Chronik der laufenden Entgleisungen - Thomas Köck - E-Book

Chronik der laufenden Entgleisungen E-Book

Thomas Köck

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Beschreibung

Im Herbst 2024 wählt Österreich einen neuen Nationalrat, und der Wahlkampf hat längst begonnen. Thomas Köck führt Buch über die alltäglichen politischen Entgleisungen: Da werden Messer auf Wahlkampfveranstaltungen geschliffen und Journalisten vor laufender Kamera in den Schwitzkasten genommen, während österreichische Aktivisten der Neuen Rechten in Deutschland Vorträge über Massenabschiebungen halten und Spenden aus bürgerlichen Kreisen sammeln. Köck kommt mit seinem Protokoll der (sprachlichen) Eskalation kaum noch hinterher. Aber er belässt es nicht bei der Buchführung: Unter Rückgriff auf Fragen nach Klasse, Herkunft und Ökonomie versucht er zu verstehen, wie Österreich zum Prototyp rechter Subjektbildung in Europa werden konnte. Es entsteht eine wütende, bisweilen ironisch bissige Intervention in jenem Wahljahr, in dem Herbert Kickl der erste rechtsextreme Bundeskanzler in Österreich seit 1945 werden könnte.

»Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal, right? Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. In Österreich wiederholt sich nur noch die Farce, und die vergisst irgendwann ihr Gesicht und wird wieder zur Fratze, zur Groteske.«

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Seitenzahl: 531

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Cover

Titel

Thomas Köck

Chronik der laufenden Entgleisungen

Suhrkamp

Impressum

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Der Text ist als Intervention anlässlich des Wahlkampfs vor der österreichischen Nationalratswahl 2024 unter dem Titel chronik der laufenden entgleisungen (austria revisited) initiativ als Auftragswerk für das Schauspielhaus Graz und das Schauspielhaus Wien entstanden. Uraufführung (Regie: Marie Bues) am 22.09.2024 am Schauspielhaus Graz, Premiere am Schauspielhaus Wien am 26.09.2024.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Kosmos-Design, Münster

eISBN 978-3-518-78035-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

05.06.2023

I. SOMMERLOCH

06.06.

07.06.

08.06.

09.06.

10.06.

11.06.

12.06.

13.06.

14.06.

15.06.

16.06.

17.06.

18.06.

20.06.

21.06.

22.06.

23.06.

24.06.

25.06.

26.06.

27.06.

28.06.

29.06.

30.06.

02.07.

03.07.

07.07.

09.07.

18.07.

21.07.

22.07.

24.07.

26.07.

27.07.

28.07.

29.07.

01.08.

02.08.

04.08.

05.08.

06.08.

08.08.

09.08.

10.08.

12.08.

13.08.

14.08.

15.08.

16.08.

18.08.

19.08.

20.08.

21.08.

22.08.

23.08.

25.08.

26.08.

27.08.

30.08.

01.09.

02.09.

04.09.

12.09.

13.09.

17.09.

18.09.

20.09.

21.09.

22.09.

II. HERBSTERSCHÖPFUNG

23.09.

25.09.

26.09.

27.09.

28.09.

30.09.

02.10.

03.10.

04.10.

05.10.

06.10.

07.10.

08.10.

09.10.

10.10.

11.10.

12.10.

13.10.

14.10.

15.10.

16.10.

17.10.

18.10.

19.10.

20.10.

21.10.

22.10.

23.10.

25.10.

26.10.

27.10.

30.10.

31.10.

01.11.

02.11.

03.11.

05.11.

06.11.

07.11.

08.11.

09.11.

11.11.

12.11.

14.11.

15.11.

17.11.

18.11.

20.11.

21.11.

23.11.

24.11.

25.11.

26.11.

27.11.

28.11.

29.11.

30.11.

05.12.

06.12.

14.12.

16.12.

17.12.

18.12.

19.12.

21.12.

III. WINTERDEPRESSION

03.01.​2024

04.01.

05.01.

06.01.

08.01.

10.01.

11.01.

12.01.

13.01.

17.01.

19.01.

21.01.

22.01.

23.01.

24.01.

25.01.

26.01.

27.01.

28.01.

29.01.

30.01.

01.02.

02.02.

04.02.

05.02.

08.02.

10.02.

11.02.

12.02.

14.02.

15.02.

16.02.

19.02.

IV. FRÜHJAHRSMÜDIGKEIT

20.02.

21.02.

23.02.

24.02.

26.02.

27.02.

28.02.

29.02.

07.03.

23.03.​2025

23.03.​2024

15.05.

16.05.

17.05.

18.05.

25.05.

30.05.

01.06.

03.06.

04.06.

Ausgewählte Quellen

Informationen zum Buch

Chronik der laufenden Entgleisungen

– Mrs. Thatcher, tell me, what would you say was your biggest political achievement?

– Tony Blair and New Labour. We forced our opponents to change their mind.

Margaret Thatcher während eines Dinners in Hampshire, 2002

don’t play with the rich kids

Ja, Panik

05.06.2023

Die Leiterin der Wahlkommission sagt: Ich bin heute gegen 14.00 Uhr in die Löwelstraße gegangen, um nach der ominösen verlorenen Stimme zu suchen.

Sie sagt: Ich habe mir alle Wahlabschnitte, sämtliche Stimmzettel, alle Protokolle und Unterlagen noch einmal angesehen.

Sie sagt: Ich darf berichten, ich habe die Stimme gefunden, es handelt sich um eine ungültige Stimme, das heißt, wir haben statt vier ursprünglich angekündigten fünf ungültige Stimmen gefunden.

Sie sagt: Des Weiteren muss ich berichten, dass mir ein weiterer außerordentlicher Fehler aufgefallen ist.

Und erklärt dann: Die Stimmzettel haben leider nicht mit dem digital verkündeten Ergebnis zusammengepasst, aufgrund eines technischen Fehlers eines Mitarbeiters in der Excel-Liste wurde das Ergebnis vertauscht.

Einer von den beiden wurde also jetzt gewählt.

Zuerst der eher Rechte, dann haben sie sich auf die Suche nach einer verlorenen Stimme gemacht und dabei festgestellt, dass der eher Linke gewonnen hat.

Zahlendreher.

Der eher Linke rudert schnell wieder zurück.

Sie sagt dann: Es handelt sich um einen technischen Fehler.

Der eher Rechte will sich nunmehr aus der Politik zurückziehen.

Der eher Linke rudert weiter.

Ich war eigentlich immer froh, wenn ich von Österreich nichts gehört habe, nichts gesehen und mich niemand genötigt hat, mich damit zu beschäftigen.

I

SOMMERLOCH

06.06.

Die Sozialdemokratische Partei Österreichs erntet internationalen Spott, in der Steiermark war ein Erdbeben spürbar, in der Ukraine droht eine Flutwelle, nachdem der Kachowka-Staudamm zerstört wurde, und in Frankreich geht erneut eine Viertelmillion Menschen auf die Straße, um gegen das Pensionsgesetz zu demonstrieren. Fünf Jahre nachdem die Vermögenssteuer auf liquides Vermögen, sprich Cash, Aktien, Anlagen und dergleichen, abgeschafft wurde, muss jetzt eben die sozialstaatliche Rechnung ausgeglichen werden. Und alle wundern sich über Le Pen.

Ich habe meine alten E-Mails gelöscht, jede einzeln, das mache ich hin und wieder, von Zeit zu Zeit wird das E-Mail-Postfach entmottet, werden all die traurig ausgetrockneten, vorgeschriebenen, aber dann nie entschlüpften, niemals nie verschickten E-Mails gelöscht. Die längeren, freundschaftlich gemeinten Nachrichten, die viel häufigeren, in einem Wutanfall entstandenen, die ich mittlerweile säuberlich ausformuliere, aber auf keinen Fall je verschicke, die Empowerment-Mails und Mails an Menschen, die ich schon länger nicht gesehen habe oder an die ich gerade denke, bei denen ich mir dann wiederum denke, na ja, die halten dich jetzt aber schnell für irgendwie, wer weiß, hilfsbedürftig, und vielleicht sind sie gar nicht für ein Gegenüber bestimmt, sondern erzählen mehr über deine eigene Angst und Einsamkeit bisweilen. Dabei auch eine E-Mail gefunden, die ich mir selbst schicken wollte, was doch auch häufig vorkommt, so als Erinnerung von unterwegs:

Österreich war immer schon Nazi-Avantgarde. Und gekränkte Männer waren schon immer die größte Gefahr für alle Beteiligten. Dieser beleidigte Wunsch, doch eigentlich etwas Größerem angehören zu müssen, dieser patriarchal-autoritäre Größenwahn, der muss ja irgendwoher kommen, dieser ganze alpenvorländische Verdrängungszusammenhang, dieser nie aufgearbeitete Wunsch, die Kränkung wegzuschieben, abzuschieben, ein einziges großes Othering, noch tiefer runtertreten, abschieben, rauswerfen, wegdrängen, einsperren, verfrachten und ersticken. Der Humus ist feucht noch, vor allem in Oberösterreich, das immer schon die größte Brutstätte für kleine Braune war, aber Wien darf da auch nicht unterschätzt werden und Niederösterreich mit den Kellern sowieso nicht, also ist dann doch alles ein einziger großer oder besser gesagt kleiner Verdrängungskomplex, ein Entgleisungskomplex, befeuert von einem ewigen Expansionswunsch.

Auf jeden Fall, denke ich mir, macht ja gerade das eine Dokumentation der kommenden, der drohenden, der laufenden Ereignisse in Österreich vielleicht tatsächlich interessant, vielleicht werden durch eine Art Notat, durch eine einfache alltägliche Berichterstattung und Sammlung im Rückblick dann erst Zusammenhänge sichtbar, unbewusst, meine ich –

Der Populismus der 90er konnte nicht zuletzt von Österreich aus ein europäisch-internationales Phänomen werden, Haider und Le Pen stiegen nebeneinander auf, die AfD hat sich stark an der FPÖ orientiert und gelernt, wie gut disruptive Politik funktionieren kann in übersättigten, sogenannten alternativlosen Postdemokratien. Und wenn sich jetzt alle wundern über die Stimmanteile der AfD, fällt mir nur ein, wie ich damals in Deutschland ankam und sich die lokalen Kommentator:innen einig waren, die AfD habe ein Protestpotential von 6 bis 7%, dann waren es 12, dann 15, mittlerweile steht sie bei 21%, also einem Fünftel der Bevölkerung, und immer wieder heißt es von neuem, das Potential sei erschöpft – das waren alles Schlagzeilen und Diskussionen, die in Österreich immer einige Jahre vorher geführt wurden, exakt die gleichen Sätze, exakt die gleichen Beschwichtigungen. Und die liberale, bürgerliche Bubble in Deutschland hat sich mit sich selbst getäuscht und gedacht, das ist ein österreichisches Phänomen, aber das war es schon längst nicht mehr. Wer wissen möchte, was in Europa möglich ist, sollte Österreich sehr genau im Blick behalten.

Haiders Ruf der 90er, »Es war nicht alles schlecht damals«, war gleichermaßen der Vorläufer zu: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«, wie auch zu: »Make xyz great again.«

Retrotopische Fantasien einer Gesellschaft im freien Fall voran, die nach Orientierung sucht.

Und so wie damals der Nationalismus als Republikanismus von einer Verheißung zu einer Geißel wurde, über Jahrzehnte vom Antisemitismus unterwandert, hat sich in liberalen Gesellschaften jetzt ein neuer, neoliberal autoritärer Geist breitgemacht und die Idee von Freiheit dermaßen ad absurdum geführt, dass sich Europa wieder mal entscheiden muss, ob es möglich gewesen sein wird, diesen Kontinent als radikale europäische Gemeinschaft ohne Exklusion zu denken, oder ob letztlich die Logik des Eigentums die Grenzen zementiert, in denen Europa als Gedanke verkümmert und sich in dreißig bis fünfzig Jahren zu einem Begriff der Schande verwandelt.

Und es sind die alten Monarchien, mit dem alten Geld und den enttäuscht Zurückblickenden allüberall, an denen sich die Frage nach dieser Zukunft entzünden wird.

Also back to Austria.

Leider.

07.06.

Ich will nichts von Rammstein hören, nichts von denen sehen und mich mit denen einfach auch nicht beschäftigen.

Das Schlimmste an dieser ganzen Sache ist doch, dass ich jetzt plötzlich wieder all die Ohrwürmer im Kopf habe, die ich tatsächlich mittlerweile vor Jahrzehnten bereits erfolgreich verdrängt hatte.

Wenn man in der österreichischen Peripherie aufwächst, wird man damit zugeballert, weil das als Pop durchgeht, als cooles Produkt, mit dem man dann provozieren kann usw.

Und dann lernen die Kids zu provozieren, »dagegen« zu sein, und dann sind sie halt in der Peripherie »dagegen« – gegen was auch immer.

Und so ein bisschen anti und so ein bisschen cool und so ein bisschen laut usw.

Und dann protestwählen sie am Ende auch noch, und das geht dann Hand in Hand, ein bisschen »dagegen«, und das Ressentiment wird so geschickt geschürt und abgegriffen, wie es auch immer mit der eigenen Unverantwortlichkeit spielt und unschuldig lächelt.

Und ich meine, die hat ja der ehemalige Berliner Kultursenator quasi als Produkt und deutschen Exportschlager erfunden, Tim Renner, als er noch bei Universal Music arbeitete, bevor er dann in der SPD Karriere machte. Und es gab ja von Tim Renner ernsthafte Überlegungen, dass Rammstein die Volksbühne leiten sollten. Also wird gesagt. Habe ich gehört. Gut, ich lass das jetzt hier einfach so stehen. Theatergossip made in Berlin.

Und ich habe die auch nie ironisch gelesen – es hieß ja immer, die »spielen« mit Zeichensystemen usw. und spülen das deutsche Unterbewusstsein hervor oder durch, je nach Perspektive.

Aber das Problem ist doch, dass die Dinge thematisiert werden müssen, hervorgeholt werden müssen, angegriffen werden müssen, in der Gesellschaft darf das deutsche Unterbewusstsein nicht tabuisiert werden, damit dann ein Heavy-Metal-Produkt unter der Anleitung von Tim Renner diese Tabus abgreifen und damit Kasse machen kann.

Keine Tabus, alles auf den Tisch. Nicht um Schuldige zu suchen, sondern um als Gesellschaft zu lernen, Verantwortung zu teilen und keine Verhältnisse und Probleme zu verschleiern.

Weil sonst singen die wieder ihre Lieder, und am Ende warens nur bsoffene Gschichten und protestierende Jungs, und in meinem Kopf hör ich die jetzt auch wieder, und irgendwo in Oberösterreich betrinkt sich ein:e Teenager:in zu rollenden Rrrrrs, weil eh alles egal, und am Abend wird auf ein Konzert gegangen, und am nächsten Tag wird protestgewählt, und betroffene Gesichter machen sich breit.

Aber die Frage ist ja eigentlich, was zuerst war: der Protest oder die innenpolitische Ideenlosigkeit und Verschleierung von Verhältnissen, die dann unsortierten Protestausdrücken Raum gibt?

08.06.

Eigentlich hatte ich B zugesagt, ein Jahr österreichischer Innenpolitik, also das eine Jahr vor den kommenden Nationalratswahlen, zu »begleiten« oder zu betrachten, eine Art fortlaufende, politische Bestandsaufnahme als Grundlage für einen Theaterabend, nicht mit dem Wunsch, eine knallharte Analyse zu liefern, sondern eher eine Art Außenbetrachtung der Innenbetrachtung der Außenbetrachtung der inneren Verhältnisse eines Landes, dessen Rechtsneigung ich mittlerweile auch nicht mehr besonders witzig finde.

Wenn ich an Österreich denke, denke ich zuerst und immer, immer wieder an die ständig unter den Tisch gekehrten Klassenfragen in diesem postfeudalen Zwergstaat. Überhaupt an die unter den Tisch gekehrten Fragen, an das Unter-den-Tisch-Kehren, denke ich. Nirgendwo wird so viel unter den Tisch gekehrt. Ich denke an die Dörfer, an die Abwesenheit von Diskursen, von Themen, den Stillstand der Zeit, gemütliche Witze, die über das Schweigen hinweghelfen wollen, und dann auch das Herumsitzen am Ende des Tages in gesättigten Verhältnissen, zumindest der Menschen, die in diesem Boulevardstaat eine Sichtbarkeit haben.

Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, was diese sogenannte Bürgerlichkeit in Österreich bedeutet. Was bürgerliche Werte sein sollen. Ich habe immer wieder Grenzen kennengelernt. Barrieren. Habituelle Widerstände. Bürgerlichkeit, besonders in Österreich, ist für mich und wird für mich immer eine ausschließende Praxis sein. Postfeudales Unterwürfigkeitsdenken, autoritäre Fantasien.

Ich werde Bürgerlichkeit und all die damit verbundenen Werte für immer mit einer Lehrkraft verbinden, einer jungen Person, vielleicht in ihren Vierzigern, die streng und unzugänglich wirkte und meinen Eltern mitteilte, sie mögen mir den Gefallen tun und mich vom Gymnasium nehmen, schließlich hätten auch sie, meine Eltern, keinen höheren Bildungsabschluss und ich würde spätestens in der sogenannten Oberstufe dann über den fehlenden höheren Bildungsabschluss meiner Eltern »stolpern«. Sie würde das jetzt schon merken. Und ich erinnere mich daran, wie mir meine Mutter davon erzählt hat, und ich weiß nicht, was in einer Mutter so vorgeht, die ihrem Kind eine solche Einschätzung mitteilen muss, wenn du deinem Kind gegenübersitzt und diesem Kind erzählst, was die »Lehrkraft« so von dir berichtet, dieser Kampf, mit diesen Verhältnissen klarzukommen, selbst erst mal klarzukommen und dann zu versuchen, deinem Kind Perspektiven zu geben, und dann fragt dein Kind, was die Lehrkräfte so sagen, und da sitzt du dann und schaust in die Augen dieses deines Kindes und siehst eine ganze Zukunft da vor dir sitzen, und ich glaube, in Wirklichkeit hat sie es immer schon etwas freundlicher formuliert, als es ihr gegenüber formuliert wurde.

Sogenannte Elternsprechtage waren von da immer eher Momente der Entfremdung für mich. Ich habe verlernt zu vertrauen.

Ihr Sohn dies, Ihr Sohn das, Ihr Sohn sowieso, Ihr Sohn also dies, das, jenes. Schwierig, laut, unaufmerksam usw.

Wie sehr können Kinder und ihre Körperlichkeit, ihre Expressivität eigentlich bildungsbürgerliche Lehrkräfte in ihrem Weltbild stören?

Wir waren sehr wenige Kids, die keine bürgerlichen Backgrounds hatten. An einer Hand vorstellbar. Eine Hand, die sich Finger für Finger schloss im Laufe der Zeit. Ich glaube, nur eine Person von uns schaffte es dann an ebendieser Schule in die Oberstufe. Später kamen noch ein paar Sitzenbleibende dazu, alles, soweit ich erinnere, immer working class. Allesamt wiederholten eine Klasse, fast alle wurden letztendlich ausgesiebt.

Ich habe die Ablehnung einiger sogenannter Lehrkräfte mir gegenüber in jeder Pore, jede Regung so klar und deutlich wahrgenommen, dass sich diese Situationen geradezu eingebrannt haben bei mir – so viel habe ich vergessen, aber nie die Momente, in denen ich markiert wurde.

Andere Schüler:innen, zum Teil mit Klavier im heimischen Wohnzimmer des schönen, modernen Einfamilienhauses, mit Designmöbeln, auch mal mit Haushälterin, die kocht, putzt, auf die Kinder aufpasst, mit allerhand Edelstahleinrichtung, die Eltern Anwältin:Anwalt, Allgemeinmediziner:in, Zahnärztin:Zahnarzt, die übliche DNA usw., wenn diese Kinder ein irgendwie auffälliges Verhalten zeigten, waren sie trotzdem erst mal unauffällig, einfach Kinder, egal was passierte, weil, ah ja, der Vater, weil Anwalt, und die Mutter Frau Doktorin, stadtbekannt und fleißig, so fleißig, weil aufmerksam, so aufmerksam. Jaja, alles super.

Allein die räumliche Situation damals, es gab ja noch so eine Sitzordnung, vorne die gutbürgerlichen Kids, fast schon sortiert nach dem vermuteten Einkommen und Status der Eltern, in der Mitte die unauffälligen Mitläufer:innen und hinten dann unter anderem ich, letzte Reihe, dort, wo Penisse auf den Tisch gekratzt wurden, sich in den Schwitzkasten genommen und heimlich Zigaretten vercheckt wurden, während die mit der Anwaltsärztin-DNA vorne saßen und angelächelt wurden. Die eine Lehrkraft, die regelmäßig im Herbst mit irgendwelchen Ketten aus ihrem Griechenlandurlaub zurückkam und sicher auch irgendwelche gestohlenen Beninbronzen und hundert Pro ein durchgelegenes Fauteuil zuhause in ihrem Wohnzimmer mit Sonnenuntergangsblick und Aperol auf dem Glastisch stehen hatte, hatte das so beschlossen, mich dorthin gepackt, wo ich sie und auch die anderen Lehrer:innen nicht mehr stören konnte, und mir damit auch meine Zukunft aufgezeigt, die sich für mich aus meiner Vergangenheit oder mehr noch der Vergangenheit meiner Eltern ableitete.

Eine Person mit der Anwaltsärztin-DNA wurde explizit nach vorne gesetzt. Meinen Eltern wurden erzieherische Maßnahmen nahegelegt.

Einige mit Arztanwältin-DNA sind dann halt auch irgendwann mit Böhse-Onkelz-Flaggen und deutschnationalen Devotionalien durch die Stadt gelaufen, weil »Protest«, weil »cool«, weil »auffallen«, während, während, ah ja, ein neues Piano gekauft wurde fürs Wohnzimmer oder das Vorzimmer oder weil halt irgendwo noch Platz war, auf dem eigentlich eh kein Mensch spielen konnte oder wollte.

Apropos Noten: Meine wurden schlechter geredet, als sie waren.

Einige mit Anwältinarzt-DNA bekamen Klavierunterricht, andere gingen mit Deutschlandflaggen oder Onkelz-Flaggen spazierenmarschieren. Derweil habe ich meinen Gitarrenlehrer angerufen und ihm mitgeteilt, dass ich den begonnenen Unterricht nicht würde fortsetzen können – ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass meine Eltern kein Geld dafür hatten, sondern erklärte ihm, dass ich einfach das Interesse daran verloren hätte.

Ich zitterte beim Telefonieren. Dieser Gitarrenunterricht war für ein halbes Jahr meine Rettung gewesen.

In der Schule wurde jede meiner Bewegungen, wurde mein Körper markiert und diskutiert. Ich wurde regelmäßig aufgerufen, an die Tafel geholt, getestet und geprüft und getestet und getestet und geprüft und getestet und geprüft, weil nicht sein durfte, was einfach nicht sein darf. Zu laut auf den Gängen, Ermahnung, Eintrag, Verwarnung usw., beim nächsten Mal die Eltern zum Gespräch, das Kind überfordert, stört, weiß sich nicht zu helfen usw.

Jahre später immer noch das Gefühl, nicht zu genügen, nicht zu passen, aufzufallen, rauszufallen, mehr arbeiten zu müssen, um zu beweisen, dass ich sein darf, wo ich bin, unfähig, Anerkennung anzunehmen, ein gestörtes Verhältnis zu meiner Arbeit.

Eine Lehrkraft von mir, die mich mit so einem unangenehmen, herablassenden Lächeln begrüßte, als ich nach der Schule mit meinem Vater in ihrem riesigen Haus eine neue Küche einbaute. Fugen abkleben, Scharniere anschrauben usw. Was voll okay war. Bis auf diesen Blick, der aus dieser Arbeit plötzlich ein Verhältnis gemacht hat, aus mir einen Ort, eine Geschichte, ein Subjekt, eine Position – unterhalb.

Später waren einige der Verhaltens- und DNA-Unauffälligen bei Burschenschaften, ich bin einmal mitgekommen, erinnere mich ans Kotzen, an johlende junge Männer, an grinsende ältere Männer in irgendeinem Korporationshaus.

Nein, Moment, ihr Blick hat mich zugerichtet, auf mich herabgeschaut, mich zu- und eingeordnet, ich mit dem Akkuschrauber vor ihr kniend, das Scharnier ihres Küchenschranks verschraubend.

Vielleicht täusche ich mich jetzt auch, vielleicht war das alles gut gemeint, ein gut gemeintes Herabsehen auf eine ehrliche Arbeit.

Jahre später noch Scham, Wut, der ganze Komplex, wenn ich an diesen Blick denke.

Ich solle am besten eine Ausbildung zum Tischler machen –

Vielleicht deute ich es falsch, vielleicht war es einfach gut gemeint, vielleicht war es Scham, die ich verspürt habe, vielleicht war es allen Beteiligten unangenehm, vielleicht war das alles einfach nur total gut gemeint, vielleicht beginnt diese Scham viel früher, vielleicht war es unmöglich, diese thin white line zwischen uns beiden nicht zu markieren, jetzt, wo ich nachdenke und mich frage, wer von uns beiden die aktive Seite dieses Blicks verantwortete, wer hat wen angeblickt, wer fühlte sich bereits fehl am Platz, wodurch, und wieso suchst du jetzt und auch später immer selbstverständlich den Fehler dann doch wieder bei dir?

Diesem Blick bin ich später auf jeden Fall noch sehr oft begegnet.

Ich solle am besten eine Ausbildung zum Tischler machen, das war anscheinend schon für mich entschieden, irgendwas Praktisches, diese Floskel, irgendwas Praktisches, ich weiß nicht, wie oft ich das gehört habe, weil die Möglichkeiten und Interessen eines Kindes im Österreich der späten 90er Jahre sich offensichtlich immer noch an der beruflichen Tätigkeit der Eltern orientierten, jaja, eine Ausbildung, damit ich dann gleich Geld verdienen kann, die Eltern könnten sich ein weiterführendes Studium schließlich nicht leisten. Ah ja, das käme ja auch noch hinzu, das fehlende Geld, das Geld, das Geld, und immer das Gefühl, dass etwas fehlt, dass es nicht reicht, dass es zu wenig ist, zu wenig, zu wenig, und überhaupt wieder die Körper, die Haltung, das Auftreten, der Geruch, die Hände, die Hände, die Hände.

Die Hände haben sie sich dann natürlich um die Schultern geworfen und sind hin- und hergeschunkelt, und regelmäßig sind sie mit Onkelz- und Rammstein-Flaggen durch die Straßen, um »aufzufallen«, um »zu spielen«, weil »Deutschland«, weil »verboten«, weil »cool«.

Die Hände meines Vaters auf dem Tisch vor der Lehrkraft, vom Leim verklebt, mit fehlenden Fingerkuppen, die er sich bei der Arbeit abgeschnitten hat, die transplantierte Haut auf dem Daumen, auf dem ihm jetzt Haare wachsen, weil es transplantierte Haut von einer Stelle ist, auf der eben Haare wachsen, später dann seine ganze transplantierte Haut quer über seinen Körper, handauf, rückenabwärts und bauchfeldein, ein von Arbeit und Ausbeutung gezeichneter Körper, eine Landschaft aus Narben, ökonomischen Verhältnissen und den Folgen eines Suizidversuchs, dazu der Bandscheibenvorfall meiner Mutter, ihr kaputter Rücken, die fehlenden Finger meines Großvaters, ich habe einmal eine Fingerspitze zwischen den Maschinen und den Holzspänen gesucht, während meine Mutter erstversorgt hat, der Urgroßvater, ein sogenannter Tagelöhner, der sich beim Arbeiten gleich den ganzen Unterarm abgeschnitten hat – die 100 Jahre alte Hand-Prothese liegt immer noch zuhause, hat den toten Körper überlebt. Immer wieder die Hände, die Hände, die Hände, weil auch die fehlen, nicht nur das Geld, nein, auch die Hände, weil irgendwas fehlt ja immer, und wenn’s nicht das Geld war, müssen es eben Körperteile oder Perspektiven sein, denn es darf nicht sein, was nicht sein darf.

Ich erinnere mich daran, wie ich von einem auf den anderen Tag entschieden habe, aus einer, weiß nicht, Laune heraus, nicht auf die für mich vorgesehene Hauptschule zu gehen, als ich mit zehn Jahren stolz und spontan »Gymnasium« gesagt habe, so wie ich später das erste Mal stolz »Arbeiterkind« gesagt habe, und wir dann also da hin sind und ich angenommen wurde und meine Mutter nervöser als ich war, weil sie als Bauerntochter und vom Dorf und dann auch noch, wie ich später erfahren habe, dasselbe Gymnasium, das sie hätte besuchen sollen. Damals, in den späten 60ern, ist sie vom Dorf kommend, wo sie, glaube ich, zunächst immer noch ein Plumpsklo hatten, von dieser völlig anderen Welt nach nur einigen Tagen so dermaßen überfordert gewesen, dass sie auf die Hauptschule gewechselt ist, die sogenannte Bauernschule, wo die Menschen vom Dorf waren und sie sich direkt aufgehobener fühlte, und wahrscheinlich hätte sich diese pädagogische Fachkraft auf dem Gymnasium auch wohler gefühlt, wenn sie nicht mit unserer oder meiner Anwesenheit konfrontiert gewesen wäre, wenn wir dort geblieben wären, wo eben unser Platz war, hinten im Abseits, wo sich die Kids von Arbeiter:innen, von Gastarbeiter:innen und von Geflüchteten Chips und Eistee teilten, wo bestimmte Körper markiert wurden, weil ihre bloße Gegenwart, ihre bloße Anwesenheit die ganze Weltordnung des bürgerlichen safe space ins Wanken brachte, weil die Idee der Pädagogik damals nicht hieß, Perspektiven zu schaffen und Verhältnisse zu sprengen, sondern Perspektiven zu schließen, Verhältnisse zu zementieren.

Und dort lernte ich, dass diese Privilegien verteidigt werden müssen – vor uns, vor mir. Und ich habe verstanden, dass ich dort tatsächlich keine Perspektive finden würde, und ich erinnere mich, wie entschieden wurde, dass ich das Gymnasium wieder verlassen werde. Wie mir meine Eltern erklärten, dass meine Noten, dass das Geld, dass die Schulden, dass ich Geld verdienen, dass ich eine Ausbildung, nein, besser, eine Schule mit Berufsausbildung, weil Job, weil zu teuer, weil zu schwer, weil keine Zeit, weil kein Geld, weil die Aufträge, weil die Sicherheit, weil die Krankheit, weil Schulden, Schulden, Schulden, und ich erinnere mich an meinen kurzen Protest, mehr inszeniert als ernst gemeint, weil irgendwas in mir froh war, nicht mehr dieser Ablehnung in dieser Anstalt für höhere Allgemeinbildung ausgesetzt zu sein.

Ich bin heilfroh, dass ich nicht im Gymnasium geblieben bin.

Deswegen ja, weiß nicht, Österreich, innere Verhältnisse. Was soll ich groß dazu sagen.

Die guten alten bürgerlichen österreichischen Dachböden.

09.06.

Es stimmt natürlich nicht alles, wie es hier steht. Aber es ist auch nichts erfunden.

So wie das Camp Lipa an der bosnisch-kroatischen Grenze, das soll nun doch –

Wieso nennen die das überhaupt Camp? Eine stacheldrahtumzäunte Containeranlage, die weder an Strom noch an Wasser angeschlossen ist, ist kein provisorisches Camp, ist keine zufällige Ansammlung von Menschen. Das Lager Lipa ist eine seit Jahren bestehende, an der bosnisch-kroatischen Grenze errichtete Anlage, in der zeitweise über 1400 Menschen hausten, in der Gemeinde Bihać, in dem seit dem Bosnienkrieg unbewohnten Dorf Lipa –

Das Lager Lipa wurde von Unbekannten im Winter 2020 in Brand gesteckt – aus Mangel an Alternativen heizten und kochten die Menschen mit improvisierten Lagerfeuern in einem Essenszelt, das nicht verbrannt war, weiter.

Das Lager Lipa ist ein Beispiel des Versuchs, das Problem der refugees outzusourcen.

Das Lager Lipa wird nun doch keinen zweiten »inneren« Hochsicherheitstrakt erhalten, der mit einem zweiten extra stacheldrahtbewehrten Zaun ein Lager im Lager bilden sollte, in dem besonders gewalttätige geflüchtete Menschen untergebracht werden sollten.

Ein Lager im Lager –

Der Obmann von SOS Balkanroute, einer Menschenrechtsorganisation aus Wien, bezeichnete das Lager im Lager als österreichisches Guantánamo, da der Errichter und Betreiber, das ICMPD, das International Centre for Migration Policy Development, eine 1993 von Österreich und der Schweiz gegründete internationale Organisation, die laut Wikipedia Forschung, Projekte und Aktivitäten zu migrationsbezogenen Themen durchführen und Empfehlungen an politische Akteure geben soll, von einem Österreicher geleitet wird, Michael Spindelegger, ehemaliger Außenminister, Vizekanzler, Bundesparteiobmann der ÖVP und politischer Ziehvater von Sebastian Kurz.

Das Lager im Lager, das eine halbe Million Euro gekostet hätte, wird nun doch nicht errichtet.

Der Leiter der internationalen Organisation, die ein Lager an den europäischen Außengrenzen verwaltet, in dem ein zweiter »innerer« Hochsicherheitstrakt errichtet werden sollte, erklärt also nun, der Vorwurf, »dass Personen durch Pushbacks an der kroatischen Grenze in ein Lager gebracht werden, das wir angeblich errichten, wo dann mit Menschenrechtsverletzungen Leute festgehalten werden«, sei völliger Unsinn, völliger Humbug.

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Die Frage ist, ob es in gut einem Jahr in Österreich einen rechtsextremen Kanzler geben wird.

herbert.

Das hier ist also ein fortlaufendes Gespräch mit der Gegenwart, gegen eine Zukunft, in der ein rechtsextremer Politiker tatsächlich mit der Regierungsbildung beauftragt werden könnte.

Wir nennen das ab jetzt den herbertkomplex.

Die fortlaufende Untersuchung der Gegenwart.

Der herbertkomplex ist der Konjunktiv.

Der herbertkomplex ist die reine Möglichkeitsform, die bereits so viel über die aktuelle Situation und den Zustand dieser Zeit aussagt.

Der herbertkomplex ist die Tatsache, dass die Lager schon stehen.

Es ist der Zustand, in dem das Othering längst wirkt, seit Jahren, Jahrzehnten.

Der herbertkomplex ist der Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien.

Der herbertkomplex ist das Umfragehoch

ist die Tatsache, dass Menschen ihre Stimmen

ist die offensichtliche demokratiepolitische Einbahnstraße

ist wir, sind die, sind die und die, sind wir, und die sind wir, sind die –

Der herbertkomplex ist der Umstand, dass in den Medien schon jetzt spekuliert wird, wer sich wo wie positionieren könnte, was an sich doch völlig egal ist, solang Tatsache ist, dass der herbertkomplex und die dazugehörigen herbertverblendungszusammenhänge es ermöglichen, dass diese Person Kanzler werden könnte. Ob herbert durch eine gefestigte Demokratie aufgehalten werden könnte, wird gefragt –

Das ist auch wieder so ein stehender Begriff, der klingt gut, schaut schön aus, aber was bedeutet das denn?

Was bedeutet gefestigte Demokratie, wenn keine fairen Grundvoraussetzungen herrschen?

Was bedeutet gefestigte Demokratie, wenn diese Menschen ausschließt aus dem demokratischen Prozess?

Was bedeutet gefestigte Demokratie, wenn ein Großteil der Bevölkerung bereit ist, herbert zu (er)tragen?

Das ist längst das Problem, und es ist Menschen offensichtlich mittlerweile egal, offen rassistische, mit Fremdenhass und rechtsextremen Slogans operierende Parteien zu wählen – was längst keine Frage mehr nach vermeintlich Abgehängten oder Protestwählenden ist von sogenannten extremen Rändern, sondern die Folge von mehr als einem Vierteljahrhundert geformter, neoliberaler Ausbeutung, Zerschlagung, Zerstörung von Öffentlichkeit, Gemeinschaft und Solidarität. Und da der Neoliberalismus auf Ungleichheit aufbaut, ist Rassismus in dieser Matrix kein rhetorisches Nebenprodukt, sondern strukturell erwünscht.

Wobei ich mich mittlerweile schwertue, wieder eine ökonomische Begründung herbeizuzitieren, again and again. Ich glaube der herbertkomplex sitzt wesentlich tiefer – oder auch nicht.

Vielleicht sitzt der herbertkomplex inzwischen einfach so, ganz banal, hier, rassistisch, auf der Oberfläche und bleibt, forever.

Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal, right? Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. In Österreich wiederholt sich nur noch die Farce, und die vergisst irgendwann ihr Gesicht und wird wieder zur Fratze, zur Groteske.

Die Geschichte wiederholt sich also immer dreimal. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce, das dritte Mal als Groteske – als verzerrte Fratze zwischen Tragödie und Farce.

Und das vierte Mal als Österreich.

Als herbertkomplex.

10.06.

Mit S. im Café, zwischen Baustellen und Kreuzungen, immer wieder Sirenen:

– Do you think I am secretly wishing for rain?

– Wishing for what?

– Wishing for rain, you know, secretly desiring the end.

– Ah, you mean are we standing here watching, horny for the apocalypse.

– Yes exactly.

– But what do you mean secretly wishing for?

– I mean are we desiring worlds end, am I manifestating it right now?

– Are you secretly desiring the right, the populist party to win, is that what you mean?

– Yes or am I, pardon, my »we« is purely rhetorical.

– Your we is rhetorical, you mean you want to just know, if they will win the elections, right, so you know what.

– To know it, to just know it, to know what will have happened, what will have taken place, to know, what am I scared of right now, or if it makes sense to be scared, or if maybe I am just exaggerating things again, thinking to, you know, dark, mellow, bleak.

– Ah now I understand, I don’t know, look, I don’t know, I mean it has happened already, it will have happened anyway, it does not matter, if »it« happens or if »it« does not happen.

– Yes, that’s what I fear, maybe it actually already has happened, we just don’t get it right.

– No we get it.

– Yeah but if we get it, if it is happening, how can we …

– What, do something against »it« – we don’t even know what »it« will have been and that’s what you want I think, right, you want to know, what »it« will have been, when in fact, »it« makes no difference, »it« is already happening, and »it« will be happening for a while, for quite a while.

11.06.

1962 veröffentlichte die Journalistin Charlotte Beradt das Buch Das Dritte Reich des Traums, in dem sie fünfzig »von der Diktatur diktierte Träume« notiert hat, die zwischen 1933 und 1939 von Menschen aus ihrem Umfeld geträumt wurden: Ein Arzt beschreibt einen Alptraum, in dem die Wände seiner Wohnung entfernt werden, hört Lautsprecher Dekrete verkünden, ein anderer träumt, er würde regelmäßig Churchill treffen, eine Frau träumt, dass es auf einen Satz mehr oder weniger nicht ankommt, dass einfach alles, was wir je im vertrauten Kreise gedacht und gesagt haben, bekannt ist, interessant auch eine Träumerin, die vor allem von blonden Menschen auf einem Schiff träumt, überhaupt gibt es ein Kapitel nur zu Träumen von blond-blauäugigen Menschen.

Eine gute Freundin aus Ö, die unfreiwillig in Ö gelandet ist, hat mir erzählt, dass sie in letzter Zeit wieder häufiger von Flucht träumt, davon, ihre Sachen plötzlich packen zu müssen, davon, durch irgendeinen Wald zu laufen, von Sirenen, von Alarm –

12.06.

Im Radio sprechen zwei Männer in einem Philosophiemagazin über Freiheit:

Man müsse aufpassen, zu viel Freiheit tue dem Menschen auch nicht

Was ist ein Zuviel an Freiheit

Können wir Freiheit überhaupt messen

Die Grenze der Freiheit verläuft an meinem Gegenüber

Heute werde Freiheit oft missverstanden

Ich bin noch lange nicht frei, nur weil ich mich frei fühle

Ein Recht auf Freiheit sei noch lange kein Recht auf

Freiheit sei ja auch ein zweifelhafter Begriff

Überhaupt Recht

Überhaupt Freiheit

Überhaupt Radio

Klassische Musik wird eingespielt.

Wenn Philosophen im Radio »zweifelhaft« sagen …

//

Aber man darf ja auch nicht das sogenannte Handtuch werfen und aus Verzweiflung schon gar nicht, nur wenn ein technisches K.o. unausweichlich ist und selbst dann nur in letzter Instanz, von daher: eine Veranstaltung über politische Literatur.

Auftritt, Podium, let’s talk politics.

Der Tagebuch schreibende Autor betritt das Podium, ein schönes, umgebautes Fachwerkhaus, daneben ein See, ein großer Saal, Hände werden geschüttelt, Biografien verlesen, wir stellen einander vor, ich freue mich, über Zusammenhänge zu sprechen, das Schreiben zu kontextualisieren, Verweise und so weiter, setze mich, tolles Publikum, und dann beginnt das Gespräch, aber es will und will nicht in Fahrt kommen, schafft es nicht über Allgemeinplätze hinaus, will überallhin anschlussfähig sein, aber bleibt unscharf und wie so oft zwar politisch, aber ohne irgendeinen Rekurs auf ökonomische Bedingungen.

Der Tagebuch schreibende Autor zieht sich in so Momenten dann immer völlig in sich zurück, zweifelt an seinem Beruf, stellt sein Leben und seine Arbeit in Frage und überlegt, wie er da jetzt wieder heil rauskommt.

Einmal war ich zu einem Gespräch mit einem, wie man sagt, arrivierten Autor geladen, dem ich dann lange beim Monologisieren zugesehen habe. Bei jeder Frage in meine Richtung hat er ein knappes »Wenn ich noch kurz« eingestreut, und ich habe mir einfach gedacht, ich lass den jetzt reden, der hört sich ja selbst so gern zu, den willst du nicht aufhalten, ich werd jetzt nicht drum kämpfen, ich habe mich vor allem geschämt, mit dem auf einem Podium zu sitzen, mitgefangen, mitgehangen, da denken die Menschen im Publikum ja auch schnell, man sei verwandt oder so oder teile die Gedanken auch noch, nur weil man das Podium teilt, aber da ist ja oft so viel unreflektierter Blödsinn, da weiß ich manchmal gar nicht, wo anfangen, dann werde ich gleich müde, schalte ab und sitze dann da und gebe nur so spitze Kommentare von mir und will diesen Unsinn nicht unnötig verlängern und warte, bis dem anderen die Puste ausgeht –

Ich kann Klasse riechen – und so leid es mir tut, aber ich kann auch die Muster riechen, wie sich diese Klasse reproduziert, wie sie auftritt, wie sie Raum einnimmt, wie sie sich selbst gern zuhört, wenn sie über die Welt spricht, und wie sie nicht aufhören kann, sich selbst dabei zuzuhören, und dabei vielfach mehr Geste als Inhalt produziert.

Und vor allem bei middle-class-Kids aufwärts habe ich sehr häufig diesen pauschalisierenden, romantisierenden Blick auf Arbeiter:innen, auf Bäuerinnen:Bauern, auf Armutsbetroffene gesehen. Im besten Fall romantisierend, im schlimmsten Fall ist er einfach nur markierend und reproduziert die gleichen Ausschlusskriterien, von denen du selbst mal betroffen warst.

Auf der Veranstaltung sprechen wir dann über Scham, ich schaue der Sonne durch die Glasfronten beim Wandern zu, wir sprechen über Sichtbarkeit, ist ja auch wichtig, liberal und repräsentationskritisch (und alle weiß auf dem Podium), und ich weiß wieder nicht, woher mein Unbehagen kommt, denke mir, das hat nichts mit den anderen zu tun, das ist immer so, wenn du auf Podien sitzt, dann zweifelst du, ob du hier überhaupt sein darfst, Imposter, ob gleich allen auffällt, dass du hier nicht hingehörst, meistens heißt es auch irgendwann, du sprichst zu leise, weil du nervös wirst, weil ein Kontext, in dem du wieder über deinen klobigen Körper nachdenkst, wo du plötzlich nicht mehr weißt, wie sich verhalten, wie sich bewegen, die Hände, die Hände, die Hände, und dann wird zwar über Sichtbarkeit gesprochen, und es ist ein tolles Gespräch, aber all diese Fragen werden weiter getrennt von ökonomischen Fragen behandelt. Dabei zieht das doch einen Rattenschwanz nach sich, wer überhaupt ökonomisch in der Lage ist, in diesem Betrieb klarzukommen, zu überleben, wem früh vermittelt wird, welche Räume für wen wie erreichbar sind, wer von wem als was hier anerkannt, welche Bewegungen, die Hände, die Hände und die Sicherheit, zu sprechen, sich zu verorten – und ich habe mehr als einmal erlebt, dass du gerade über die ökonomischen Fragen unerwartete Bündnisse erzeugen kannst. We are all fucked by economics, thats why we don’t fuck each other. Das kann man jetzt so oder so sehen.

Was mir in all diesen künstlerischen Betrieben so oft passiert, ist, dass kein gutes Gespräch über Klasse stattfindet – weil Klasse erstens nicht sichtbar ist und zweitens, It popular belief, ja noch nicht mal existiert.

Und es nervt mich, wenn ich es wieder einmal anspreche, mein Unbehagen äußere, es stört mich, und ich störe, und ich gerate wieder genau in diesen schamhaften Komplex zwischen Wut und Unsicherheit, dazwischen, nicht auffallen zu wollen (die Hände, die Hände) und dieses Moment von Klasse zu benennen, das einfach nicht zu sehen ist, aber für einige fett und unübersehbar wie ein besoffener Elefant mitten im Raum steht, und wir sollten diese Themen nicht einfach so der Mittelschicht überlassen, will ich sagen, und stören, durch Form und Sprache, skeptisch bleiben, unruhig, unf*ck the system, rewrite the stories, und ich denke mir, jetzt schieße ich mich wieder ins Abseits, Partycrasher, Spielverderber, öffne zum Publikum, fliehe zum Publikum, hoffe, dass die mich retten, und eine Person, die sich später als queere Antifa-Aktivist:in vorstellt, steht auf, kommt durch den Saal zu uns zum Podium und sagt, sie ist eigentlich keine Person, die bei so Gesprächen zum Mikro greift und etwas sagen möchte, weil eben auch Klassenscham und unangenehm und öffentlich sprechen und kein Akademiker:innenbackground und so, und sie aber gerade das eben gerade einen entscheidenden Punkt des Gesprächs fand, denn ihr seien schon oft diese neuerdings liberalen Positionen aufgefallen, mit all dem washing, und dazu kommen dann schnell ähnliche exklusive habituelle Praktiken, die sie auch schon im eigenen Umfeld deutlich gespürt habe, Zwischenapplaus seitens des Publikums, und damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben, und wir lächeln uns an, und eine andere Person fühlt sich davon auch aktiviert, etwas zu sagen, und so entsteht ein längeres Gespräch plötzlich abseits des Podiums, und wir lösen dieses Podium auf, und so quatschen wir dann noch eine Weile, über vererbtes Geld, geschenkte Wohnungen, und ich bin immer noch der Meinung, dass Klasse ein verbindendes Prinzip sein kann, sein muss und immer wieder werden muss.

Dazu müssten wir aber erst mal das Gespräch über Klasse eröffnen. Und zwar auch über die Probleme, die das mit sich bringt, weil die sogenannte working class aus dem Bewusstsein der middle class society entfernt wurde. Und gleichzeitig ein loses Set aus Stereotypen und Gerüchten hinterlassen hat – und vor allem politische Einstellungen. Und all das sollte man weder idealisieren noch verteufeln, aber we need to talk it through.

In einem Instatalk mal, den M. angeregt hat, mit Aladin El-Mafaalani, dem Uni-Prof. und Bildungswissenschaftler, der sehr klar herausarbeitet, dass letztlich Klasse eine ganz entscheidende Rolle spielt für den Bildungserfolg, und ich erzähle, dass an der Uni zu sein für mich damals Stress war, tricky, weil ich einfach in einem Kosmos, der mir fremd war, und Aladin sofort meinte, ja, bei ihnen zuhause, also als er Kind war, seien ja die Uni-Profs andauernd ein und aus gegangen, weil eben Akademiker:innen-Eltern, sodass für ihn diese Profs einfach irgendwelche Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte, und deshalb kannte er dieses Gefühl tatsächlich nicht, an Unis irgendwie erst mal eine Art Bildungsaufstieg zu erleben, sich fremd und distanziert zu fühlen, aber er könne sich vorstellen, dass es tricky sei.

Die Trennlinien, die Privilegien verlaufen vielschichtig.

So never mind the Klassenfrage.

Aber gut, zurück nach Ö.

13.06.

Auf Fotos der Großvater in einfachstes Leinen gekleidet – sagt man das so? Pardon, ein Stoffüberhang, keine Lumpen, ein einfacher Überwurf, was damals eben so getragen wurde, ein Sack, meiner Meinung nach, nicht mehr, ein Fetzen, vor einer Wand stehend, im Nebenhaus eines Hofes, Gesinde, wie man sagt, Knechte und Mägde am Hof, später wurde man Inwohner, glaube ich, durfte in einer Baracke am Hof leben, that’s about it.

Den Hof gibt es noch, die Baracke daneben nicht mehr.

Inwohner. Das war damals schon ein Aufstieg. Eigentumslos, aber mit Wohnrecht.

Heute steht er auf dem riesigen Teppich im Wohnzimmer, lächelt freundlich.

Vom Gesinde leitet sich Gesindel ab, lese ich.

Ja, servus, ja, sicher setze ich mich kurz mit dir an den Tisch, hier der Tisch, dort der Teppich, da die Holzvertäfelung.

Es wurde zwischen Deputatgesinde und Hausgesinde unterschieden.

Hier der Fernseher, dort die Hand, schon wieder die Hände, die waren immer wichtig –

Gesindel wiederum ist stark abwertend gemeint.

Es ist der Begriff, mit dem rechtspopulistische Parteien die bezeichnen, die den Arbeiter:innen ihre Jobs wegnehmen, die von draußen reinkommen, die sich hier illegal aufhalten, die keine Berechtigung haben, zu bleiben, die dafür verantwortlich sein sollen, dass die Löhne sinken, dass Arbeiter:innen heute keine Arbeiter:innen mehr sind, dass es das gar nicht mehr gibt.

Arbeiter:innen gibt es nämlich keine mehr.

Dieses Echo schießt durch die Gesellschaft, dieser Satz wurde über Jahre hinweg in die Gesellschaft hineinkommuniziert, es gibt nämlich auch keine Klassen mehr, heißt es, außer man muss wieder erklären, woher der Rechtsruck kommt, dann gibt es sie plötzlich wieder, als monströse Form, als enttäuschte Massen, als »abgehängte« Arbeiter:innen, als anonyme Unterschicht, als Klasse.

Und dieses diffuse Gefühl, das meinen Großvater vermutlich heimsucht, wenn er sich in bestimmten Räumen unwohl fühlt, und dieses diffuse Gefühl, das mich in den gleichen Räumen auch heimsucht, das gibt es deshalb auch nicht, heißt es, das besitzt keine Sprache, das hat keinen Ort, das wandert durch diesen Körper, macht ihn stumm, das weiß er, und das weiß ich, das habe ich gelernt, und das hat er gelernt –

Der Fernseher dröhnt viel zu laut. Was sagen die Nachrichten?, frage ich etwas lauter, ich spreche ja immer sehr leise, heißt es, immer das Gleiche, murmelt er zurück. Die Gerüche in all diesen stummen Viertelstunden in der Pausenkammer, wo schweigend pünktlich 9:45 Uhr die Brote ausgepackt wurden, das Radio an, meine Großmutter starb im Zimmer daneben, nach einem Schlaganfall, jahrelang ans Bett gefesselt, locked in, ich habe mich mit ihr übers Zwinkern unterhalten –

Ich habe ihr zugezwinkert, als ich ausgezogen bin, und ihr erklärt, dass ich studieren gehe, was einmal ihr großer Wunsch war, ich habe draufloserzählt, als ich zurückgekommen bin, und erklärt, dass es läuft, es läuft irgendwie, und sie hat zurückgezwinkert, einmal für ja, zweimal für nein, das war unsere Art, zu sprechen, jahrelang, während die wechselnden Regierungen über Jahre die Betreuungskosten und Pflegezuschüsse kürzen wollten oder in großer populistischer Geste enorme Pakete ankündigten, die nie kamen, weil das Wesen des Populismus die Ankündigung ist, das Versprechen, bevor dann Sozialleistungen gekürzt werden, sie hat zurückgezwinkert, wenn ich trockene Lippen vom vielen Reden hatte, weil ich ihr wieder einmal erklärte, dass ich mit den Nebenjobs schon rumkomme, Zwinkern, dass es schon passt, Zwinkern, während im Fernsehen diskutiert wurde über fehlende Betreuungsplätze und die Streichung von Pflegeplätzen, während mein Großvater überlegt hat, wie er das mit dem Essen und der gleichzeitigen Betreuung durch eine Pflegerin organisiert bekommt, während immer wieder meine Mutter sich gleichzeitig um meine Großmutter und meinen Vater und seine zusehends eskalierende psychische Erkrankung, später die körperlichen Folgen seines Suizidversuchs gekümmert und im Hintergrund überhaupt vieles komplett alleine organisiert hat, weil jemand muss die ja machen, diese jahrelange unsichtbare, unbezahlte Arbeit, die halt so anfällt, die halt meistens den Frauen so in die Hände fällt, und meistens schaut niemand da so genau hin, wo diese Arbeit gemacht wird, wer die dann macht, jeden Tag, jahrelang, sonst fällt ja nicht viel ab, aber Arbeit fällt immer an in diesen Kontexten, und du hast zurückgezwinkert, während die Jahre vorbeirauschten, hast sehr schnell ein paar Mal hintereinander gezwinkert, während draußen Sommer, Herbst und Winter wechselten, und ich habe zurückgezwinkert und erzählt und erzählt und erzählt und gehofft, dass da irgendwann wieder eine Stimme zurückkommt –

Aber ich will hier nichts idealisieren.

Draußen rauscht die Überlandstraße. Es ist die Gegend, in der eine impfskeptische Partei namens MFG auf Anhieb 7% erzielen konnte, in der eine Ärztin während der Pandemie von Querdenkern in den Suizid getrieben wurde, mit Hatespeech, mit Drohmails, Anrufen, bei denen nur Stille zu hören war, mit Nachrichten vor ihrer Praxis.

Es ist die Gegend, in der EU-Subventionen für die Landwirtschaft viele Betriebe und Arbeitsplätze überhaupt am Leben erhalten, während die Subventionierten munter weiter raunen gegen die da oben und ihre »Geldtöpfe«.

Und es ist die Gegend, in der die Kredite für landwirtschaftliche Betriebe zum Teil an unsinnigen, auf Monokulturen zielenden und nicht zukunftstauglichen Vorgaben und Vorstellungen von Produktion und Betrieb hängen, die jede potentielle betriebliche Erneuerung zum Risikofall verurteilen, woraus verkrustete Strukturen entstehen, die dieser Gegend jeden Innovationsgeist austreiben.

Es ist die Gegend neben der Überlandstraße, in der die Fernseher dröhnen, in der die Magengegend den Ton angibt.

Es ist die Gegend, die als Erklärung auch nicht ausreicht, aber gern herbeigezogen wird, und das manchmal durchaus mit Recht –

Wo gewarnt wird und gewarnt wird und gewarnt wird und eine Nachrichtensprecherin jetzt ins Bild tritt und Wort für Wort die längst bekannte, dreimal auserzählte Geschichte der Arbeiter:innenschaft in den 50er Jahren, in den 70er Jahren, in den 90er Jahren verliest, Fremdenfeindlichkeit, einfache Antworten von rechts, eine autoritäre Herrenrhetorik und eine gesamtgesellschaftliche Desolidarisierung, liest sie, haben im Namen des Wettbewerbs und der staatlichen Verschlankung genau die Brachen und Furchen in der Öffentlichkeit und in so manchem Gesicht hinterlassen, an denen entlang diese Welt sich jetzt frisch spaltet, in denen aktuell 32% für eine Rechtsaußenpartei noch lange keine Obergrenze mehr sind.

Danke, mir geht’s gut, sage ich lächelnd etwas lauter über den Fernseher hinweg.

Der herbertkomplex ist überall.

Musst nicht so schreien, murmelt er zurück.

In Österreich, Deutschland und Frankreich kam exakt mit dem beginnenden Neoliberalismus die Spaltung der Arbeiter:innen auf, sagt die Nachrichtensprecherin, und ich nicke.

Der Großvater nickt jetzt auch.

Seit den frühen 80er Jahren gewinnt die FPÖ in Österreich vor allem in den Dörfern explosionsartig an Boden, und bei den Arbeiter:innen, vor allem dort, immer noch, bildet das fast die Hälfte ihrer Wähler:innenschaft, das lässt sich aus nahezu allen Analysen und Wahlergebnissen ablesen.

In den Städten beginnt der Zuwachs dann Anfang der 90er. Bei Frauen und jungen Menschen in den letzten Jahren.

Es beginnt nicht mit einem Ruck oder einem plötzlichen Umdenken, es beginnt mit der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, einer Arbeiter:innenpartei, die bei den Wahlen 1983 gerade zu wenig Stimmen bekommt, um allein zu regieren, und deshalb auf die FPÖ zurückgreifen muss und sie mit ihrem damals schlechtesten Ergebnis von 5% als Juniorpartner in die Regierung holt – Norbert Steger, der sich um einen liberaleren Anstrich der Partei bemühte, die sich 1955/​56 aus einem Rest Altnazis, Deutschnationaler und ein paar Liberaler gründet und die erste ihrer Art war (der Front National zum Beispiel taucht erst in den 70er Jahren auf), wird Vizekanzler.

Drei Jahre später wird er als »Jud« aus der Partei hinauskomplimentiert, Haider übernimmt und macht Antisemitismus und faschistische Parolen zum Parteiprogramm.

Die Medien berichten, die Partei, die von Ausrutschern spricht, genießt Aufmerksamkeit und kann ihre Spins platzieren – diese Ausrutscher und Einzelfälle werden ab 1986 Programm.

Haider zu SS-Veteranen: »anständige Menschen, die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind«.

Die Kärntner FPÖ-Zeitung berichtet von »geheimen jüdischen Organisationen mit UNO-Sitzen«, »Geheimbünden«, »Logen« usw., ich will das hier gar nicht alles reproduzieren – die antisemitischen Weltverschwörungen, hier werden sie munter fortgeschrieben, und später wird die:der Afghan:in, die:der Araber:in, Geflüchtete im Allgemeinen usw. hinzukommen, etwas, an dem man die Gesellschaft spalten kann.

Ein FPÖ-Bürgermeisterkandidat aus Kärnten fährt 1990 fort und lässt den österreichischen Publizisten Simon Wiesenthal wissen: »Wir bauen schon wieder Öfen, aber nicht für Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl [gemeint ist Jörg Haider] seiner Pfeife Platz.«

Weitere Beispiele, »Ausrutscher« und »Entgleisungen« finden sich zuhauf, seit die FPÖ unter Haider zu ihrer neuen alten Programmatik gefunden hat.

Und auf jeden Ausrutscher folgt ein Spin, eine Verdrehung dessen, was gesagt und gemeint wurde, werden demokratische Verabredungen in Frage gestellt, verhöhnt und nicht nur politische Gegner lächerlich gemacht, lassen sie die Sprache zunehmend entgleisen und spielen umgekehrt als Erste beleidigt das Opfer, wenn sie kritisiert werden. Seither eskaliert der politische Diskurs zunehmend.

Verantwortlich für die Reden, die Spins, die Programmatik, die Eskalation des politischen Diskurses ist neben Haider bald vor allem einer: herbert.

Parallel zu ihren »Entgleisungen« erhält die Partei immer mehr Zulauf, die Gewinne an den Urnen häufen sich.

Ab den 90er Jahren entsteht eine seltsame Parallelerzählung: Einerseits, so die neoliberale Erzählung, gibt es keine Arbeiter:innenklasse mehr, das sei ein ideologisches Relikt – andererseits werden parallel dazu die Arbeiter:innen, die als »Abgehängte«, als »Modernisierungsverlierer« usw. umschrieben werden, wieder und wieder herangezogen, um die Zugewinne von rechts außen zu erklären.

Es wird über Medien und ihre Verantwortung diskutiert, darf man mit der FPÖ sprechen, und wenn ja, wie – später, als ich nach Berlin ziehe, werden in deutschen Medien und im deutschen Kulturbetrieb exakt die gleichen Fragen im Umgang mit der AfD verhandelt.

Ein zweites wesentliches Element in Österreich ist die Spaltung von Arbeiter:innen und Bäuerinnen:Bauern, in der sich heute die Stadt/​Land-Spaltung nachvollziehen lässt.

Damit hat die klassische Arbeiter:innenschaft in Österreich ein historisches Problem, weil ebenjene Bäuerinnen:Bauern, die auch naheliegenderweise vor allem das ländliche Milieu bildeten, nach der Märzrevolution von 1848 zuerst feierlich vom relativ kurzlebigen, nur wenige Monate regierenden Wiener Reichstag von der Leibeigenschaft befreit wurden, sich allerdings direkt danach weigerten, einen Landsturm auf Wien auszuführen, wo gerade Arbeiter:innen und Studierende, die das klassische urbane Milieu bildeten, gegen ein Entsatzungsheer des Kaisers kämpften, um ebenjenes Parlament, das die Bauern gerade befreit hatte, zu verteidigen. Die Bäuerinnen:Bauern schlussfolgerten nämlich, dass sie doch jetzt nicht von der Leibeigenschaft freigesprochen worden waren, um ihre Körper gleich wieder in den Kampf zu werfen, nein, nein, sie waren jetzt doch endlich befreit worden, warum also sterben?

Das Entsatzungsheer siegte, Arbeiter:innen und Studierende wurden aufgerieben, eingesperrt und erschossen, und die eben befreiten Bauern, die natürlich keine finanziellen Mittel hatten, um ihre neue Freiheit zu gestalten, nahmen Kredite beim 1849 gegründeten Flammersfelder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte oder dem Heddesdorfer Darlehenskassenverein auf, die Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründete und später in der Raiffeisenbank zusammenführte – so kamen die soeben befreiten Bäuerinnen:Bauern von der Leibeigenschaft, zugespitzt gesagt, direkt in die Kredithaft.

Das ist vor allem wesentlich, wenn man verstehen möchte, wieso in modernen Landwirtschaften Monokulturen entstehen – das hat viel mit Wirtschaftsplänen zu tun, die kreditbewilligende Banken gutheißen müssen oder sogar vorschreiben. Das wiederum wissen viele Menschen nicht, die dann auf Bauern als Einzelpersonen hinhauen, die wiederum nicht andauernd allen erklären können, dass Landwirtschaft ein Netz an Kreditplänen, Vorgaben und Richtlinien ist, welche weit weniger Flexibilität ermöglichen, als manche das gern hätten. Und schon endet man wieder mitten in einem systemisch produzierten Konfliktgespräch und glaubt, die andere Seite überzeugen zu müssen. Diese andere Seite ist nun aber wiederum von Banken abhängig, und die Bankberater:innen wiederum sind selten mit nachhaltigen Wirtschaftsplänen vertraut, die wollen schnelles Wachstum und sicheren Absatz.

Es wird zu wenig über die Hintergründe von Landwirtschaft und die damit zusammenhängende politische Subjektbildung in Österreich gesprochen.

However. Damals musste der österreichische Revolutionär Hans Kudlich, der maßgeblich an der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern beteiligt war, wie viele Revolutionäre in die USA fliehen, blieb dort allerdings publizistisch aktiv und ließ in einem Brief in den 1880er Jahren bereits wissen, wenn sich der Nationalismus, der damals von progressiven republikanischen Stimmen noch als antifeudale Utopie beschworen wurde, mit dem Antisemitismus paare, werde in Europa wieder Blut fließen.

Klassischerweise waren Bauern in der Folge konservativ und wählten auch eher dementsprechend, während Arbeiter:innen traditionell sozialdemokratisch wählten. Das war auch lange Zeit die Nachkriegsordnung in Österreich: eine Art Hin und Her zwischen konservativ und sozialdemokratisch, reines Land, wilde Stadt oder wildes Land, reine Stadt, je nach ideologischem Blickwinkel, bis eine neue Spezies auftauchte im österreichischen politischen Diskurs, die sozusagen als Blitzableiter für alle dienen konnte – der Ausländer.

Und es war überraschenderweise die Sozialdemokratie, die im Wahlkampf 1990 »den Ausländer« zum Wahlkampfthema machte, der bis dahin noch kein wirkliches politisches Mittel war, als der damalige Arbeitsminister eine Visumspflicht für türkische Staatsbürger:innen forderte, um den »Strom von Türken« und das »Schlepperunwesen« kontrollieren zu können. Und als schließlich im März 1990 Massenproteste von Anwohner:innen der Gemeinde Kaisersteinbruch gegen die Unterbringung von 800 rumänischen Asylbewerber:innen eskalierten, war das nicht nur ein Wendepunkt in der österreichischen Migrationspolitik, sondern es wurde auch der Ton für den kommenden Wahlkampf gesetzt, in dem sich die Parteien nunmehr darin übertreffen wollten, dekretistisch den Arbeitsmarkt vor den Folgen der Öffnung des Eisernen Vorhangs zu schützen, ein Thema, das schließlich die FPÖ dankbar aufgriff, die es spätestens mit dem »Österreich zuerst«-Volksbegehren zwei Jahre später zum neuen, bestimmenden Thema der kommenden 25 Jahre machen sollte.

Der Ausländer war von nun an eine einfache Markierung, die alles andere unsichtbar werden ließ, denn der Ausländer war plötzlich verantwortlich für alle Probleme und damit die Lösung.

Job verloren. Der Ausländer war schuld.

Ernte schlecht. Der Ausländer drückte die Preise.

Und wer tut nichts gegen den Ausländer? Die da oben.

Schreit das ehemalige Gesinde.

Der Ausländer ist auch die neue Naturkatastrophe, wie Natascha Strobl bemerkenswert analysiert.

»In den letzten Jahren sind neue Bedrohungen wie Migrationsbewegungen, offene Grenzen, Naturkatastrophen oder etwa Bedrohungen im Cyber-Bereich entstanden und zeigen deutlich: Wir brauchen eine moderne #Polizei mit ausreichend Potential«, hat Sebastian Kurz uns auf Twitter schon vor einigen Jahren informiert und damit Migration also auf eine Ebene mit Naturkatastrophen gesetzt, Flüchtende objektifiziert, naturalisiert, in »wildes« Leben rückverwandelt, und dieses Bild bleibt, wenn »Menschenströme«, wenn »Flüchtlingswellen« auf Europa zukommen, alles Teil eines Um- und Abwertungsprozesses, und dieses Framing bleibt auch, wenn nach Sündenböcken gesucht wird, und dieses Framing dominiert längst schon wieder jeden politischen Diskurs, da stecken sie alle längst knietief drin, im neuen unkontrollierbaren Naturzustand, für den hier niemand etwas kann, außer eben der Ausländer, der ja selbst wilde Natur, und wir können schließlich nicht allen, und man wird ja wohl noch, dröhnt es aus dem Fernseher, dröhnt es auf Social Media, wir können nicht allen, wir können nicht, die Entwertung schreitet voran, die Abwertung von Leben findet weiter munter statt, der Diskurs ist lange schon verschoben.

Zwischen Inflation und Cyberkriminalität steht die Naturkatastrophe: der Ausländer.

Der Ausländer war die perfekte Figur, um die neoliberale Umdeutung der Freiheit voranzutreiben, die anhand ökonomischer Kriterien der Leistungsgesellschaft neu gelesen wurde: Wer arbeitet und Leistung bringt, ist einer von uns, soll sich frei fühlen, soll mitmachen, Leistung, Leistung über alles. Der Rest: Rand, Zaun, unten durch. Und wer durchrutscht, ist auch noch selbst schuld.

An der Sprache wird sich alles entzünden. Hat sich schon alles entzündet.

Die steht ja schon in Brand.

Und einige sehen schon den Rauch.

Dabei wurde der Ausländer lediglich in den Graben gesetzt, den neoliberale Gesellschaften durch den ihnen inhärenten Widerspruch selbst aufreißen, den Heiner Müller bereits benannt hat: Für alle reicht es nicht.

Das ist und bleibt das unausgesprochene Grundsatzproblem.

Weil die Zugangsvoraussetzungen nicht gleich, weil die ökonomischen Startbedingungen nicht gleich, weil die geografisch-biografischen Startbedingungen nicht gleich, weil die Gesellschaft noch nicht so gleich, wie sie das gerne möchte, weil liberale Marktwirtschaft letztlich Wettbewerb bedeutet und die logischen Folgen von Wettbewerben nicht nur Sieger:innen, sondern auch Verlierer:innen sind.

Aber eigentlich, nein, Moment, eigentlich ist Ungleichheit eben gerade kein unausgesprochenes Grundsatzproblem, es ist kein zufälliger Kollateralschaden, es ist die aktiv produzierte, gewollte und hinlängliche Grundvoraussetzung, damit Wettbewerb und hierarchische, neoliberale Gesellschaften funktionieren – für alle darf es nicht reichen, damit Privilegien, Eliten, Auszeichnung durch Leistung noch einen Sinn haben.

Und dass wir uns nicht falsch verstehen, es geht nicht darum, zu rechtfertigen, dass Verlierer:innen dann eben nach rechts wandern, sondern darum, dass es keinen Diskurs über die ökonomischen Bedingungen gibt, ja geben darf, weil so ein Diskurs eben diese zugrundeliegende Grundvoraussetzung offenbaren würde –

Weil stattdessen der irrige Glaube aufrechterhalten bleiben soll, dass Märkte allein, die qua Struktur gefräßig sind und nicht an Teilhabe, am Erhalt sozialer Strukturen und Bildung interessiert, sondern an bloßem cheapen Wachstum, dass sie alleine entscheiden sollen, deshalb wird dann immer wieder schnell ein vermeintlicher Humanismus ins Feld geführt, eine sogenannte bürgerliche Vernunft und andere leere Signifikanten, die ökonomische Debatten durch vermeintlich universale Debatten ersetzen sollen.

Die Wurzel des Problems bleibt unangetastet, die Grabenkämpfe, die Spaltungen, die Ersatzkämpfe laufen fort.

Und auf den vermeintlichen Verlust von Privilegien und Wertschätzung der Arbeiter:innen in den 80ern im Zuge von Globalisierung und Bildungsoffensiven folgte die erste große Welle rechter Subjektbildung, wie Robert Misik wunderbar nachzeichnet. Den Gefühlen des Privilegienverlusts und der Kränkung von Arbeiter:innen, kleinen Angestellten usw. wurde mit einem retrotopischen Gerede von früherer Größe begegnet.

In den folgenden Jahren gab es eine Reihe von enorm wichtigen Fortschritten in liberalen Gesellschaften, durch die Teilhabe und Mitbestimmung wuchsen, Minderheiten zu Mitbestimmungsrechten gelangten und Demokratisierung voranschritt – ein Prozess, der im Übrigen noch lange nicht weit genug ist, wie die Diskussionen, die aktuell in vielen Institutionen stattfinden, zeigen, wo vermeintliche, selbstverständliche Öffentlichkeiten gerade neu verhandelt werden –, und letztlich wurden auf sprachlicher Ebene neue Sichtbarkeiten und Gleichberechtigung für viele Menschen geschaffen.

Diesen Zugewinn von Freiheiten nahmen umgekehrt manche Menschen als Freiheitsverlust wahr, schließlich stellten neue Regeln ihre bisherige Art, zu denken, zu sprechen, zu leben, vermeintlich in Frage – all die Diskussionen um die Töchter UND Söhne in der Nationalhymne, um die Fragen, wie man mit Rassismus und Sexismus in klassischer Literatur usw. umgeht, sind Symptome dieses gefühlten Freiheitsverlusts. Und wieder wurde mit retrotopischen Floskeln hantiert, wieder ein mythologisches DAMALS herbeikonstruiert.

All diese Entwicklungen erreichten als zweiter großer »Rechtsruck« mit der Geflüchtetenkrise 2015 – die im Übrigen keine Krise von Geflüchteten war, sondern eine Krise der uneinlösbaren Versprechen der Globalisierung – einen erneuten Höhepunkt, der sich entlang der Grenzen zwischen Land und Stadt und vermeintlich »abgehängten« Arbeiter:innen und progressiven Akademiker:innen abspielte.

Die vielzitierten vermeintlich »Abgehängten«, die sich verlassen fühlen, nicht wahrgenommen, die mitbekommen, wie viele andere zu neuen Privilegien kommen, während ihre harte, ehrliche, tägliche Arbeit irgendwie nicht gebührend wertgeschätzt wird und der Gewinn von Freiheit für viele Menschen mit einem gefühlten Verlust einer ebensolchen einhergeht.

Allerdings sind wir jetzt spätestens seit Corona begleitet von der zunehmenden Inflation, der Energiekrise in der dritten Welle der rechten Subjektbildung angekommen.

Bei den letzten Regionalwahlen verzeichnete die FPÖ starke Zugewinne von weiblichen Stimmen, außerdem jungen Menschen, und auch die These von den niedrigen Bildungsniveaus hält nicht mehr.

Da ist etwas in der Mitte angekommen, was diese Mitte auch nicht wahrhaben will, und es hat, wie schon zuvor, mit gefühlter ökonomischer Ungerechtigkeit zu tun – die eben auch spätestens mit der Immobilienkrise und der Inflation in der sogenannten Mitte, die es eigentlich so ja auch gar nicht gibt, deutlich spürbar geworden ist.

Und jetzt wird sich tatsächlich zeigen, wie tief die Gräben schon sind, die die Widersprüche von neoliberalen Gesellschaften aufgerissen haben.

So, ich schaue den Großvater an.

Er nickt.

Ich nicke auch.

Ende der historischen Stippvisite.

14.06.

»Jede Diktatur verändert zuerst die Sprache und dann die Architektur. Das Zweite dauert nur etwas länger als das Erste.«

In einem Essayfilm von Dominik Graf einmal über diese Zeile gestolpert. Der Wohnraum wird auch in Wien mittlerweile knapp, sagt J.

Arschknapp.

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In Berlin implodieren die Bubbles, in Ö ist die Möbelkette Kika-Leiner implodiert und hat offiziell Insolvenz beantragt.

40 Standorte müssen schließen. 1300 von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen.

Arbeitende Menschen in Lagerhallen, Verwaltung usw.

1300 potentielle Partner:innen, Familien, Lebensläufe, Menschen, die zum Teil ihr Leben lang dort gearbeitet haben.

Und 1300 Geschichten, die jetzt nicht erzählt werden.

Aber eigentlich ist nicht einfach so eine Möbelkette implodiert. 2018