel. Jetzt gleich, klar? Sonst stehe ich in fünf Minuten vor eurer Tür, das willst du doch sicher nicht, oder? Was? Gut, aber mach hin, ja?« Zeno grinste, hielt sich das Telefon an die Brust und drehte das Radio leise. »Der wechselt seine Schnitten so oft, dass man sich die Namen gar nicht erst zu merken braucht.«
»Wo schläft der?«
»In Duisburg. Aber die Torte weiß ja nicht, wo ich bin. Wetten, dass der –« Zeno musste etwas gehört haben, denn er unterbrach sich und sagte: »Chavessino, alte Schnecke, wie geht es dir? Was, wer ist da? Ich natürlich. Dein alter Freund Zeno. Wie? Ja, ich lebe immer noch. Was? Nein, ich bin nicht in deiner Nähe, die nette Dame muss mich falsch verstanden haben. Pass auf, Alter, du bekommst jetzt gleich eine Menge Daten von mir geschickt. Werte das aus und mach mir ein Profil. Wie? Genau! Wann der wo sein könnte und warum, richtig. Außerdem schau mal zu, ob du irgendwelche Querverbindungen entdeckst, die uns nicht aufgefallen sind. Machst du das für mich? Heute noch? Super. Was? Wie viel? Fünftausend? Wow. Warte, das muss ich von meinem Partner absegnen lassen.«
Zeno hielt seine linke Hand über das Nokia und schaute beim Seitenfenster raus. Dann nahm er das Handy wieder ans Ohr. »Hey, bist du noch da? Mein Partner hat Schnappatmung wegen dir, aber fünftausend sind okay. Wie üblich an das Western-Union-Büro in der Stadt, die mit ›I‹ anfängt? Was? Ja, gut, schicke ich in einer Stunde weg. Gut, Alter, dann lass dein Mädel shoppen gehen und fang an. Was? Ja klar, mail es mir über den merkwürdigen Server, genau. Tschau.«
»Wer ist Chavez?« Stocker hupte und zeigte einem Kampfradler, der quer vor ihnen über die Straße schoss, die Faust.
»Chavez ist das Gegenstück zu deinem Costa-Blanca-John und seinen Benidorm-Hackern. Mit Chavez habe ich in Den Haag gearbeitet, der war bei den Europol-Fahndern, und jetzt privatisiert er und arbeitet nur noch ab und zu. Aber er hat Verbindungen nach überallhin. Und der Typ kennt keine Skrupel. Der fürchtet sich nicht in der Dunkelheit, sondern die hat Angst vor ihm. Chavez ist unser Mann, sei mal ganz beruhigt, ja?«
Stocker stellte das Gebläse eine Stufe höher. Durch die von innen angelaufene Frontscheibe sah er die Bäume, durch die der Wind fuhr, den Regen über die Felder trieb und gegen die dunklen Holzwände der vereinzelt dastehenden Heustadel prasseln ließ. Die weißen Gipfel der Alpenkette verschwanden fast hinter dem Regenvorhang, und die drei Spitzen der Kampenwand sahen aus wie urzeitliche Tiere, die sich auf ihrem Weg nach Norden etwas ausruhen wollten.
Kurz hinter Bad Endorf summte Stockers Nokia. Er warf einen Blick drauf und reichte es Zeno.
»Chavinho, mein Freund, das ging ja schnell. Was läuft? Wie? Warte mal, ich stell das Teil hier auf laut, dann kann mein Partner mithören, ja?«
Zeno legte das Handy in die Mittelablage. Gleich darauf ertönte eine leicht verzerrte Stimme: »Mann, da habt ihr euch aber ein Herzchen rausgepickt. Ich weiß, wer das ist. Den hättest du damals lieber mal präventiv umgenietet, mein Alter. Das ist der gruselige Timo, wie er leibt und lebt, das kann kein anderer sein, egal, was da für Namen stehen. Eins neunzig, um die vierzig, Glatzkopf, schlank, muskulös und oben rechts, an der Halsschlagader, die Schlangentätowierung. Ich seh die nämlich genau auf dem Video, wie er aus dem Auto steigt, sich umsieht und dann die Jacke anzieht. Da verrutscht der Hemdkragen, und man sieht die Tätowierung am Hals. Wow, der Kerl bewegt sich immer noch wie eine Katze und blinzelt weniger als eine Eule. Wer ist denn der dürre Alte, der dahinten aus dem Bentley krabbelt? Der sieht aus wie eine Mumie auf Urlaub.«
Zeno und Stocker grinsten sich an, dann sagte Zeno: »Wenn die Mumie das gehört hätte, dann wärst du jetzt schon so gut wie tot, Chavo. Pass auf: Der Bursche heißt Enno von Bernbach, Ex-Nazifürst, Ex-Gehlen-Mann, hat den BND mit aufgebaut, ist jetzt offiziell Bankier im Ruhestand. Inoffiziell ist er aber an vielen großen Deals beteiligt. Hast du von dieser Diktatorenfamilie gelesen, die im letzten Jahr ein halbes Dutzend Münchner Privatbanken aufgekauft hat?«
»Was, der ist das? Teufel noch mal, ihr sucht euch immer die Rosinen aus dem Kuchen, was?«
»Genau. Unser von und zu B. hat ein Anwesen in der Nähe des Chiemsees, inmitten von Wäldern und Wiesen, die ihm alle gehören. Er beschäftigt eine kleine Privatarmee und eine schnelle Einsatztruppe, die in ein paar Stunden überall auf der Welt zuschlagen kann, weil sie einen eigenen Heli und einen Learjet in München stehen haben. Und jetzt rat mal, wer der Chef dieses privaten SEK gewesen ist.«
»Luc Telchen, wie?«
Zeno nickte. »Genau der. Er hat sich aber mit dem Alten angelegt, der hat ihn ins Gefängnis von Alicante gezaubert. Und jetzt ist der Timo abgehauen und wahrscheinlich schon ganz in unserer Nähe. Nun kommst du ins Spiel. Mach deinen Job so, wie ich dich kenne. Sei aber vorsichtig, der alte Bernbach hat Verbindungen in höchste Kreise, da darf also nichts bekannt werden, ja?«
»Jetzt hab ich es kapiert. Der Alte weiß nicht, wem er trauen kann und wem nicht. Deswegen holt er sich Experten von außerhalb seiner Kreise. Viel Spaß mit dem, hoffentlich überlebt ihr das. Gut, ich mach dir das bis Nachmittag fertig. Schau zu, dass du die Kohle vorher auf die Reise schickst. Und ruf mich dann nicht mehr an, denn irgendwie häng ich an meinem Leben, okay?«
Stocker lachte. »Und vor dem fürchtet sich die Dunkelheit, was?«
»Wer hätte das gedacht, er ist ein Hosenscheißer geworden. Obwohl, die Nächte sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Früher war sowieso alles besser, sogar die Zukunft.« Seufzend legte Zeno das Handy in Stockers ausgestreckte rechte Hand.
Jedes Mal, wenn Stocker auf seine Kneipe, die »Endstation«, zufuhr, wurde ihm irgendwie warm ums Herz. Jetzt muss man wissen, die besagte Kneipe war früher mal ein Bahnhof. Auf einer eingleisigen Nebenstrecke von Prien nach Atzdorf und weiter nach Bad Endorf liegen die überwucherten Gleise. Irgendwann in den fünfziger Jahren wurde der Bahnverkehr dort eingestellt und auf die Hauptstrecke verlegt.
Zwischen den zwei Gleissträngen wachsen nun schon seit vielen Jahren Gräser, Wildblumen und einzelne Roggen- und Gerstenstiele, deren Samen der Wind hierher entführt hat. Und jetzt, an diesem warmen Nachmittag, schwebten Tausende weiße Löwenzahnsamen wie angriffslustige Fallschirmjäger über die angerosteten Schienen.
Der Ex-Bahnhof, ein im italienischen Neo-Barock-Villenstil erbauter gelber Prachtbau, ist damals so üppig erstellt worden, weil man günstig an die fertig gezeichneten Pläne kam. Und glaubte, bei so einem Bahnhofspalast, da würde der jeweilige bayerische König bestimmt hier in Atzdorf aussteigen, um vom Hafen von Gstadt aus zum Schloss auf die Herreninsel überzusetzen.
Aber der König Ludwig verstarb, ein neuer König war nicht in Sicht, und die nachfolgenden Politiker dachten nicht im Traum daran, in Atzdorf auszusteigen. Sie fuhren lieber von Prien aus mit dem Raddampfer über den Chiemsee. Wohl wegen der besseren Aussicht. Oder, wie manche Atzdorfer heute noch gerne munkeln, weil man dazumal die zuständigen Minister nicht ausreichend geschmiert hat. Manches ändert sich eben nie im Leben.
Wie dem auch sei, die Atzdorfer saßen nun auf einem königlichen Bahnhof, der nie einen König zu sehen bekam, und die Gemeinde versuchte alles Mögliche, um die Immobilie wieder loszuwerden. Der Bahnhof verkam. Dann kaufte eine Brauerei das Gebäude und baute es zur Schankwirtschaft um. Aber die Lage, na ja.
Das ist jetzt so interessant, wie wenn in China ein Fahrrad umfällt, möchte man denken. Das mit China stimmt aber irgendwie, denn ohne dieses ferne Land und die Deutschen ebendort gäbe es den Atzdorfer Bahnhof nicht und damit auch keine Musikkneipe »Endstation«.
In Kürze: 1897 bis 1914 war Qingdao die Hauptstadt des deutschen Schutzgebietes in China. Ein Atzdorfer baute den dortigen Gouverneurspalast, kam Jahre später wieder zurück ins Chiemgau und hatte unter anderem die Baupläne des Palastes im Gepäck. Und deswegen gleicht das ehemalige Bahnhofsgebäude bis auf den fehlenden zweiten Stock der ehemaligen Residenz des deutschen Gouverneurs in Qingdao wie ein Ei dem anderen.
1910 erbaut, 1951 als Bahnhof endgültig geschlossen und später ein paar Jahre als erfolglose Schankwirtschaft lieblos betrieben.
Albin Stocker, der nach vielen Jahren im Ausland und nach diversen Abenteuern wieder in seine bayerische Heimat zurückkam, wollte eigentlich nur eines: eine Kneipe eröffnen, in der er kochen und Musik machen wollte. Und ansonsten noch ein paar ruhige Jahre genießen.
Aber: andere Länder, andere Feinde. Und durch Stockers Vergangenheit war eigentlich auch schon der Weg in eine friedliche Zukunft verbaut.
Kurz und gut: Aus dem vergammelten Ex-Bahnhof wurde mit viel Geld und noch mehr Arbeit seine Traumkneipe, die »Endstation«. Und so steht da heute in Atzdorf ein hinreißend hässlicher gelber Klotz mit Säulen vor dem Eingang, roten Dachziegeln und grünen Kastanienbäumen auf dem kiesbestreuten Parkplatz und in dem kleinen Biergarten.
Zeno, Stockers Partner, ist ein Ex-SEK-Polizist, Ex-Drogenbulle und Ex-Undercover-BKA-Mann, der es satthatte, sein gesamtes Leben in einem Koffer zu sehen und alle paar Monate unter einem anderen Namen Leute ins Gefängnis zu bringen, die dank irgendwelcher Staranwälte nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß waren. Er kam vor ein paar Jahren in die »Endstation«, um für zwei oder drei Wochen auf Stocker aufzupassen, und dann, nach einigen harten Situationen und diversen Nächten mit Bier und Gesprächen, blieb er.
Nellie, die Frau für alle Fälle, hat damals als Bedienung angeheuert, ist aber mittlerweile fester Bestandteil der »Endstation«, genauso wie Josef, ein Dackelrüde, den ein Zechpreller als Pfand hinterlassen hat.
Zweimal im Monat rockt der Chiemsee, dann ist in der Kneipe nämlich Live-Musik angesagt, und in der gemütlichen, mit dunklem Holz ausgelegten Gaststube stehen ständig Instrumente dafür bereit: eine Shure-Gesangsanlage aus den achtziger Jahren, ein Fender-Bassman, ein Rhodes-E-Piano und die zwei Vox-Gitarren-Amps, die links und rechts von Stockers altem Ludwig-Drumset stehen.
Hinter der braunen verschrammten Holztheke, schräg über den drei Zapfhähnen, hängt ein ausgestopfter Hirschkopf. Eines der beiden braunen Glasaugen hatte Zeno durch eine Kameralinse ersetzt, und im halb offenen Maul des depressiv wirkenden Zwölfenders ist ein Mikro installiert.
Nellie stand hinter dem verkratzten Tresen und zapfte präventiv zwei kleine Biere, als Stocker und Zeno durch die Schwingtür traten. Zischend lief der braune Gerstensaft in die hohen, beschlagenen Gläser, während sie über die Schulter zum Eingang schaute. »Super, dass die Herren Chefs auch mal wieder vorbeikommen. Bald geht der Betrieb wieder los, und die Küchenherde sind kalt wie ein Eskimohintern. Macht ja nix. Albin, du bist ja jetzt bei uns in Atzdorf weltberühmt. Schau mal in das neue Rosenheimer Journal, Seite dreiundsechzig. ›Kneipe mit Herz und knalliger Musik‹. Hier, liegt da drüben bei der Kaffeemaschine, ist vorhin mit der Post gekommen.«
Stocker schnappte sich das Magazin, blätterte schnell durch bis zur besagten Seite, und Zeno nahm die zwei schön gezapften Biere entgegen. »Danke für die Gerstenkaltschale, meine Süße. Aber küchenmäßig hättest du ja schon mal die Tagessuppe und die Salate vorbereiten können. Immer im Voraus denken, so läuft das. Der frühe Apfel fängt den Wurm, gell?«
Nellie wischte den Bierschaum von der Theke. »Dein früher Vogel ist mir so was von schnurz. Und überhaupt, rein vögelmäßig hast du eh keine Peilung, oder? Sag jetzt lieber nichts. Als Lesbe seh ich das voll unparteiisch. Trink dein Bier und denk mal über das Leben und die Frauen nach. Und du, Albin Stocker, du solltest diese Nummer anrufen. Die da auf dem Zettel. Das ist dein spanischer Kumpel, glaub ich. Ist was Eiliges, sagt er, also mach hin. Prost, die Herren!«
»Ich hab keine Zeit, mich zu beeilen«, grummelte Stocker, nahm aber trotzdem das Telefon und tippte die Nummer ein. Während sich die Verbindung aufbaute, schaute Stocker auf sein Bild in dem aufgeklappten Magazin.
Bist schon ein verdammt gut aussehender Bursche, du da auf dem Foto, dachte er sich. Wenn ich eine Frau wäre, würde es mich glatt umhauen. Stramme eins achtzig, braune Haare, schwarze Augen, fast kein Übergewicht. Toll. Stocker zog den Bauch ein und lächelte sein Foto an.
Zeno schnappte sich das Journal und meinte: »Konzentrier dich jetzt auf das Gespräch und schau nicht auf diesen hässlichen Seuchenvogel da auf dem Bild. Der kann ja nichts dafür, dass er so abstoßend aussieht. Aber da oben, der schlanke Typ mit dem Dackel im Arm, das ist ein Prachtkerl, was, Nellie?«
Zeno hielt ihr die Illustrierte vor das Gesicht. »Hier, der Sexgott mit dem lichten Haupthaar, das bin ich. Der mit der zugepelzten Schnauze ist der Josef, damit da keine Verwechslungen aufkommen.«
Sie verzog die Lippen und grinste. »Na ja, bei euch beiden hat der liebe Gott ein bisschen geübt. Obwohl ich glaube, dass die Fotos aus Mitleid nachträglich retuschiert wurden. Aber der Dackelmann ist gut getroffen, oder?«
Stocker hob die Hand und presste mit der anderen das Telefon ans Ohr. »John? Hi, wie geht’s dir? Was? In fünfzehn Minuten? Okay, das schaff ich. Bis gleich.« Stocker schaute Zeno und Nellie an. »Ich fahre schnell nach Endorf zum Bahnhof, telefonieren. Bin gleich wieder da. Wo ist übrigens unser Hund?«
Und wie auf ein Stichwort kam Josef, der Rauhaardackel, im Pferdegang aus der Küche marschiert. Er schaute die drei an und trottete an der Theke vorbei zur halb offenen Eingangstür. Dort schüttelte er sich, rülpste und pinkelte an den großen Tontopf mit der Palme drin, der vor der Tür stand. Dann legte er sich unter einen der Biergartentische und schloss die Augen.
In Bad Endorf fuhr Stocker ein paar Meter vor der Eisdiele rechts ran, schloss den alten Benz ab und schaute sich aus Gewohnheit um. Nichts Verdächtiges zu sehen. Keine dunkelblauen 5er BMWs mit zwei Personen drin, keine Fußgänger, die im Gehen Zeitung lesen. Alles klar.
Er warf ein paar Euro-Münzen in den Schacht des Metallkastens und wählte die ellenlange spanische Nummer. Dann beobachtete er den Bahnhofsvorplatz und wartete, bis es in Denia/Costa Blanca läutete. Nach dem dritten Signalton klackte es in der Leitung. »Pretty good timing. Wie geht’s dir?«
»Gut, John, danke, und dir?«
»Soweit ich weiß, ganz gut. Du weißt, dass Timo unterwegs zu euch ist, ja?«
»Ja.«
»Gut. Ich kann dir sagen, wie er rausgekommen ist. Pass auf, einer von meinen Jungs war auch dort im Knast, der ist gestern entlassen worden.«
»Wer von deinen Burschen ist es?«
»Big Mac.«
»Wow.« Stocker grinste. »Einer von den ganz Harten. Warum war er drin?«
»Na ja, du weißt ja, er holt Geld für mich zurück. Darin ist er gut, aber manchmal geht sein irisches Blut mit ihm durch. Diesmal war’s aber das Blut von einem anderen. Aber weil ein wichtiger Zeuge verschwunden ist, kam mein Junge früher raus aus dem Alicante-Jail. Hey, das Futter ist echt mies da drin, sagt Big Mac. Er und die anderen wollen wissen, wann du mal wieder für uns kochst, so wie in den guten alten Zeiten, Albin.«
»Irgendwann bestimmt, John, aber jetzt erzähl!«
»Dein Timo, der war eine harte Nummer hier im Gefängnis. Die Arians wollten ihn in der Gang haben, aber er hatte keinen Bock drauf. Sie haben ihn gepiesackt, und er hat sich nach und nach ein paar von den tätowierten Glatzen geschnappt und dann den Adjutanten vom Chef, den hat er unter der Dusche aufgeschlitzt. Dann ist er während des Hofgangs zum Boss der White Arians gegangen und hat ihm erzählt, dass er ihm ein Angebot zu machen hat. Entweder die Arians, die die Wäscherei unter ihrer Kontrolle haben, bringen ihn aus dem Knast raus, oder es gibt einen Krieg, bei dem am Ende nur Timo und seine Legionäre noch stehen.«
»Was, sind da noch mehr von den Ex-Fremdenlegionären drin?«
»Klar, die sitzen so ziemlich überall ein. Aber Timo wollte nichts von denen wissen und die von ihm auch nicht. Das wiederum wusste aber der Arians-Boss nicht, comprende?«
»So weit ja.« Stocker warf Münzen nach. »Wie hat er sein Auge verloren?«
»In der Nacht nach der Besprechung. Da sind wohl drei Kerle in seine Zelle gekommen, aber Timo hat sie alle plattgemacht. Gut, ein Auge wurde ihm ausgestochen, und ein paar Kratzer hat er wohl abbekommen. Aber am nächsten Tag stand der Deal. Der war so: Die Arians holen ihn raus, Timo zahlt hunderttausend Dollar, und dafür bringen ihn Leute aus der Gang an die französische Grenze. Ein paar French-Arians holen ihn rüber und bringen ihn bis Germany. Dort bleibt einer so lange bei ihm, bis Timo das Geld abdrückt. Das hat er wohl getan, wie ich höre.«
»Wie ist er aus dem Knast gekommen?« Stocker kratzte sich an der Nase und schaute zu seinem alten Mercedes.
»Ist doch egal, oder? Aber wenn du es wissen willst: Die haben ihn in einem Wäschekorb mit Bettlaken für das ›Benidorm-Plaza‹ rausgeschmuggelt. So hat mir das Big Mac erzählt. Das und auch die anderen Infos habe ich von ihm.«
»Und woher hat er sie? Stand das in der Gefängniszeitung?«
»Nein, Albin, aber Mac hat einen Kumpel bei den Bandidos, und er hat ihm eine Telefonnummer gegeben, die schick ich dir zusammen mit einem Kennwort aufs Handy. Die Bandidos und die Arians arbeiten in vielen Bereichen zusammen. Albin, ich verstehe, dass du den Timo haben willst. Der hat euch viel Stress gemacht. Und deinen Partner hat er fast umgebracht und dann lebend in einer Kiste begraben. Wie geht’s dem überhaupt?«
»Dem Zeno? Die Zeit unter Tage hat ihm gutgetan, glaube ich. Er redet nicht mehr so viel, humpelt aber dafür ein bisschen mehr als vorher. Die Mädels mögen das, meint er, das weckt in vielen Frauen den Mutterinstinkt. Aber was soll’s. Wir haben mit Timo eine offene Rechnung, aber nicht nur wir. Es gibt einen mächtigen Mann, der will ihn aus dem Weg haben. Und du hast ja auch noch was mit ihm zu klären, oder? Mischst du dich da jetzt ein?«
Ein tiefes Lachen kam durch die Leitung. »Hell no, wenn ich das gewollt hätte, dann wäre er nicht aus dem Knast rausgekommen, das weißt du doch, Mann. Mach du deinen Job, Albin. Wenn du was brauchst, dann melde dich. Du hast noch was gut bei mir, for the good old times. Take care, Albin, my friend.«
Dann wurde die Verbindung unterbrochen, und Stocker starrte noch ein paar Sekunden nachdenklich auf den Hörer in seiner Hand.
Langsam ging er zu seinem braunen Benz und kratzte sich am Ohr. Vor dem Döner-Wagen auf dem Bahnhofsvorplatz stand ein Junge, der mit einer weißen Adidas-Jogginghose und einem grauen Kapuzensweater bekleidet war. Der Kerl sagte zu dem Mann hinter der Glastheke: »Hey Bolo, gib mal ein Döner!«
Der Verkäufer schnappte sich seinen Fleischschaber und fragte: »To go?«
»Nee, zum Essen, Mann.«
»Chabo, ich mein, willst du Döner auf Hand?«
Der Junge trat von einem Bein auf das andere. »Wie auf Hand? Ich will einen Döner in so einem Brot außen rum, kennst du doch, oder? Mach hin, ich hab keine Zeit.«
»ICH MEINE, OB DU IHN HIER ESSEN WILLST, MACKER?«
Der Kerl starrte den Verkäufer an. »Nee, lass mal, du bist mir zu aggro. Ich kauf woanders.«
Er schlurfte weg, und Stocker grinste den Döner-Mann im Vorbeigehen an. Der knurrte: »Was ist so lustig, eh?«
In der »Endstation« war schon ziemlich was los. An den Tischen saßen Pärchen und eine Gruppe von Studenten, und an der Bar gab es nur noch zwei freie Hocker. Nellie zapfte im Akkord, und aus den Lautsprechern ertönte Soul der achtziger Jahre. Stocker ging zwischen den Tischen zur Küche, grüßte ein paar bekannte Gesichter und schlug zwei Stammgästen an der Theke auf die Schultern. Mit dem Fuß öffnete er die alte braune Schwingtür und trat in die Küche.
Josef, der neben seinem Wassernapf stand, schaute über die Schulter und knurrte freundlich, und Zeno stellte eine schwere Gusseisenpfanne auf die Herdplatten. »Ruhig, mein Kleiner. Wenn der Onkel Albin ohne Bier reinkommt, dann kriegt er nix von uns.«
Stocker machte seufzend auf dem Absatz kehrt, schnappte sich zwei kleine Biere aus der kleinen Gruppe von Gläsern unter dem Zapfhahn, und Nellie versuchte, ihm auf die Finger zu klopfen, während sie sagte: »Mach mir keinen Stress. Husch, ab in die Küche, da liegen jede Menge Bestellungen.«
Nachdem Zeno sein Glas mit einem langen Zug leer getrunken hatte, stellte er es mit einem Knall auf den hölzernen Hackblock. »Und, gibt’s was Neues?«
Stocker schnappte sich den Kartoffelschäler und holte den Korb mit den Festkochenden unter dem Regal hervor. »Timo hat Connections zu den Bandidos, die hat John aber auch, nämlich einen Informanten. Ich krieg gleich die Nummer, und dann schauen wir mal.«
Zeno wendete die Schnitzel in der Pfanne und sagte über die Schulter: »Würz mal die Bratkartoffeln ab. – Ich hab mir auch schon überlegt, wo holt Timo Leute her? Der weiß ja auch nicht, wem er hier noch trauen kann. Gut, einen oder zwei kann er vielleicht haben, aber den Rest muss er rekrutieren. Und da kommt deine Information ins Spiel, das passt haargenau. Die Biker von den Bandidos machen für Geld fast alles. Die haben bestimmt eine Stammkneipe in Rosenheim. Die nehmen wir mal unter die Lupe. Was hast du dir mit dem Bunkerversteck überlegt?«
Stocker hielt die Pfeffermühle über die Kartoffelpfanne und drehte am Knauf. »Nichts. Wir können den Bahnhof und die Bunkereingänge nicht rund um die Uhr überwachen. Außerdem glaube ich, dass er erst versuchen wird, eine Truppe auf die Beine zu stellen. Denn dass der Alte hinter ihm her ist, das weiß Timo. Deswegen wird er so vorgehen.«
Zeno schaute auf. »Komm schon, die Zeiten ändern sich.«
»Schon, aber wir uns nicht. Sind deine Schnitzel so weit?«
Stockers Mobiltelefon vibrierte in seiner Hosentasche. Er warf dem Josef ein Stück von einer kalten gekochten Kartoffel zu und drückte mit der anderen Hand auf das Display. »Sehr gut. Eine Handynummer und das Kennwort. Das lautet sinnigerweise ›Schneewittchen‹. Da soll mal einer sagen, dass diese Biker keinen Sinn für Romantik haben.«
Er verteilte die Bratkartoffeln auf vier Teller, Zeno legte die Schnitzel und Zitronenscheiben, die in kleinen hellen Leinensäckchen verpackt waren, daneben. »Trag sie raus und geh nach oben zum Telefonieren. Ich hab jetzt drei Gulasch mit Schupfnudeln, das schaff ich selber.«
Stocker balancierte mit zwei Tellern in jeder Hand rückwärts durch die Schwingtür ins Lokal, und Nellie machte hinter der Theke einen langen Hals und deutete dann auf einen Tisch neben dem Eingang. Während Stocker die Teller absetzte, fragte eine der vier Frauen: »Morgen ist wieder der zweite Mittwoch. Gibt’s Musik?«
»Mahlzeit, guten Appetit. Ja, morgen geht’s hier richtig ab. Rock und Soul vom Feinsten. Kommt ihr?«
Die Damen nickten lachend, und Stocker zeigte nach hinten. »Ich hab oben was zu tun, aber wenn ihr mit den Schnitzeln fertig seid, schau ich auf ein Bier vorbei, ja?«
Stocker ging die ausgetretene schwarze Holztreppe nach oben und schloss die Wohnung auf. Im Schlafzimmer setzte er sich aufs Bett, wechselte die SIM-Karte seines Handys aus und tippte auf das Display. Nach dem dritten Signalton hörte er eine tiefe Stimme. »Was?«
»Ich bin Schneewittchen. Welcher von den Zwergen bist du denn?«
Der Mann am anderen Telefon sog zischend Luft durch die Zähne. »Das willst du nicht wissen. Mach’s kurz. Was liegt an?«
»Was hast du über den Kerl, den ich suche? John hat dich bestimmt aufgeklärt, oder?«
»Yepp. Der Macker ist vor zwei Tagen nach Rosenheim gekommen. Wo genau er sich da verkrochen hat, das weiß ich nicht. Er sollte sich bei einem Biker-Kollegen melden, das hat er getan, aber wo er jetzt ist? Keine Ahnung. Ich will es auch nicht wissen.«
»Warum nicht?« Stocker betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand.
»Du bist schon ein Komiker, was? Warum telefonieren wir eigentlich? Pass auf, Alter, der Luc ist heißer als ein durchgeknalltes Bügeleisen. Nicht mal wir reißen uns drum, den als Gast zu haben. Irgend so ein Pate vom Chiemsee sucht ihn ebenfalls, und mit den Jungs von dem wollen wir uns erst recht nicht anlegen, comprende?«
»Gut.« Stocker setzte sich aufrecht und schaute aus dem Fenster, dann seufzte er, wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn und sagte: »Entweder, du erzählst mir was Neues, oder ich ruf John an und frage, ob er mich verarschen will, okay?«
»Langsam, Kumpel, langsam. Was ich habe, ist, dass Luc auf einen Kerl wartet, der dummerweise in der JVA in U-Haft sitzt. Vielleicht haben die nur zusammen Zugang zu einem Schließfach oder was weiß ich. Luc hat sich von jemandem Geld geliehen, und das wurde per Western Union nach Rosenheim gekabelt. Da hat er die Kohle in Tagestranchen abgeholt. Er zahlt zwanzig Prozent Zinsen, deswegen muss er ziemlich schnell an seine Schatzkiste kommen.«
»Schon klar. In welcher JVA macht der Knabe denn Wellness?«
»Der schmort in Bernau, seit zwei Wochen oder so. Ist ein reinrassiger Irrer, der früher mal bei der Legion war. Er nennt sich Pastor. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, aber Pastor, der Prediger, ist Franzose, sagt man. Ach ja, der hat eine Schlange oder so was oben rechts am Hals tätowiert.«
»Noch was?«
»Luc wird hier bleiben, bis er an sein Geld kommt. Wir haben ihm gesagt, dass wir ihn jagen, wenn er abhaut. Unsere spanischen Brüder haben hunderttausend Dollar von ihm bekommen, und dann war er pleite. Hier hat er sich sofort wieder Geld geliehen, schon komisch, was? Hast du eine Ahnung, was da läuft?«
»Nee. Mach’s gut, Zwerg.« Stocker drückte auf die »Gespräch beenden«-Taste, nahm die SIM-Karte raus und zerbrach sie.
In dieser Nacht schlief er sehr unruhig. Der Mond spielte mit den Schatten im Zimmer, und Stocker glaubte, in den Ecken und neben dem Schrank Umrisse von Gestalten zu sehen. Er schlug auf sein Kissen und wackelte mit den Zehen, um zu testen, ob sie zugedeckt waren. Trotz der Daunendecke und der geschlossenen Fenster überkam ihn ein Frösteln. Die Seele friert zuerst, dachte er und schob die rechte Hand unter das Kissen.
Er fiel in einen nervösen Halbschlaf, aus den ihn das Brummen seines Mobiltelefons riss. Im Halbdunkel sah er es auf dem Nachttisch, wie es summte und sich im Halbkreis drehte wie ein dicker Käfer, der auf dem Rücken liegt. Mit der Linken schnappte er sich das Handy und hob es ans Ohr. »Ja?«
Nichts. Nur leises Rauschen, unterbrochen von einem kurzen Knacken, war zu hören. »Hallo? Was ist? Es ist fast vier Uhr, verdammt noch mal!« Stocker vernahm durch das ferne Rauschen das Atmen eines Menschen. »Wer ist da?« Das Atmen wurde leiser, und Stocker knurrte: »Ich leg jetzt auf. Fahr zur Hölle oder komm selber vorbei.«
Er starrte auf das erleuchtete Display. Rufnummernunterdrückung, schon klar. Seufzend schaltete er das Telefon aus und legte es auf den Holzboden vor dem Bett. Das war der vierte oder fünfte Anruf, der ihn meist um diese Zeit weckte. Wer zum Teufel war das? Von den Irren rund um Timo bestimmt keiner. Plötzlich schoss er hoch und fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. Die Hintergrundgeräusche, das ferne Atmen, das Klacken während der Verbindung. Immer die gleiche Geräuschkulisse.
Gerlinde? Seit sie vor einem Jahr mit den zwei Millionen und den Diamanten von dem alten Bernbach abgetaucht war, wusste er, dass sie sich irgendwo in der Karibik rumtrieb. Und Bernbach wusste das auch. Aber immer noch in Curaçao?
Er fischte sein Handy vom Boden, schaltete es ein und sah sich die Zeitzonen an. Curaçao–Deutschland minus sechs Stunden. Das heißt, bei ihr war es jetzt zehn Uhr am Abend. Würde passen. Aber was wollte sie?
Irgendwann gegen fünf Uhr schlief er ein und erwachte erst vom Kaffeeduft, der unter dem Türspalt durch und in seine Nase drang.
In der Küche stand Zeno und unterhielt sich mit Josef. »Und dann sagt sie zu mir: ›Du bist so ein Macho, dein Arsch müsste eigentlich vertikal an dir hängen.‹ Ich sag: ›Warum?‹, und sie: ›Na, dann könntest du dir beim Treppensteigen deinen eigenen Applaus machen.‹ Verstehst du?«