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Willkommen in der Lakritzmanufaktur »Süße Liebe« am Chiemsee!
Mit klopfendem Herzen fährt die Berlinerin Nelly an den Chiemsee, um ihrer verstorbenen Mutter einen letzten Wunsch zu erfüllen: Nelly soll endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie zum ersten Mal dessen kleine Lakritz-Manufaktur betritt, ist sie ganz verzaubert von den Aromen der schwarzen Leckerei – Jasmin-Lakritz, Brause-Lakritz-Bonbons, Lakritz-Toffees – und prompt wird sie für die neue Aushilfe gehalten. Überrumpelt fügt sich Nelly in ihre Rolle. Doch als sie den attraktiven Segellehrer Quirin kennenlernt, bei dem ihr Herz wie wild zu flattern beginnt, fällt es ihr immer schwerer, ihre Tarnung aufrechtzuerhalten …
Eine romantische Liebesgeschichte vor traumhafter Urlaubskulisse – ein Buch wie ein wunderschöner Sommertag.
Noch mehr Sommer- und Inselfeeling erleben Sie in Franziska Blums Roman »Chiemseeträume«.
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Seitenzahl: 373
Franziska Blum, geboren 1978, lebt am schönen Chiemsee im Süden Bayerns. Dort betreut sie zwei Kinder, zwei Katzen und ein gering motorisiertes Auto namens Wanderdüne, das zwar alt ist, aber dafür eine Sonne auf der Motorhaube trägt. Nach einigen sehr erfolgreichen Küsten-Romanen, die sie unter dem Pseudonym Lotte Römer veröffentlichte, wollte sie sich als Autorin nun endlich einmal ihrer Heimatregion zuwenden – denn ihre Liebe gilt seit langem schon der herrlichen Landschaft rund um den Chiemsee, in dem sich die Berge spiegeln.
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FRANZISKA BLUM
CHIEMSEE-SOMMER
ROMAN
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Copyright © 2022 by Franziska Blum
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Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb
Redaktion: Susann Rehlein
Covergestaltung: bürosüd
Coverabbildungen: mauritius images/STOCK4B/ Sandra Ramírez de Wulff/www.buerosued.de
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-27487-0V002
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Das Wasser glitzerte wie tausend Diamanten. Nelly saß am See und schaute hinüber in Richtung Herreninsel, hin zu dem imposanten Königsschloss. Das Ufer des Chiemsees bildete hier eine kleine Landzunge mit Bänken, einem Spielplatz und ganz vorne an der Spitze einem Pavillon. Nelly hatte es sich auf dem feinen Kies vorn beim Wasser gemütlich gemacht, während der Himmel sich langsam orange färbte. Es war wunderschön hier.
»Luftkurort« hatte es in einer der Infobroschüren in ihrem kleinen Pensionszimmer geheißen. Nelly nahm einen tiefen Atemzug und versuchte herauszufinden, ob es sich irgendwie anders atmete als in der Hauptstadt. Zu Hause in Berlin war die Luft voller Gerüche: die Currywurstbude gegenüber mit Bratfett und Knoblauch, Mareikes Roller mit seiner schwarzen Abgaswolke und, wenn Herr Hilger von gegenüber mal wieder auf dem Balkon sein Pfeifchen rauchte, der Tabakgeruch, der so intensiv war, dass er bis zu ihr herüberdrang und sich durch das gekippte Fenster hereinschlich. Das schwere Parfüm der Nachbarin von nebenan, das Nelly die Nase rümpfen ließ, weil es so gar nicht ihren Geschmack traf. Und im Winter Rauch, wie er beim Verheizen von Briketts entsteht. Sie hätte ewig weiter aufzählen können.
Hier am Chiemsee fühlte sich die Luft klar an, irgendwie rein. Nelly versuchte, den See zu riechen, ihre Nase erschnupperte den Duft von frischem Gras, feuchten Kieselsteinen, den frischen Geruch nach Algen und Feuchtigkeit. Sie schaute auf. Ein markanter Gebirgszug säumte das südliche Seeufer. Das Kreuz auf dem höchsten Gipfel wirkte selbst von hier aus imposant. Nelly fragte sich, wie der Berg wohl hieß. Nicht dass sie hinaufwollte, nein, das auf keinen Fall. Allein der Gedanke! Wenn sie eins nicht war, dann eine Sportskanone. Außer man zählte tanzen und feiern gehen zu den sportlichen Aktivitäten.
Der schroffe Gipfel sah nur eben besonders aus, so als sollte man seinen Namen kennen.
Nelly wusste kaum etwas über die Gegend. Sie war einfach losgefahren, mit ein paar Klamotten im Rucksack und einer Visitenkarte in der Hosentasche.
Sie dachte an die goldenen Buchstaben, die geschwungene Schrift, die goldenen Ranken, die wie ein Rahmen um den Namen des Geschäfts angeordnet waren. Sie tastete nach ihrer Hosentasche. Es war wie ein Zwang, dass sie sich immer wieder vergewissern musste, dass die Karte noch an Ort und Stelle war.
Ob das Wasser wohl warm genug war, um mit den Füßen darin zu baden? Sie zog ihre Socken und die Glitzerballerinas aus. Mit einer vorsichtigen Bewegung berührte sie mit ihrem großen Zeh die Wasseroberfläche. Eine kleine Welle schwappte über Nellys Fußrücken, und sie hielt eine Sekunde den Atem an, spürte in ihren Fuß. Nein, es war nicht wirklich kalt, fand sie und steckte auch den zweiten Fuß in das Wasser. Die Erfrischung tat ihr gut nach der stundenlangen Zugfahrt.
Sie fragte sich noch immer, ob sie überhaupt zu dem Laden gehen sollte oder ob sie besser einen Rückzieher machte und einfach zwei, drei schöne Tage hier verlebte. Denn egal, wie es weiterging, immerhin war sie der Stadt entkommen, in der alles sie schmerzlich an die Mutter erinnerte.
Ein Hund stand plötzlich neben ihr, ein zotteliger, brauner Wildfang. Sie wandte sich um und sah am anderen Ende der Leine einen Mann. Er nahm dem Tier die Leine ab, und der Vierbeiner wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Nelly beobachtete, wie der Mann einen Stein aufhob und in hohem Bogen ins Wasser warf. Der Hund sprang ohne Rücksicht auf Verluste in die Fluten, bis zu der Stelle, wo der Stein auf die Wasseroberfläche getroffen war. Immer wieder wiederholte sich das Schauspiel. Der Hund schwamm zurück, der Mann warf einen Stein, der Hund stürzte sich hinterher.
Als die beiden weiterspazierten, wandte Nelly ihre Aufmerksamkeit wieder dem See zu, wo sich gerade ein großer, altmodisch anmutender Schaufelraddampfer näherte. Ludwig Fessler stand an der Seite über dem Rad. Das Platschen der Schaufelräder übertönte das leise Geplätscher des Wassers. Die Menschen an Deck genossen sichtlich die Abendstimmung. Der Dampfer war jetzt so nah am Ufer, dass Nelly sich überrascht umsah. Erst jetzt wurde sie sich gewahr, dass sich der Anlegeplatz des Schiffes gleich hinter der Landzunge befand. Gespannt schaute sie zu, wie der Dampfer seine Fahrt schließlich verlangsamte und dann routiniert einparkte. Sagte man einparken? Bestimmt nicht, aber woher sollte Nelly als Großstadtpflanze wissen, wie es richtig hieß?
Sie holte erneut tief Luft und dachte an zu Hause. Vielleicht war es nichts als ein gigantischer Fehler gewesen hierherzukommen. Auf der anderen Seite: Was hatte sie denn noch zu verlieren?
Möglicherweise hatte Ingrid schon recht gehabt, sie sozusagen in die Welt hinauszuschubsen, ins große Unbekannte.
»Fahr deinen Vater kennenlernen, vielleicht bekommst du ein paar Antworten, hm? Sperr die Wohnungstür zu, und wenn du wiederkommst, kümmerst du dich um alles. Ich nehme Alfred mit zu mir und erzähl ihm, was passiert ist.«
Alfred war der Kaktus von Nellys Mutter und hatte einen Namen, weil Topfpflanzen angeblich besser wuchsen, wenn man sie regelmäßig ansprach. Zu finden, dass ein Kaktus aussähe wie ein typischer Alfred, war typisch für ihre Mutter Ruth gewesen. Ihre Fantasie hatte keine Grenzen gekannt. Sie war ein eigensinniger Mensch gewesen. Und dennoch hatte Nelly in ihr die stärkste Verbündete gehabt, egal, wie Nelly ihr Leben lebte: Ruth war stolz auf sie.
Nelly dachte an ihren Job in der Cocktailbar, an ihre seltsame Beziehung mit Marlon, die vielleicht gar keine war, ans Feierngehen, ihren lockeren Lebensstil. Viel zum Stolzsein hatte es da nicht gegeben. Aber dennoch brannte Ruth für ihr Kind, kam in die Cocktailbar und erzählte dem Kerl auf dem Hocker neben sich, dass ihre Tochter den weltbesten Sex on the Beach mixte. Oder sie kam sogar mit in den Club, um einen Abend lang mit Nelly zu tanzen, einfach um den Reiz, den das Nachtleben auf ihre Tochter ausübte, zu verstehen. So war es immer gewesen: Nelly entschied sich gegen ein Studium und brach ihre Ausbildung ab, Ruth schenke ihr ein Fahrrad und ein Buch über Weltreisen. Ruth sorgte dafür, dass Nelly immer das Gefühl hatte, Teil eines Zweierteams zu sein. Ruth und Nelly gegen den Rest der Welt. Gerade weil es nur sie beide gab in ihrer Familie, waren sie so sehr miteinander verwachsen.
Gewesen, fügte Nelly in Gedanken noch hinzu. Da war er sofort wieder, der raue Schmerz, wie ein Stein in ihrem Magen. Tiefe Einsamkeit und dann die Angst, die von dieser Einsamkeit heraufbeschworen wurde. Angst wovor eigentlich?
Nelly zog ihre kalt gewordenen Füße aus dem Wasser und umschlang ihre Beine mit den Armen. Das Licht wurde blasser und würde bald fahlem Abendlicht weichen. Sie legte ihren Kopf auf die Knie. Der See wurde immer ruhiger, man konnte schon erahnen, dass das Wasser bald wie ein Spiegel daliegen würde. Kein Wunder, dass hier so viele Erholungssuchende Urlaub machten. Die Stimmung, die der See vermittelte, war friedlich.
Heute war Freitag. Der Tag, an dem sie normalerweise tanzen ging. Aber Mareike war zu Giuseppe nach Italien gezogen, weil der in Bibione die Pizzeria seiner Eltern übernommen hatte, und Marlon war eben Marlon. Keine Ahnung, ob er da wäre, um mit ihr auszugehen. Trinken, feiern, ekstatisch tanzen. Es kam ihr gerade abwegig vor, zu lauter Musik herumzuhüpfen und Tequilashots zu trinken. Schon gar nicht nach ihrer letzten Nacht im Club, als Kevin, der Türsteher, sie von der Tanzfläche geholt hatte, um ihr zu sagen, dass sie zurück ins Krankenhaus musste, weil es ihrer Mutter schlechter ging.
Mitten in der Nacht war sie zurück ins Krankenhaus gefahren, und das nur, damit die Mutter sie gleich noch mal losschickte, um einen Steuerordner zu holen. Nelly löste die Arme von den Knien, reckte sich und holte die Visitenkarte aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. Die Erinnerung daran, wie sie dazu gekommen war, war fast schon zu klar. Sie konnte bis heute nicht fassen, dass sie wegen dieses winzigen Stücks Karton den Tod ihrer Mutter verpasst hatte. Warum hatte Ruth nicht stattdessen mit ihr gesprochen? Sie hätte ihr ja einfach sagen können, dass sich in ihrer Wohnung, im Steuerordner, diese Karte befand. Aber nein! Weggeschickt hatte sie ihre Tochter, um »die Unterlagen zu holen«. Sie hätte etwas mit ihr zu besprechen, hatte sie gesagt. Und Nelly war gegangen, nicht wissend, dass das die letzten Worte waren, die sie mit ihrer Mutter wechselte. Unwirsch wischte Nelly sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dennoch verschwammen die Buchstaben auf der Karte zu einem unleserlichen Durcheinander, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem ihre Mutter gestorben war.
Sie hatte sich so beeilt, um schnell zurück ins Krankenhaus zu kommen. Ein Taxi zur Wohnung der Mutter, die ihren Bürokram zum Glück gut geordnet in einem Schrank aufbewahrte, der Griff nach dem Steuerordner, der überraschend schwer war, und schon war Nelly wieder auf dem Rückweg zu Ruth gewesen. Ohnehin hielt sie sich ungern in der Wohnung auf, die wieder ihre gemeinsame geworden war, seit die Mutter so krank war.
Nelly, längst ausgezogen, war zurückgekommen, als die Mutter an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Keine Heilung möglich. Die Erkrankung war ein Todesurteil. Nelly hatte ihr gemeinsames Zuhause immer geliebt. Die Räume waren randvoll bepackt gewesen mit Erinnerungen an glückliche Tage. Vielleicht war es deshalb so schlimm, dass die Mutter an diesem Ort so schwer krank gewesen war. Die Krankheit schien all das Lichte, Helle, das Nelly mit diesem Ort verband, zu verdunkeln.
Dann, im Krankenhaus, war Nelly routiniert den Weg zum Zimmer der Mutter geeilt. Der Fahrstuhl, der lange Gang, die kühle Türklinke, die sie möglichst leise hinunterdrückte, um die Mutter nicht zu wecken.
Am Bett von Ruth saß Ingrid, wie so oft, wenn Nelly wegmusste. Ingrid war ein Wunder und Ruths beste Freundin. Sie war deshalb ein Wunder, weil sie einfach da war, wenn andere sich längst verzogen hatten. Sie aber blieb. Die beiden Frauen, Ruth und Ingrid, verband seit der Schulzeit eine Freundschaft, und für Ingrid war es selbstverständlich, in diesen schweren Zeiten da zu sein. Jetzt war sie es noch immer, nur inzwischen für Nelly statt für Ruth.
Das Bild, das sich Nelly bot, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, war ihr vertraut und trotzdem nicht weniger verstörend als beim ersten Mal, als sie es erblickt hatte. Da lag die Mutter mit geschlossenen Augen und verschwand fast in dem riesigen Bett. Ihre Mutter, die immer ein Energiebündel gewesen war. Ingrid hatte die Augen ebenfalls zu und hielt die Hand der Mutter. Aber sie schaute nicht wie sonst auf, als Nelly hereinkam. Sie reagierte gar nicht. War sie etwa eingeschlafen?
Nelly war einen weiteren Schritt in den Raum getreten. Es war still, ganz still. Und in diesem Augenblick wurde ihr mit einem Schlag klar, was passiert war. Die Tasche mit dem Ordner fiel polternd zu Boden. Das laute Geräusch hallte von den Wänden wider. Ingrid hob den Blick, ganz langsam, als würde sie aufwachen. In Zeitlupe schüttelte sie den Kopf. Dann löste sie ihre Hand aus Ruths, erhob sich vom Rand des Bettes und breitete die Arme aus. Mit einem lauten Schluchzer ließ Nelly sich in die dargebotene Umarmung fallen. Ihre Mutter war gestorben. Die Einsamkeit, die sie verspürte, war so übermächtig, dass sie Nelly den Atem nahm. Wäre da nicht Ingrid gewesen, die sie auffing, im wahrsten Sinne des Wortes, sie hätte sich vermutlich auf dem Boden zusammengerollt. Sie spürte die Hand von Ingrid an ihrem Hinterkopf, die sie an sich drückte.
»Pscht, pscht«, machte Ingrid, als versuche sie, ein Kind zu trösten, das sich das Knie aufgeschürft hatte. Komischerweise und seltsamerweise tat es gut, von Ingrid so gewiegt zu werden und klein sein zu dürfen. Dennoch traf Nelly der Verlust, so erwartet er kam, noch viel härter, als sie geglaubt hatte.
Ihre Mutter sah so friedlich aus. Da waren keine Schmerzen mehr, und man sah es. Ihr Gesicht, an dem man in letzter Zeit ablesen konnte, wie sie mehr und mehr litt, hatte sich entspannt. Ruth sah fast zufrieden aus. So, als hätte sie etwas geschafft.
Sie hätte alles dafür gegeben, ihre Mutter bei deren letzten Atemzügen zu begleiten. Stattdessen war sie wegen eines verdammten Ordners durch halb Berlin gefahren. Sie löste sich aus der Umarmung und trat gegen die Stofftasche, aus der eine Ecke der stabilen Kartonage schaute. Der Schmerz im Fuß tat Nelly gut.
»Warum wollte sie das, hm? Wofür braucht eine Sterbende noch eine Steuererklärung?« Sie schrie. Es tat ihr gut, ihren Schmerz laut rauszuschreien. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie wischte sie nicht weg.
Sie wollte auf die Mappe springen, wollte jedes Dokument darin in kleinste Stücke reißen, wollte die Zeit zurückdrehen, wollte diesen Schmerz nicht fühlen, der sie gerade zu übermannen drohte, wollte, wollte, wollte … Aber nichts davon hatte Sinn oder war möglich, und so sah sie hilflos zu, wie Ingrid den Ordner aufhob und sacht auf die Bettdecke legte.
»Warum hast du mich weggeschickt? Ich wollte so gern für dich da sein.« Nelly weinte noch immer, als sie sich auf die Bettkante setzte. Die Hand ihrer Mutter war nicht wirklich kalt. Wie seltsam, dass der Tod, auch wenn man mit ihm rechnen musste, dennoch immer unerwartet und zu früh kam.
Ingrid hatte begonnen, in dem Ordner zu blättern. Mittlerweile war sie ganz hinten angekommen. Sie zog zwei Blätter Papier heraus, und eine kleine Visitenkarte fiel direkt vor Nellys Füße.
»Da haben wir sie ja!« Ingrid wollte sich bücken, aber Nelly war schneller. Durch einen Tränenschleier sah sie bunte Murmeln, die einen noblen Schriftzug in der Mitte umrahmten. Süße Liebe stand da. Darunter in kleineren Buchstaben: Die Bärendreckmanufaktur.
»Ich war nicht beim Tod meiner Mutter dabei, weil sie eine Visitenkarte haben wollte? Warum?« Nelly starrte auf die Karte. Bärendreck. Was war das noch gleich?
»Diese Lakritzfabrik«, begann Ingrid ihren Satz.
»Lakritze, natürlich!«, fiel Nelly ihr ins Wort. Lakritze war schon seit Jahren Nellys Leidenschaft. Sie ging immer wieder gern zu dem kleinen Laden in Kreuzberg, der sich auf diese besonderen Süßigkeiten spezialisiert hatte.
»Entschuldige, ich hab dich unterbrochen.« Der Gedanke an Süßigkeiten, an das wahre Leben, an etwas ganz Belangloses hatte sie für einen kurzen Moment tatsächlich so weit abgelenkt, dass sie aufgehört hatte zu weinen.
Nelly drehte die Karte um. Eine Adresse, mehr stand da nicht, nicht einmal Öffnungszeiten, gar nichts. Und die Adresse sagte Nelly nichts. Sie hielt Ingrid die Karte hin. »Hier. Leg sie wieder rein.«
Was hatte Ruth sich nur dabei gedacht, sie loszuschicken? Hatte sie nicht gewollt, dass die Tochter bei ihrem Tod dabei war? Nelly spürte, dass neue Tränen sich ihren Weg bahnen wollten.
»Die ist für dich.« Ingrid hatte die Visitenkarte nicht zurückgenommen. Stattdessen schloss sie Nellys Finger fester um das kleine Stück Karton.
»Deine Mutter meinte, du sollst nicht allein sein.«
Nelly verstand gar nichts mehr. Meinte. Vergangenheit. Ab sofort würde sie von ihrer Mama in der Vergangenheit sprechen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Sie fand, du brauchst eine Familie.« Ingrids Ton war zugleich behutsam und bestimmt.
»Und deshalb soll ich mehr Lakritze essen?«, fragte Nelly.
»Nein.« Ingrid hatte sanft gelächelt, obwohl man auch ihr die Traurigkeit und die Erschöpfung ansah. »Deshalb sollst du endlich deinen Vater kennenlernen.«
Die Erinnerung an den Tod der Mutter war noch viel zu frisch. Nelly starrte auf die Visitenkarte, starrte auf die Adresse und besonders auf den Namen, der in goldenen Buchstaben darauf stand. Anton Rieger, mit einem geschwungenen R. Ihr Vater.
Das zu verdauen, war Nelly bis jetzt nicht gelungen. Die Entscheidung, nach Bayern zu kommen, war mehr wegen Ruth als wegen ihr selbst gefallen. Ruth, die nie gewollt hatte, dass Nelly ihren Vater kannte, die ihn totgeschwiegen hatte, hatte es sich am Ende ihres Lebens, als der Krebs sie schon fast dahingerafft hatte, anders überlegt, und das musste doch einen guten Grund haben.
Deshalb saß Nelly jetzt hier, in Bayern, wo die Leute so fröhlich und rücksichtslos Dialekt sprachen, dass Nelly weder den Schaffner im Zug noch die Pensionswirtin auf Anhieb verstanden hatte.
Sie fröstelte und zog ihre Jeansjacke über, die neben ihr gelegen hatte. Es war eine extravagante Jacke mit der Applikation eines glitzernden Einhorns, das eine Freundin aus Kreuzberg, die ein eigenes kleines Modelabel hatte, eigens für Nelly kreiert hatte. Rosa, Pailletten und Glitzer waren einfach ihr Ding.
Als sie sich aufrichtete und schließlich aufstand, um zurückzugehen, tat ihr vom krummen Sitzen der Rücken weh. Sie hatte auf dem Weg hierher einen Italiener gesehen und wie immer sofort an Mareike gedacht. Außerdem hatte sie tatsächlich ein klein wenig Hunger, also beschloss sie, sich eine Pizza mitzunehmen. Sie mochte es nicht, allein in einem Restaurant zu sitzen, aber auf einer Bank irgendwo, mit einer Pizzaschachtel, das ging super, und man wurde weniger angestarrt, als wenn man allein einen Tisch in einem Restaurant belegte.
Eine halbe Stunde später spazierte Nelly mit einer Pizzaschachtel zurück ans Chiemseeufer. Die kleine Pizzeria war nur durch ein Hotel und die Straße von der Promenade mit der Dampferanlegestelle und der Haltestelle einer kleinen Bimmelbahn getrennt, die wohl hinauf ins Ortszentrum fuhr. Die Gleise des Bähnchens durchschnitten einfach die Straße, wie Nelly überrascht feststellte. An einer Pension und einem größeren Restaurant mit Seeblick vorbei kam sie wieder zurück zum See und klappte auf einer Bank die Pizzaschachtel auf. Ananas, Oliven, Parmesan und als Krönung Auberginen. Es war eine auf den ersten Blick eigenwillige Kombination, aber Nelly liebte sie. Die Würze der Oliven und des Parmesans, gepaart mit den Auberginen, die in Olivenöl vorgebraten wurden und eine feine Knoblauchnote verströmten, passten wunderbar zu der Ananas und dem milchigen Mozzarella. Sie biss schon in das dritte Stück und stellte überrascht fest, dass sie zumindest für den Moment ihren Appetit wiedergewonnen zu haben schien. Vielleicht war das tatsächlich die Luftveränderung.
Ein kleiner Junge jagte am Seeufer kreischend einer Ente hinterher, die flatternd hinaus aufs Wasser floh und von dort einen empörten Blick zurück in Richtung ihres Verfolgers warf. Nelly schaute sich nach seinen Eltern um. Sie fand es nicht richtig, dass er das Tier aufgeschreckt hatte.
»Darf ich?« Eine große Gestalt, die wie sie selbst eine Pizzaschachtel dabeihatte, stand im letzten Abendlicht vor Nelly. Es war mittlerweile so dämmrig, dass sie die Gesichtszüge des Mannes mit der weichen Stimme gar nicht sehen konnte.
»Natürlich.« Es war schließlich eine öffentliche Bank, da konnte sie dem Fremden wohl kaum verbieten, sich zu setzen, auch wenn sie lieber allein geblieben wäre. Nelly biss undamenhaft ein riesiges Stück Pizza ab.
»Danke. Ist viel schöner hier draußen als im Roma, oder?« Seine Schachtel war tatsächlich von der gleichen Pizzeria wie ihre eigene.
Nelly hatte den Mund voll und zuckte nur mit den Schultern. Sie war kein bisschen begeistert über die Gesellschaft dieses Mannes und die Aussicht, womöglich Small Talk machen zu müssen.
»Ich bin so gern hier draußen am Wasser, das ist der beste Platz überhaupt. Besser ist es nur noch auf dem Wasser.« Der Mann klappte seine Schachtel auf. Nelly sah ein Ei, Artischocken und Kapern. Interessante Kombination, befand sie und nahm sich vor, beim nächsten Mal seine Mischung zu bestellen. Vielleicht noch mit frischen Zwiebeln oder Anchovis.
Der Mann nahm einen ersten Bissen. »Anchovis wären auch super auf der Pizza.« Als ob er Nellys Gedanken erraten hätte! Erstaunt wandte sie sich ihm zu, um ihm einen zweiten Blick zu schenken. Sein Profil war durchaus markant. Eine gerade Nase, blonde, fast schulterlange Haare, um die Augen herum kleine Lachfältchen. Er sah zerzaust aus und als würde er sich viel im Freien aufhalten. Sie musste zugeben, dass sie den Kerl gar nicht so unsympathisch fand. Er biss wieder in das Pizzastück in seiner Hand.
»Ich liebe Pizza einfach, vor allem im Sommer. Und du?«
Nelly zuckte mit den Schultern. »Ja, passt schon.« Sie hätte von Mareike erzählen können, von ihrem Freund Giuseppe, von nächtelangen Pizzagelagen und ihrer Mutter, die die Weingläser immer wieder neu befüllte und so gar nicht auffiel unter den Freunden, sondern eine von ihnen zu sein schien. Sie hätte von der süßen Nutellapizza, Giuseppes Spezialität, erzählen können und von dem kleinen tragbaren Pizzaofen, den er angeschleppt und auf ihrem Balkon aufgebaut hatte. Aber stattdessen nahm sie mit spitzen Fingern eine Olive von ihrer Pizza und steckte sie sich in den Mund. Vermutlich war keine Pizza der Welt so gut wie die von Giuseppe, kein Wein so lecker wie der aus den Gläsern, die ihre Mutter befüllt hatte. Wie viel sie gelacht hatten! Über Albernheiten, belanglose Dinge, dumme, wirklich dumme Witze.
»Wie würdest du ein Pferd nennen?«
»Draulik. Dann könnte ich immer rufen: Hü, Draulik!«
Oder:
Wie macht die Schnecke, wenn sie auf der Schildkröte reitet? Huiii!
Solche Witze. Sie alle hatten sie geradezu grandios komisch gefunden. Sogar Giuseppe, der noch nicht so gut Deutsch sprach, fand den Pferdewitz so witzig, dass sein Pizzabauch nur so wackelte.
Jetzt gerade konnte Nelly bei der Erinnerung an Ruths lautes und ein bisschen dreckiges Lachen nicht einmal lächeln, so sehr schmerzte sie der Verlust ihrer Mutter. Das hier war ein Fehler gewesen. Vermutlich hätte Nelly gar nicht herkommen sollen. Andererseits: Wohin sollte sie vor ihrer Trauer fliehen? Es gab vermutlich keinen Ort der Welt, der Nelly nicht an Ruth erinnern würde.
»Du bist nicht gesprächig, oder? Soll ich dich in Ruhe lassen?«
Nelly wusste es selbst nicht genau. »Hm.« Statt zu antworten, stopfte sie sich ein riesiges Stück Pizza in den Mund und kaute energisch, auch wenn ihr der Appetit vergangen war. Zu fest hatte die Trauer sie in ihren Klauen. Sie schaute über das jetzt ruhig daliegende, fast schwarze Wasser des Sees hinüber zu den Bergen. An sich war der Mann ja nicht unsympathisch, er redete mit ihr – das war schließlich kein Fehler. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie momentan keine gute Gesellschaft war. Nellys Blick wanderte hinüber zu der Bergkette am Südufer, die sich rötlich im schwindenden Licht zeigte.
»Wie heißt der?« Sie deutete auf das eindrucksvolle Felsmassiv, das ihr schon vorhin aufgefallen war.
Der fremde Mann schaute sie verwundert an. Seine linke Wange war ganz ausgebeult von der Pizza. Er kaute und schluckte, bevor er antworten konnte.
»Du meinst jetzt aber nicht die Kampenwand, oder?«, fragte er ungläubig.
»Ich mein den mit dem großen Kreuz.«
»Die Kampenwand«, bestätigte der Typ und schüttelte ungläubig den Kopf. »Also, dass ich mal erlebe, dass jemand die Kampenwand nicht kennt.«
Nelly spürte, wie sie ärgerlich wurde. Sie konnte schließlich nicht alles wissen, und dieser Kerl hier brauchte nun wirklich nicht den Oberlehrer raushängen zu lassen.
»Das ist unser Hausberg«, sagte er. »Und da siehst du noch die Sonnwendwand. Das davor, der kleinere Gipfel, ist die Gedererwand, da war ich als Sechsjähriger zum ersten Mal oben. Das ist ein wildromantischer Berg, ich kenn da einen versteckten Weg hinauf, der …« Er unterbrach sich selbst und setzte wieder neu an. »Auf die Kampenwand fährt auch eine Bahn übrigens. Also, dass du die nicht kanntest …« Als ob er ihr ohnehin nicht zutrauen würde, einen Berg zu besteigen.
»Meine Güte. Entschuldige, dass ich mich hier nicht auskenne.« Nelly hörte selbst, wie bockig sie klang. Aber sie hasste Überheblichkeit. Was wollte dieser Mann überhaupt von ihr? Warum saß er neben ihr?
Der Mann sagte nichts mehr, schaute sie nur überrascht an.
Nelly klappte entschlossen ihre Pizzaschachtel zu. Sie hatte eh keine Lust mehr auf Essen und schon gar keine Lust darauf, hier mit diesem Unbekannten zu sitzen. Sie holte tief Luft und stand auf.
»Wie auch immer. Nicht jeder interessiert sich für Berge, oder?« Sie versuchte es gar nicht mit einem freundlichen Lächeln. Warum auch?
»Nein. Ich …« Der Mann sah verwundert zu ihr hoch. Er wollte noch etwas sagen, aber Nelly war nicht bereit, ihm weiter zuzuhören.
»Schönen Abend noch«, unterbrach sie ihn deshalb einfach. Dann machte sie auf dem nicht vorhandenen Absatz ihrer Glitzerballerinas kehrt und ging die Seepromenade entlang davon. Was für ein Unsympath!
Mit Schwung warf sie den Rest der Pizza in einen Mülleimer. Dieser Mann würde sich in Berlin sicher genauso wenig auskennen wie sie sich hier. Trotzig schob sie ihre Unterlippe nach vorne. Sie hatte ja schon geahnt, dass sie sich hier auf dem Land kein bisschen wohlfühlen würde. Mareike hatte sie ausgelacht, als sie gehört hatte, wo Nelly hinfuhr. Und Marlon – na, der hatte nur mit den Schultern gezuckt, ganz wie erwartet. Schnell schob Nelly den Gedanken an Marlon beiseite.
Sie würde zurück zu der kleinen Frühstückspension laufen, sich einen Film anschauen, um nicht nachdenken zu müssen, denn wenn sie nachdachte, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich und schmerzlich um ihre Mutter. Dann würde sie früh schlafen gehen. Schließlich hatte sie morgen eine ganze Menge vor.
Sie schaute hinüber zur Kampenwand, ließ ihren Blick über das Massiv schweifen, das sich im abendlichen Zwielicht dunkel gegen den Himmel abzeichnete. An sich konnte sie sich sehr wohl vorstellen, den eindrucksvollen Gipfel zu erklimmen – und zwar ohne Bahn. Sie warf einen Blick zurück zu der Bank, auf der noch immer der fremde Mann saß, und schnaubte verächtlich. An der Stelle des Seeufers, an der sie gerade vorbeikam, plätscherten die Wellen gegen Tretboote, die als bunte Farbkleckse auf dem Wasser lagen. Eine Schwanenfamilie schwamm ein kleines Stück weiter draußen vorbei. Die Anmut der Tiere hatte Nelly von jeher fasziniert. Auch dass die Jungtiere zunächst grau waren und dann erst später majestätisch-weiß erstrahlten. Ein Mann in Lederhose durchquerte ihr Sichtfeld und verdeckte für einen Moment die weißen Grazien und ihren Nachwuchs.
Lederhose! Trug man so was hier tatsächlich im Alltag? Nelly musste fast grinsen, so exotisch wirkte der Anblick auf sie, wie aus einem Film. Warum nur hatte ihre Mutter unbedingt gewollt, dass sie hierherkam, wo sie schon auf den allerersten Blick nicht hinpasste, und wenn alles noch so hübsch anzuschauen war?
Nelly nahm sich vor, ihren Vater aufzusuchen und dann so schnell wie möglich nach Hause zu fahren. Doch als sie auf dem Rückweg darüber nachdachte, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie Berlin ohne ihre Mutter noch immer als Zuhause empfinden würde.
Die Pensionswirtin war viel zu jung. Nelly hatte sich so ein dickes Original im Schürzenkleid vorgestellt, aber ihre Klischeevorstellung hatte sich nicht bewahrheitet, als sie gestern in der Pension angekommen war. Dunkle, kurze Haare, drei kleine Kinder und einen Mann, den Nelly jedoch noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Allerdings hingen Familienfotos im Flur, die einen stattlichen Kerl in Lederhose zeigten, der links und rechts jeweils eines der Kinder auf der Hüfte trug und sehr fröhlich wirkte.
Als Nelly zum Frühstück aus ihrem Zimmer kam, war sie überrascht, im Wohnzimmer einen kleinen Tisch gedeckt vorzufinden. Irgendwie hatte sie sich eine Art Frühstücksraum erwartet, aber offenbar gab es dergleichen hier nicht.
Jetzt saß Nelly mitten in der Wohnung der Familie mit einem Pott Kaffee, Brezeln und hausgemachter Marmelade, wie Vroni nicht ohne Stolz gesagt hatte. Zwetschge mit Zimt sei ihre Spezialität und auch auf dem Weihnachtsmarkt der örtlichen Waldorfschule der Hit. Nelly hatte gar nicht damit gerechnet, dass man im konservativen Bayern so alternative Schulwege tolerierte, aber anscheinend unterschätzte sie das Traditionsörtchen.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen? Noch ein paar Eier vielleicht?« Vroni stellte einen Teller mit Wurst und Käse vor Nelly ab.
»Danke, ich glaub, wenn ich das gegessen habe, platze ich.« Nelly lächelte. Hinter Vroni tauchte ein kleines Mädchen auf, das Nelly mit einer Zahnlücke angrinste.
»Oh, du hast ja schon einen Milchzahn verloren, oder?«
Die Kleine freute sich über die Aufmerksamkeit und trat noch einen Schritt näher. »Ja-ha«, sagte sie und bleckte die Zähne, damit Nelly die Lücke noch besser sehen konnte.
»Na ja, Lotti. Eigentlich war es ein Rollerunfall, oder?« Vroni strich der Kleinen mit der Hand über den Kopf. »Sie wollte den Gehsteig hoch, hat abrupt gebremst, und zack, lag sie auch schon. Hat fürchterlich geblutet. Und du musstest so weinen, gell, Lotti?« Vronis Hand schnellte erschrocken vor ihren Mund. »Mei, Entschuldigung!«
Erst jetzt rutschten ihr kleine Prisen Dialekt in ihre Worte, gestern hatte Vroni noch akkurat hochdeutsch gesprochen, nachdem sie bemerkt hatte, dass Nelly sie so gar nicht verstand. »Beim Frühstück ist das kein gutes Thema, mit dem Unfall.«
Nelly lachte. »Ich bin nicht empfindlich, keine Sorge.« Sie wandte sich an Lotti. »Aber jetzt tut es nicht mehr weh, oder?«
»Naa, gar net.« Lotti sprach breites Bayerisch. Aus dem Mund eines kleinen Mädchens klang die Sprachfärbung irgendwie ulkig. Das Kind stand jetzt ganz nah am Tisch und schielte ungeniert auf das Nutellaglas.
»Magst du dich zu mir setzen?«, fragte Nelly. »Ich schaff das ganze Essen eh nicht allein. Vielleicht magst du ja ein halbes Brötchen oder so? Also – wenn es deine Mama erlaubt.«
»Ich hätte lieber eine Semmel«, meinte die Kleine und zeigte auf das Brötchen.
Nelly musste lachen. »Ja, das kriegen wir hin.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht in Ruhe frühstücken wollen?«
Nelly nickte. »Ich sitze in Ihrem Wohnzimmer. Sicherer kann ich mir gar nicht sein. Außerdem scheint mir Lotti eine sehr gute Gesellschafterin zu sein. Oder, Lotti? Erzählst du mir was? Mir ist nämlich ein bisschen langweilig.«
Lotti nickte eifrig. Sie hatte sich schon das Brötchen geschnappt und es vor sich auf dem Tisch deponiert. Vroni lachte und gab dem Kind einen Kuss auf die Wange.
»Na, wenn das so ist, dann lass ich euch zwei allein. Aber brav sein, Lotti, gell?«, mahnte die Mutter.
Wieder nickte Lotti, und ihre Mutter ging in Richtung Tür.
»Ihr rührt euch, wenn ihr was braucht, ja?«, verlangte sie noch, dann waren Lotti und Nelly allein.
»Machst du mir Nutella drauf?« Das Mädchen hielt Nelly ihr Brötchen hin. »Aber viel.«
Nelly musste grinsen. »Na klar.«
»Und was machst du hier? Hast du Urlaub?« Lotti schaute Nelly aus großen Augen an. Aus ihrem dicken Zopf hatten sich ein paar Haarsträhnen gelöst und fielen ihr ins Gesicht.
»Nein.« Während sie dick Schokocreme auf die Brötchenhälfte für Lotti schmierte, fragte sie sich, was sie der Kleinen antworten sollte. Wie viel Wahrheit war gut für Kinder in diesem Alter?
»Weißt du, mein Papa wohnt hier, und ich will den besuchen«, sagte sie schließlich und reichte Lotti das Brötchen. Begeistert nahm sie sofort einen großen Bissen.
»Ich hab auch einen Papa«, nuschelte sie mit vollem Mund.
»Sehr schön. Dann haben wir ja was gemeinsam.« Nelly legte eine Scheibe Käse auf ihr Brot und nippte an ihrer Kaffeetasse.
Lotti hatte schon wieder in ihre »Semmel« gebissen, energisch gekaut und runtergeschluckt. Nelly hätte nicht gedacht, dass so große Bissen in ein so kleines Kind passten.
»Mein Papa kann alles, und deiner?« Lotti sprach im Brustton der Überzeugung. Die Schokocreme hatte sich auf ihrer Oberlippe und weit über die Mundwinkel hinaus verteilt.
Nelly dachte nach. Wer war Anton Rieger? Was erwartete sie eigentlich von der Begegnung mit ihm? Er war ein Fremder. Jemand, der eine Lakritzmanufaktur besaß. Sie schaute auf das zufriedene kleine Mädchen, dessen Vater ihr Held war. Nellys Vater – nun, ein Held war er mit Sicherheit nicht. Schließlich hatte er sich nie blicken lassen. Das sagte ja schon viel aus. Was, wenn er rein gar nichts konnte, außer vor Verantwortung zu flüchten? Vielleicht war es besser, sich die Enttäuschung zu ersparen, die ein Kennenlernen zwangsläufig mit sich bringen würde?
Aber sie hatte Ingrid versprochen, ihren Vater kennenzulernen, da kam ein Rückzieher nicht infrage.
»Deine Mutter hat es sich gewünscht, Nelly«, hatte Ingrid sie beschworen, als sie sich voneinander verabschiedeten. Wie hätte Nelly Ruth ihren letzten Wunsch abschlagen können? Außerdem wollte sie Ingrid nicht enttäuschen, war sie doch der einzige Mensch, den Nelly noch hatte. Es gab keine Geschwister, keine Verwandten, bis auf diesen neu aufgetauchten Vater.
Auf Nellys Frage, warum Ruth sich nach all der Zeit eine Begegnung zwischen Vater und Tochter gewünscht hatte, hatte Ingrid allerdings auch keine Antwort gewusst. Ruth war wohl auch ihr gegenüber schweigsam gewesen, wenn es um Nellys Vater ging.
Das Brot schmeckte herrlich. Es war am Rand knusprig und innen weich, eindeutig frisch gebacken, mit Koriander und Fenchelsamen.
»Ich weiß nicht so genau, was mein Papa kann«, gab Nelly zu. »Ich kenn ihn nämlich noch gar nicht, weißt du. Ich gehe ihn nachher besuchen und werde mal rausfinden, wer er ist.«
»Ehrlich?« Lotti war für einen kurzen Moment so überrascht, dass sie ihr Nutellabrötchen vergaß und Nelly aus großen Augen ansah. »Da freust du dich heute aber, ihn zu besuchen, oder?« Für Lotti war das so klar, dass sie gar nicht auf eine Antwort von Nelly wartete, sondern das letzte Stück Brötchen in den Mund schob.
»Papas sind toll. Ich weiß das, ich hab nämlich schon immer einen.« Die Kleine klang sehr stolz, während Nelly sich fragte, wie sich das wohl anfühlte, einen Vater zu haben.
Sie hatte sich manchmal eine männliche Bezugsperson gewünscht, das ja. Ruth hatte alles getan, damit Nelly nichts vermisste, trotzdem hatte es Momente gegeben, in denen Nelly sich den anderen Kindern gegenüber benachteiligt gefühlt hatte.
Bevor sie ins Grübeln kommen konnte, war Lotti aufgestanden. »Kommst du mit raus aufs Trampolin? Ich kann voll hoch hüpfen! Ich zeig es dir!« Wie Kinder nun mal waren, hatte Lotti schon vergessen, worum es gerade noch gegangen war, während das Gespräch mit der Vierjährigen in Nelly noch weiterrumorte.
»Weißt du was, Lotti? Das machen wir vielleicht wann anders. Ich muss erst mal aufessen. Und dann wollte ich doch zu meinem Papa.«
Lotti nickte, überraschend verständnisvoll für ein Kind ihres Alters. »Dann nehm ich Dietlinde mit raus«, beschloss sie.
»Ist das deine Freundin?«
Lotti nickte. »Ja. Und meine Katze. Beides.«
Nelly lächelte. Sie hatte die korpulente Mieze schon gesehen. Schwarz-weiß mit einer rosa Nase, hatte sie bei Nellys Ankunft hinter dem Fenster gesessen und auf die Straße hinausgestarrt. Ein wenig hatte Dietlinde Nelly an einen dieser alten Männer erinnert, die, ein Kissen unter den Ellbogen, am Fenster das Tagesgeschehen ihrer Wohnsiedlung verfolgten.
Natürlich hatte die Katze Nelly mit Argusaugen beobachtet, als sie auf das Haus der Familie zugekommen war. Der Name Dietlinde, fand Nelly, passte zu der Katze wie Alfred zum Kaktus ihrer Mutter. Sie musste schmunzeln.
Lotti sprang aus dem Wohnzimmer. »Dieti, wo bist du? Dietlindchen?«, zirpte die Kleine. Nelly bezweifelte, dass die Katze ein Kind, das in einem Affenzahn auf sie zurannte, besonders anziehend fand. Aber ein paar Augenblicke später kam Lotti tatsächlich mit der dicken Katze über ihrer Schulter zurück. Ihr ganzer kleiner Körper bog sich zur Seite, um das Gewicht des Tieres auszugleichen. Sie ging zur Terrassentür und schlüpfte gemeinsam mit Dietlinde hinaus.
Dietlinde machte keine Anstalten zu fliehen, stellte Nelly überrascht fest, sondern ließ sich willig zum Trampolin schleppen.
Dann war das Quietschen der Federn zu hören, und Nelly hoffte, dass Lotti die Katze nicht auf das mit Stoff umspannte Sprungfeld mitgenommen hatte. Nelly stand auf. Ein Blick nach draußen verriet ihr, dass die Katze vor der Leiter saß, die hinauf auf die Sprungfläche führte, und Lotti beobachtete, wie diese immer wieder in die Luft flog.
Nelly setzte sich zurück an den Tisch und dachte erneut über ihren Vater nach beziehungsweise eigentlich über die Tatsache, dass sie keinen gehabt hatte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie man sich nicht für sein eigen Fleisch und Blut interessieren konnte. Nelly dachte daran, wie sehr sie die Liebe ihrer Mutter an jedem einzelnen Tag ihres Lebens gespürt hatte, wie viel Geborgenheit ihr das gegeben hatte. Unvorstellbar, dass Ruth sich auch nur an einem einzigen Tag ihres Lebens nicht für Nelly interessiert hätte! Nelly trank ihren jetzt kalten Kaffee mit einem letzten Schluck leer.
Entschlossen stand sie auf. Es war an der Zeit herauszufinden, warum ihr Vater sie nicht gewollt hatte. Wenigstens ihr das ins Gesicht zu sagen war er ihr schuldig! Sie würde jetzt aufhören zu grübeln und einfach zu der Adresse gehen, die auf der kleinen Karte stand. Schließlich, und der Gedanke war so bitter wie vorhin der letzte Schluck Kaffee, hatte Nelly wirklich nichts zu verlieren.
Nelly ging durch das ruhige Wohngebiet, in dem die Pension lag, zum Fluss, der wie der Ort selbst den Namen Prien trug. Sogar die Straßennamen vermittelten bayerisches Flair, fand Nelly, als sie in die Neugartenstraße einbog. Es musste ein Vermögen kosten, sich hier ein Haus zu kaufen. Auf Höhe des Friedhofs ging sie über eine kleine Holzbrücke. Ihr Ziel war der Marktplatz in der Stadtmitte. Sie hatte sich den Weg von ihrer Wirtin beschreiben lassen. Der Ortskern wirkte noch idyllischer. Eine Ansammlung prächtiger alter Häuser war teils mit Lüftlmalerei verziert. Diese Art der Fassadenmalkunst gab es in Berlin nicht, und Nelly bestaunte den aufwendigen Hausschmuck. Sicher stand hier so manches Gebäude unter Denkmalschutz. Nelly fühlte sich in eine ganz andere Zeit versetzt. Ein Haus fiel besonders auf, weil es aufwendiger bemalt war als die anderen Häuser, die nur dezent über den Fenstern geschmückt waren. »Josef Stettner« stand über der Tür. Ein prächtiger Blumengarten umrahmte das Haus, an dessen Fassade ein besonders eindrucksvolles Gemälde prangte.
So große Sonnenblumen wie in Josef Stettners Garten hatte Nelly noch nie gesehen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sehr weit weg von zu Hause zu sein. Ruths Wohnung war in einem Altbau, in einem der verwinkelten Hinterhöfe, in die nie die Sonne schien. Trotzdem war sie gerne dort aufgewachsen. Nelly genoss die Großstadt, die vielen Menschen, das Bunte und auch das Raue. Hier kam ihr alles fast schon kitschig idyllisch vor. Eilig ging Nelly weiter, musste erneut über den kleinen Fluss. Dann sah sie schon die Fußgängerzone. Oder wie hatte die Wirtin es genannt? Den Marktplatz, natürlich. Die gelbe Kirche, gleich an der Ecke eine Bäckerei und natürlich das Heimatmuseum. Offenbar galten hier Wurzeln mehr als Flügel.
Nelly wurde langsamer, ihre Schritte stockten. Drei Häuser nach der Bäckerei, oder vier vielleicht, hatte die Pensionswirtin gesagt, befand sich das Süßigkeitengeschäft, »der Guatlladen«.
»Wenn Sie beim Zahnarzt vorn sind, dann sind Sie zu weit gegangen«, hatte sie lachend gesagt, es entbehrte ja auch wirklich nicht eines gewissen Humors, dass der Zahnarzt in direkter Nachbarschaft zum örtlichen Süßigkeitenhersteller angesiedelt war.
Nelly hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Das Wissen, dass sie gleich ihren Vater sehen würde, sorgte dafür, dass ihr der Schweiß ausbrach. Sie fühlte das Ungewisse förmlich nach ihr greifen, während sie zögernd einen Fuß vor den anderen setzte.
Aus der Bäckerei duftete es nach frischem Brot. Es war ein weiterer herrlicher Sonnentag, und die Tische, die auf dem Platz vor der Bäckerei standen, waren besetzt. Müller stand über dem Eingang. Nelly sah die köstlich aussehenden Frühstücksteller. Sie entschied sich, nachher noch zwei Brezeln für später zu kaufen. Angeblich waren die Brezeln in Bayern ja köstlich wie sonst nirgends. Jetzt allerdings hatte sie gerade das Gefühl, einen großen Stein im Magen zu haben.
Das alte Kopfsteinpflaster, die gelb gestrichene Kirche, das Café, die Marktstände, die auf dem Platz aufgebaut waren: All das vereinte sich zu einer ganz besonderen, heimeligen Stimmung, die Nelly zwar wahrnahm, aber gerade kein bisschen genießen konnte.
Ihr Atem hatte sich beschleunigt, obwohl sie immer langsamer ging. Auf dem Markt gab es an den unterschiedlichen Ständen Obst, Gemüse, Käse, Fisch und Gewürze zu kaufen. Sogar einen Brotstand sah Nelly, obwohl am Eingang zu dem Platz schon dieser Bäcker Müller war. Hier, verriet ein Schild, gab es Brot aus dem Steinofen.
Nelly quetschte sich durch die Schlange vor dem Gemüseverkäufer. Dann war sie da, stand unvermittelt vor dem Laden. Sie sah das schwarze Schild mit der goldenen Schrift: Süße Liebe – Die Bärendreckmanufaktur stand da in geschwungenen Buchstaben. Wie auf der Visitenkarte. Sie trat ein paar Schritte näher. Im Schaufenster waren riesige Zuckerlutscher dekoriert, dazwischen standen große Bonbonnieren aus Glas, die, mit bunten Süßigkeiten gefüllt, dafür sorgten, dass jedem, der vorbeiging, sofort das Wasser im Munde zusammenlief, egal, ob derjenige nun Lakritze mochte oder nicht. Neben Nelly stand ein etwa zehnjähriger Junge, der genauso hypnotisiert durch die Scheibe starrte wie Nelly selbst, wobei sie beide natürlich ganz unterschiedliche Motive hatten.
Im Inneren des Ladens sah man eine blonde Frau mit einer rot-weiß gestreiften Schürze, die gerade eine kleine Tüte über die Verkaufstheke an einen jungen Mann reichte. Sie lachte über irgendetwas und zeigte hinter sich. Dann wandte sie sich einer alten Dame zu.
Die Tür des Geschäfts ging auf, und der junge Mann kam heraus, mit einem Lächeln im Gesicht. Mit der aufschwingenden Tür strömte ein unfassbarer Duft auf den Platz. Nelly hätte darin baden mögen. Es roch wie Gummibären, Früchte und Süßholz. War da auch noch eine feine Schokonote? Auf jeden Fall roch sie Zitrone und Nelken. Nelly schloss für ein paar Sekunden die Augen und atmete ein weiteres Mal ein, um festzustellen, ob Schokoaromen in der herrlichen Duftnote enthalten waren. Aber der wunderbare Geruch begann schon, sich zu verflüchtigen. Sie würde einfach warten, bis die alte Dame herauskam.
Ihre Aufregung hatte sich ein wenig gelegt, als sie damit begonnen hatte, sich auf ihren Geruchssinn zu fokussieren.
Sie fühlte sich an ihre Arbeit an der Bar erinnert. Nelly hatte schon einige Cocktails erfunden, die richtige Renner geworden waren.
Als die alte Dame aus dem Geschäft kam, schnupperte Nelly erneut.
»Schokolade, wusste ich es doch«, murmelte sie.
»Wollen Sie rein?« Die alte Frau hielt ihr die Tür auf. Nellys Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sie schnappte nach Luft.
»Also, ich, äh …«, stammelte sie.
»Ja, was denn nun?« Die Frau bedachte sie mit einem strengen Blick, der Nelly ganz automatisch dazu veranlasste, nach der Türklinke zu greifen.
»Äh … danke.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Blick der blonden Frau hinter der Ladentheke ruhte schon auf ihr. Nelly schaute sie an. Blonde Locken, die in herrlichen Wellen über ihre Schultern fielen, und eine etwas zu schlanke Figur – besonders wenn man bedachte, dass sie in diesem Paradies arbeitete. Der Duft im Inneren des Geschäfts war so intensiv, dass Nelly die einzelnen Komponenten nicht mehr verorten konnte. Es war ein herrlicher, einzigartiger Geruch, in den sie sich sofort verliebte. Hätte es diesen Duft als Süßigkeit zu kaufen gegeben, sie war sicher, der Laden wäre immerzu ausverkauft gewesen.
Die blonde Frau schaute Nelly erwartungsvoll an. »Was kann ich für Sie tun?«
In genau diesem Moment öffnete sich die Ladentür. Nelly schaute sich ganz automatisch um. Ein Mann um die sechzig kam herein. Besonders auffällig an ihm war sein Schnauzer mit den nach oben gezwirbelten Enden. Er trug einen Filzhut und ein Hemd mit Hornknöpfen, das seinen kleinen Bauch kaum kaschierte. Dazu hatte er eine abgetragene Jeans an. Mit einer fließenden Bewegung nahm er seinen Hut ab und hängte ihn an einen Haken innen an der Tür, der genau für die Kopfbedeckung gemacht zu sein schien, sodass der Hut sich mühelos in die Dekoration des Geschäfts einfügte. Seine Augen blitzten hellwach und neugierig, und sein tiefer Bariton füllte den ganzen Laden aus. Über was für eine Präsenz er verfügte!
»Servus, Spatzl! Stell dir vor, die war nicht am Bahnhof. Jetzt müssen wir noch mal von vorne suchen. Ausgerechnet jetzt, wo die Saison schon losgegangen ist. Da findet man doch nix G’scheites mehr! So was Blödes!« Das musste Anton Rieger sein! Nelly schluckte schwer. Sie hatte Angst, ihre Emotionen könnten ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Aber zum Glück hatte der Mann seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Frau hinter dem Tresen gerichtet.
»Grüß Gott!«, schmetterte er jetzt in Nellys Richtung, die dastand wie vom Donner gerührt. Zum Glück fiel niemandem auf, dass sie sich kein bisschen für die Süßigkeiten, sondern viel mehr für das Personal interessierte.
»Grüß dich, Papa!« Die blonde Frau strahlte ihren Vater an, der zu ihr trat und sie auf die Wange küsste. Er sah ganz anders aus als die Blondine, seine Haare waren dunkel, fast schwarz und nur vereinzelt von grauen Fäden durchzogen.
»Wie ärgerlich! Also ehrlich, das ist unfassbar, diese jungen Leute haben überhaupt keinen Anstand mehr«, echauffierte sich Rieger weiter. »Wenigstens absagen hätte sie können.«
Er rückte ein paar Bonbongläser in der Vitrine zurecht, eine automatisierte Handbewegung, tausende Male durchgeführt.
»Da kann ich später gleich noch mal eine Anzeige schalten. Aber bringen wird das kaum was. Da wird deine Schwester heimkommen müssen, das wird ihr gar nicht gefallen.« Er runzelte die Stirn, dann begutachtete er das Gesamtarrangement der Bonbonnieren, schob ein Glas ein paar Zentimeter weiter nach rechts und betrachtete aufs Neue sein Werk, diesmal mit einem zufriedenen Nicken.