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Die öffentliche Debatte zur Religion und ihren Zukunftsperspektiven bewegt sich zwischen Grabgesängen und Auferstehungshymnen. Dabei wird oft kaum unterschieden zwischen persönlicher Religiosität und ihren institutionalisierten Formen. Doch Entfremdung von der Kirche muss nicht Verzicht auf das Religiöse bedeuten. Helmut Fischer klärt die diffusen Begriffe und erhebt ein Religionsverständnis aus dem elementaren Zusammenhang von Menschsein, Sprache und Selbstreflexion. Das Potenzial des christlichen Glaubens speist sich nicht aus der Kirchlichkeit des Kults, nicht aus den Lehren der Kirche über Gott oder aus moralischen Forderungen. Christlicher Glaube hat dort Zukunft, wo er im Sinn der Liebesbotschaft Jesu als Lebensmöglichkeit verständlich und erfahrbar wird.
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Seitenzahl: 215
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Helmut Fischer
Alternativlos?
Europäische Christen auf dem Weg in die Minderheit
TVZ Theologischer Verlag Zürich
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung von Günter Scharein »Hommage à Meister Mathis« © Günter Scharein, Berlin
Bibelzitate nach: Zürcher Bibel 2007
ISBN 978-3-290-17754-6 Buch) ISBN 978-3-290-17208-4 (E-Book)
|XX| Seitenzahlen des E-Books beziehen sich auf die gedruckte Ausgabe.
© 2014 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch
Alle Rechte vorbehalten
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einführung
1 Was mit Religion gemeint sein kann
1.1 Das Wort »Religion«
1.2 Religion in der Sicht der Aufklärung
2 Religion als eigenständiger Forschungsgegenstand
2.1 Wofür das Wort »Religion« heute stehen kann
2.2 Die Entwicklung der Religionswissenschaften
2.3 Paradigmen des Weltverstehens
2.4 Das Religionsverständnis der verschiedenen religionswissenschaflichen Disziplinen
3 Die Säkularisierungsthese
3.1 Der Wandel im Verständnis der Säkularisierungsthese
3.2 Inhalte des kulturellen Wandels
4 Empirische Daten zum Ist-Zustand der Religiosität
4.1 Das Bezugssystem der Befragungen
4.2 Messergebnisse zur Religiosität
4.3 Transzendenzverständnisse
4.4 Eine Typologie der Religiosität
4.5 Rückblick auf die Zustands-Erhebung
5 Religion und Menschsein
5.1 Eine andere Sicht auf Religion
5.2 Die Rolle der Sprache
5.3 Der Glaube an höhere Wesen|6|
6 Welterkenntnis und Gotteserkenntnis
6.1 Menschliche Welterkenntnis
6.2 Gotteserkenntnis – ein Element von Welterkenntnis
6.3 Das subjektivische Schema ermöglicht unterschiedliche Gottesvorstellungen
6.4 Die gegenwärtig praktizierten Paradigmen
6.5 Transzendenz
6.6 Religiöse Transzendenzvorstellungen und theistische Modelle entstehen und zerfallen miteinander
7 Tendenzen der Entwicklung von Religion und Religiosität
7.1 Dimensionen von Religion
7.2 Die Kirche als religiöse Größe
7.3 Dimensionen der Religiosität
8 Zusammenfassung und Auswertung
8.1 Religion und Religionslosigkeit
8.2 »Transzendieren« als elementare Religiosität
8.3 Religion und Gesellschaft
8.4 Religion und Kultur
8.5 Christliche Religion als Kirche
8.6 Zur kognitiven Dimension von Religiosität
8.7 Zur rituellen Dimension von Religiosität
8.8 Zur mystischen Dimension von Religiosität
8.9 Zur ethischen Dimension von Religiosität
8.10 Zur integrativen Dimension des Religiösen
9 Zusammenfassende Schlusssätze
Verzeichnis der zitierten Literatur
Bücher von Helmut Fischer
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Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Religion in immer kürzeren Abständen von den einen für überflüssig und tot erklärt und von den anderen als notwendig bezeichnet und lebendig gesprochen. Die Kritik an der Religion ist nur wenig jünger als die Religion selbst. Nur sagt sie wenig über das Phänomen Religion und deren Zukunft. Viel hingegen sagt sie uns über das Verhältnis der Kritiker oder Verteidiger von Religion zu ihrem Gegenstand. 1992 verbreitete »Der Spiegel« die Ergebnisse einer Befragung der Deutschen zur Religion mit der Schlagzeile »Abschied von Gott«. Im März 2001 horchte die Welt auf, als die Taliban die berühmten alten Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan zerstörten. Nach dem islamischen Anschlag des 11. Septembers 2001 kam das Thema Religion auf unerwartete Weise in die öffentliche Diskussion. 2004 veröffentlichte Friedrich Wilhelm Graf, Professor der Systematischen Theologie und Ethik an der Universität München, seine Untersuchungen zur Religion der Moderne unter dem provozierenden Titel: »Die Wiederkehr der Götter«. Seit 2006 erregte der »Gotteswahn« des Evolutionsbiologen und bekennenden Religionsgegners Richard Dawkins die Gemüter. Richard Schröders Einspruch dagegen (»Abschaffung der Religion?«) von 2008 und andere Apologien des Christentums haben das Gespräch belebt. »Rückkehr des Religiösen?« fragte auch der Religionssoziologe Detlev Pollack und setzte im Titel seines Buches ein Fragezeichen.
Ein Blick auf die unterschiedlichen Aussagen zur Religion zeigt, dass die abwertenden Äußerungen über sie ebenso wie die entsprechenden Verteidigungsschriften gleich mehrere Merkmale gemeinsam haben, die den Absolutheitsanspruch der jeweiligen Positionen relativieren: |8|
Sie gehen von einem je unterschiedlichen Verständnis von Religion aus.Sie betrachten Religion aus unterschiedlichen Perspektiven.Sie halten je ihr Verständnis von Religion und ihre Perspektive der Betrachtung für normativ, für objektiv und für das Wesentliche des Phänomens.In den pauschalen Aussagen über Religion werden Begriffe und Assoziationen dazu, die getrennt werden müssen, oft unreflektiert miteinander verbunden, vermischt oder gleichgesetzt. So z. B. Religion als Lebensäußerung, als kultische Organisation, als Lebenspraxis, als Reflexionsprozess, als Theologie, als Spiritualität, als Frömmigkeit, als Mystik, als Ideologie, als Aberglaube, als Magie, als Kult, als Ritus u. a. m.Die Vorgaben der eigenen Position und die interessengeleitete Sicht werden oft nicht offengelegt, sondern den Lesenden als selbstverständlich und als geboten vorgesetzt.Ein so vielschichtiges Phänomen wie Religion, das in allen Bereichen der menschlichen Kultur gegenwärtig sein kann, muss zu Recht aus unterschiedlichen Perspektiven und in seinen unterschiedlichen Funktionen wahrgenommen werden. Insofern sind alle religionskritischen Analysen den Religionshütern zur Selbstreflexion dringend zu empfehlen. Andererseits gilt auch für die Religionsforscher zu beachten, was der Psychoanalytiker Fritz Riemann zu den Äußerungen der Fachleute über die Liebe gesagt hat: »Über die Liebe zu sprechen oder zu schreiben sollte eigentlich den Liebenden und den Dichtern vorbehalten bleiben, denen also, die von ihr ergriffen sind. Wenn sich hingegen die Wissenschaft ihrer bemächtigt, bleibt von der Liebe oft wenig mehr übrig als Triebe, Reflexe und scheinbar machbare oder erlernbare Verhaltensweisen, als biologische Daten, messbare physiologische und testbare psychologische Reaktionen, die alle auch zum |9| Phänomen Liebe gehören, mit denen wir es aber nicht erfassen.« (Riemann 13)
So wenig man der Liebe mit der Erklärung nahekommt, dass der Mensch, gesteuert vom Diktat seiner Gene und Hormone, in seinem Triebleben umherirrt, so wenig kommt Religion in den Blick, wenn man die religiösen Menschen, von finsterer Magie getrieben, in absurden Ritualen gefangen sieht. Testosteron und Phenylethylamin mögen bei geschlechtlicher Liebe eine Rolle spielen, sie sagen aber über liebendes Verhalten genauso wenig wie ein Cocktail bestimmter Monoamine über die menschliche Fähigkeit aussagt, sich selbst zu transzendieren. Wer Liebe im Drang zur Fortpflanzung aufgehen lässt und Religion als Vorteil für das Überleben der Gruppe deutet, der hat wohl übersehen, dass Liebe auch abgesehen von Sexualität und Fortpflanzung existiert und die Religion selbst dort eine zentrale Rolle spielen kann, wo ihretwegen sogar die physische Existenz des Einzelnen oder einer Gruppe riskiert wird. Reduziert man Liebe oder Religion auf neuronale Erregungen im Gehirn, so folgt man der Logik, wonach das Klavier die Musik produziert. Hier lässt sich einiges entwirren, ordnen und klären, damit die Lesenden sich ihr eigenes Urteil bilden können.
Das gegenwärtige Erscheinungsbild von Religion lässt sich, wie alles geschichtlich Gewordene, nur verstehen, wenn man sich der Wege und Weichenstellungen bewusst wird, die zu ihrem aktuellen Stand geführt haben. Die gegenwärtige Krise der Religion in Europa ist ohne Frage auch durch kulturelle, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen mitverursacht. Aber für die christliche Religion entscheidender ist die selbstkritische Frage nach den von den Kirchen selbst zu verantwortenden Faktoren, die zu dieser Krise geführt haben und sie weiterhin verstärken.
Die unterschiedlichen thematischen Schnitte, die in dieser Arbeit gelegt werden, bedingen die gelegentlichen Wiederholungen. Gerne wiederhole ich auch in diesem Buch meinen Dank für |10| die Hilfe beim Erstellen eines ordentlichen Typoskripts an Frau Bärbel Behrens und Frau Dietlind Wienen sowie an die kürzlich verstorbene Frau Marianne Stauffacher für das exzellente Lektorat aller meiner Bücher im Theologischen Verlag Zürich.
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Jede sinnvolle Aussage über die Zukunft von Religion muss vorab klären, was unter »Religion« verstanden werden soll. Bereits bei dieser Frage stoßen wir auf das Grundproblem aller Äußerungen über Religion. Denn für das, was unter Religion zu verstehen sei, hält sich jeder und jede für zuständig und für kompetent, und zwar die Religionsgegner wie die Fundamentalisten, die im Volksglauben Beheimateten nicht weniger als die theologisch Gebildeten.
Religio ist eine Wortbildung der lateinischen Sprache in vorchristlicher Zeit. Man bezeichnete damit in der altrömischen Kultur das gewissenhafte Erfüllen der Pflichten. Im kultischen Bereich betraf das die kultischen Pflichten gegenüber den Göttern.
In seinem Werk »Über das Wesen der Götter« definierte der Philosoph und Rhetor M. D. Cicero Religion als Götterverehrung (Cicero II,8) und er leitete das Wort religio von dem Verb relegere (sorgfältig auswählen) ab. Religio meinte, »dass das gewissenhaft bedacht und immer wieder beachtet wird, was die Götter wollen« (Ratschow 634).
Cicero hatte bei seinem Wortverständnis die römische Kultpraxis seiner Zeit vor Augen. Diese Kultpraxis war nicht die Privatsache des Einzelnen, sondern eine kollektive und öffentliche Angelegenheit des Gemeinwesens, zu dem der einzelne Bürger der Stadt das Seine beizutragen hatte, vor allem bei der Finanzierung der Kulte für die Stadt-Gottheiten. Die Götterverehrung der Römer kannte keine Lehren über die Götter und keine Bekenntnisse zu ihnen; sie wurde als Teilnahme an der |12| Kultpraxis im Festkalender der Stadt praktiziert und zwar bei öffentlichen Gebeten und bei rituellen Handlungen. Die römischen Bürger lernten ihre Religion nicht über religiöse Belehrung und Inhalte kennen, sondern indem sie bereits als Kinder an kultischen Handlungen teilnahmen.
Die griechische Kultur kannte keinen Begriff, der dem lateinischen religio entsprach. Auch im slawischen und germanischen Wortschatz finden wir nichts dergleichen. Die europäischen und außereuropäischen Sprachen haben erst in der Neuzeit religio als Sammelbegriff für einen Phänomenbereich übernommen, den sie inhaltlich unterschiedlich füllten. »Nur nachklassische westliche Sprachen besitzen überhaupt ein besonderes Wort für ›Religion‹ und trennen anders als andere Zivilisationen ›religiöse‹ von anderen kulturellen Manifestationen.« (Elsas in: HWbPh 8,711) »Religion« ist bis heute ein offener Sammelbegriff, der aus der jeweiligen Perspektive der Betrachter definiert wird.
Laktanz, christlicher Rhetor und Prinzenerzieher am Hof Konstantins in Trier, griff in seinen »Göttlichen Institutionen« (307–301) den religio-Begriff auf, leitete ihn aber inhaltlich, anders als Cicero, von religare (zurückbinden, anbinden, befestigen) ab. Das entsprach offenbar besser seinem Verständnis von der festen Verbundenheit mit dem einen Gott und seiner Schöpfung. Augustinus (354–430) hat diese Sinngebung übernommen. Auch er bezog religio im altrömischen Sinn in erster Linie auf den Kult, der dem einen Gott und Schöpfer gebührt. Aber sein religio-Verständnis öffnete sich auch für die Erkenntnis dieses einen Gottes und für die ethische Lebensführung, die sich für die Gläubigen daraus ergibt.
Im Mittelalter bezeichnete religio weiterhin die Tugend der Gottesverehrung, konnte aber bereits als Sammelbegriff für die unterschiedlichen Arten der Gottesverehrung bei anderen Völkern verwendet werden. Mit religio blieb der Blick auf das |13| Hauptkennzeichen einer Kultur gerichtet, und das sah man in der Art und Weise ihrer kultischen Gottesverehrung.
In der Zeit der Renaissance und Reformation weitete sich der religio-Begriff. Er umfasste als eine Art Oberbegriff jetzt auch die Erkenntnis und die Lebensgestaltung, die aus dem christlichen Gottesverständnis hervorging. Noch aber blieb religio im Wesentlichen auf die Ausdrucksformen des Christentums bezogen. Erst mit der Aufklärung änderte sich der religio-Begriff grundlegend. Dieser Wandel ergab sich aus dem Gedanken, dass die Wahrheit nicht in einer überkommenen Glaubensform enthalten sei, sondern in der Ratio des Menschen liege und auch darin gründe. Das bedeutete, dass geoffenbarte Inhalte durch die menschliche Vernunft auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft und, falls nötig, auch auf das Einsehbare beschränkt werden mussten. Der menschliche Geist war damit aufgefordert, die Erscheinungsformen von Religion auf den Prüfstand der Vernunft zu stellen, was auch immer unter Vernunft verstanden wurde. Das kennzeichnet den Schritt aus der bisher unbefragt geltenden Innenperspektive in die Betrachtung religiöser Erscheinungen aus externen Perspektiven. Man begann, nach dem Wesen der Religion zu fragen, dem Gemeinsamen in den einzelnen Religionen. Die Diskussion über das Verhältnis natürlicher und offenbarter Religion kam in Gang. Von nun an wurde unterschieden zwischen einer inneren wahren Religion als Liebe zu Gott, zum Nächsten und zur Wahrheit und einer Religion, in der es nur darum ging, formelle Vorschriften zu beachten.
Bis zur Aufklärung war das Verständnis von Religion in der westlichen Welt weithin normativ an der eigenen christlichen Religion orientiert. Jetzt wurde die Vernunft mit ihren vielen möglichen Aspekten zum Maßstab der Betrachtung, aber die Religionsdefinition der abendländisch christlichen Kultur blieb weiterhin als Leitgedanke für die Auswahl jener Elemente prägend, |14| auf die hin seit dem 19. Jahrhundert auch außereuropäische Kulturen bzw. Religionen untersucht wurden.
Die einzelnen Ablösungsschritte der Religionswissenschaften von der Theologie müssen hier ebenso wenig nachgezeichnet werden wie deren Entstehung und die Entdeckung und der Ausbau der Religionsgeschichte. Die Abkoppelung der entstehenden Wissenschaftszweige vom religiösen Weltbild befreite zwar zu vielseitigen Perspektiven auf Religion, barg aber zugleich die Gefahr in sich, dass die einzelnen Perspektiven sich absolut setzten und sich zu absolutistischen Ideologien verselbständigten.
Wo sich aufklärerische Impulse mit Ideologie verbündeten, konnte emanzipierte Wissenschaft als Gegenaufklärung funktionalisiert werden. In seiner Studie »Religion nach der Aufklärung« stellt der Philosoph Hermann Lübbe fest: »Im Verhältnis zur Religion lässt sich die Geschichte der wissenschaftlichen Aufklärung in der Tat als eine Erfolgsgeschichte schreiben. Als Kontrollinstanz, die über die Zuverlässigkeit kognitiver Inhalte wissenschaftlicher Weltbilder wachte, ist Religion bei uns schlechterdings nicht mehr wirksam. Statt dessen ist es die Wissenschaft selbst, in deren Namen die totalitären Hochideologien über die Integrität der von ihnen kulturell und politisch privilegierten Weltbilder wachen … Selber Wissenschaft zu sein und auf Ergebnissen moderner Wissenschaften zu beruhen – das ist der Anspruch der großen Ideologien.« (Lübbe 1986, 54) So sehr die wissenschaftliche Erforschung der Religion aus vielen Perspektiven zu begrüßen ist, so genau wird darauf zu achten sein, dass das Phänomen Religion nicht auf die jeweils eine Perspektive der Betrachter reduziert und von daher als das Ganze verstanden und bewertet wird. Da dieser Reduktionismus bis heute aktuell ist und auch für unsere Frage nach der Zukunft der Religion das Gespräch verwirrt, soll an Beispielen darauf eingegangen werden. |15|
Bemühen und Ziel der mittelalterlichen Denker war es, die klassische Philosophie mit der kirchlichen Theologie zu versöhnen. Dabei fungierte die Philosophie im gesamten abendländischen Mittelalter als »Magd der Theologie«. Der französische Mathematiker René Descartes (1596–1650) befreite die Philosophie aus dieser Rolle und machte sie zur eigenständigen Disziplin. Er sah die Aufgabe der Philosophie darin, sich von allen Vorurteilen zu befreien und alles zu bezweifeln, was sich bezweifeln lässt. So unternahm er den Versuch, ohne Rückgriff auf die traditionell vorgegebenen Gedanken über Gott, Kosmos und Welt und ohne höhere Offenbarungen für alles Wissen ein sicheres Fundament zu gewinnen.
Sein methodischer Zweifel führte ihn zu der Erkenntnis, dass die evidente und nicht mehr bezweifelbare Basis das Selbstbewusstsein des Menschen ist, denn selbst im letzten Zweifel muss das zweifelnde Ich vorausgesetzt werden. Descartes kennzeichnet es als die »denkende Substanz« (res cogitans) und unterscheidet davon alles Dingliche als »ausgedehnte Substanz« (res extensa), weil diese äußeren Dinge durch Ausdehnung, Bewegung, Gestalt, Größe, Anzahl, Ort und Zeit bestimmt und mathematisch erfasst werden können. Descartes stößt damit eine Denkweise an, die unter dem späteren Stichwort »Aufklärung« die folgenden Jahrhunderte in allen kulturellen Bereichen geprägt hat.
Immanuel Kant hat Aufklärung 1784 so definiert: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen … Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« (Kant 1784, 53) Darin ist die Aufforderung enthalten, über Religion nicht mehr in deren immanenter Logik nachzudenken, sondern sie aus |16| externer Sicht innerhalb der Kategorien der autonomen Vernunft zu betrachten. Das ist dann auch auf vielfältige Weise geschehen, in hervorragender Weise durch Kant selbst.
Die aus der Vernunftperspektive hervorgegangenen Betrachtungsweisen von Religion unterschieden sich lange Zeit in der Tendenz, sie entweder zu kritisieren oder als notwendig zu begründen. Die religionskritischen Äußerungen überwogen und deren Gedanken sind bis heute in popularisierter Form lebendig.
Kant setzte sich in seinen Kritiken der Vernunft auch indirekt mit der Religion auseinander. Nach seinem Verständnis gründet unsere Erkenntnis in nur drei Elementen, nämlich in unseren Sinnen, die uns eine Anschauung der Natur vermitteln, unserem Verstand, der die Begriffe zu den Erfahrungswerten bereitstellt und diese erst möglich macht, und unserer Vernunft. Die Vernunft bezieht sich nicht auf Erfahrung und auf Gegenständliches, sondern nach Kant auf die vor aller Erfahrung gegebenen transzendenten Ideen. Erst in diesen Ideen, mit denen die Vernunft operiert, werden die Phänomene, die wir über unsere Sinne wahrnehmen, und die der Verstand erfasst, zum Ganzen der Erkenntnis zusammengeführt.
Kant bezweifelt nicht, dass Gott sei. Aber er leitet aus dem Begriff »Gott« ab, dass Gott nicht ein Gegenstand wie die Dinge dieser Welt sein kann. Daraus folgt, dass Gott weder aus menschlichen noch naturwissenschaftlichen Erfahrungen noch durch die Arbeit unseres Verstandes erschlossen werden kann. Alle bis dahin aufgestellten Gottesbeweise entkräftet er so. Gott und Religion seien auch nicht durch Offenbarung in die Welt gekommen. Dennoch erweist sich ihm Gott als ein Postulat der praktischen Vernunft. Das begründet er anthropologisch aus der Bestimmung des Menschen. Der Mensch, sagt er, wird nicht bereits durch Erkenntnis zum Menschen, sondern erst dadurch, |17| dass er die Möglichkeit hat und wahrnimmt, seine höchsten sittlichen Werte auch frei zu verwirklichen. Hatte Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) die Religion noch als Begründung für die Moral herangezogen, so reduzierte er später Religion auf Moral, nämlich als die »Erkenntnis aller Pflichten als göttliche Gebote« (Kant 1788, 233). Diese Reduktion der Religion auf Moral hat nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Theologie in vielen Abwandlungen Nachfolger gefunden.
Ludwig Feuerbach (1804–1872) trat der Religion nicht von außen entgegen, sondern hatte in Heidelberg und Berlin Religion und Theologie studiert, in Berlin wurde er beeinflusst vom Philosophen Hegel, von dessen idealistischer Gleichsetzung der christlichen Religion mit der wahren Philosophie er sich wieder distanzierte. An Luther und der zeitgenössischen Theologie glaubte er feststellen zu können, dass diese sich längst als Anthropologie verstehe und dass die Gläubigen sich im Gott ihrer Religion nur selbst wie in einem Spiegel ansähen und ihr eigenes menschliches Wesen reflektierten. Gott ist das vergegenständlichte und vergöttlichte Wesen des Menschen als Gattung. Diese These ist bereits in den ersten Sätzen seines Hauptwerkes »Das Wesen des Christentums« (1841) angelegt: »Die Religion beruht auf dem wesentlichen Unterschiede des Menschen zum Tiere – die Tiere haben keine Religion … Was ist aber dieser wesentliche Unterschied? … das Bewusstsein … Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion.« (Feuerbach, I,35f) So ist der Mensch der Anfang der Religion, deren Mittelpunkt und auch deren Ende. Den Gottesglauben, den er mit Religion identifiziert, sieht Feuerbach im selbstischen Kreisen des Menschen um sich selbst angelegt. Im Gefühl der unentrinnbaren Abhängigkeit von |18| der bewusstlosen Natur macht er das zu seinem anbetungswürdigen Gott, was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, nämlich: Herr der Lage. Feuerbach war überzeugt, dass mit dem Mechanismus der religiösen Selbstspiegelung alle Religion als Illusion aufgedeckt und die atheistische Philosophie der Zukunft gefunden sei.
Karl Marx (1818–1883) war Zeitgenosse Feuerbachs. Sein philosophisches Profil fand er in der Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach. Von Feuerbach übernahm er den Atheismus und die Einschätzung der Religion als ein illusionäres Machwerk des Menschen. Hatte Feuerbach das Wesen der Religion auf das Wesen des Menschen reduziert, so reduzierte Marx das Wesen des Menschen noch enger auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen es hervorging. In seinen »Thesen über Feuerbach« (1845) stellte er fest: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber dieses menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (These 6) Das, was man als »religiöses Gemüt« bezeichne, sei selbst ein gesellschaftliches Produkt (Marx 1845, These 7). Marx interessierten weder die Inhalte der Religion noch die Frage nach deren Wesen und Wahrheit, sondern lediglich ihre Wirklichkeit als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. Darunter verstand er vor allem die ökonomischen Verhältnisse, da das Bewusstsein der Menschen durch ihre gemeinsame Arbeit als wirtschaftende Wesen gebildet werde. In den Arbeitsverhältnissen, in denen das Produkt der Arbeit zu einer dem Arbeitenden entfremdeten Ware wird, entfremde sich auch der Mensch vom Menschen. Diese ökonomischen Verhältnisse dienten dem Vorteil bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Die Religion, deren Priester mit den Herrschenden zusammenarbeiteten, habe |19| den Zweck, die bestehenden Verhältnisse stabil zu halten, zu legitimieren und zu rechtfertigen. Während Feuerbach noch dachte, dass sich mit der Aufdeckung ihres illusionären Charakters die Religion selbst auflösen werde, forderte Marx mindestens indirekt den Kampf gegen die Religion als »Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist« (Marx 1844, 1,378). Die Religionskritik allein genügte Marx nicht. Seiner Forderung gemäß, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, gelte es, gegen jene Verhältnisse aktiv vorzugehen, die Religion als »Opium des Volkes« hervorbrächten, förderten oder stützten. Der Befreiungskampf des Proletariats werde zu dieser freien Welt führen.
Auf der Basis der Thesen von Feuerbach und Marx hat Friedrich Engels (1820–1895) den Kampf gegen die Herrschenden als jener fremden und entfremdenden Macht propagiert, mit deren Verschwinden auch die Religion verlöschen sollte. Die kirchen- und religionsfeindliche Marx-Engels-Ideologie ist in Deutschland lange präsent geblieben. Sie wurde zwischen den Weltkriegen von deutschen Sozialisten sehr offensiv praktiziert und bewirkte zwischen 1920 und 1930 eine beachtliche Kirchenaustrittsbewegung. Die deutschen Sozialdemokraten lösten sich erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in ihrem Programm von den religionsfeindlichen Ideologie-Elementen.
Als Napoleon den französischen Astronom und Physiker Pierre Laplace (1749–1827) fragte, wo in seinem Weltsystem Gott zu finden sei, antwortete dieser: »Ich habe diese Hypothese nicht gebraucht.« Damit sagte er für einen Naturwissenschaftler seiner Zeit nichts Neues. Er fasste aber auf sehr einfache Weise zusammen, was Astronomen wie Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Giordano Bruno (1548–1600), Johannes Keppler (1571–1630) und Isaak Newton (1642–1726) und andere Naturforscher seit Jahrhunderten taten, nämlich die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, |20| nach denen sich die Abläufe im Weltganzen wie im Kleinen berechnen und erklären lassen.
Zunächst war man noch überzeugt, dass das Anfangsereignis auf einen Impuls Gottes als dem Urgrund der Welt zurückzuführen sei. Aus dieser Vorstellung entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich und England das Konzept des Deismus. Danach hat Gott die Welt samt den Bedingungen und den Gesetzmäßigkeiten ihres Existierens geschaffen, er greift aber nach dem Schöpfungsprozess in den Lauf der Dinge nicht mehr ein. Im Horizont dieses Denkens wird Religion auf jene Inhalte reduziert, die der menschlichen Vernunft einleuchtend sind und die sie aus sich selbst haben kann.
Das religiöse Relikt des Deismus, nämlich der Schöpfergott, wurde aber bereits im 18. Jahrhundert von der naturwissenschaftlichen Forschung ganz ausgeschieden. Mit der Inthronisation der »Göttin der Vernunft« am 10. November 1793 auf dem Hochaltar von Notre Dame in Paris glaubte man alles Übernatürliche, alle Offenbarungsreligion und alle Metaphysik endgültig abgeschüttelt zu haben. Naturwissenschaft und konsequenter Atheismus schienen identisch zu sein. Diese Gleichung wird in der Popularliteratur bis heute verbreitet.
Die sich als konsequent atheistisch verstehende Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts fand seine prägnante Stimme in der Person des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel, der mit seinem allgemein verständlichen Buch »Die Welträtsel« (1899) nicht nur die Naturwissenschaftler mehrerer Generationen, sondern die Gebildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Im Nachwort zur 10. Auflage bezeichnet er sein Buch als ein »Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft« (511). Er singt das Hohelied auf das »Grundgesetz des Weltmechanismus«. Danach »sind die sämtlichen anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit zugleich rein atheistisch geworden« (331). Haeckel war noch fest davon überzeugt, dass die Naturwissenschaft die Gegenstände ihrer Forschung ihrer |21| Natur gemäß erfasst. Er konnte um die Jahrhundertwende noch nicht ahnen, dass Albert Einstein, Max Planck, Max Born, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und andere Naturwissenschaftler die von Haeckel noch so sicher proklamierten Vorstellungen von Kausalität, Raum, Zeit, Materie, Energie, Atomen und Naturgesetzen überholen und auch sein Verständnis von der Leistung unserer Vernunft neu und anders bewerten würden. Haeckel gründete 1906 den Deutschen Monistenbund, der auf der Basis des Glaubens an die Alleingeltung der Materie das dogmatische Christentum »durch die monistische Philosophie ersetzen« (427) sollte. Diese »vernünftige Religion« hat sich freilich bereits nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgelöst, und zwar zusammen mit dem naiven Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, den Haeckel in seiner Philosophie auch als Darwinist so selbstbewusst vertreten hatte. In gebildeten Kreisen klang noch lange das Goethe-Motto nach, das Haeckel seinen monistischen Studien über die Religion der Vernunft vorangestellt hatte:
«Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
der hat auch Religion!
Wer diese beiden nicht besitzt,
der habe Religion!« (418)
Aus dem generellen Reduktionismus von Religion auf die jeweilige Perspektive und den Horizont der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen ergeben sich entsprechend unterschiedliche Religionsverständnisse. Die methodische Reduktion ist den Naturwissenschaften nicht vorzuwerfen. Sie ist Wesensbestandteil ihres Selbstverständnisses. Der Philosoph Günther Pöltner klärt das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Aussagen und Reduktion so: »Die Naturwissenschaft hat es von vornherein mit |22| einem ihrer Fragehinsicht und -absicht entsprechenden thematisch reduzierten Gegenstand … zu tun. Diese bewusste Ausblendung einer Reihe von Dimensionen des Vorgegebenen macht eine Naturwissenschaft überhaupt erst möglich. Das Objekt der Naturwissenschaft liegt nicht einfach fertig vor, sondern ist das Resultat einer methodischen Reduktion. Durch sie wird von vornherein festgelegt, was an der vorgegebenen Natur zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann und was nicht, was als wissenschaftliche Erfahrung (= Experiment) und was als wissenschaftliches Wissen gelten kann und was nicht, und wie dieses zu begründen ist. Die Reduktion steht am Anfang der Naturwissenschaft, … liegt der gesamten Schrittfolge als deren Ermöglichung zugrunde. Sie ist keine naturwissenschaftliche Hypothese, sondern der ermöglichende Grund jeglicher Hypothesenbildung. … Die bewusste Selbstbindung an die einschränkende Fragehinsicht und an einen dementsprechend eingeschränkten Wissensbegriff macht das Methodische der Fachwissenschaft aus.« (Pöltner 14)
Gegen eine Untersuchung religiöser Phänomene aus der Perspektive und mit den Methoden einer Fachwissenschaft ist nichts einzuwenden. Zu kritisieren ist nur die Meinung, man hätte mit den Ergebnissen einer naturwissenschaftlichen Methode das Wesen der Religion erfasst. Es ist z. B. nachweisbar, dass durch Mozart-Musik im Kuhstall die Milchproduktion gesteigert wird. Nur, die zutreffende Feststellung dieser Wirkung von Kuhstallbeschallung sagt über die Musik Mozarts selbst nichts aus. Die von einer naturwissenschaftlichen Methode erfasste Realität ist nur die von dieser Methode zugelassene Realität und sie ist beileibe nicht die einzige und maßgebliche Realität eines Phänomens. An einigen Beispielen sollen fachwissenschaftliche Reduktionen aufgedeckt werden, weil sie im Bewusstsein vieler Zeitgenossen als wissenschaftliche Wahrheiten im Umlauf sind. |23|