Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das junge Mädchen Christiane ist für lange Zeit mit kleinen Geschwistern aufgewachsen. In ihrer Rolle als ältestes Kind musste sie daher auch verschiedenste Aufgaben erledigen. Doch dann passiert etwas Unerwartetes: sie wird ältere Brüder bekommen! Und auch wenn Christiane sich gut mit den neuen Brüdern versteht, so ist sie doch nervös, was dieser Wechsel mit sich bringt. Viele Herausforderungen, aber auch viele herzerwärmende Momente erwarten das junge Mädchen.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 160
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lise Gast
SAGA Egmont
Christiane und die großen Brüder
Copyright © 1953, 2018 Lise Gast und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711508466
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
An einem Samstag im Juni kam Dr. Debschütz etwas früher als sonst nach Hause. Seit seine Frau im Krankenhaus lag, quälte ihn immer eine Unruhe, wenn er auswärts zu tun hatte. Wenn er sich auch sagte, daß ja die Nanna daheim schaltete und waltete und auch Christiane noch da wäre, so beeilte er sich doch, nach Hause zu kommen. Er liebte sein vor vier Jahren erstandenes Doktorhaus, als gehöre es seiner Familie schon seit Generationen. Er liebte den Garten mit den Fliederbüschen und der alten Rotbuche, den Sitzplatz vor dem Wohnzimmer und die hellen, sonnigen Räume, und jeden Tag freute er sich von neuem auf die Kinder.
Seiner Frau ging es seit zwei Tagen wieder viel besser. Nur wegen der Ansteckungsgefahr mußte sie noch im Krankenhaus bleiben. Das fiel ihr sauer genug, aber schließlich lachte sie doch darüber.
„Die schönste Jahreszeit muß ich hier vertun“, murrte sie zwar, „Pfingsten, das liebliche Fest! Ist das nicht unerhört? Ich muß doch mal einen tüchtigen Arzt zuziehen, was meinst du?“
Er hob warnend den Zeigefinger.
„Meine liebe Frau, viel hätte nicht gefehlt …“
„Ich weiß, ich weiß, und ich will mich ja auch bescheiden. Wirklich! Will Geduld haben und mich nach Leibeskräften erholen und schonen, wenn ich schon nichts anderes tun darf. Aber stricken darf ich dabei, Erich, oder? Na also, du bist doch der entzückendste Leibarzt der Welt. Christiane soll mir Wolle besorgen, dünne, dunkelblaue Perlwolle, sie weiß schon, welche, aber einen ordentlichen Haufen, und Nadeln dazu. Und dann soll sie — ja, sag ihr das, die Nanna vergißt es doch wieder, sag Christiane, sie soll …“
Der Doktor schüttelte den Kopf und zog sein Notizbuch. Ihm schwirrte der Kopf von all den Aufträgen, die seine Frau ihm mitgab: Stachelbeeren einkochen und Betten sommern und — und, und … Ein vom Krankenhaus aus gelenkter Haushalt ist wahrhaftig keine einfache Sache. Und bei fast allem, was sie auftrug, setzte seine Frau hinzu:
„Sag Christiane! Frag Christiane, sie wird es wissen. Und vergiß nicht, Christiane auszurichten …“
Es war ein schimmernder, schöner Tag heute. Der Doktor summte vor sich hin, als er zu seinem letzten Krankenbesuch fuhr. Samstags macht jeder Bettelmann eher Feiertag; und in dieser Jahreszeit waren nicht allzu viele Menschen krank, dazu war das Wetter zu schön. Genau wie vor Weihnachten, wenn sich kurz vor den Feiertagen alles beeilt, gesund zu werden. Auch das Krankenhaus begann sich jetzt, acht Tage vor Pfingsten, zu leeren. Womöglich war seine Frau zum Fest die einzige, die noch dort blieb.
Es tat ihm leid, daß er sie noch nicht heimholen konnte. Aber er war dankbar, daß sie ihm nicht genommen worden war — einige Tage hatte es sehr übel um sie gestanden. Der Schrecken saß ihm noch im Herzen. Kam es denn auf acht Tage an, auf ein getrennt verlebtes Pfingstfest, wenn der liebste Mensch, der beste Kamerad, dem Leben wiedergegeben war?
Der Doktor bog in den Garten ein und hupte dreimal lang und durchdringend. Hier auf eigenem Grund und Boden waren solche Lausejungenmanieren gestattet, und der Doktor erholte sich von all der Behutsamkeit und Vorsicht im Beruf gern mit mutwilligem und übermütigem Radau zu Hause. Sofort wimmelten aus allen Ecken die Kinder hervor. Dr. Debschütz lachte. Solch ein Empfang ließ ihn alle Arbeit und allen Ärger vergessen.
Das war nicht immer so gewesen. Jahrelang hatten sich seine Frau und er in Berlin gemüht, daß sie sich einmal Haus und Garten in Süddeutschland kaufen konnten. Es waren schwere und entsagungsvolle Jahre gewesen. Einmal sah es auch so aus, als habe man Unwiederbringliches dabei verloren. Das war damals, als sie Christiane, die bei den Großeltern aufgewachsen war, mit zehn Jahren in die Familie zurückgeholt hatten. Anfangs konnte sich ihr ältestes Kind gar nicht eingewöhnen, sondern wurde vor Heimweh nach den Großeltern den Eltern immer fremder. In ihrem eisernen Willen, vorwärts und zu etwas Eigenem zu kommen, hatten sie fast das Herz ihres ältesten Kindes verloren … Wie dankbar war er damals seiner Mutter gewesen, die dies mit ihren sanften und klugen Händen wieder zurechtbog und Christiane, an der sie selbst so hing, dorthin führte, wohin sie gehörte. Seine Frau hatte die Gefahr nicht so gesehen wie er; sie war so bodenständig und so frisch vergnügt, von so gesunder Art, daß sie sich gar nicht vorzustellen vermochte, daß es heimliche Wunden in Kinderherzen geben kann. Sie dachte: Wenn etwas weh tut, kommen die Kinder zu ihrer Mutter und weinen, und sie tröstet, und der Vater verarztet — basta! Daß es auch heimliche Schmerzen geben kann, ungesagte Worte, ungeweinte Tränen, das hielt sie für unmöglich.
Er hatte Christiane damals beobachtet und einiges von dem, was in ihrem Herzen vor sich ging, verstanden. Heimgeführt aber hatte sie schließlich die Großmutter. Seit dieser Zeit war ihm immer, als müsse er auf Christiane besonders achtgeben, als sei sie die Aufgabe seines Herzens, obwohl sie ein stilles und eigentlich sehr leicht zu lenkendes Kind war. In der Schule fiel es ihr leicht, mitzukommen, zu Hause war sie manierlich und höflich — die Großmutter hatte sie in aller Sanftheit und Stille ganz prächtig erzogen — und alle hatten sie gern. Aber, aber …
Er kam nicht dazu, seine Gedanken zu Ende zu spinnen, denn jetzt stürzte die Kinderschar, durch sein Hupen angelockt, herbei. Mein Gott, was bin ich reich! dachte er voller Dankbarkeit, was sind wir reich — ach, daß ich das noch sagen kann! Meine Frau lebt und wird weiterleben.
Rainer, barfuß und in Lederhose, schwang sich sofort in den Wagen; er sah wahrhaftig nicht aus, als wäre er eben erst elf Jahre geworden. Groß und mit einer hohen Stirn, mit wachen und lebhaften Augen hätte man ihn glatt für einen Dreizehnjährigen halten können. Er fuhr schon Auto wie ein Alter, baute den Vergaser aus und wechselte auch das Rad. Ein Glück, daß der Doktor noch mehr Söhne hatte, sonst würde er gewiß bedauern, wenn der Junge einmal kein Arzt werden wollte! Aber es waren ja noch zwei jüngere Buben da!
Roland oder Brüdi, wie er in der Familie noch oft genannt wurde, obwohl er sich heftig dagegen sträubte, war von anderem Schlag. Er machte dem Doktor jetzt Sorgen. Zu schnell gewachsen, war er zur Zeit blaß, meist schlechter Laune und trotz des schönen Wetters fast immer erkältet. Christiane achtete darauf, daß er sich immer warm anzog. Auch jetzt trug er einen ärmellosen Pullover über dem Hemd und feste Schuhe an den Füßen, weshalb er auch sofort maulte. Rainer dürfte immer barfuß laufen, und er nie, und …
„Warte nur, Brüdi, wenn dein Schnupfen vorbei ist, läufst du den ganzen Tag barfuß“, tröstete der Vater und öffnete die linke Autotür, damit der Junge auf seinen Schoß klettern konnte. Brüdi war nicht so fix und gewandt wie Rainer, man mußte ihm immer ein bißchen helfen. Rolf dagegen, der noch nicht in die Schule ging, hatte wahrhaftig keine Hilfe nötig; er war überall und nirgends und immer vorneweg.
Heute war er allerdings nirgends. Dafür sauste etwas Rosiges, Blankes über den Sitzplatz und hopste die Terrassenstufen hinunter. Rainer erspähte das Schwesterchen zuerst und schrie: „Regine, du Lumich!“
„Was ist denn das wieder für ein Wort?“ sagte der Vater lachend und gab Rainer einen Katzenkopf. Hinter dem Schwesterchen tauchte Christiane auf. Sie war etwas abgehetzt und ärgerlich, mußte aber doch lachen, als sie die Kleine sah. Sie ließ sie, gutmütig und mit einem gewissen mütterlichen Stolz, ins Auto klettern, was dem kleinen Nacktfrosch geschickt und flink gelang.
Regine war noch so ein ganz kleines ,Tier‘, das man fütterte, hübsch anzog und an dem man sich freute — von Kind zu Kind empfand man das tiefer und stärker. Das erste — du lieber Gott, das fand man mit vier Jahren schon groß, und von ihm verlangte man Verstand und Einsicht. Wieviel besser hatten es da die Nachgeborenen! Dr. Debschütz sah auf seine beiden Töchter, die vierzehnjährige und die vierjährige, und viele Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf.
Er liebte Christiane. Er liebte zwar auch seine Söhne und auch das jüngste Töchterchen, aber mit Christiane verband ihn eine innige und sehr scheue Liebe. Vielleicht sah er in Christiane das verjüngte Abbild seiner eigenen Mutter, an der er sehr hing und bei der Christiane groß geworden war. Vielleicht aber liebte er dieses Kind anders, weil er es erst mit zehn Jahren übernommen hatte. Damals war Christiane schon eine Persönlichkeit gewesen und kein erst noch zu formendes Wesen, über das man sich täglich ärgern mußte. Er jedenfalls empfand Christiane ganz als Menschen und fast gar nicht mehr als Kind …
Sie war jetzt bald fünfzehn Jahre alt und wirkte groß, aber durch ihren feinen Gliederbau nicht allzu groß für ihr Alter. Sie trug das braune und ein wenig wellige Haar noch immer in hängenden Zöpfen, schräg gescheitelt; das ließ sie kindlicher erscheinen als sie war. Wie sie lief und jetzt das Schwesterchen aus dem Auto hob, liebevoll ausschalt und in die Höhe hob — wie ihre braunen, schmalen Knie unter dem bunten Trachtenrock hervorsahen!
Ganz in Gedanken erlaubte der Doktor seinem Ältesten, den Wagen in die Garage zu steuern, was bei Brüdi sofort zu Wuttränen und wildem Neid führte. Ohne recht zu wissen, was er sagte, beruhigte er den Tobenden und ging mit ihm hinter Rainer her, um den Schlüssel abzuziehen und die Garage zu schließen.
Im Sprechzimmer warteten noch drei Patienten selbst am „freien“ Samstagnachmittag auf ihn. Als er den letzten versorgt hatte, zog es ihn ins Kinderzimmer hinauf. Es war inzwischen sieben Uhr geworden. Die Sonne schien noch hell und munter herein, und die Tür zum Bad stand offen. Samstäglich unordentlich lagen die Wäschestücke der Kinder auf dem Fußboden, ein heruntergefallenes Frottiertuch krönte das Stilleben. Samstäglich frisch aber waren die Kinder. Alle hatten den Kopf gewaschen, die Jungen trugen scharf gezogene, naß angepappte Scheitel und Regine eine Mullwindel als Turban um den Kopf geknüpft. Sie saß auf Christianes Schoß und wurde gefüttert, während die drei Jungen um den kleinen Kindertisch saßen und in heillosem Tempo um die Wette aßen, weil es heute außer Käse- und Wurstschnitten auch Radieschenbrote gab.
„Aber immer erst eine Schnitte mit Wurst oder Käse, hört ihr, und dann erst wieder eine mit Radieschen!“ hatte Christiane bestimmt, die ihre Brüder kannte. Nun schlangen sie die Pflichtbrote wie hungrige Wölfe hinunter, um einander möglichst um ihren Anteil zu betrügen. Es war ein komischer, aber keineswegs schöner Anblick.
„Ihr gierige Spatzenbrut“, sagte der Vater und besah seine Söhne etwas mit Abstand, „könnt ihr nicht manierlich essen? Kommst du nachher herüber, Christiane? Dann essen wir beide in Ruhe zusammen, ja?“
Samstags aßen sonst immer die Eltern allein, jetzt aber, da Mutter nicht da war, aß Christiane mit dem Vater.
„Ja, ich komme. Aber ich habe versprochen, noch vorzulesen. Soll ich das vorher tun oder nach dem Abendbrot? Bist du sehr hungrig?“
„Ach, bewahre, ich kann noch warten. He, Rainer, erst hinunteressen!“
„Christiane hat aber versprochen, uns zwei Kapitel vorzulesen, wenn wir artig sind — und wir waren artig!“
„Und weil ich nicht geheult hab‘, als ich die Seife ins Auge bekam, hat sie sogar gesagt, sie liest drei!“ meldete sich Brüdi weinerlich.
Der Vater hatte seine Pfeife aus der Tasche gezogen. „Meinetwegen. Nimm dir nur Zeit, Christiane, ich sehe erst noch in die Zeitschriften. Übrigens — keiner fragt nach Mutter?“
„Wie geht es ihr?“ fragte Christiane hastig und schuldbewußt. Sie wischte Regine den Mund ab und setzte sie in ihr Holzbettchen. „Da ist dein Molli, so, deck ihn schön zu! Hat Mutter noch Fieber, Vater?“
„Nein, es geht ihr gut“, antwortete der Vater schnell und beruhigend. „Du sollst ihr Wolle besorgen, hat sie gesagt, aber dazu ist es jetzt wohl zu spät. Ich war noch bei verschiedenen Patienten …“
„Ach, ich geh‘ zu Tante Ulle, die läßt mich auch abends in den Laden, hintenherum. Ja, du kannst Mutter gleich morgen früh die Wolle mitnehmen, sie will sie sicher schnell haben, weil sie sich langweilt. Vater, hast du noch einen Augenblick Zeit? Rolfi, komm, mach mal mit Christiane ,Bist du mir böse‘!“
Sie nahm den jüngsten Bruder auf den Schoß. Eigentlich war ja Regine ihr Liebling, aber seit Rolf im vorigen Herbst so schwer krank gewesen war, hatte sie ihn mehr als alle andern ins Herz geschlossen. Er war auch gleich bereit, eine Vorstellung zu geben, und sah mit seinem spitzbübischen Gesichtchen erwartungsvoll und geschmeichelt zu ihr auf.
„Los, Rolfi!“ befahl Christiane.
Rolf machte ein süß bettelndes, schuldbewußtes Gesicht, während Christiane das ihre in strenge Falten zu legen versuchte.
„Bist du mir böse?“ piepste er übertrieben kindlich.
Christiane nickte. Es zuckte um ihre Mundwinkel vor unterdrücktem Lachen, aber sie bemühte sich, streng und ernst auszusehen.
„Bist du mir böse?“ Noch flehender, noch schuldbewußter klang das Stimmchen.
„Ja, Rolfi, ganz böse.“
„Bist du mir böse?“ Es war herzerweichend; dem Vater wurde ganz schwach vor so viel „Heuchelei“, denn Rolf wußte genau, daß alles nur Spaß war.
„Ja, sehr“, nickte Christiane düster.
„Sei wieder gut!“
Christiane nickte. Ihr Gesicht strahlte, und das seine strahlte wie ein Spiegel zurück. Er warf beide Arme Christiane um den Hals und schrie vor Freude. Alle lachten.
„So ein Hanake, nein, wo hast du das nur her, Junge“, sagte der Vater kopfschüttelnd und lachend — der Kleine war unwiderstehlich. „Christiane, was wird aus den Bälgen nur einmal werden! Ja, also, du rufst mich, wenn du fertig bist, ja? Ich gehe ins Sprechzimmer. Gute Nacht, ihr Rasselbrut, und laßt mir noch was übrig von Christiane, versteht ihr? Freßt sie nicht ganz auf!“
Als der Vater gegangen war, lief Christiane ins Badezimmer und sortierte die abgelegte Wäsche, hob die Handtücher auf und fischte die Seife aus der ausgelaufenen Wanne. Gut, daß die Nanna das nicht gesehen hatte! Sie würde sonst mindestens eine Viertelstunde herumschelten.
Christiane konnte es nicht leiden, wenn die Stimme der Nanna durchs Haus gellte. Sie versuchte der guten alten Seele alle Dinge, an denen sie Anstoß nehmen könnte, aus dem Wege zu räumen. Aber das war ein aussichtsloses Beginnen. Wo kleine Kinder sind, gibt es zwangsläufig Unruhe. Wahrscheinlich aber hätte Nanna auch in einem idealen und mäuschenstillen Haus irgendeinen Grund zum Schelten gefunden.
Die Kleinen störte Nannas Schelten nicht. Sie waren daran gewöhnt und nahmen es wie das Wetter. Sie stellten ihre Ohren automatisch auf Durchzug, wie Rainer sagte, und ließen Nannas Tiraden dort hinein- und hier hinausgehen. Christiane aber litt darunter: Nannas schrille Stimme konnte ihr den fröhlichsten Tag verderben.
Die Eltern schalten wenig. Vater machte manchmal Krach und verhaute Rainer, wenn es nötig war; Mutter aber lachte viel und ließ die Nanna schelten. Christiane trug noch immer eine verschwiegene Liebe zu dem stillen, feinen und friedlichen Zuhause bei den Großeltern mit sich herum.
Dort wurde nie gescholten, geschweige denn so laut und keifend. Dort lief alles lautlos und glatt, aber keineswegs langweilig. O nein! Aus der zarten Stille um Großmutter herum blühten tausend bunte Blumen, die Christianes ganze Liebe waren, Gedichte und Geschichten, und Großvaters Bilder gaben den Glanz dazu. Mitunter konnte einem das Herz schon ein wenig weh tun, wenn man dahin zurückdachte, obwohl Christiane sich fest und vernünftig vorgenommen hatte, nun hier und bei ihren Eltern daheim zu sein.
Manchmal durfte sie ihre Großeltern besuchen. Das war dann immer schön wie ein Traum, vor allem, wenn sie allein fuhr. Wenn sie eines oder zwei von den Kleinen mitnahm, was sie auch schon ausprobiert hatte, war es zwar auch lustig, aber doch nicht „richtig“. Das letzte Mal war sie acht Tage ganz allein dort gewesen, im Winter. Bei allem Glück hatte sie da aber allmählich Sehnsucht nach den Kleinen bekommen, vor allem nach Rolf, der damals so sehr an sie gewöhnt war, aber auch nach Reginchen. Christiane hatte in einem seltsamen Zwiespalt gelebt, ihr Herz war wie geteilt zwischen den beiden Heimaten, und zuletzt hatte sie nach beiden Seiten hin ein schlechtes Gewissen.
Soweit war Christiane beim Ordnen der Badestube und der Kinderkleider gekommen, als sie aus dem Kinderzimmer einen grausigen Sprechchor hörte: „Christiane, dummes Stück, kommste heute noch zurück?“ Und als sie zu den Kleinen kam, was mußte sie sehen? Regine war aus ihrem Bett ausgebrochen und zu Rainer gekrochen, und die beiden wälzten sich in Rainers Bett und strampelten die Kopfkissen und Decken heraus. Brüdi lief mit bloßen Füßen über die Diele, was nach dem Baden in Nannas Augen eine Todsünde darstellte. Christiane scheuchte Brüdi in sein Bett zurück und schalt — nun schalt sie wahrhaftig selber! Aber die Jungen hörten einfach nicht, wenn man freundlich blieb.
Sie nahm den Robinson vor, den Rainer heiß liebte, obwohl er ihn kapitelweise auswendig konnte, und suchte nach dem Lesezeichen. Das hatte Brüdi stiebitzt und fand es nun sehr witzig, daß Christiane blättern und suchen mußte.
„Weißte denn nich mal, wo wir waren? Kannste dir nich mal das merken?“ fragte er höhnisch, weil er sich ärgerte, daß sie ihn vorhin beim Barfußlaufen ertappt hatte.
Ich hab‘ ja schließlich noch anderes im Kopf als nur euern Robinson, dachte Christiane — doch Großmutters mildes und gütiges Gesicht erschien ihr, ihre nie endende Geduld — und Christiane sagte nichts, sondern begann vorzulesen. Sie las sogar vier Kapitel; denn es war wirklich sehr spannend.
Als Christiane das Buch zuklappte, war Brüdi natürlich unzufrieden. Sie tröstete ihn, sagte allen vieren umständlich gute Nacht — Regine schlief bereits — und wollte endlich hinüber zu Vater. Nun aber wollte Rainer noch unbedingt Wasser trinken, Brüdi verlangte hinaus, so daß sie, auf allen vieren kriechend, seine Hausschuhe suchen mußte; als sie wieder hochkam, piepste Rolf, sein Bett sei voller Stacheln. Christiane, die sich mit schlechtem Gewissen daran erinnerte, daß Vater wartete, wurde ungeduldig.
„Nun laßt mich endlich in Frieden, jetzt ist aber wirklich Schluß. Brüdi, du gehst sofort wieder ins Bett! Gute Nacht, jaja, schlaft gut —“
„Du könntest noch die frische Wäsche für die Kleinen herausgeben“, brummte die Nanna, auf die sie im Flur stieß, „die Strümpfe sind alle noch im Flickkorb. Ja, wenn du dich nicht darum kümmerst — ich kann wirklich nicht noch soviel Fersen stopfen am Samstagabend, wo ich sowieso schon alles am Halse habe —“
Nanna sagte die letzten Worte sehr laut und scharf. Christiane hatte eben die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, und so hörte Vater, den gerade der Hunger hereingetrieben hatte, alles mit an. Hastig und ein wenig fahrig nahm Christiane die Haube von der Teekanne, um einzugießen — da war auch schon das Unglück geschehen! Gottlob war es nur der Tee, der hin war, und nicht die ganze Kanne, Mutters Lieblingskanne! Christiane lief in die Küche, sie mußte neuen Tee aufsetzen und den Lappen holen, um aufzuwischen.
„Fängst du noch mal an“, ärgerte sich die Nanna, „eben hab‘ ich alles weggeräumt. Die Teller spülst du aber noch ab, verstehst du — wenn ich sonntags herunterkomme, will ich nicht einen Haufen schmutziges Geschirr vorfinden —“