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Ein gnadenloser Höllentrip durch die bayerische Unterwelt. Koppeck war mal ein eiskalter Auftragsmörder, kein Risiko war ihm zu groß. Jetzt lebt er in der Nähe von Rosenheim und züchtet seltene Tomatensorten. Als seine Ex-Frau getötet wird, zieht er los, um alle zu beseitigen, die mit der Sache zu tun haben. Dabei stößt er auf Stocker, den Problemlöser, der ebenfalls die Mörder seiner Frau sucht. Die beiden beschließen, dieses eine Mal gemeinsame Sache zu machen – und bringen eine verhängnisvolle Lawine ins Rollen
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Seitenzahl: 377
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Der Rosenheimer Heinz von Wilk war schon vieles in seinem Leben: Weltreisender, Musiker, Manager und Immobilienhändler. Nach langen Jahren in vielen Ländern lebt er mit seiner Frau im Chiemgau und schreibt hier seine Bücher. Ein Ende ist nicht abzusehen.
www.heinz-von-wilk.de
Auch dieses Buch ist wieder ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen jedweden Geschlechts sind nicht gewollt und mehr oder weniger rein zufällig. Nicht erfunden sind allerdings die Restaurants, Bäckereien, Feinkostläden, Wirtschaften, Tankstellen und sonstigen Geschäfte, in denen der Stocker einkauft oder sich gerne aufhält. Auch die von ihm konsumierten oder erwähnten Speisen und Getränke kann man getrost zu sich nehmen.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: lookphotos/Heinz Wohner
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-918-1
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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Wenn du Gott lange genug bittest, einen Berg zu versetzen, wirst du irgendwann neben einer Schaufel erwachen.
Albin Stocker
Montag, 6. Juni, 13:47 Uhr, im Hinterzimmer
»Ihr habt sie gefoltert? Echt jetzt? Seid ihr vollkommen gaga? Warum? Wer hat euch das aufgetragen, stronzi maledetti? Ich nicht.« Hagen starrte Pille und den Nazi-Typen an.
Weil es auch in diesem Jahr für Anfang Juni schon sehr heiß war, hatte Hagen das Doppelfenster seines kleinen Zweitbüros weit geöffnet. Genau genommen war es nicht das eigentliche Büro, sondern mehr der Abstellraum des Fitnessstudios. In den Regalen links und rechts türmten sich weiße Frotteehandtücher, Papierrollen und Fünf-Liter-Kanister mit Desinfektionsmittel. Es roch nach Weichspüler und irgendwie nach Essig. Unten fuhr eine von diesen aufgemotzten Angeberkarren mit dröhnendem Auspuff vorbei, und bei jeder Fehlzündung zuckte der dürre Pille zusammen.
Mit weinerlicher Stimme sagte er: »Nein, Chef, das ist, wie soll ich sagen, einfach so passiert. Ich meine, nicht dass du denkst, dass wir gerne mit Blut rumspritzen oder so. Das mit dem Blut, das hat sie dann selber gemacht. Der Joe und ich, wir standen drei Meter weg von ihr und haben miteinander geredet.«
Hagen lehnte sich in seinem schwarzen Kunstleder-Chefsessel vor und fuhr sich mit den Fingern durch das schulterlange rotblonde Haar. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn und dachte: Lieber Gott, lass das einen Traum sein, und gleich werde ich wach und muss aufs Klo.
Er zeigte wütend auf Pille, knurrte: »Du hältst jetzt die Fresse«, beugte sich über die verschrammte Schreibtischplatte und wandte sich an den bulligen Nazi-Kerl, der lässig auf dem löchrigen Cordsofa lümmelte und an einem Fingernagel kaute: »Forza ragazzo, der Trottel da ist wieder voll auf irgendwas. Ich versteh kein Wort. Also, was ist Sache?«
Der Nazi spuckte einen Nietnagel auf seine helle Cargohose, zog lautstark Rotz die Nase hoch und schaute gelangweilt die Playboy-Poster an der Wand hinter Hagen an. »Mann, wir haben doch bloß so ein bisschen Waterboarding mit ihr gemacht, du weißt schon. Das hab ich erst neulich wieder auf Netflix gesehen. Die Amis tun das ständig in diesen Serien. Kommt cool rüber, da stirbt keiner dran. Hey, hast du ›Homeland‹ nicht gesehen?«
Warum habe ausgerechnet immer ich mit solchen Idioten zu tun?, dachte sich Hagen und trommelte mit seinen sommersprossigen Fingern auf die Tischplatte. Seine Gedanken überschlugen sich und schwirrten in seinem Kopf hin und her wie Stubenfliegen, die pausenlos gegen Fensterscheiben knallten.
Der Nazi, der eigentlich Joe hieß, schlug die Beine übereinander. »Was hätten wir denn deiner Meinung nach tun sollen, hm? Die Alte hat steif und fest behauptet, sie wäre gar nicht die Alte, verstehst du?«
Er zog die breiten Schultern hoch und drehte den Kopf nach rechts und links, sodass man zwei trockene, knackende Geräusche hören konnte.
»Nein, das tue ich nicht. Wer zum Teufel war sie dann?«
Joe hob die Augenbrauen. »Was weiß ich? Auf jeden Fall die Frau von deinem Foto, aber halt nicht die Frau von dem Richter.«
»Dem Oberstaatsanwalt, ihr Trottel. Der Mann ist ein Oberstaatsanwalt.«
»Ist doch das Gleiche.« Joe schaute Hagen jetzt mit seinen blauen Huskyaugen an, klatschte sich auf die Schenkel und zeigte auf Pille. »Noch mal von vorne: Wir waren extra eine Stunde früher da. Lage checken und so, du weißt schon. Das war auch gut so, denn die Tusse kam nicht um Punkt elf aus der hochherrschaftlichen Toreinfahrt von dieser verkackten Millionario-Protzvilla, wie du uns gesagt hast. Sondern, nein, sie kommt schon um zehn, auf einem Fahrrad, und zwar aus Richtung Dorf. Eine Stunde zu früh und dann auch noch aus der verkehrten Richtung. Und, was sagste jetzt, hm? Aber wir beide, voll auf Zack, Pille springt aus der Karre, hat sie geschnappt. Sie steigt nämlich ab, fummelt in ihrer Tasche nach dem Toröffner oder so, er hier packt sie also, zieht ihr ratzfatz den Beutel über die Rübe und schmeißt sie wie einen Sack Erde hinten rein. Hat keine zehn Sekunden gedauert, das Ganze. Also, von der Zeit her war das voll die Profiarbeit.«
Zufrieden lehnte er sich zurück und faltete die Hände über seinem blonden Undercut. »Es war hundertpro die Frau auf dem Foto, das du uns gezeigt hast. Sie hatte sogar dasselbe Kleid an. Das weiße, mit blauen Blumen drauf. Aber jetzt pass auf: Im Lagerschuppen binden wir sie an den Stuhl, und kaum ziehen wir ihr den Beutel vom Kopf, fängt sie zu schreien an. Sie hat kein Geld, ist geschieden, alleine, ohne Mann, verdient bloß einen Tausi im Monat, lauter so Zeugs.«
Er schloss gelangweilt die Augen. »Und dann kriegt sie auch noch einen Panikanfall oder so was und verdreht die Augen und zittert am ganzen Körper, wie diese Schnecke im ›Exorzisten‹, du weißt schon. Oder hast du den Film auch nicht gesehen?«
»Moment, Moment, komm mal runter … Wo ist ihre Tasche? Ihre Handtasche, meine ich. Habt ihr die noch im Bus oder im Schuppen?«
Pille, der immer noch wie ein schlecht gemaltes Fragezeichen vor dem Schreibtisch stand, hob die Hand wie ein Erstklässler. »Äh, ja, diese Tasche meinst du, schon klar, verstehe. Na ja, das war so: Die Tasche flog auf das Pflaster neben dem Fahrrad, und als ich die Alte im Auto hatte, ist der Joe sofort Formel-1-mäßig losgeprescht. Die Schiebetür ist von selber zugeglitten, und ich bin über die Frau gestürzt. Die Alte hat gestrampelt wie ein Schaf beim Scheren. Und die Tasche? Also, die ist irgendwie nicht mitgekommen. Die ist wohl …«
Er wedelte mit der Hand und blinzelte Hagen mit dem rechten Auge zu. Das sah zwar ziemlich vertraulich aus, war aber nur einer von den vielen nervösen Ticks, die er nicht unter Kontrolle hatte.
Hagen zog verärgert eine Grimasse. Mit geschlossenen Augen sagte er: »Joe soll weitererzählen.«
»Was, ich schon wieder? Auch gut. Sie schreit also immer das Gleiche. Und ist voll auf Hysterie. Da hab ich ihr einen Lappen über die Visage gelegt und sie ein bisschen bewässert. Genau so, wie die das im Fernsehen machen. Aber sogar als sie schon am Ersaufen war, hat sie immer dieselben Sprüche gekreischt. Sie hat kein Geld, aber ihr Chef wird vielleicht für sie bezahlen. Bestimmt wird er das, wir sollen mit ihm reden oder sie mit ihm telefonieren lassen.« Er wedelte lässig mit der Hand. »Du weißt schon.«
»Ihr Chef zahlt?«
Joe nickte. »Genau der, sag ich doch.«
»Na super. Und wer ist ihr Chef?«
»Da wird’s jetzt kompliziert, weil es auf einmal voll krass abgegangen ist. Es war so: Ich sage zu Pille, Junge, da passt was nicht. Lass uns das mal in Ruhe bequatschen und einen Joint durchziehen. Am besten wird es sein, wir bringen sie fürs Erste in den Kofferraum von einer der Schrottkarren da draußen. Und zwar in einen von den Schlitten, die eh bald in die Presse gehen, da guckt nämlich keiner mehr rein, weil da ja die Fenster und die ganzen Teile, die man noch verkaufen kann, schon raus sind.«
Joe beugte sich vor und breitete die Arme aus. »So, und jetzt kommt’s. Wie ich so meine Tüte anzünde und rede, kippelt die sich selber samt ihrem Stuhl einen halben Meter oder so nach hinten. Patsch, und weg isse. Einfach so. Zack.«
»Wie jetzt, patsch und zack?«
Joe hob beschwichtigend die Arme. »Was weiß ich, ehrlich jetzt, es war genau so, wie ich dir sage: Pille und ich waren ja ein paar Meter weit weg, damit sie uns nicht hören konnte. Ich nehm einen tiefen Zug, halte die Luft an und gebe ihm hier die Rolle rüber. Also haben wir von der Ruckelei auch nix mitbekommen.«
Bedauernd klatschte er in die Hände. »Und ich Trottel mach extra vorher noch schnell ein Foto von ihr. Aber jetzt pass auf: Sie schiebt oder ruckelt sich auf diesem Stuhl selber nach hinten, und was soll ich dir sagen? Sie fliegt rückwärts in diese Mechanikergrube runter. Zwei Meter im freien Fall. Haut sich aber vorher den Schädel noch an dieser umlaufenden Metallkante an. Das hat geklungen, wie wenn du mit einem Hammer eine Kokosnuss aufbrichst. Den Knall haben wir gut gehört, aber da war sie ja schon voll im Abflug. Was, zum Teufel, sollten wir da noch machen, Chef? Das war Karma, Bestimmung, sie war zur falschen Zeit am falschen Ort. Es war der reine Zufall.« Er grinste breit. »Ich glaube an so was. Du nicht?«
Hagen schüttelte entnervt den Kopf: »Nein, cretino, ich glaube nicht an Zufälle. Ich hab zwar schon davon gehört, aber persönlich noch keinen gesehen. Und jetzt? Ist die Frau tot?«
Pille zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Fast. Ziemlich jedenfalls. Wir haben sie da rausgeholt, vom Stuhl gebunden und in eine von den Karren neben der Schrottpresse getragen. Sie war ja ohnmächtig und hat unschön vor sich hin geröchelt. Jetzt liegt sie da im Kofferraum. Der Schrottplatz gehört meinem Onkel, aber ich habe einen Schlüssel vom Tor.«
»Ich glaub es einfach nicht. Ihr Idioten versaut einen todsicheren Job, krallt euch die falsche Frau und lasst sie auch noch lebend in irgend so einer versifften Rostlaube liegen?«
»’tschuldige mal, Chef«, Pille hob wieder den Finger, »aber die ist in einem roten Peugeot 404, Baujahr ’75, der sah noch ganz gut aus, obwohl die Fenster und eine Tür raus waren. Warum einer so ein Auto verschrottet, versteh ich echt nicht.«
Hagen, der viel auf seine Selbstbeherrschung hielt, brüllte mit rotem Gesicht los: »Halt endlich die Schnauze! Wegen euch Vollidioten haben wir einen Mord am Hals, wenn die Frau gefunden wird! Und für was, he?«
Aber Joe schaute nur lässig auf seine klotzige schwarze Military-Uhr und meinte beschwichtigend: »Bleib cremig, Boss, die ist jetzt bestimmt schon auf Umzugskartongröße eingestampft.«
Hagen sackte entnervt über der Schreibtischplatte in sich zusammen und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Joe räusperte sich und legte sein Sony-Smartphone auf die Tischplatte. »Hier, bitte. Schau dir die Frau an. Das ist hundertpro die, die du haben wolltest.«
Mit schweißnassen Fingern griff Hagen nach dem Handy und sah auf das Display. Das Gesicht der Frau war vor Angst und Panik zu einer schaurigen Grimasse verzogen. Aus Mund und Nase liefen Wasser und grauer Schleim. Das Zeug rann über ihr Kinn, die Fäden zogen sich wie lange, dünne Eiszapfen nach unten. Der Mund war weit aufgerissen, und Hagen kam unwillkürlich das Bild von diesem depressiven Norweger in den Sinn, wie hieß der noch gleich? Mönch? Manch? Oder Munch? Genau, Munch hieß der Kerl. Und das Bild: »Der Schrei«.
So fühlte sich Hagen im Moment. Genauso wie die Figur auf dem Gemälde: voll in Panik, und Panik war die große Schwester der Angst.
Er betonte jedes Wort des ersten Satzes einzeln. »DIESE. FRAU. IST. NICHT. DIE. FRAU. VON. MEINEM. FOTO. Die hier ist um die fünfzig oder sechzig. Die auf meinem Foto ist vierzig. Und hat eine völlig andere Frisur. Habt ihr Deppen das nicht bemerkt?«
Und Joe giftete: »Wie jetzt? Ich sag dir mal was: Die Haarfarbe stimmt, also ungefähr jedenfalls. Das Kleid stimmt hundertpro. Sollten wir sie vorher noch höflich um ihre Papiere bitten? Und fragen, ob sie Bock auf eine Kaffeefahrt ins Blaue hat? Du hast uns ja nicht mal gesagt, wie sie heißt, Alter. Also, was jetzt?«
Was jetzt? Das kann ich euch sagen: Ich bin am Arsch, und zwar so was von, dachte sich Hagen.
Pille klopfte vorsichtig mit den Knöcheln auf die Schreibtischplatte und sagte leise schniefend: »Boss? Was ist denn jetzt mit unserem Geld? Ich brauch dringend Nachschub. Wenigstens ein paar tausend pro Mann könntest du rüberwachsen lassen, oder?«
Und während ihn Hagen fassungslos anstarrte, meinte Joe mit einem Fingerschnippen: »Du, Chef, ich hab mir grade beim Nachdenken was überlegt: Wir holen die andere Frau auch noch. Morgen oder so. Das kostet dich nix extra. Pay one – get two. Ist das ein Angebot, oder ja?«
Jetzt schaute Hagen überrascht hoch. Zu Pille, rüber zu Joe und wieder zurück zu Pille. Dann knurrte er, mehr zu sich selbst, mit hochrotem Kopf: »La sto uccidendo.«
Mit einer schnellen Bewegung riss er eine Seitenschublade des Schreibtisches auf, holte mit der linken Hand einen matt glänzenden Revolver heraus und fauchte: »Geiler Vorschlag. Dafür erwartest du jetzt Sitting Ovations, oder was? Ich sag dir mal was, und dir auch!«
Damit schwenkte er den Revolverlauf in Richtung Sofa und wieder zurück zu Pille, der von einem heftigen Spontanschluckauf durchgeschüttelt wurde.
»Wenn ich euch beiden pasticcione jetzt erschieße und aus dem Fenster da drüben werfe, dann ist das intellektuelle Notwehr. Dafür kriege ich maximal zwei Jahre auf Bewährung und am Sonntag zum Nachtisch keine cannoli, hai capito? Und jetzt raus, aber presto! RAUS!«
Wer ist eigentlich Hagen?
Verbrechen werden meist nur aus drei Beweggründen heraus begangen: Liebe, Hass, Geldgier. Manchmal geht es auch um Macht oder die Angst, Macht zu verlieren. Aber das war’s dann auch schon.
Deswegen denken ja manche, wenn sie nur den Anfang eines Krimis lesen, dann wissen sie schon, wie er endet.
Darauf würde ich mich bei dieser Geschichte aber lieber nicht verlassen, das kannst du mir glauben. Denn auch wie im richtigen Leben ist hier fast keiner das, was er zu sein vorgibt.
Schauen wir uns bloß mal den Hagen an: Er heißt eigentlich Santo Moro, wurde in Spanien geboren, wuchs aber in Süditalien auf. Sein Vater war Tangolehrer, weshalb schon der kleine Santo tanzen konnte wie Los Dinzel, der berühmte argentinische Tangogott.
Santos Vater tanzte sich selbstverliebt durch ein buntes, rauschhaftes Leben, das Hirn dabei ständig auf Unterleibsmodus geschaltet. Eines Morgens verließ er fröhlich tänzelnd das marode Haus, seine schwermütige Frau sowie den zwölfjährigen Santo und kehrte nie wieder.
Jahre später, während des Millenniumfeuerwerks auf der MS Aurora, die damals auf der Reede vor einer karibischen Insel lag, glitt er betrunken an der Reling aus und stürzte ins Meer. So stand es jedenfalls Mitte Januar 2001 in einem kleinen Einspalter in der La Repubblica. Zehn Zeilen auf Seite 8. Mehr gab es da nicht zu schreiben.
»Jetzt tanzt er für immer mit den Haien«, sagte Santos Mutter und betrank sich, wie fast an jedem brutheißen Spätnachmittag, wenn die Sonne schon heftig mit der Dämmerung flirtete.
Unser Santo ging mit siebzehn nach Marbella, schön und stolz wie ein Torero und hungrig nach dem Leben der Reichen und Schönen. Da er neben seinem Aussehen auch noch über ein beachtliches Ding in seiner Hose verfügte, war er bald die meiste Zeit horizontal beschäftigt.
Nachdem er Marbella wegen einer Frau oder besser gesagt wegen eines tobenden Ehemannes in einer sternenklaren Nacht fluchtartig verlassen musste und sich Wochen später im kalten München wiederfand, überlegte er, wie er seine Talente auch in Deutschland wirtschaftlich einsetzen könnte.
Aus Santo Moro wurde mittels eines fast echten Reisepasses Hagen di Uiburu, weil er schnell merkte, dass Argentinier bei den sexuell vernachlässigten reichen Mittvierzigerinnen der Münchner In-Szene besser ankamen als spanische Italiener. So tanzte er sich durch die Edeldiscos wie die »Milla« und das »P1« und verkehrte in Cafés wie der »Reitschule« oder den Aufreißerläden auf der Leopoldstraße. Du weißt schon. Seine Talente und die Dinge, die er mit verschiedenen Körperteilen und seinem Einhorn anstellen konnte, sprachen sich unter diversen Damen schnell herum. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, das war Mundpropaganda in der reinsten Form, wenn du verstehst, was ich sagen will.
Sicherlich fragte ihn die eine oder andere Bettgenossin, wie denn ein rotblonder Argentinier, der auch noch Hagen heißt, überhaupt physisch möglich ist. Und wie immer wedelte er dann lässig mit der Hand und seufzte: »Da rede ich nicht drüber, mi corazón. Aber dir, als erste Frau überhaupt und weil ich mich in dich verliebt habe, verrate ich das Geheimnis: Meinen schlanken Körper und mein Temperament verdanke ich meiner Mutter. Die rötlichen Haare und mein Gemächt dagegen einem guten Freund meines Vaters. Aber was soll’s. Unter argentinischen Adligen akzeptiert man so was stillschweigend. Mein Vater wollte sich zwar duellieren, aber dann haben sich die beiden bei der Absprache zum Duell dermaßen betrunken, dass sie zum Aufeinanderschießen keine Lust mehr hatten. Denn letztendlich waren sie ja Freunde von klein auf und haben schon immer alles geteilt.«
Und wenn ihn eine der Frauen nach dieser Geschichte ungläubig anschaute, fügte er noch hinzu: »Na, bei uns in Argentinien ist so was das Normalste der Welt. Genau wie in England auch. Überleg doch mal, mi querida, so richtig sieht dieser Prinz Harry seinem offiziellen Vater Charles, dem hauptberuflichen Prince of Wales, auch nicht ähnlich, oder? Der hat zwar vielleicht gezielt, aber abgedrückt hat dann ein anderer. Die Geschichte von mir und meiner Abstammung muss natürlich echt unter uns beiden bleiben, ja? Vor dir habe ich das noch keiner erzählt, und so soll es auch bleiben. Nun haben wir beide ein weiteres gemeinsames Geheimnis, corazón, ist das nicht romantisch?«
Machen wir es kurz: Eine der vielen High-Society-Damen finanzierte ihm die Miete für sein Fitnessstudio in München-Grünwald, eine andere die Leasingraten für die teuren Geräte. Und somit schließt sich der Kreis wieder. Denn in ebendiesem Studio malträtierte nun auch Heide Sielmann, eine attraktive Frau im besten Alter und Ehefrau des Oberstaatsanwalts Dr. Hubert Sielmann, ihren wunderschön geformten Körper.
Das mit dem Studiovertrag war Hagens Idee. Am Morgen nach ihrer ersten heißen Nacht meinte er mit einem Blick auf ihren nahezu perfekten Körper: »Lass es uns langsam und vorsichtig angehen. Du bist sehr sportlich und arbeitest hart an dir, das sehe ich dir an. Mach doch ab sofort bei mir im Studio weiter. Ich stelle dir spezielle Programme zusammen und betreue dich persönlich.«
»So wie die letzten Stunden?«, fragte sie lächelnd.
Er küsste zärtlich ihre Stirn und flüsterte: »Auch das. Aber du bist gebunden. Wenn du ab sofort ein- oder zweimal in der Woche zu mir kommst, fällt das nicht auf. Dein Mann wird wissen, wo du bist und was du machst. Was ist für eine Lady unauffälliger als ein Gym? Du tust es ja auch für ihn, kannst du sagen. Und ich schicke ihm jeden Monat eine Rechnung, dann sind alle Zweifel im Vorfeld ausgeräumt.«
Er spürte, dass sie skeptisch war, und sagte schnell: »Das mit der Rechnung ist zu deiner Sicherheit, glaube mir. Ich will dich so oft wie möglich sehen. So können wir das, und nach einer kurzen Zeit verbringen wir die Gym-Stunden woanders. Vielleicht in einem kleinen, verschwiegenen Hotel? Was meint meine Schöne dazu?«
Und so kam es genau so, wie Hagen das geplant hatte. Immer Dienstag- und Donnerstagnachmittag tauchte Heide im Grünwalder Fitnessstudio auf, gestylt wie Jane Fonda in ihren besten Jahren. Und auch der Trainingsablauf war anfangs immer derselbe: zuerst auf das Life-Fitness-Laufband, dann rüber zum Schwinn Airdyne, zehn Minuten volle Power auf dem Wellengang Performance und ab und zu noch eine Runde auf dem Cybex Bravo, immer begleitet und beraten von Hagen. Und umgeben von nachdenklichen, teils auch offen misstrauischen Blicken einiger anderer gut aussehender Damen in engen knallbunten Outfits, von denen sich einige auffallend oft in ihrer Nähe auf Lauftrainern oder Hantelbänken abmühten, um vielleicht den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzufangen.
Heide dachte sich nichts dabei. Auch weil sie schon einige Affären hinter sich hatte, von denen die eine oder andere nicht so clever geplant war. Und wenn ihr ab und zu Bedenken kamen, tat sie sie mit einem Lächeln ab. Die Art und Weise, wie Hagen und sie sich kennengelernt hatten, die romantische erste Nacht in seinem Penthouse … So was plant man nicht, das passiert einfach.
Wenn du dir jetzt denkst, wo und wie haben die sich denn kennengelernt, habe ich da was versäumt: Nein, denn davon erzähle ich später ausführlich.
Hagen kümmerte sich während der Trainingsstunden wirklich sehr intensiv um Heide. Eine kleine Berührung hier, ein wohlwollendes Streicheln da, und nach kurzer Zeit verbrachten sie die Dienstage und Donnerstage ab sechzehn Uhr nicht mehr im Studio, sondern in einem verschwiegenen kleinen Hotel in der Nähe der Säbener Straße. Genau wie Hagen es versprochen hatte.
Und falls es dich interessiert: Der Kalorienverbrauch sowie die Fettverbrennung von Heide waren im und um das Hotelbett sogar noch höher als auf sämtlichen Geräten in Hagens Hightech-Studio zusammen. Da habe ich auch gestaunt, ja was glaubst du?
Heide erzählte in den verträumten, stickig-verschwitzten und erschöpften Momenten nach dem Sex gerne von »Sieli«, wie sie ihren Mann nannte. Sie konnte seine leicht lispelnde Aussprache gut nachahmen, wobei sie das Lispeln natürlich immer stark übertrieb. Und auch seine Gestik und Mimik hatte sie voll drauf. Wie er zum Beispiel abends in die Villa am Tegernsee kam, sich wie ein Hahn vor dem Wohnzimmerkamin aufplusterte und von seinen täglichen Erfolgen gegen das Verbrechen prahlte.
Etwa so: »›Meine Liebe, kennft du den Film, wo ein Fimpanfe mit einem Auto fährt?‹« Sie setzte sich im Bett auf, wedelte mit den Armen, stemmte die Fäuste in die Hüften, zog das Kinn nach unten, und Hagen bewunderte wie schon so oft den Schwung ihrer vollen Brüste.
Jetzt kam ihre Babystimme, hoch und piepsig, sie riss dabei die Augen weit auf. »Ich sage: ›Oh nein, mein Schatz. Wie kann ein Schimpanse denn Auto fahren? Wie macht er das?‹«
Sie prustete und fuhr mit Sielmanns Stimme fort: »›Ganf einfach. Er folgt der Fpur der Bananen, ferftehft du? Genaufo handeln die meiften Verbrecher, egal, ob grof oder klein. Fie find fo waf von berechenbar. Das fage ich immer. Berechenbar. Und … klapff … habe ich wieder einen.‹«
Sie ließ sich lachend in die Kissen plumpsen, griff nach Hagens Glied und sagte: »Na, ist noch eine Zugabe mit deinem anbetungswürdigen Zepter drin, bevor ich heim in den Vogelkäfig muss?«
H und H hatten also guten Sex und viel Spaß, finanziert mit dem Vermögen ihres Gatten. Der bezahlte gut dafür, denn Hagen stellte Dr. Sielmann seine Privatstunden allmonatlich in Rechnung. Und so ein Personal Trainer, der ist nicht gerade billig, das kannst du dir wohl denken.
Aber, wie es auch im richtigen Leben so geht, irgendwann wollte Heide mehr. Mehr Sex, mehr Zeit mit Hagen. Jeden Tag, wenn möglich, und nicht nur zweimal die Woche. Und nicht mehr mitten im Abklingen des letzten Orgasmus aufstehen, duschen, schminken, anziehen und ihn in der testosterongeschwängerten Luft im feucht-zerwühlten Bett zurücklassen. Sie wollte bunte Tage und helle Nächte.
Hagen dagegen war auf mehr Sex mit Heide nicht besonders scharf, denn sie war ja nicht die Einzige, um die er sich persönlich und körperlich kümmern musste. München ist eine sehr teure Stadt, da musst du schon ranklotzen, denn auch hier wachsen die Porsches nicht auf Bäumen. Aber die Aussicht auf eine flotte Million oder zwei war natürlich verlockend.
Und so kamen die beiden nach einem wilden Pas de deux auf dem Hochflorteppichboden des Hotels auf die Idee einer vorgetäuschten Entführung. Genau genommen war es Heides Idee.
Pass auf: Erst hauchte sie ihm ins Ohr: »Liebst du mich eigentlich? Ich bin dir nämlich voll verfallen.«
Und er murmelte: »Natürlich, meine Schöne.«
Was gelogen war. Hagen liebte keine der Frauen, mit denen er beruflich, wie er es nannte, vögeln musste. Er liebte sie nicht nur nicht, es fiel ihm sogar schwer, sie nicht zu hassen.
Heide kuschelte sich noch enger an ihn. »Ich wollte es dir nie sagen, sonst wirst du mir noch eingebildet, aber: Mit dir hatte ich meinen ersten Orgasmus. Und ich bin fast zweiundvierzig. Aber mit dir ist der Sex immer so, wie wenn man an einem von diesen Münzautomaten eine Serie hat: Es klingelt und klingelt, und man will, dass das nie mehr aufhört. Ich will mit dir sein. Für immer. Willst du das nicht auch? Stell dir nur vor: du und ich, irgendwo, vielleicht sogar in Argentinien. Da könntest du mir alles zeigen, und wir würden leben wie im Paradies.«
»So ähnlich habe ich auch schon geträumt. Es war ein schöner Traum. Habe ich dir nicht davon erzählt, meine Traumfrau?«
Der Traum war ein Alptraum, dachte sich Hagen, während er sich frei machte, um nach den Champagnergläsern zu greifen. Und dieses Paradies wäre für mich der Vorhof zur Hölle, denn eines Tages würde ich dich ersäufen wie eine kranke Katze. Was ich in meinen Träumen schon ein paarmal getan habe.
Er füllte die Gläser, reichte ihr den Kelch mit sanft sprudelndem Ruinart Brut Rosé, küsste ihre Wange und hauchte: »Wenn du wüsstest, was ich in meinen Träumen so alles mit dir angestellt habe, mi amor eterno.«
Sie schloss wohlig erschauernd die Augen und schlürfte etwas ungeschickt aus dem breiten Glas, sodass perlende hellrosa Flüssigkeit auf ihre Brüste tropfte.
»Er hat Geld ohne Ende«, flüsterte sie eines späten Nachmittags atemlos an seiner feuchten Schulter und spielte mit einer Strähne seines langen Haares. »Schon seinem Vater gehörten einige Grundstücke am Tegernsee, außerdem zwei Mietskasernen hier in München, natürlich auch Aktien, alles, was du willst. Sieli müsste keinen Finger krumm machen, wir haben so an die zwanzig, fünfundzwanzig Millionen in Immobilien, Aktien und richtig gut Bares auf diversen Konten. Aber er liebt dieses ›Herr Oberstaatsanwalt‹-Ding, du weißt schon. Seine Limousine, den Chauffeur, das Büro mit zwei Tippsen drin, das Image und wie alle in Restaurants und so um ihn rumschleimen. Unsere Dreißig-Zimmer-Villa von Annovergissmeinnicht am See, mit Bootshaus und privatem Badestrand solltest du mal sehen. Und ich? Ich hasse diesen museumsartigen Affenkäfig. Stell dir mal vor, für den Tegernsee gibt es nur ziemlich wenige Lizenzen für private Boote mit Elektromotor. Die Lizenz muss man in jedem Jahr neu beantragen, und die gilt dann auch nur für vier Wochen. Aber mein Django von der Staatsanwaltschaft hat eine Dauerkarte.«
Hagen verstand nichts von alledem, aber er nickte wissend, seufzte schwer und streichelte ihre Brüste.
Sie beugte sich vor und küsste seine feuchte Wange. »Und mein Sieli, der kauft sich im letzten Jahr zum Geburtstag auch noch eine mistneue Albin 30 AC und lässt sie für insgesamt eine Viertelmio innen zurechtbauen und mit E-Antrieb ausstatten. Von außen sieht der Kahn aus wie jede andere Albin, aber innen, wow, mein lieber Scholli. Du glaubst, du bist in einer Suite vom ›Peninsula‹-Hotel in Hongkong gelandet. Und da vögelt er am Wochenende irgendwelche Touri-Tussen, die er am Bootssteg vom Yachtclub auftut.«
Hagen drückte etwas härter zu, sie bog den Rücken durch und stöhnte auf. »Ahhh, ja, gut so.«
»Wie macht er das?«
»Was, Tussen vögeln? So was fragst ausgerechnet du? Geh mit der Hand weiter runter. Ja, da, genau so. Also, das Tussen-Angeln hat er mal in einem alten Film mit Kevin Costner gesehen. Kevin sitzt, ganz in Segler-Weiß und barfuß, hinten neben dem Steuerrad und trinkt Champagner. Kevin hat natürlich keine Kapitänsmütze auf, die braucht er bei seinem Aussehen auch gar nicht. Wie er da so sitzt und schräg Kevin-mäßig auf die Mädels runtergrinst, die staunend am Bootssteg flanieren und fotografieren, hebt er sein Glas in Richtung Meer und sagt: ›Hey, Ladys, wollt ihr das alles mal von da draußen aus fotografieren? Ich fahr nämlich gleich raus.‹ Zack, und schon hat er eine oder zwei auf dem Kahn. So macht mein Sieli das auch. Nur hat Sieli eine von diesen albernen goldenen ›Traumschiff‹-Kapitänsmützen auf seiner Halbglatze. Und dem Kevin Costner sieht er nicht mal am Arsch ähnlich. Also, sie fahren erst mal Volldampf raus, dann wirft Sieli den Schleppanker. Ab jetzt fließt reichlich Alkohol, und irgendwann, nach der dritten Flasche, lässt er die Badeplattform runter, und man geht schwimmen. Nackt natürlich, danach kuschelt man sich fröstelnd unter Deck aneinander, und spätestens jetzt wächst der Spargel.«
Hagen schaute sie erstaunt an. »Was, die essen dann? Im Liegen?«
Sie schlug ihm lachend auf den Hinterkopf: »Ja klar essen die Mädels dann, aber ein Stück von ihm. So, wie ich das bei dir immer mache. Lass deine Hand da unten, ja?«
Was für ein schlauer Hund, dachte sich Hagen, der Mann hat’s einfach drauf.
Heide schaute auf die Uhr und erschrak. »Du lieber Himmel, ich muss los. Komm, lass es uns schnell noch mal machen!«
Drei Tage vor der Entführung, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni, 1:47 Uhr
In dieser Nacht fand Hagen keinen Schlaf. Nicht dass ihn die freitägliche Bettakrobatik am Nachmittag mit Heide besonders strapaziert hatte, denn so was zog er durch und war mit den Gedanken meist woanders. Nein, der Gedanke an das viele Geld hielt ihn wach.
Er lag nackt auf seinem von einer Industriellengattin gesponserten Fünftausend-Euro-Kingsize-Boxspringbett und starrte sich in dem Zwei-mal-zwei-Meter-Spiegel an der Zimmerdecke im kargen Licht der runtergedimmten Leselampe an. Gegen zwei Uhr setzte er sich ruckartig auf und ließ die Beine über die hohe Bettkante baumeln. Aus dem Wohnzimmer hörte er das Brummen seines Handys, und von der Straße, die sechs Stockwerke unter seinem kleinen Penthouse lag, drang der Gesang der Autoreifen, die über den regennassen Asphalt summten und ihm das Lied der Stadt sangen, die niemals schlief.
Er stieß sich mit den Händen ab, glitt vom Bett und ging im Halbdunkel in das kleine Wohnzimmer und weiter zur Küchenecke, um sich aus dem roten Smeg-Retrodesign-Kühlschrank eine Cola Zero zu holen. Dann setzte er sich auf das cognacfarbene Rolf-Benz-Sofa, nahm einen Schluck, rülpste und schnappte sich das Handy, nachdem es erneut losbrummte und sich dabei auf dem niedrigen runden Glastisch um sich selber drehte wie ein hilfloser dicker Käfer, der auf dem Rücken gelandet war.
Sechsundzwanzig neue Nachrichten. Sieh dir das bloß an. Schlafen denn diese Weiber nie, dachte er und seufzte. Die letzten acht SMS waren von Heide. Er scrollte sich durch die Zeilen. »Ich hasse ihn und liebe dich.« – »Ich will zu dir.« – »Lass uns das Ding machen und abhauen.« – »Du und ich, in einem fernen Land – forever happy.« – »Ich werde schon feucht, wenn ich nur an dich denke.« – »Entführe mich.« – »Wir könnten auch drei oder vier Mios verlangen.« – »Tu was. Du kannst es – Für immer dein. Ruf mich morgen früh Punkt neun an. Überleg dir, was wir heute besprochen haben!!! Ich liebe dich!!!«
Hagen schüttelte ungläubig den Kopf und kratzte sich über dem Ohr. Die meinte es ernst, verflucht noch mal. Dieses verrückte Weib. Nachdem er noch einen Schluck von der eiskalten Cola genommen hatte, stellte er die Dose neben das Handy und ging wieder ins Bett.
Er legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte, seinen Atem kontrolliert von der Brust in den Bauch zu bekommen. Langsam durch die Nase einatmen, kurz innehalten, dann vom Bauch aus die Luft gemächlich nach oben drücken und durch einen schmalen Spalt zwischen den Lippen langsam entweichen lassen. Die Gedanken fliegen wie Wolken, die hoch am Himmel ihre Bahn ziehen. Gib deine Gedanken den Wolken mit. Lass sie schweben, der Kopf wird leer … Der Schlaf kommt und nimmt dich mit … Deine Augen werden schwer … Deine Arme und Beine sind entspannt und locker … Der Schlaf nimmt dich mit in ein verwunschenes Reich … Du versinkst wie eine Feder, die kreiselnd in einen tiefen dunklen Brunnenschacht schwebt … Und weit unten … warten die Träume, in denen du fliegen kannst … frei wie ein Adler.
Aber die Gedanken, die ihm Heide heute Nachmittag in den Kopf gesetzt hatte, vermischt mit den Texten der acht SMS-Nachrichten, verließen seinen Kopf nicht. Im Gegenteil. Es wurden immer mehr, wie eine Armee von Spinnen, die aus einer Papiertüte krabbelten.
Hagen riss die Augen auf und sah sich selbst im fahlen Licht der Halogenlampe. Sein Spiegelbild über ihm schien hämisch zu grinsen, dann war plötzlich in seinem Inneren eine leise, unwirklich flüsternde Stimme.
Santo Moro, was tust du? Dich meine ich, genau, schau dich nur an. Was siehst du da? Einen alternden Gigolo? Okay, du bist jetzt um die vierzig. Alles läuft ganz gut. Noch. Aber was ist in ein paar Jahren? Heiraten wird dich keines der Weiber, die dich heute genießen und dann schweißnass von dir steigen wie von einem Karussellpferd mit Stange, das kannst du vergessen. Und warum? Weil du nicht gesellschaftstauglich bist. Mit dir geht keine zu Dallmayr oder zum Käfer in der Prinzregentenstraße.
Hey, da war doch mal diese blonde Münchner Schauspielerin, wie heißt sie noch gleich? Ingrid Steeger. Tolles Weib, der feuchte Traum eines jeden Mannes. Aber die hat in den neunziger Jahren einen Indianer oder so was geheiratet, der Kerl hatte Zöpfe und eine Feder im Haar, als er in München aus dem Flugzeug stieg. Und obwohl sie ihm die Feder wegnahm und ihn in einen Smoking mit Schleife steckte, war sie von da an in der Münchner Bussi-Bussi-Liga ein Paria. Was ist aus ihr geworden, obwohl sie in mehr als hundert Filmen mitgespielt hat? Willst du es wissen? Oder lieber doch nicht? Okay, ich sage es dir: Sie lebt verarmt bei ihrer Schwester in der Nähe von Bad Hersfeld. Und was wird aus dir? Willst du als Eintänzer und Deckhengst auf amerikanischen Luxuskreuzfahrtschiffen um die Welt gondeln? Jedenfalls, solange du noch einen hochkriegst oder bis dich ein Infarkt in die Kiste klopft? Oder endest du lieber hier in München auf dem Kokain-Catwalk? Unten, in den Katakomben des Hauptbahnhofes?
Du nennst dich Hagen, wie der Krieger aus der Nibelungen-Saga, und bist doch nur ein Schwanz auf zwei Beinen. Wie sind denn in deiner Berufssparte die Aufstiegschancen, hm? Selbst für Pornos bist du jetzt schon zu alt. Hagen, Hagen, was soll nur aus dir werden? Der echte Hagen, dein Held und Vorbild, der edle Ritter, der wurde übrigens von Kriemhild erschlagen. Ist es das, was du willst? Dass dir irgendeine Matrone einen Kerzenleuchter über den Schädel zieht, weil sie mit deiner Performance im Bett nicht mehr zufrieden ist?
Schau dir die Heide an. Das ist ein cleveres Weib. Zieh das Ding mit ihr durch und dann ab in die Sonne, zu den Stränden in der Bacardi-Werbung. Mit dem ganzen Geld im Rücken wirst du es schon ertragen können, mit ihr zu leben. Und wenn du die Schnauze von ihr voll hast, mach einfach samt der Kohle die Flatter. Sie wird sich dann schon was überlegen und reuig zu ihrem Sugardaddy in die Millionenhütte am Tegernsee zurückkehren. Kerl, mach dich einmal in deinem Leben richtig gerade und riskier was …
Samstag, 4. Juni, 9:00 Uhr
»Heide?«
Er hörte ein raschelndes Geräusch, dann ihre schnellen Schritte und das Zuklappen einer Tür. »Ach, mein Liebling, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Aber jetzt bin ich vollkommen klar. Wollen wir es machen?«
Hagen drückte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel, bis der Schmerz kam, und kniff die Augen fest zusammen. Die Stimme aus seinem Inneren ertönte wieder, diesmal drängend, fordernd: Reiß dich zusammen. Das ist deine große Chance. Mach es. Zieh es durch.
Er holte tief Luft und sagte: »Wie soll das ablaufen?«
»Pass auf, es ist ganz einfach. Am Montagvormittag gehe ich exakt um elf Uhr aus dem Haus, weil mich Punkt elf Uhr fünfzehn eine Freundin oben an der Straße abholt. Das habe ich soeben mit ihr ausgemacht. Punkt elf bist du fünfzig Meter in Richtung Gmund, okay? Also, dort gibt es auf der rechten Straßenseite eine Parkbucht mit ein paar hohen Bäumen davor, da wartest du in deinem Auto. Ich steige ein, und wir fahren nach München. Dort nehme ich einen Zug oder Fernbus und verschwinde nach Österreich. Nach einer Woche oder so kommst du nach. Ich habe ein paar tausend Euro in bar, damit komme ich erst mal durch.«
»Moment … Moment, ich …«
»Psch, lass mich ausreden, Schatz. Der Sieli verlässt das Haus unter der Woche um Punkt sieben Uhr. Der Chauffeur holt ihn ab und bringt ihn in die Staatsanwaltschaft nach München in der Linprunstraße. Jeden Morgen von Montag bis Freitag dasselbe Prozedere. Sieli frühstückt immer im Büro, er lässt sich von seinen Tippsen was vom Käfer bringen. Ab neun kommen meist ein paar seiner Staatsanwälte zu Besprechungen. Sieli ist Dezernatsleiter OK, Organisierte Kriminalität und Betäubungsmittelkriminalität. Ausgerechnet der, der sich selber ab und zu mal gerne eine Line oder zwei vergönnt. Dass ich nicht lache.«
»Mach weiter.«
»Jaja. Abends bringt ihn der Chauffeur wieder heim. Das wird manchmal ganz schön spät, dann spricht er mir aber eine Message aufs Handy, wenn es nicht eingeschaltet ist.«
»Warum ist dein Handy manchmal nicht eingeschaltet?«
»Na, wenn ich im Yoga oder beim Schwimmen bin. Oder mit dir im Hotel, du Dummerchen. Weil du dann in mir bist und ich dabei bestimmt nicht mit dem Sieli über ein spätes Abendessen plaudern möchte, klaro?«
»Ja.«
»Gut. Zurück zu Montag. Um elf gehe ich also aus dem Haus und werfe einen Brief in den Briefkasten. In dem steht, ich sei entführt worden, er soll innerhalb von vierundzwanzig Stunden drei Millionen Euro in bar bereitstellen. In Fünfhundertern. Keine Polizei, er hört von uns.«
»Von uns?«
»Von den Entführern, mein Lieber. Auf dem Brief sind natürlich keine Fingerabdrücke oder so. Damit kenn ich mich aus. Schließlich bin ich die Frau eines Oberstaatsanwalts.«
»Warte. Ist das nicht unheimlich viel? Drei Millionen? An Gewicht und Masse und so?«
Sie lachte hell auf. »Ach, du Träumer. Eine Million in Fünfhundertern, das ist ein Stapel von zweiundzwanzig Zentimetern. Dieses Maß kennst du doch ganz gut, oder? Was für ein witziger Zufall. Also, dann sind drei Millionen drei solcher Stapel, und die passen in eine Bürotasche, einen Rucksack, was weiß ich.«
»Aha. Und wie bitte soll die Übergabe stattfinden?«
»Da habe ich schon einen perfekten Plan, mon chéri. Das erzähle ich dir alles haarklein, wenn es so weit ist. Aber zuerst muss er zahlen. Drei Millionen, die hat er in einem Tag flüssig. Hast du alles andere so weit verstanden?«
Hagen spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Jaja, aber warte mal, eure Toreinfahrt wird doch von Kameras überwacht, genau wie der Park und das Haus. Das hast du mir selber mal erzählt. Du hast gesagt, das sind Webcams, er kann die einzelnen Kameras über sein Handy kontrollieren, wenn er wissen will, ob du zu Hause bist. Bei euch gibt es um die zwanzig von den Dingern, die Hälfte davon im Haus und in verschiedenen Räumen. Erinnerst du dich?«
»Klar doch, Darling, es gibt sogar versteckte Notrufbuttons. Wenn er auf einen von diesen Knöpfen draufdrückt, ist ruckzuck die Kavallerie da. Aber es wird eine Störung oder einen Kurzschluss oder so was geben. Die Kameras sind auf jeden Fall am Montagvormittag ab kurz vor elf Uhr ausgeschaltet. Ich stelle immer die Alarmanlage auf scharf, wenn ich das Haus verlasse. Die ist mit den Kameras gekoppelt. Am Montag, um eine Minute vor elf, da wird das dumme Frauchen einen Fehler beim Einschalten der Anlage verursachen, der die Elektronik samt den Kameras lahmlegt. Ich bin ja so dumm, was moderne Technik angeht, sagt er immer. Aber Sieli wird sowieso versuchen, das alles ohne Polizei zu regeln, wenn irgendwie möglich.«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil er in ein paar Jahren Generalstaatsanwalt werden will, du Dummerchen, da darf nichts seine ach so weiße Weste trüben, nicht mal die Entführung seiner Frau. So, noch Fragen?«
»Jede Menge. Wollen wir das Ganze nicht verschieben? Für meinen Geschmack sind da zu viele Wenn und Abers … und außerdem …«
Sie schnaufte laut. »Nein. Und noch mal nein. Ich gehe am Montag um Punkt elf Uhr durch die Toreinfahrt. Wenn du mich liebst, bist du da. Wenn nicht, verschwinde ich in Eigenregie. Hier bleibe ich nicht länger. Ciao, mein Liebling. Ich zähle auf dich. Beweise mir deine Liebe. Dieses Handy schalte ich jetzt aus und werde es zerstören.«
Hagen starrte auf das Telefon in seiner Hand. Langsam lehnte er sich auf dem Sofa zurück und legte die Füße auf den Glastisch. Will ich das wirklich, dachte er, und wenn ja, kann ich ihr vertrauen? Die Heide ist zwar vieles, aber auf keinen Fall dumm oder so naiv, wie sie sich manchmal gibt. Die weiß sehr genau, was sie will. Und eine wie sie kann jeden Mann haben. Sie sieht aus wie Lauren Hutton in diesem alten Film mit Richard Gere. »Ein Mann für gewisse Stunden«, du weißt schon.
So was bin ich ja auch, grübelte er, ein Mann für gewisse Stunden. Nur war Lauren Hutton eine von den Guten, die den schönen Richard am Schluss des Films gerettet hat, indem sie sich zu ihm bekannte und ihm das entscheidende Alibi gab.
Was aber, wenn Heide mit mir genau das Gegenteil vorhat? Hagen rollte seinen Kopf auf der niedrigen Rückenlehne des Sofas, spürte das Knacken unterhalb des Genicks und spann den Faden weiter: Stell dir mal vor, sie benutzt mich nur. Gut, dabei sind ein paar tolle Ficks für sie rausgesprungen, und sie hat ein paar tausend Euro in mich investiert.
Aber, nur mal angenommen, sie will aus Gründen, die ich nicht kenne, weg von ihrem Alten. Er will sich nicht scheiden lassen, also zieht sie ihm ein paar Millionen aus der Tasche und macht sich damit vom Acker.
Mich braucht sie, um das Ding durchzuziehen. Warum hat sie mir nicht gesagt, wie die Geldübergabe ablaufen soll? Und was ist, wenn der Alte doch seine Hunde loshetzt, dann kommen die über kurz oder lang auf mich, den Callboy Hagen. Und was finden sie raus? Dass mir eigentlich nichts in meinem Leben gehört. Alles, was ich habe, wurde mir finanziert, ich zahle nicht einmal meine Miete oder die Leasingraten für den Porsche selber.
Hagen konnte sich schon in einer von diesen Verhörzellen sehen, du weißt schon, ein großer Raum, Halbdunkel, zwei Kerle oder ein Mann und eine Frau sitzen ihm an einem langen dunklen Tisch gegenüber. Die Stirnseite des braunen Raumes besteht auf halber Höhe aus einem dunkel getönten Einwegspiegel. Dahinter stecken zwei oder drei weitere Verhörprofis, vielleicht auch noch ein Polizeipsychologe oder ein Profiler, und die geben den beiden Greifern im Raum über kleine Mikros, die diese im Ohr haben, die Fragen durch.
»Seit wann kennen Sie Heide Sielmann, Herr … oh, wie spreche ich Sie denn eigentlich korrekt an? Das verwirrt mich jetzt aber ziemlich.«
Und er, schon sehr verunsichert, denn man hatte ihn zwei oder drei Stunden allein gelassen in dem Raum, in dem nur das monotone, leise Surren der langen, dünnen Neonlampe an der Decke zu hören war: »Wie bitte?«
»Na, Ihr Name. Sie heißen doch, warten Sie mal, dass ich das jetzt nicht verkehrt ausspreche …« Der Kerl, der ihm gegenübersitzt, runzelt die Stirn und blättert in einer telefonbuchdicken Akte, die er bei seinem Eintreten so vorsichtig auf den Tisch legte, als wäre der dicke Packen Papier aus feinstem Glas, das bei einer heftigen Berührung in tausend kleine Scherben zerspringen würde. »Ah ja, hier habe ich es … Sie heißen Santo Moro, geboren am 27. Februar 1979 in … Xàbia … Habe ich das richtig ausgesprochen, mit ›X‹ wie bei Xanthippe, der Ehefrau des Sokrates, nein, oder? Wie spricht man das denn aus, Herr Moro?«
Und ohne zu überlegen, sagt er: »Man spricht es ›Chàvea‹ aus, mit weichem ›Ch‹, und der kleine Ort liegt in einer Bucht in der Nähe von Benidorm.«
Sein Gegenüber lächelt erfreut. »Ach ja? Ich war vor vielen Jahren mit meinen Eltern mal in Benidorm, das war wunderschön. Ist Benidorm immer noch so beliebt als Urlaubsort?«
»Ja, nur kommen seit den neunziger Jahren viele Engländer dorthin, die sind laut und trinkfreudig, habe ich gehört.«
Jetzt mischt sich der zweite Verhörprofi ein. Nehmen wir mal an, es ist eine Frau. Sie beugt sich interessiert etwas vor und sagt: »Verwechseln Sie das jetzt nicht mit Argentinien, Herr Moro? Oder sollen wir Sie lieber Herr di Uiburu nennen? Wo haben Sie übrigens den argentinischen Pass her? Der ist sehr gut gemacht, aber nichtsdestotrotz falsch.«
Und bevor er sich eine Antwort überlegen kann, kommt schon der nächste Hammer. »Ihr Fitnessstudio wirft so gut wie keinen Gewinn ab, womit finanzieren Sie eigentlich Ihren aufwendigen Lebensstil? Ich meine, wer zahlt die Leasingraten für Ihren Porsche? Und die Miete für Ihr Penthouse und das Studio? Alle Geräte im Studio sind geleast, das kostet doch sicherlich …« Sie schaut ihren Kollegen fragend an. »Was, meinst du, kann so was pro Monat kosten? Ein Dutzend Hightech-Geräte, die riesigen Plasmafernseher an den Wänden und der ganze übrige Kram? Ich kenn mich mit so was überhaupt nicht aus. Weil ich mir die Mitgliedschaft in so einem exklusiven Laden wahrscheinlich auch nicht leisten kann.«
Der Kollege würde seine Stirn in Falten legen, sich mit dem Kuli an seine untere Zahnreihe klopfen und grübelnd zur Neonleuchte hochstarren. Dann würde er den Blick langsam zu Hagen runtergleiten lassen und mit seiner sanften, weichen Stimme freundlich lächelnd sagen: »Ich habe keine Ahnung, aber Sie, Herr Moro-di-Uiburu, Sie wissen das doch ganz genau, oder nicht?«
Dann würde er mit dem Kuli auf ihn zeigen und den Fangschuss abfeuern. »Wo ist Heide Sielmann?«
Genau so würden sie ihn in die Enge treiben. Diese Vorgehensweise hatte er in dieser Netflix-Serie gesehen, du weißt schon, welche ich meine, wie heißt sie noch gleich? »Criminal«? Genau. Die gesamte Serie spielt in einem Verhörraum, erinnerst du dich? Ein phantastisch gemachtes Kammerspiel im Halbdunkeln, und am Schluss siegen immer die Verhörprofis.