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Unser Verständnis von Welt und Mensch wurde im 19. und 20. Jahrhundert tiefgreifend verändert. Die im antiken Weltverständnis verharrende traditionelle Kirchensprache hat dadurch ihre einstige Plausibilität weitgehend verloren. Helmut Fischer verdeutlicht, dass der Gehalt des christlichen Glaubens weder an historisch bedingten Denkformen hängt noch mit diesen untergeht, sondern auch im Weltverständnis der Moderne für unser Leben aktuell bleibt. In neun Kapiteln entfaltet er die Denkmuster, in denen der Glaube seine traditionelle Gestalt gefunden hat, und bringt den Kerngehalt der christlichen Botschaft in einer verständlichen Sprache zum Ausdruck. Das Buch gibt Hilfen und Anstöße für die notwendige Erneuerung des Redens von Gott. Es dient so der persönlichen Klärung und eignet sich gleichermaßen als Impuls für Gesprächskreise, für Religionsunterricht in der Oberstufe und für Gemeindeveranstaltungen.
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Seitenzahl: 191
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Helmut Fischer
Christlicher Glaube – was ist das?
Klärendes, Kritisches, Anstöße
Theologischer Verlag Zürich
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung von Vincent van Gogh (1853–1890), Die Sternennacht, Saint-Remy, Juni 1889 (Öl auf Leinwand, 73,7 x 92,1 cm; Museum of Modern Art, New York); © akg-images/Lessing
Bibelzitate nach: Zürcher Bibel 2007
ISBN 978-3-290-17614-3 (Buch) ISBN 978-3-290-17685-3 (Epub)
|XX| Seitenzahlen des Epubs verweisen auf die gedruckte Ausgabe.
© 2011 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch
Alle Rechte vorbehalten
Für Mai-Britt über die Konfirmation hinaus
Einführung
1 Religion
1.1 Religion – Was ist das?
1.1.1 Religion – ein umstrittenes Phänomen
1.1.2 Religion ist nicht das, was jeder dafür hält
1.1.3 Religion – eine Möglichkeit nur des Menschen
1.1.4 Religion lässt sich biologisch nicht definieren
1.1.5 Religion und Sprache
1.1.6 Der Sinnhorizont von Religion
1.2 Ausformungen von Religion
1.2.1 Religion äußert sich konkret
1.2.2 Religion äußert sich als Bewusstsein einer Gemeinschaft
1.2.3 Die Naturreligionen
1.2.4 Die regionalen Hochreligionen
1.2.5 Die Blickrichtung der Menschen ändert sich
1.2.6 Der Schritt zu den universalen Religionen
1.2.7 Was mit »Religion« gemeint sein kann
1.3 Judentum, Christentum und Islam als Universalreligionen
1.3.1 Das Judentum
1.3.2 Das frühe Gottesverständnis der Israeliten
1.3.3 Der Schritt zum Monotheismus
1.3.4 Das Christentum
1.3.5 Der Islam
1.3.6 Monotheismus und Universalreligion
1.4 Religion und Kultur
1.4.1 Was ist unter »Kultur« zu verstehen?
1.4.2 Die Rolle der Religion in den frühen Kulturen
1.4.3 Religion und Kult
1.5 Religion und Staat
1.5.1 Die Alte Welt
1.5.2 Die Einheit von Kirche und Staat bis ins 19. Jahrhundert
1.5.3 Die Trennung von Kirche und Staat
1.5.4 Persönliche Verantwortung ist jetzt gefordert
2 Basis und Bedingungen unseres Redens von Gott und Glauben
2.1 Theologie
2.1.1 Was heißt »Theologie«?
2.1.2 Das Selbstverständnis der Theologie
2.1.3 Theologie und kirchliche Lehre
2.1.4 Theologie und Glaube
2.1.5 Theologie und Frömmigkeit
2.1.6 Theologie und Wissenschaft
2.1.7 Theologie und Wahrheit 40
2.2 Sprache
2.2.1 Biologische Tatbestände
2.2.2 Gehirn und Sprache
2.2.3 Signalsysteme sind noch keine Sprache
2.2.4 Vom Tiersignal zur Menschensprache
2.2.5 Die Verschiedenheit der Sprachen
2.3 Unsere Sinne und die Weltwirklichkeit
2.3.1 Unsere Sinne – unterschiedliche Türen zur Welt
2.3.2 Was uns die Sinne vermitteln
2.3.3 Von welcher Wirklichkeit sprechen wir?
2.4 Zur Struktur der indoeuropäischen Sprachen
2.4.1 Die Rolle der Sprache für Welterkennen und Religion
2.4.2 Charakteristika der indoeuropäischen Sprachen
2.4.3 Das Tätersubjekt als sprachliche Setzung
2.4.4 Andere Sprachstrukturen
3 Bibel
3.1 Das Entstehen schriftlicher Christuszeugnisse
3.1.1 Am Anfang steht das menschliche Gotteszeugnis durch Jesus
3.1.2 Die drei ersten (synoptischen) Evangelien
3.1.3 Die Briefe des Apostels Paulus
3.1.4 Die nichtpaulinischen Briefe
3.1.5 Die johanneischen Schriften
3.1.6 Die Schritte zum biblischen Kanon
3.1.7 Die ganze Bibel
3.2 Der Charakter der biblischen Schriften
3.2.1 Biblische Texte als historisch bedingte Texte
3.2.2 Von Gotteswirklichkeit lässt sich nur metaphorisch reden
3.2.3 Metaphern sind letztmögliche Andeutungen
3.2.4 Metaphern sind vielförmig
3.2.5 Metaphern sind vieldeutig
3.3 Die angemessene Deutung biblischer Texte
3.3.1 Biblische Texte sind historische Zeugnisse
3.3.2 Verfasser schreiben für ihre Zeitgenossen
3.3.3 Wer entscheidet, was gilt? 60
4 Gott
4.1 Religionsgeschichtliches
4.1.1 Keine allgültige Definition
4.1.2 Nichtpersonale Gottheiten
4.1.3 Polytheismus
4.1.4 Schritte zum Monotheismus
4.2 Der jüdische Monotheismus
4.2.1 Monotheismus – ein nützlicher Hilfsbegriff
4.2.2 Gott ist ohne Anfang
4.2.2 Gott offenbart sich in der Geschichte
4.2.3 Gott ist der Welt gegenüber
4.2.4 Gott ist weder erkennbar noch darstellbar
4.2.5 Gott existiert – aber wie?
4.3 Der Gott der Philosophen
4.3.1 Die griechischen Sophisten
4.3.2 Platon
4.3.3 Aristoteles
4.3.4 Philosophien des Hellenismus (4. Jh. v. Chr. bis 6. Jh. n. Chr.)
4.3.5 Die bleibende Verbindung von Philosophie und Theologie
4.4. Das christliche Gottesverständnis
4.4.1 Der historische Jesus
4.4.2 Die Quelle und Basis christlichen Gottesverständnisse
4.4.3 Ausformungen christlicher Gottesverständnisse
4.5 Abbauformen des christlichen Gottesverständnisses
4.5.1 Der Theismus
4.5.2 Der Deismus
4.5.3 Der Pantheismus
4.5.4 Der Monismus
4.5.5 Der Atheismus
4.5.6 Der Agnostizismus
4.6 Das Spezifikum des christlichen Gottesverständnisses
4.6.1 Die Notwendigkeit der kritischen Prüfung
4.6.2 Die Trinitätslehre muss befragbar bleiben
4.6.3 Der Schöpfer
4.6.4 Der Sohn
4.6.5 Der Heilige Geist
4.6.6. Klärendes zum deutschen Wort »Liebe«
5 Jesus
5.1 Biographisches
5.1.1 Jesus – eine historische Person
5.1.2 Biographisch Verbürgtes
5.2 Die Botschaft Jesu
5.2.1 Das Reich Gottes ist nahe
5.2.2 Wo und wie sich Reich oder Herrschaft Gottes ereignen 85
5.3 Die Deutung der Person Jesu
5.3.1 Was Urteile über Jesus sagen
5.3.2 Was in den Würdenamen zum Ausdruck kommt
5.3.3 Die Vergöttlichung Jesu
5.3.4 Aus Jesus von Nazaret wird der Christus der Kirche
5.4. Welcher Jesus gilt?
6 Glaube
6.1 Klärung des Wortverständnisses
6.1.1 Der umgangssprachliche Gebrauch
6.1.2 Die religiösen Bedeutungen
6.1.3 Der nichtreligiöse Glaube der griechischen Philosophie
6.1.4 Glaube im Alten Testament
6.2 Christlicher Glaube in der Geschichte
6.2.1 Der Glaube Jesu
6.2.2 Der Glaube an Jesus
6.2.3 Der jüdisch-urchristliche Vertrauensglaube wird hellenisiert
6.3 Die Ausformung von drei Glaubenstypen
6.3.1 Der orthodoxe Typus
6.3.2 Der römisch-katholische Typus
6.3.3 Der protestantische Typus
6.4 Nähere Bestimmungen des Glaubens
6.4.1 Glaube und Wissen
6.4.2 Glaube und Dogmen
6.4.2 Glaube und Erfahrung
6.4.3 Glaube und Sprache
6.4.4 Glaube und Kult
6.6.5 Glaube und Werke 106
7 Schöpfung
7.1 Die biblischen Schöpfungstexte
7.1.1 Schöpfungsmythen
7.1.2 Die Wurzeln und Aussagen der Schöpfungsgeschichte von Genesis 1,1–24
7.1.3 Die Nachrangigkeit der Weltentstehungsmodelle
7.1.4 Die Erfahrungen von Geschöpflichkeit im Neuen Testament
7.2 Naturkundliche Weltmodelle wandeln sich
7.2.1 Das Weltverständnis der griechischen Philosophie
7.2.2 Die Naturwissenschaft und die Gottesvorstellung
7.2.3 Glaube und Naturwissenschaft treten in Konkurrenz
7.3 Klärendes
7.3.1 Wovon der biblische Schöpfungsgedanke handelt
7.3.2 Wovon die Naturwissenschaften handeln
7.3.3 Die eine Welt in unterschiedlichen Hinsichten
8 Mensch
8.1 Klärendes
8.1.1 Der Mensch muss nach sich selbst fragen
8.1.2 Der Mensch – das nicht bestimmbare Wesen
8.1.3 Die Teilwissenschaften vom Menschen
8.1.4 Die philosophische Anthropologie
8.1.5 Die gesamtbiblische Sicht auf den Menschen
8.1.6 Das jüdische Erbe
8.2 Fortführung des jüdischen Erbes im christlichen Glauben
8.2.1 Was es für Christen heißt, sich als Geschöpf zu verstehen
8.2.2 Was Christen mit »Gottes Ebenbild« meinen
8.3 Ist der Mensch böse und Sünder von Jugend an?
8.3.1 Das Menschenbild des Alten Testaments
8.3.2 Wie ist das Böse in die Welt gekommen?
8.3.3 Die Schritte zur Lehre von der Erbsünde
8.3.4 Sünde als Basis für Erlösungsbedürftigkeit
8.4 Ein nichttheistisches Selbstverständnis
8.4.1 Wir erfahren uns in unserem Verhalten
8.4.2 Wir verhalten uns so, wie wir von unserer Natur aus sind
8.4.3 Kultur formt Natur
8.4.4 Der Mensch als die offene Möglichkeit
8.4.5 Die Schwierigkeit mit dem Guten
8.4.6 Wie wir uns erfahren
8.4.7 Kann sich Natur auch von sich selbst erlösen?
8.4.8 Das selbstbezogene Leben in religiöser Sprache
8.4.9 Liebe als die andere Lebensbasis
9 Kirche
9.1 Die Anfänge
9.1.1 Jesu Botschaft vom Reich Gottes
9.1.2 Erfahrung mit Jesu Botschaft bringt Gemeinde hervor
9.1.3 Erste Gemeindebildungen
9.1.4 Mahlgemeinschaften
9.1.5 Das Priesteramt
9.2 Der Prozess der Hellenisierung
9.2.1 Am Beginn stand die Vielfalt
9.2.2 Die Hellenisierung als kultureller Prozess
9.2.3 Der Übergang von der verfolgten Kirche zur Staatskirche
9.3 Die Entwicklung zu drei Kirchentypen
9.3.1 Der orthodoxe Kirchentypus
9.3.2 Der römisch-katholische Kirchentypus
9.3.3 Der reformatorische Kirchentypus
9.4 Rückblick auf religionsgeschichtliche Schritte
9.4.1 Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr.: Der Monotheismus tritt hervor
9.4.2 Beginn des 1. Jahrtausends: Der jenseitige Gott wird im Hier und Jetzt wirklich
9.4.3 Mitte des 1. Jahrtausends: Der christliche Glaube erobert die germanische Welt
9.4.4 Anfang des 2. Jahrtausends: Die kirchlichen Traditionen werden zu Vernunftlehren
9.4.5 Mitte des 2. Jahrtausends: Reformation und Spaltung der Westkirche
9.4.6 Beginn des 3. Jahrtausends: Die notwendige Revision unseres Redens von Gott
9.5 Welche Kirche braucht der christliche Glaube?
9.5.1 Braucht der christliche Glaube überhaupt Kirche?
9.5.2 Christlicher Glaube führt in die Gemeinschaft
9.5.3 Christlicher Glaube lebt aus der Verbindung mit seiner Lebensquelle
9.5.4 Christlicher Glaube braucht Sprachgemeinschaft
9.5.5 Christlicher Glaube braucht die offene Dialog-Gemeinschaft
9.5.6 Christlicher Glaube braucht den ökumenischen Dialog
9.5.7 Christlicher Glaube braucht Organisation
9.5.8 Was und wen eine Kirche braucht, die von dieser Welt und für die Welt ist
10 Notwendige Begriffsklärungen
Dietrich Bonhoeffer hat schon in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts nüchtern festgestellt: »Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ›Arbeitshypothese Gott‹. In wissenschaftlichen, künstlerischen und ethischen Fragen ist das Selbstverständlichkeit geworden … Seit etwa 100 Jahren gilt das aber in zunehmendem Maße auch für die religiösen Fragen.« Bonhoeffer spricht von einem Gott, den man sich als eine jenseitige Wesenheit oder als eine Person vorstellt, die auf wundersame Weise in unser Weltgeschehen eingreift. Und er sagt: »Für einen gebildeten Menschen wird der Glaube an einen solchen Gott bald ebenso unmöglich sein wie der Glaube daran, dass die Erde eine Scheibe ist, dass Fliegen aus dem Nichts entstehen, dass Krankheit eine göttliche Strafe ist oder dass Tod etwas mit Zauberei zu tun hat.« Er hat dringend dazu aufgerufen, den christlichen Glauben nicht an ein vergangenes gegenständliches Gottesbild zu binden, sondern Gotteswirklichkeit als Lebenswirklichkeit in unserer Welt auszusagen. Der Blick auf Jesus von Nazaret zeigt uns, wie Gotteswirklichkeit als menschliche Lebenswirklichkeit konkret, erfahrbar und sagbar wird.
Stellte man heute, ein dreiviertel Jahrhundert nach Bonhoeffers Äußerungen, die allgemeine Frage, ob es so etwas wie eine höhere Macht gibt, so fände man noch mehrheitlich Zustimmung, da sich unter einer »höheren Macht« jeder vorstellen kann, was er in seinem Weltverständnis unterzubringen vermag. Fragt man aber konkreter, so sieht das ganz anders aus. Eine 1992 in Berlin-Kreuzberg, -Mitte und -Wannsee durchgeführte Befragung brachte folgende Ergebnisse: An einen persönlichen Gott glauben gerade noch (je nach Altersgruppe) 34 bis 24 Prozent. Bei der jüngsten Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen |14| sinkt die Zustimmung noch weiter ab. Hier halten nur noch 13 bis 16 Prozent das Weltall für eine Schöpfung Gottes und nur 8 bis 11 Prozent sind davon überzeugt, dass ein Gott den Lauf der Welt in der Hand hat.
Die kirchliche Verkündigung und Vermittlung des christlichen Glaubens ist nur noch für jene kleine Minderheit verständlich, die das traditionelle theistische Bild eines persönlichen Gottes mitbringt, der für uns sorgt und an den wir uns um Hilfe wenden können. Die Mehrheit der Zeitgenossen sieht sich allein durch die konventionelle Art, von Gott zu sprechen, aus der Gemeinschaft der Glaubenden ausgeschlossen. Sie geht ihre eigenen Wege. Der Markt der Sinnangebote ist groß. Für diese schweigende Mehrheit hat der Physiker C. F. von Weizsäcker in einem interdisziplinären Seminar bereits 1976 festgestellt: »Naturwissenschaftler und Christen können einander einen wichtigen Dienst tun, wenn sie einander kritische Fragen stellen … Naturwissenschaftler müssen die Christen fragen, ob sie das moderne Bewusstsein vollzogen haben.« Er fragte deshalb so nachdrücklich, weil er in der Kirche keine Ansätze sah, sich mit dem zeitgenössischen Weltverständnis auseinanderzusetzen.
Propheten haben im eigenen Land und in der eigenen Kirche wenig Chancen, gehört zu werden. So soll hier der emeritierte anglikanische Bischof J. S. Spong von Newark (USA) das Wort haben. Er fragt: »Warum müssen wir die Christus-Geschichte losgelöst vom theistischen Gottesverständnis erzählen?« Seine Antwort: »Das ist erforderlich, weil die Reste des Theismus der Vergangenheit heute das wahre Leben aus dem Christentum geradezu austreiben … Wenn es nicht gelingt, den Griff zu lösen, in dem der Theismus Christus hält, wird der Tod des Theismus sicher auch den Tod des Christentums mit sich bringen.« Nicht in der Kirche, aber in der deutschen Presse kann man das allgemein formuliert im Dezember 2010 von R. Leicht so lesen: »Entweder hält unser |15| Glaube den Errungenschaften des zeitgenössischen Wissens stand. Oder er ist eben nicht tragfähig. Was fangen wir mit einem Glauben an, der sich der schlichten Unkenntnis verdankt?« Viele Zeitgenossen stellen sich diese Frage ebenfalls, und sie fragen nicht überheblich und weil sie es besser wissen, sondern weil sie über den christlichen Glauben substanziell Auskunft erhoffen und dessen Inhalt erfahren möchten, freilich in einer Sprache und in Denkformen, in denen Menschen heute ihre Welt und sich selbst verstehen. Soll der Kontakt zum Glauben als Lebenswirklichkeit im christlichen Sinne nicht abreißen, so muss jede Christengeneration dieses Übersetzungsproblem geistig und sprachlich neu wagen und lösen.
Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, den Kern des christlichen Glaubens in nichttheistischer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein Sprachversuch und keine Dogmatik, die auf 800 Seiten oder gar auf 14 Bände angelegt ist und anstrebt, alle in den christlichen Glaubenslehren je aufgeworfenen Fragen zu verhandeln. S. Kierkegaard hat einmal gesagt, dass die christliche Botschaft so einfach sei, dass man sie auf eine Streichholzschachtel schreiben kann. Das ist hier zwar nicht ganz gelungen. Aber angestrebt ist schon, den elementaren Gehalt des christlichen Glaubens ohne den in Jahrhunderten hinzugewachsenen erdrückenden theologischen Überbau so klar wie nur möglich hervortreten zu lassen.
Christlicher Glaube lässt sich nicht als Faktenwissen beschreiben. Er lässt sich allenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven so umschreiben, dass das Unsagbare daraus hervortritt. Die unterschiedlichen Perspektiven sind durch die neun Stichwörter der Kapitel gekennzeichnet, die nicht für sich stehen, sondern wie die Speichen eines Rades alle auf den Kern des Glaubens hinweisen. Wo es nötig schien, wurde historisch erklärt. Gewordenes versteht man am besten, wenn man versteht, wie es geworden ist. Das Ziel dieser Arbeit liegt nicht darin, die vielen Glaubenslehren der Kirche kognitiv verständlich |16| zu entfalten. Es geht viel elementarer darum, aus der verwirrenden Vielfalt der Traditionen jenes entscheidende Spezifikum des Christlichen herauszuheben, in welchem Gotteswirklichkeit, Gotteserfahrung und christlicher Glaube wie in einem Urkern ineinander liegen und nur als diese Einheit erfahrbar und sagbar werden. Da die einzelnen Kapitel auch in sich verständlich sein sollen, müssen notwendige Wiederholungen in Kauf genommen werden. Auf Verbindungen und Verzahnungen mit anderen Stichwörtern wird hingewiesen.
Ein Text dieser Art will und kann nicht fertig sein, denn er eröffnet einen Dialog. Ein Dialog über den Glauben schließt dieses Thema nicht ab, sondern schließt für die im Glauben eröffnete Lebenswirklichkeit auf. Dieser Text versteht sich zum einen als eine Sprachbrücke hin zu jenen Zeitgenossen, die sich mit der traditionellen theistischen Sprache schwertun. Er versteht sich zum anderen als ein Sprachangebot für Pfarrer, Religionspädagogen, Gruppenleiter, Gesprächsgruppen, Großeltern und Eltern, die auch jenen noch etwas sagen möchten, die aus der traditionellen kirchlichen Sprachwelt längst ausgewandert sind. Ich hoffe darüber hinaus, dass der Text auch für den notwendigen innerkirchlichen Dialog einige Anstöße gibt.
Religion ist von großen und kleinen Geistern seit Jahrhunderten totgesagt worden. Entgegen allen Vorhersagen ist das Thema »Religion« seit gut 20 Jahren überraschend wieder aktuell und interessant geworden, selbst für die Massenpresse. Beispiel: Noch 1992 fasste »Der Spiegel« eine Befragung der Deutschen zu Religion, Glaube und Kirche in der Schlagzeile zusammen: »Abschied von Gott«. 2004 erschien F. W. Grafs gründliche Bestandsaufnahme der Religion in der modernen Kultur unter dem Titel »Die Wiederkehr der Götter«.
Wenn Sie Ihre Freunde fragten, was sie unter Religion verstehen und wie sie deren Zukunft einschätzen, so erhielten Sie nahezu so viele unterschiedliche Antworten wie Sie Freunde haben. Was Religion ist, scheint jeder zu wissen, aber eben jeder auf seine Weise. Was jemand unter Religion versteht, das leitet er aus der Erfahrung und aus dem Wissen her, das er aus seiner eigenen Einbindung in einen religiösen Hintergrund oder aus seiner Entfremdung davon mitbringt. In der europäischen Kultur ist dieser Hintergrund das Christentum oder eine am Christentum orientierte religionskritische Sicht. Diese eurozentrische Perspektive positiver wie negativer Art verengt aber das Verständnis von Religion, weil sie die Vielfalt der religiösen Erscheinungsformen ausblendet und nur das sieht, was im Horizont christlichen Weltverstehens in den Blick kommen kann.
Die beschreibenden Religionswissenschaften haben uns für die Vielfalt religiöser Erscheinungsformen Horizont und Augen geöffnet. Sie werten nicht, sondern stellen fest und ordnen. Dabei haben sie herausgefunden, dass alle uns bekannten frühen Gesellschaften und Kulturen mit religiösen Elementen verbunden und von ihnen durchformt sind. Das hat einige zu der kühnen These angeregt, dass der Mensch als das »Tier mit Religion« zu verstehen sei. Daran ist richtig, dass Religion bei keinem Tier anzutreffen ist und als ein rein menschliches Phänomen zu gelten hat. So etwas wie eine »religiöse Anlage« lässt sich allerdings ebenso wenig postulieren wie ein religiöses Gen oder ein Hirnareal, das für Religion zuständig ist. Es darf nicht unterschlagen werden, dass es in historischer Zeit stets Menschen gab, die ohne die Anbindung an jene Wirklichkeit lebten, die ihre Zeitgenossen als Religion verstanden und ausübten. Der Philosoph Jürgen Habermas ist nicht allein, wenn er die Realität von Religion zwar soziologisch zu würdigen weiß, sich selbst aber als »religiös unmusikalisch« bezeichnet. Wer sich freilich als areligiös bezeichnet und aus dieser Perspektive die Religion für Phantasie oder zur Wahnwelt erklärt, der schließt sich selbst aus dem ernsthaften Gespräch über Religion aus.
Der aufrechte Gang auf zwei Beinen, der sich vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren vollzogen haben soll, macht einen Menschenaffen ebenso wenig zum Menschen wie die Bezeichnung »Homo« (= Mensch), die Biologen bestimmten Skelettfunden aus jener Zeit gegeben haben. Biologische Tatbestände wie Hirnvolumen und Greifhände sind gewiss Voraussetzungen für Menschsein, können uns aber nicht sagen, was das Menschsein vom Tiersein unterscheidet.
Der wesentliche Entwicklungsschritt hin zum Menschsein im heutigen Sinn scheint sich in jener Phase vollzogen zu haben, in der sich der werdende Mensch seiner selbst bewusst wurde. Das ist nach heutigem Wissensstand nur mit einer Sprache möglich, die weit mehr leistet als jedes tierische Kommunikationssystem. Es muss bereits eine Sprachform sein, in der sich mehrere Individuen über etwas verständigen können, das nicht sie selbst sind, zu dem sie sich aber in Beziehung setzen können. Tiere lernen mit den Gegenständen ihrer Welt umzugehen, sie für sich zu nutzen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Erst über Sprache erschließt sich die Welt als etwas Größeres, in das wir uns eingebunden wissen, von dem wir abhängen und in dem wir unseren Weg finden müssen.
Das Wesen Mensch, das sich seiner selbst in einer vorgefundenen Welt bewusst wird, beginnt die Fragen zu stellen, die uns bis heute umtreiben: Wer bin ich im Gegenüber zu den anderen Lebewesen, Pflanzen, Gegenständen und Erscheinungen? Woher komme ich? Wenn ich sterbe, wohin gehe ich? Solange ich hier bin, wozu lebe ich? Wie soll oder möchte ich leben? Diese elementaren Fragen, zu denen ein Wesen Mensch durch Sprache fähig wird und die auf Antworten drängen, sind und bleiben die Basis für das Sinngefüge Religion. Dazu bedarf es keiner besonderen Anlage, keines religiösen Gens, keines religiösen Hirnareals und auch keiner »religiösen Musikalität«. Diese Fragen haben auch die religiös Unmusikalischen.
Religion hat es bleibend mit jenen Urfragen zu tun, vor die sich ein Mensch, der sich seiner selbst und seiner Endlichkeit bewusst ist, jederzeit gestellt sieht, und zwar unabhängig davon, ob er einer bestimmten Religion angehört, und auch unabhängig von den Antworten, die er für diese urmenschlichen Fragen findet.
Als Erstes bleibt also nur die Feststellung: Mit Religion ist zunächst nur jener Bereich umschrieben, der mit den menschlichen Fragen nach Woher, Wozu, Wie, Wohin, Sinn und Ziel unseres Lebens in den Blick kommt. Mit Religion ist der Fragehorizont umschrieben. Die Formen der Antwort lassen sich generell nicht mehr beschreiben und bestimmen, denn Religion im Sinn von Antwortpotenzialen, die von Menschen ausgeformt und gelebt werden, ist so vielgestaltig, dass sie sich einer generellen inhaltlichen Definition entzieht. Anders gesagt: Religion gibt es nur in der konkreten Gestalt von einzelnen Religionen. Wer selbst in keine konkrete Religion eingebunden ist, wird sie nur aus einer selbst gewählten Außenperspektive wahrnehmen können.
Religion setzt ein menschliches Wesen voraus, das sich seiner selbst und seines Seins in der Welt bewusst ist und auch weiß, dass es sterben wird. Das wiederum hängt von einem gewissen Niveau von sprachlichen Fähigkeiten ab. Wir wissen nicht, wann dieses Niveau in der Entwicklungsgeschichte des Menschen erreicht war. Wir wissen aber, dass sich Bewusstsein in Verhalten äußert. Es gibt Vermutungen, aber keine eindeutigen Beweise dafür, dass die Körperbemalung mit Pigmenten, die man bei 400 000 Jahre alten Skelettfunden festgestellt hat, auf religiöse Rituale hinweisen. Die Grabfunde ab 100 000 v. Chr., die auf bestimmte Bestattungsformen hinweisen, sind bereits eindeutige Zeugnisse religiösen Bewusstseins, auch wenn wir die Einzelheiten nicht zuverlässig deuten können. Bestattung Verstorbener in Ost-West-Richtung, in Hockstellung, mit Grabbeigaben und unter Hügeln zeigen |21| uns, dass der Tod als Zäsur erfasst und mit Gedanken über ein Danach verbunden wurde.
Die regionale Einheitlichkeit von Bestattungsriten weist darauf hin, dass Religion nie die Sache Einzelner war, sondern sich von Beginn an als kollektives Bewusstsein von Gemeinschaften artikulierte. Daraus folgt: Es gibt die Religion genauso wenig wie es den Menschen gibt. Religion gibt es nicht abstrakt, sondern nur in Gestalt konkreter Ausformungen durch Gemeinschaften, Verbände, Stämme, Völker.
Das Bewusstsein des Menschen, in ein Größeres eingebunden zu sein, nennt der Philosoph Karl Jaspers zutreffend »das Umgreifende«. Religion als Verhältnis zu diesem Umgreifenden und für uns nicht Verfügbaren nimmt in jener Lebenswelt konkrete Gestalt an, in der sich eine Menschengruppe vorfindet. Jäger und Sammler sehen sich Mächten, Geistern oder Herren des Waldes gegenüber und erleben sich als von ihnen abhängig. Für Hirtenkulturen sind die Weiden und damit der Regen des Himmels für das Überleben wesentlich. Für sie ist der Himmel das Umgreifende. In agrarischen Kulturen begegnet jenes umfassend Größere dem Menschen in der Fruchtbarkeit der Mutter Erde, und der Regen des Himmels tritt als das männliche Prinzip hinzu.
Wir nennen die frühen Religionen mangels eines treffenderen Ausdrucks »Naturreligionen«. Sie haben noch keine heiligen Schriften, noch keine Berufspriester, sondern nur ein gemeinsames Verständnis ihrer Welt und jener Mächte, denen sie sich innerhalb der Gegebenheiten ihrer Lebenswelt gegenüber sehen. Diese Potenzen können als unpersönliche Kräfte, als Geister oder später auch als personifizierte Gestalten bis hin |22| zu überirdischen Göttern erlebt werden. Zu ihnen setzt sich die Gemeinschaft mit Ritualen in ein Verhältnis und in eine Verbindung, die auf Zusammenarbeit angelegt ist. Dabei spielen magische Praktiken und Opfer eine Rolle, mit deren Hilfe man auf diese Mächte einzuwirken versucht. Praktiken der Magie und des Opfers sind in subtilen Formen auch in heutigen Religionen gegenwärtig.
Der Umgang mit den unverfügbaren Bedingungen unserer menschlichen Existenz und deren Sinndeutung umschreibt von Anfang an die bleibende Basis von Religion. In den vorhistorischen Religionsformen und in den noch existierenden Naturreligionen bilden Natur und Religion eine untrennbare Einheit.
Die Religionen, die sich in unserem Kulturkreis seit 3000 v. Chr. in Vorderasien (bei Sumerern, Babyloniern, Assyrern, Hetitern, Kanaanitern u. a.) herauszubilden beginnen, nennen wir Hochreligionen, weil sie den nun entstehenden Hochkulturen entsprechen. Diese ältesten Hochkulturen entwickeln eigene Schriftsysteme und Staatsgebilde mit Herrschaftshierarchien und mit arbeitsteiliger Organisation. Das jeweilige religiöse Selbstverständnis bleibt das Dach und der Horizont, in deren Bereich sich die regionale Kultur differenziert und entwickelt. In den Hochreligionen werden die Gottheiten regional und ortsgebunden verstanden. Wir sprechen daher von »regionalen Hochreligionen«.