Close is not Close enough - Julie Fraser - E-Book

Close is not Close enough E-Book

Julie Fraser

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Beschreibung

Mein Gestern Ein Waisenhaus, beste Freunde und ein geflüstertes Versprechen. Dein Heute Tausend Augenblicke, die zweite Chance für ein gebrochenes Herz. Unser Morgen Eine Wahrheit, die alles verändert.

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN:

Alle Rechte vorbehalten

Für Maya

Weil es schön ist, einen Fan zu haben

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechszehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Epilog

Danksagung

Triggerwarnung

Quellenverzeichnis

Das Schicksal lässt die Wege zweier Menschen, die zusammengehören, sich so oft kreuzen, bis beide erkennen, dass sie füreinander bestimmt sind.

Unbekannt

Prolog

Seth – 10 Jahre

Damals

Seth war zu einer abendlichen Müllrunde im Waisenhaus verdonnert worden. Beim Frühstück hatte er einem Kind das Müsli ausgeschüttet, weil der Junge ihm nicht seinen Kakao überlassen hatte.

Der kleine Scheißer.

Seth schätzte ihn auf vielleicht sechs Jahre. Er hatte so laut gebrüllt, dass es der ganze Speisesaal mitbekommen hatte.

Zur Strafe hatte Seth sein trockenes Brot allein in einer Ecke verspeisen müssen. Es war ihm nur recht gewesen. Und die Müllrunde am Abend nahm er in Kauf. Die anderen Kinder aus dem Heim fanden es furchtbar, vor allem, weil man auch die Säcke aus dem Badezimmer der Mädchen aus dem zweiten Stock entsorgen musste – den Zwölf- bis Sechzehnjährigen. Die Jungen vom Trakt gegenüber sagten Bloody Mary dazu. Er kapierte den Witz nicht und befand, er hatte schon schlimmere Strafen verbüßt.

Auf dem Rückweg kam er an der angelehnten Tür des Heimleiters vorbei.

»Ich muss mit Ihnen über unser Sorgenkind reden, Pastor«, hörte er Schwester Filippa gedämpft sagen.

Seth mochte Filippa nicht sonderlich. Sie war eine der älteren Nonnen und sehr streng. Ihre Strafen waren bei allen gefürchtet. Hätte sie an diesem Morgen Dienst im Speisesaal gehabt, wäre er nicht mit einer Scheibe trocken Brot und einer Müllrunde davongekommen.

Oder wurde man so, wenn man jahrelang in dieser scheußlichen Kluft herumlief? Alle wussten außerdem, dass sie scharf auf die Stelle von Pastor Frank war. Der alte Mann, der zunehmend gebrechlich wurde, gehörte zu den Guten in diesem Laden. Es wäre schade, wenn er in Rente gehen würde, und Seth hoffte, dass er noch ein paar Jahre blieb.

»Geht es schon wieder um Seth?«, fragte Frank seufzend, und im Geiste sah Seth, wie er sich dabei müde über die Halbglatze rieb. Das tat er auch, wenn Seth vor ihm saß und sie eines ihrer »Gespräche« führten, weil er Mist gebaut hatte: das Klo verstopft, im Keller gekokelt, im Kiosk geklaut …

»Wen hat er diesmal beklaut, verprügelt oder beleidigt?«

»Nein, es geht nicht um Seth. Um unseren Neuzugang Victoria. Ich bekomme einfach keinen Zugang zu ihr«, fuhr Filippa fort, und ihre Kutte raschelte.

Seth hätte am liebsten kurz ungläubig aufgelacht. So wenig liebevoll wie Filippa mit den Einwohnern des Waisenhauses umging, wunderte es Seth nicht, dass sie keine Bindung aufbaute. Bei ihr hieß es spuren oder Strafe. Wenn sie den Kleinen vorlas, saß keiner auf ihrem Schoß. Wenn sich jemand verletzte, würde sie nie auf die Idee kommen, ihn in den Arm zu nehmen. Nicht wie Rose, an der hingen vor allem die Kleinsten. Da die Jüngeren jedoch die Ersten waren, die ein neues Zuhause fanden, weilten diese Momente nur kurz. Rose war lieb. Es gab nur wenige Menschen, denen Seth dieses Kompliment machte.

Ihm war aufgefallen, dass sich Filippa um das neue Mädchen mehr bemühte als um andere. Warum? Keine Ahnung.

»Sie ist uns allen unheimlich«, hörte er Filippa sagen, was Seths Gedanken in die Gegenwart zurücklenkte. »In ihrem schmalen Gesicht sehen ihre dunklen Augen aus wie die eines Dämons. Als sei keine Seele mehr darin. Dann dieses Schweigen. Selbst Rose dringt nicht zu ihr durch und das schon seit Wochen. Wir machen uns große Sorgen. Außerdem isst sie nicht.«

Hatte er Filippa jemals besorgt gehört?

»Geben Sie ihr noch ein wenig Zeit, Filippa. Die Kleine ist erst sieben Jahre alt. Sie wissen, dass sie zu uns kam, nachdem ihre Eltern umgekommen sind und sie aus den sektenähnlichen Verhältnissen geholt worden war, in denen ihre Familie zuvor lebte. Wir wissen nicht, was sie dort vielleicht alles erlebt hat.« Franks Tonfall klang endgültig. Damit war das Gespräch beendet.

Seth bemerkte das Rascheln von Papier und das Klacken der Holzkette, die wie ein Gürtel um die Tracht der Nonnen gelegt war und das Kreuz hielt, das daran baumelte. Hastig machte er sich aus dem Staub. Es wäre besser, sich nicht von Filippa erwischen zu lassen, wie er lauschte.

Er beendete seine Säuberungsrunde und schloss die Eingangstür ab. Draußen war es dunkel, und über das Kinderheim senkte sich Ruhe, wie immer kurz vor dem Zubettgehen. Wie bei einem Bienenvolk, das sich für den Winter in seinem Bienenstock einnistete. Die Betriebsamkeit war vorbei. Das stete Ein- und Ausfliegen hatte ein Ende. Alle sammelten sich, um die Königin zu wärmen – oder sich selbst, in diesen nackten, kalten Räumen, die kein Zuhause boten.

Jeder war in seinem Zimmer für sich, sofern man wie Seth das Glück hatte, ein Einzelzimmer zu ergattern. Er schätzte es, allein zu sein, auch wenn ihn gelegentlich die Wände anstarrten, als hätten sie Augen. Und seine Gedanken dann lauter schrien, um die Stille, die auf seine Ohren drückte, zu übertönen.

Im Heim war es immer laut.

Lärm.

Noch etwas, das er nicht mochte.

Aber eine gespenstische Ruhe war auch nie gut.

Seth hatte gelernt, dass Stille bedrohlich sein konnte. Wie der Moment vor einem Schlag oder ein anklagendes Schweigen vor einem Tadel. Oder die Einsamkeit in einem düsteren Kellerraum, in den er zur Strafe gesperrt worden war. Wo er die ganze Nacht ohne Licht und Fluchtmöglichkeit hatte ausharren müssen … Und gegen den Druck in seinem Brustkorb angekämpft hatte, als wollte ein lauter Schrei aus ihm herausbrechen.

Nein, Stille war auch nicht gut.

Er wollte die Treppe nach oben betreten, um in sein Zimmer zu gehen, als er unter dem Treppenabsatz etwas glitzern sah.

Zögerlich trat er die abgetretenen Stufen wieder hinab, die bei jedem Schritt knarzten. Er umrundete das abgegriffene Geländer mit der Holzkugel am oberen Ende, an deren Rückseite jemand ein Fuck You eingeritzt hatte. Die Nonnen mussten das bisher übersehen haben, sonst wäre es längst entfernt worden. Er fuhr mit seinem Daumen kurz darüber und lugte in die finstere Ecke unterhalb des Absatzes hinein.

Zusammengekauert saß ein kleines Mädchen in der Nische. Jenes, das eben Gesprächsinhalt gewesen war – Victoria.

Sie war winzig. Die Kleidung schlotterte um ihre Schultern, als sei sie ihr zwei Nummern zu groß – ein schreckliches braunes Kleid mit Rüschen an den Ärmeln, dessen Farbe ihn an Hundekacke erinnerte. Mit Sicherheit kam es aus einem der Spendensäcke, die hier abgegeben wurden, von Leuten, denen die Klamotten für ihre Kinder nicht mehr gut genug waren.

Victorias blasse Haut leuchtete in der Schwärze des Schattens, in dem sie saß. Ebenso wie ihr blondes Haar, das im Licht der trüben Glühbirne, die in der Eingangshalle über ihnen glomm, einen silbrigen Schimmer ausstrahlte.

Filippa hatte recht. Victorias Augen waren groß. Aber Seth sah darin keine Leere, keinen Dämon, sondern eine Seelenverwandte, der der Kummer aus allen Poren zu strömen schien. Er wollte das nicht spüren, als käme es aus seinem eigenen Körper. Als wäre es sein Kummer ...

Am liebsten fühlte er nichts.

»Was sitzt du hier rum?«, fragte er schroff, weil er gelernt hatte, dass Schroffheit einem die Menschen vom Leib hielt und niemandem zeigte, wie verletzlich man war.

Keine Antwort.

»Du wirst Ärger bekommen, wenn gleich Schlafenszeit ist, du fehlst und sie dich nicht finden können.«

Sein Nacken rötete sich, und sein Pulsschlag ging schneller. Wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten. Wut war ein gutes Gefühl, auch wenn sie ihn auslaugte. Aber Wut machte warm, machte, dass sein Herz schlug und er sich lebendiger fühlte. Nicht wie Angst. Angst war fürchterlich kalt und kroch einem den Nacken hinauf, wenn man es am wenigsten brauchte. Lähmte einen, machte einen stumm und hilflos. Seth wusste, mit Wut konnte er Angst vertreiben. Deshalb beschwor er sie manchmal herauf.

Nichts zu empfinden oder diese Wut waren die einzigen beiden Dinge, die er akzeptierte.

Ein merkwürdiges Geräusch rumorte aus Victorias Richtung und ließ ihn innehalten: Ein helles Brummen.

Er brauchte einen Moment, bis er kapierte, was es war.

Ihr Magen knurrte.

Richtig, Filippa hatte gesagt, dass das Mädchen nicht aß.

Wir wissen nicht, was sie dort alles erlebt hat …

Der rote Nebel in seinem Sichtfeld löste sich auf, ebenso wie seine geballten Fäuste. Ein Klumpen sackte in seinen Magen, und seine Kehle zog sich zu.

Keines der Kinder hier hatte Eltern. Er kannte seine nicht einmal. Aber für jemanden, der mal welche gehabt hatte, musste es hier noch tausendmal schlimmer sein. Wo sie scheinbar auch vom Rest ihrer Familie ferngehalten wurde.

Einen Rest seiner Familie gab es nicht.

Seth hatte niemanden. Nur sich selbst.

Er setzte sich neben sie. Nicht zu nah, denn er mochte es auch nicht, wenn andere das taten. Vielleicht ging es ihr genauso. Womöglich hatte sie dann auch ein Summen unter der Haut, als würde sich ein Schwarm Wespen zum Angriff bereit machen.

Langsam griff er in die Tasche seines Hoodies und zog ein lädiertes Twix hervor. Durch seine Körperwärme war es ein wenig angeschmolzen. Keine Ahnung, wie lang das Ding schon in dem Pulli war. Seth hatte es vor Wochen im Kiosk mitgehen lassen. Er hatte bisher keine Lust darauf gehabt.

Wortlos hielt er es ihr hin.

Ihre riesigen Augen schwenkten zwischen seinem Gesicht und dem Twix hin und her.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Dann streckte sie ihre kleine zarte Hand aus, nahm es zügig, ohne mit ihren Fingern seine zu berühren, und versteckte es in ihrem Schoß.

Stumm saßen sie eine Weile beisammen.

Bis Seth flüsterte: »Wenn dir hier einer dumm kommt, sag es mir, klar?«

Victorias Augen lagen tief in den Höhlen über ihren eingefallenen Wangen und blickten ihn unsicher an. Misstrauisch musterte sie seine harten Gesichtszüge und den verkniffenen Mund.

Dann senkte sie den Kopf zu einem Nicken.

Eins

Seth

Heute

In Gedanken mit dem letzten Mandanten beschäftigt, brachte Seth seine Kaffeetasse in die Betriebsküche. Die Spülmaschine war bereits sehr voll, daher holte er einen Tab unter der Spüle heraus und warf das Eco-Programm an. Hinter ihm trat Peter, einer seiner Anwaltskollegen, ein. Der Typ sah immer aus, als könnte er eine Woche Schlaf gebrauchen. Darauf ließen nicht nur sein ungesunder, gräulich anmutender Teint schließen, sondern auch die tiefblauen Ringe unter den Augen. Als hätte er sich zu oft die Haare gerauft, zierten ausgeprägte Geheimratsecken seine Stirn. Seth erinnerte er an Gru aus Ich einfach unverbesserlich.

Peter zog einen Blister aus seiner Jacketttasche, drückte eine Tablette heraus und schob sie sich in den Mund. Mit kleinen Kaubewegungen zermahlte er sie, während er den Espressoknopf der Kaffeemaschine betätigte. Sein zitternder Finger gab Seth den Hinweis, dass er genug davon intus hatte, aber es war nicht seine Sache.

»O Mann, meine Frau macht mich fertig.« Während er mit einer Hand den Blister verstaute, fuhr Peter sich mit der anderen durch sein lichtes Haar.

»Wieso?«, fragte Seth, obwohl er versuchte, persönlichen Gesprächen im Büro aus dem Weg zu gehen.

Nein. Das stimmte nicht.

Er ging jedweden persönlichen Gesprächen aus dem Weg. Auch außerhalb des Büros.

Es würde jedoch unhöflich rüberkommen, wenn er nicht nachgefragt hätte. Außerdem wollte er in der Kanzlei, in der er erst seit kurzem arbeitete und sich wohlfühlte, nicht für Tratsch sorgen, weil er sich unnahbar gab.

Peter trank sein Heißgetränk in einem Zug, bevor er die Tasse in die Spüle stellte und antwortete: »Ist gestern schon wieder mit ihrer Freundin shoppen gegangen und hat die Hälfte meines Monatsgehaltes ausgegeben, während ich daheim war und die Kinder hüten musste.«

Wie auf Kommando läutete Peters Smartphone. Das Bild einer hübschen Blondine und die Bezeichnung »Schatz« deuteten darauf hin, dass es sich um besagte Ehefrau handelte. Peter stöhnte und verdrehte seine Augen, bevor er mit einem geheuchelten: »Hi Liebes, wie schön, dass du anrufst«, abhob.

Seth wollte sich verkrümeln, war aber nicht schnell genug.

»Nein, Schatz, heute wird es echt spät. Ja, ja, es tut mir leid. Überstunden. Der Chef hasst mich eben. Küss die Kinder von mir!«

Mit einem kurzen Winken in Seths Richtung rauschte Peter ab. Nicht in sein Büro, wie Seth bemerkte, sondern in den Fahrstuhl nach unten.

Hatte wahrscheinlich ein Date mit seiner Affäre.

Er zuckte innerlich mit den Schultern. Nicht mein Bier.

Gleichwohl drängte sich ihm der Gedanke auf, dass definitiv Peter und nicht seine Frau der Arsch in der Familie war.

Seine Krawatte lösend, schloss er das Büro ab und nickte der Empfangsdame seiner Etage zur Verabschiedung zu, bevor er sich ebenfalls nach unten begab.

Der Bürokomplex der Kanzlei, in der er nun tätig war, lag an der Wall Street. Heute trat er zeitiger als üblich den Feierabend an, da er noch einen Termin mit einem Kumpel wahrnehmen musste. Es herrschte Betrieb im Gebäude und auf den Straßen, wobei New York bekanntlich niemals schlief. Selbst wenn er mitten in der Nacht das Haus verließ, begegnete er einer Vielzahl Menschen. Exakt das, was er wollte: In ihnen untergehen – in ihrer Namenlosigkeit.

Seth befand sich in Weiterbildung zum Fachanwalt für Familienrecht und war dankbar, die Stelle bei Mitchell und Partner ergattert zu haben. James Mitchell, sein Boss, war entgegen Peters Aussage, kein Sklaventreiber und ein Mann, den Seth über alle Maßen schätzte. Zwar hatte er, bezogen auf seine Ausbildung, nur wenig mit ihm zu tun, immerhin war Mitchell ein reiner Scheidungsanwalt und das Aushängeschild der Kanzlei. Aber er bewunderte den Mann für seine Eloquenz vor Gericht und seine Prinzipientreue. Staranwalt hin oder her – Mitchell suchte sich seine Fälle nicht nach dem größten Gehaltsscheck, sondern nach Sympathien aus. Was er selbstverständlich nur konnte, weil er durch seine prominenten Fälle, die er medienwirksam vertreten hatte, für ein volles Bankkonto gesorgt hatte. Das würde Seth dem Mann nicht verübeln. Immerhin war ein volles Bankkonto das, was einem den Lebensunterhalt finanzierte. Da Seth am eigenen Leib erfahren hatte, wie es einem erging, wenn man nur drei Dollar in der Brieftasche hatte oder von Almosen abhängig war, würde er keinen verurteilen, der für ein gutes Leben vorsorgte.

Es war ein kühler Märzabend, und Seth vermisste seinen Mantel, den er in der Aussicht auf einen sonnigen Tag und Temperaturvorhersagen über zehn Grad zu Hause gelassen hatte. So schob er seine Hände tief in die Taschen seiner Anzughose und marschierte zügig zur U-Bahn-Station.

In Manhattan stieg er aus und checkte kurz sein Smartphone.

Warte vor dem Laden auf dich, hatte Chip oder Charles, wie er hieß, ihm geschrieben. Seth musste ihn endlich fragen, woher er diesen besonderen Spitznamen hatte. Sie kannten sich immerhin seit Jahren, bisher war es nie zur Sprache gekommen.

Er war ein ehemaliger Kommilitone und arbeitete im Arbeitsrecht in einer anderen Kanzlei. Sie hatten sich auf dem Campus kennengelernt. Zwei Semester lang hatten sie an der gleichen Law School studiert, bevor Charles nach New York gewechselt war. Sie hatten Kontakt gehalten, obgleich es nicht Seths Art war, Bekanntschaften zu pflegen. Es war vornehmlich Chip gewesen, der sich immer wieder bei ihm gemeldet hatte.

Über Charles hatte er den Wink mit der freien Stelle bei Mitchell erhalten. Wenn er jemals jemanden als Freund bezeichnet hätte, käme Chip dem als Nächstes.

Wie angekündigt wartete sein Kumpel vor dem Laden in einer von Manhattans Seitenstraßen, die Hände ebenfalls in den Hosentaschen vergraben.

Seth brauchte dem Schaufenster nicht näher zu kommen, um von den weiß glänzenden und glitzernden Ungetümen darin fast zu erblinden.

»Ah, da bist du«, stellte Chip fest und nickte ihm zu.

Seth murmelte eine Entgegnung und ließ Charles vorangehen, damit sie es hinter sich bringen konnten.

Der Name ›Sewing Box‹ untertrieb. Sie fanden sich nicht in einem kleinen Nähschächtelchen ein, sondern einem riesigen Verkaufsraum. Etliche Stangen weißer Brautkleider und Schleier sowie Vitrinen mit glitzerndem Schmuck säumten die Wände. Unmengen von Regalen waren bis zum Anschlag vollgestopft mit Schuhen und anderem Klimbim. In einer Ecke herrschte eine buntere Farbwahl, das mussten die Brautjungfernkleider sein.

Der Bereich, auf den sie sich nun zubewegten, hatte zum Glück keinen Laufsteg und zeichnete sich durch Reihen um Reihen dunkler Anzüge aus. Wobei er den ein oder anderen Farbakzent auch hier entdeckte und sich fragte, wer um Himmelswillen einen knalltürkisfarbenen Smoking kaufte.

Etwas separiert befand sich eine Couchgarnitur in gediegenem Cremeweiß. Davor erhob sich ein gusseiserner, weiß lackierter Tisch, der Block und Stift bereithielt. Ein verschnörkeltes Tablett war daneben angerichtet worden, das Kelche und eine Glaskaraffe mit Wasser trug, in dem Pfefferminzblätter schwammen.

Er und Charles warteten an einem kleinen Tresen vor diesem Separee, bis man sie begrüßen würde.

Hinter ihnen erklangen Schritte, und Seth wandte sich um.

Eine klein gewachsene Frau mit tiefschwarzem Haar trat auf sie zu.

Sie sah ihm lächelnd ins Gesicht. Hätte sie nicht plötzlich mit erstarrten Zügen innegehalten, er hätte länger gebraucht, um sie zu erkennen.

Die Erde schien einen Moment stillzustehen, und sein Atem stockte.

Victoria.

***

Ihr Gesicht wirkte blass. Seth erkannte nicht, ob es ihre natürliche Hautfarbe war, immerhin war sie ein hellhäutiger Typ, oder ob sie mit Make-up nachhalf. Die vier Piercings, je zwei Stecker über und unter ihrer rechten und linken Ober- und Unterlippe, waren in seinen Augen eine Obszönität in diesem makellosen Antlitz. Noch immer war sie schmal, sah aber nicht mehr so kränklich aus wie das zarte Mädchen von einst, an das er sich erinnerte. Ihr schwarzes, spitzenbesetztes Kleid war figurbetont und legte sich wie ein Seidenstrumpf um ihren Körper. Die klobigen Stiefel darunter und die Netzstrumpfhose über ihren schlanken Beinen sorgten dafür, dass das Outfit einem Statement gleichkam.

Der hart gefärbte Farbton ihrer Haare und die Schminke um ihre Augen waren zu heftig neben ihrer Alabasterhaut. Allein das tiefe Grau ihrer Iriden, das fast schwarz anmutete, war die einzige natürliche Dunkelheit in ihrem Gesicht. Ein Schimmern lag darin, vor allem um ihre dunklen Pupillen, wo das Grau einem helleren Ton wich und sich wie ein Kranz um die Schwärze in der Mitte legte.

Ein Onyx. Kalt und unnahbar.

Früher war es anders gewesen. Sie hatten einander nahegestanden wie Geschwister.

Vicky zu sehen war ein Schock. Es dröhnte in seinen Ohren, und sein Körper fühlte sich an wie betäubt.

Sie schien gleichermaßen überrumpelt zu sein. Unbewusst war sie einen Schritt zurückgetreten, bevor sie sich fasste und mit zusammengekniffenen Augen zu ihm aufsah.

»Seth.« Ihr Flüstern kam einer Frage gleich. Vickys zarte Stimme klang tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn bis in seine Träume verfolgt.

»Ihr kennt euch?« Chip runzelte die Stirn und schaute zwischen ihnen hin und her.

Seth war derjenige, der seine Sprache zuerst wiederfand.

»Lange her«, war alles, was er sagte. Gleichgültig wollte er seine Schultern heben und seine Stimme kräftig klingen lassen, während sich sein Innerstes anfühlte, als hätte jemand einen glühenden Schürhaken versenkt.

Verdammt, er hatte sie vermisst. Nicht den Ort, an dem sie zusammen gewesen waren, aber sie ganz gewiss.

Keiner, keiner ahnte von seiner Zeit im Waisenhaus und bei Pflegefamilien. Kein Kommilitone, kein Arbeitskollege, niemand. Das sollte so bleiben.

Victoria biss auf ihre Unterlippe, wobei die Piercings hin und her wackelten. Vier identische Stecker mit schwarzen stecknadelkopfgroßen Kugeln.

An ihren Ohren trug sie tropfenförmige Hänger, die wie antiker viktorianischer Schmuck aussahen. Ein goldener Metallstempel mit Blumenprägung war in der Mitte eingefasst. Die Ohrringe schwangen vor und zurück, als sie sich straffte, Chip ein Lächeln schenkte und fragte: »Du musst Charles sein. Du heiratest also?«

Charles schaute abermals zwischen ihnen hin und her, zuckte kurz mit den Achseln und folgte ihr auf die Couch, während er ihr von seiner bevorstehenden Hochzeit erzählte.

Vicky schnappte sich den Block, der am Oberrand das verschnörkelte Logo der ›Sewing Box‹ trug, und machte sich Notizen. Hier und da hakte sie bei Details wie Hochzeitstermin und Motto der Feier nach.

»Meine Verlobte machte den Vorschlag, dass die Anzüge von meinem Trauzeugen Seth und mir aufeinander abgestimmt sein sollten. Zumindest in den kleineren Details«, fuhr Charles fort und deutete auf Seth.

Vicky nickte.

»Was hast du dir vorgestellt?«, richtete sie ihre Frage an ihren Kunden.

Sie konzentrierte sich auf das Beratungsgespräch, vermied es aber, Seth in die Augen zu sehen, was ihm die Möglichkeit gab, sie eingehender zu mustern, als wenn sie ihn direkt angesprochen hätte. Sobald sie eine Frage an ihn richtete, blickte sie demonstrativ zum Papier auf ihren Knien. Ihm entging nicht, dass sich wiederholt der schwarze Stecker in ihrer Unterlippe drehte. Er verabscheute das Ding mit jedem Moment mehr.

Die Kappe des Stiftes, mit dem sie sich Notizen machte, hielt sie in der linken Hand. Mit ihrem Zeigefinger glitt sie immer wieder unter die silberne Halterung. Das Klickgeräusch, mit dem Metall auf Plastik traf, hallte in seinen Ohren nach wie ein Vorwurf.

Ihre Körperhaltung war aufrecht. Darin machte er weitere Anzeichen ihrer Anspannung aus, da kein Mensch auf diese Weise bequem auf einer Couch sitzen konnte – zumindest nicht, wenn er keine Balletttänzerin war oder Schrauben in seinem Rückgrat implantiert hatte. Seine Kiefermuskeln reagierten, als spiegelten sie ihre Nervosität. Zwischen seinen Zähnen hätte er Korn zu Mehl verarbeiten können. Er ermahnte sich, entspannt zu bleiben und sich auf den Gesprächsinhalt zu konzentrieren. Sein Blick folgte diesem Befehl nicht und zeichnete abermals ihre Gestalt nach. Victorias Anblick glich für ihn einer Erscheinung wie aus einem fantastischen Traum, von dem er sich nicht abwenden konnte.

Nachdem sie die Einzelheiten der Anzüge bezüglich Form und Farbe besprochen hatten, begann sie, zwei Skizzen anzufertigen.

Schon früher hatte er ihr beim Malen und Zeichnen zugesehen. Es hatte ihn fasziniert, wie ihre fähigen Hände über das Papier geglitten waren und so realistische Formen und Bilder hervorgebracht hatten, dass er meinte, es sei eine Fotografie.

Sie hatte Talent.

Während sie malte, schien ein Teil ihrer Anspannung abzufallen. Ihre Schultern sanken herab, und der Stiftdeckel wurde nicht mehr malträtiert. Für jemanden, der mit seinen Händen arbeitete, hatte sie gepflegte Fingernägel. Der schwarze Lack war akkurat und makellos, ohne eine abgesplitterte Ecke.

Grob skizzierte sie die Anzüge und traf exakt ihre Proportionen.

Charles war schmaler als Seth, hatte einen kürzeren Oberkörper, längere Beine und war um wenige Zentimeter größer. Diese Tatsachen waren ihr aufgefallen, denn in der Skizze kamen sie zur Geltung.

Seth überlief eine Gänsehaut, als er sich vorstellte, wie genau sie ihn für diesen Entwurf angesehen haben musste.

Wie ferngesteuert echote er Charles Zustimmung zu ihrem groben Konzept. Dieser Aufenthalt hier fühlte sich an, als stehe er neben sich und sehe zu. Es war unwirklich, auf Victoria getroffen zu sein. Sein Kollege hatte den Großteil der Konversation bestritten. Seth hatte lediglich ein Nicken, ein Brummen, ein Ja oder Nein beigesteuert, während sein gesamter Körper in Anspannung verharrt war.

Zum nächsten Termin würden sie erneut gemeinsam erscheinen müssen, um Abstimmungsprobleme zu vermeiden. Sie würden vermessen werden, und Charles wollte die Stoffauswahl treffen. Nach Seths Ansicht würde er seinem Kumpel alle Entscheidungen überlassen, seine Maße würde er jedoch zur Verfügung stellen müssen. Um einen neuerlichen Termin kam er nicht herum.

»Gut, dann hättet ihr es für heute bei mir geschafft.« Victoria klickte den Deckel auf ihren Stift und legte ihn gemeinsam mit dem Block beiseite. »Dann lasst uns zum Tresen gehen und die darauffolgenden Termine ausmachen.«

Vicky schritt voran. Das Schwarz ihrer Kleidung streckte sie, aber sie reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Ihre Hüften waren schmal, fast maskulin, da sie keine ausgeprägten Rundungen hatte. Die Schuhe muteten wie Gewichte an, die sie nach unten zogen – klobig und schwer. Hoffentlich waren sie bequemer, als sie aussahen.

Victoria beugte sich vor, um ein Tablet hervorzuholen, in dem sie offensichtlich die Daten eintragen wollte. Ihre langen Haare fielen wie der Tintenschwall einer Sepia vor ihr Gesicht. Im Aufrichten warf sie die Strähnen in einer beiläufigen Geste über ihre Schulter. Ein Hauch von Erdbeeraroma wehte zu ihm heran.

Erdbeershampoo.

Das hatte sie als Kind bereits gemocht.

Dieser Duft war mit ihr verknüpft wie nichts anderes. Dabei machte Seth um Erdbeeren einen großen Bogen, weil er davon einen roten Ausschlag um den Mund bekam. Jedes Mal, wenn er in der Obstabteilung daran vorbeigegangen war und Erdbeeren gerochen hatte, hatte er jedoch an Vicky denken müssen.

Sein Magen zog sich zusammen, und ein unnatürliches Ziehen breitete sich in ihm aus. Wie in einem Traum, den er häufig hatte, in dem er sich nach etwas reckte und streckte und es nicht zu fassen bekam. Als befände er sich Unterwasser, die Oberfläche zum Greifen nah und doch unerreichbar, weil ein Gewicht an seinen Fesseln hing und ihn in die Tiefe zog.

»Passt euch kommende Woche Freitag?«, fragte sie und scrollte die Daten in ihrem Tablet durch. »Zwanzig Uhr?«

Charles prüfte seinen Kalender und nickte. Außer seiner Arbeit hatte er keine Termine, und so stimmte auch Seth zu.

Chip verabschiedete sich, und er blieb hinter ihm zurück. Abermals sah er sich im Fokus ihrer Onyx-Augen.

»Ich nehme an, wir sehen uns«, brachte er leise hervor, froh entlassen zu sein – verschwinden zu können.

»Womöglich.« Ihre Worte waren schneidend. »Das weiß man bei dir ja nie so genau.«

Zwei

Seth – 12 Jahre

Damals

Aus dem Ruheraum im Untergeschoss hallte Geschrei zu Seth hinauf. Es wunderte ihn, denn es bestanden strikte Zimmerregeln, um dort eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten.

Vicky geht oft dorthin.

Dieser Gedanke ließ ihn die Hausaufgaben beiseitelegen. Beunruhigt stand er auf und hechtete aus seinem Zimmer nach unten.

Je näher er dem Raum kam, umso lauter wurde das Stimmengewirr, und er machte Tims dröhnenden Bass aus.

Ich hasse den Typ.

Er war seit drei Wochen hier und benahm sich, als sei er der König, weil er groß und bullig war, und meinte, von allen der Boss zu sein.

»Na, was hast du da gemalt? Prinzessinnen und Einhörner? Glaubst du, es kommt eine gute Fee und holt dich hier raus, hm?«, fragte Tim gerade höhnisch, als Seth um die Ecke bog. Der Junge hielt einen Papierblock in der Hand, den er eindeutig als jenen von Vicky identifizierte.

Mit verzerrter Miene und weinend stand sie vor ihm. King Kong und Ann blitzten vor seinem inneren Auge auf. Stumme Schluchzer schüttelten sie, und ihr Haar wippte wie ein blonder Vorhang flüchtig auf und ab.

»Du musst nur sagen: Gib mir das wieder, lieber Tim, dann bekommst du es zurück. Na, sag doch!«, fuhr er sie an, und seine Augen funkelten diabolisch. Sein Gesicht war zu einer spöttischen Fratze verzogen.

Vicky presste ihre Lippen zusammen, als wollte sie damit verhindern, dass auch nur ein Laut ihrem Körper entschlüpfte. Alles Blut war aus dem Rot ihres Mundes gewichen, so fest drückte sie ihn zu. Ihre Augen waren geweitet und offen wie ein Fenster in den Hof hinaus. Das waren sie immer, wenn sie Angst hatte.

Seth trat zwischen sie und ihr Gegenüber. »Lass sie in Ruhe!«

Unterdrückte Wut loderte in seiner bebenden Stimme.

»Oh, wen haben wir denn da? Ich glaube, Seth ist in Vicky verliebt. Schaut nur! Er verteidigt sie. Dabei sieht sie aus wie ein Baby und hängt immer an seinem Rockzipfel.« Tim verstellte seine Stimme und ahmte ein Kleinkind nach.

Seth spürte die Wut kommen. Eine Welle tief in ihm, die brodelte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Hitze durchfuhr ihn, ein roter Schleier schien sich vor seine Augen zu legen, und er ballte seine Hände. Hätte Vicky sich nicht an seinen Ärmel gekrallt, er hätte sich auf Tim gestürzt. Aber sie zupfte mit ihrer Angst an seiner Beherrschung und sorgte dafür, dass er sich abkühlte.

»Spielst den großen Beschützer, wie? Findest es wohl toll, dass sie von dir gewickelt und gefüttert werden will, du kleine Schabe. Macht dich das zu etwas Besonderem? Sie ist wenigstens hier, weil ihre Eltern tot sind. Du bist hier, weil dich keiner haben wollte!« Tim deutete mit seinem Zeigefinger auf ihn.

Verächtlich hob er den Block mit Vickys Zeichnungen und warf ihn in den Müll. Nicht ohne ihr einen gehässigen Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen zuzuwerfen, in den er seine gesamte Boshaftigkeit legte. Sofort rannte Vicky auf den Mülleimer zu. Sie ging in die Knie, um ihre Papiere herauszuklauben. Da zog Tim sie grob an ihren langen Haaren zurück, sodass ihr Kopf nach hinten schnellte und sie kurz aufwimmerte.

»Nein!« Seth explodierte und warf sich mit aller Kraft nach vorne. Er schubste Tim von ihr fort, den Überraschungsmoment auf seiner Seite. Heftig knallte sein wuchtiger Körper gegen das Regal, und er stieß hart mit dem Kopf an.

»Verdammte Scheiße«, brüllte Tim und griff mit der Hand nach seinem Hinterkopf. Seth folgte seinem Blick, sah Blut an Tims Fingern schimmern, bevor er Vicky an der Hand nahm und aus dem Raum floh.

»Das bekommst du wieder, Abschaum!«, rief Tim ihm hinterher und fluchte.

Sie rannten nach draußen in den Hof zu ihrem Lieblingsplatz hinter einer halbhohen Hecke, an der es eine blickgeschützte Sitzmöglichkeit gab. Victoria durchzuckten Schluchzer, als sie sich neben ihn setzte. Sie hatte seine Hand nicht losgelassen. Es war okay für ihn.

Sie tat das immer einfach so. Ihn berühren. Bei ihr blieb das Summen aus, das ihn vor allem bei Erwachsenen überkam. Mit Vicky war es ihm nie so vorgekommen, als würden sich die Wände auf ihn zubewegen, sobald sie ihn anfasste. Anfangs war er zurückgezuckt, aber mehr aus Gewohnheit. Sie hatte es nicht bemerkt, und irgendwann hatte er sich darauf eingestellt. Berührungen waren für sie beiläufig. Sie dachte nicht darüber nach, ob es in ihm anderes auslöste als in ihr. Vicky konnte nicht wissen, dass es für ihn keine Selbstverständlichkeit war, es zuzulassen.

Von ihren Eltern war sie bestimmt oft im Arm gehalten worden. Die Sehnsucht in Vickys Blick, wenn andere Kinder davon erzählt hatten, von Mom und Dad eine Gute-Nacht-Geschichte zu hören … Sanfte Hände, die über Schöpfe strichen … Gesummte Lieder ...

Ihre traurigen Augen hatten ihm ein Loch ins Herz gebrannt.

Solche Berührungen kannte er nicht. Aber er hatte es sich vorstellen können. Als ob in diesem Moment auch jemand mit der Hand durch sein Haar fuhr. Durch jede einzelne Strähne. Vielleicht wünschte er sich insgeheim, auch einmal so berührt zu werden. Als ob er das jemals zulassen könnte ...

Seth schaute auf ihre verschränkten Finger hinab.

Das war schön. Und es musste reichen.

Den Block mit ihren Malereien hielt Victoria mit ihrer freien Hand entschieden an sich gepresst. Ihre Kreationen waren für sie wie ein Tagebuch. Sie hütete die Bilder wie einen Schatz. Manchmal malte sie nur Kringel oder merkwürdige Formen, als verschlüsselte sie geheime Botschaften darin, die nur sie verstand. Manchmal zeichnete sie Fabelwesen oder Figuren aus Märchen nach, die sie vorgelesen bekommen hatten.

Abermals zuckte sie unter ihren leisen Schluchzern zusammen. Ein Beben, das durch diesen schmalen Körper fuhr und auch Seth erschütterte.

Da sie nie sprach, plapperte er nun darauf los, so wie er es immer tat.

»Ich bin gespannt, was es heute zum Mittagessen gibt, hm? Hoffentlich nicht diese eklige Möhrensuppe von letzter Woche. Hattest du auch das Gefühl, dass da ein Finger von unserer Köchin drin war?«

Wie zu erwarten entlockte er ihr ein Lächeln. Ihre Tränen versiegten, und ihr schüchtern gehobener Mundwinkel signalisierte ihm, dass sie sich allmählich fing.

Trotzdem konnte er nicht aufhören, belangloses Zeug von sich zu geben, obwohl er nicht mehr wusste, ob er es um ihret- oder seinetwillen tat.

In ihrer Gegenwart machte sich sein Mundwerk häufig selbstständig. Manchmal redete er in einer Stunde mit ihr mehr als ohne sie über einen ganzen Tag hinweg. Bisweilen ängstigte es ihn, wie viel er ihr erzählte. Dass er nicht wusste, wer seine Eltern waren, dass er es hasste, im Waisenhaus zu sein. Dass er es aber noch mehr hasste, in einer Pflegefamilie zu leben. Dass er Mist baute, um dafür zu sorgen, dass ihn keiner leiden mochte und er für sich war.

Vicky würde es keinem erzählen.

Sie redete ja nicht.

Er hatte sie mit diesen Geschichten nicht ängstigen wollen. Wenn sie sich bei diesen Erzählungen dicht an ihn gedrückt hatte, war er manchmal wie aus einem Albtraum aufgeschreckt und hatte nicht mehr weitergesprochen, um sie nicht zu entsetzen.

Denn er hatte ihr auch andere Dinge erzählt ... Von finsteren Kellern und …

Er blinzelte.

Denk nicht daran.

Stets hatte er den Anschein erweckt, als seien die Monster seiner Geschichten bösen Träumen entsprungen.

Auch wenn sie real gewesen waren.

Ein Rascheln ließ ihn aufmerken. Pastor Frank hatte sie gefunden. Besonders geheim war der Platz hinter der Hecke nicht.

Vicky wich nicht von seiner Seite, als der Heimleiter ihn aufforderte, in sein Büro zu kommen. Mit gesenktem Kopf tapste sie neben ihm her. Seth wollte ihr einen beruhigenden Seitenblick schenken, aber sie schaute den gesamten Weg über nicht auf und klammerte sich an ihren Malblock.

»Hast du eine Erklärung?«, fragte der Mann resigniert, während er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ und sich, wie immer in dieser Situation, über seine Glatze rieb. Dass er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, Seths Betragen würde sich bessern, machte etwas mit ihm. Fast wünschte er sich einmal den Erwartungen dieses gütigen Menschen gerecht zu werden.

Er würde sich nicht verteidigen. Tim hatte es verdient. Stumm saß er auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch und begegnete Franks klaren Augen ohne Trotz.

Des Pastors auffordernder Blick rang Seth keine Reaktion ab, daher schwenkte dieser zu Vicky.

Ihr Schweigen blieb zuverlässig und dehnte sich aus.

Seth nickte ihr kurz zu, als sie bange seinem Blick begegnete, damit sie sich nicht vor der Strafe fürchtete, die ihm mit Sicherheit für sein Vergehen blühte.

Es klopfte an der Tür, und Rose trat ein.

»Pastor, der Rettungsdienst ist da wegen Tim. Könnten Sie kurz kommen?«

Pastor Frank seufzte kurz, schenkte Seth einen scharfen Blick und erhob sich. »Ihr bleibt hier. Das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen.«

Dann verschwand er und ließ sie im Raum zurück.

Vickys seidenes Haar strich ihm über den Unterarm, als sie sich flüchtig bewegte. Eine Gänsehaut rann über ebenjene Stelle. Er lehnte sich minimal zu ihr hinüber, um an ihren Strähnen zu schnuppern, obwohl er wusste, dass sie nach Erdbeeren riechen würden. Ein vertrauter Geruch, der ihm sehr willkommen war und seine flatternden Nerven besser beruhigte, als es jeder Wutausbruch getan hätte.

Auch wenn er es nie zugeben würde, nicht einmal vor Vicky, jedes Mal, wenn die Nonnen eine ihrer Geschichten über Engel erzählten, hatte er Victoria vor Augen. Im Heim gab es für die Kleinen ein Buch über Weihnachtsengel, die ebensolches Haar hatten wie sie. Strähnen, die ihr lang und schimmernd bis zur Hüfte fielen und bei jeder Bewegung schwangen wie Dünengras im Wind.

Während er über ihr Engelshaar an seinem Arm nachdachte, die seidige Weichheit fühlte, flachte seine Aufregung mehr und mehr ab – Strafe hin oder her. Victoria saß bedächtig neben ihm. Seth hörte das geschäftige Treiben im Flur und im Hof, aber hier drinnen gab es kein Geräusch außer ihrer beider Atmen.

»Tim ist ein Blödmann. Am besten hältst du dich von ihm fern«, riet er ihr.

Sie nickte.

Kurz sah Victoria aus dem Fenster, wo das Blinken des Rettungswagens dessen Abfahrt markierte.

Sie drückte einmal seine Hand, und er schaute auf ihre verschränkten Finger hinab. Den kleinen Finger seiner rechten Hand konnte er nicht komplett beugen. Mit sechs Jahren war er gebrochen, weil sein Pflegevater ihn gegen eine Tischkante geschubst hatte. Der Finger war nicht gerade zusammengewachsen, denn in ein Krankenhaus war man mit ihm nicht gegangen. So stand er seit jeher ab wie ein vertrockneter Zweig von einem Baum. Anderen erzählte Seth, ein Basketball sei auf seine ausgestreckte Hand getroffen und habe die Verletzung verursacht.

Victoria holte einmal tief Luft und brachte ihn dazu, seinen Blick von dieser alten Erinnerung zu lösen.

»Du bist mein bester Freund.«

Ihm stockte der Atem. Es war das erste Mal, dass er ihre zarte Stimme hörte. Sie klang hell wie ein Vogelzwitschern an einem Frühlingsmorgen, rein und klar. Ein Schauer überlief ihn.

Überrascht schaute er ihr ins Gesicht und begegnete ihren großen Augen.

Die Angst von vorhin war gewichen und nichts als Vertrauen lag darin.

»Du bist auch meine beste Freundin«, antwortete er und erwiderte den Druck ihrer Hand.

Drei

Vicky

Heute

Zehn Jahre.

Zehn verdammte Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Dann marschierte er nonchalant mit einem Freund im Schlepptau in den Brautmodenladen, in dem sie arbeitete, und tat so, als sei es selbstverständlich, sich über den Weg zu laufen.

In Victorias Brustkorb schien ein Flummi herumzuhüpfen. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Schlüssel griff, um die Ladentür abzuschließen. Seth und Charles waren ihre letzten Kunden gewesen. Ihre Kolleginnen hatten bereits vor dieser Beratung Feierabend gemacht.

Sie trat nach hinten in die Beratungsecke und sah den Block mit ihren Skizzen auf dem Couchtisch liegen. Ihre Gedanken katapultierten sie in jenen Moment zurück, als sie in das Separee eingebogen war und ihn vor sich hatte stehen sehen.

Fast wäre sie getaumelt, als sei sie gegen eine Wand gelaufen.

Der schicke Anzug, den Seth getragen hatte, hatte seine athletische Statur nicht verbergen können. Er war schon immer größer gewesen als sie, kräftiger, aber nicht auf eine einschüchternde Weise. Optisch hatte er stets etwas von einem Draufgänger gehabt.

Mittlerweile trug er seine schwarzen Haare kürzer, sodass sie ihm nicht mehr ständig in die Stirn fielen wie früher, was ihn seriöser wirken ließ. Das Braun seiner Augen – Straßenköterbraun hatte er immer gesagt – hatte seinem Blick einst Wärme verliehen, selbst wenn er zornig gewesen war. Oder es hatte daran gelegen, dass der Zorn nie ihr gegolten hatte. Wer wusste das schon?

An diesem Abend hatte Victoria schwerlich seinem Blick begegnen können.

Nach seinem Weggang aus dem Heim hatte sie ihn mit einer Verzweiflung vermisst, die ihr fast körperliche Schmerzen bereitet hatte. Sie mochte sich kaum erinnern, was sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte. Es musste schlimm gewesen sein. Diese Erinnerungen waren jedoch seit Langem verblasst und rüttelten nicht mehr an ihrer Seele. Seth hingegen war die dauerhafteste Konstante in ihrem Leben gewesen, er hatte sie im Waisenhaus beschützt und sich um sie gekümmert.

Ein Freund ...

Sein Fortgang hatte etwas aus ihrem Körper gerissen, von dem nach dem Tod ihrer Eltern ohnehin nicht viel übrig gewesen war.

Im ersten halben Jahr nach seinem Abschied hatte sie eine gepackte Tasche unter ihrem Bett verwahrt, darauf gewartet, dass er sie holte und nächtelang vor Sehnsucht geheult.

Ein Jahr später war sie in Panik verfallen, weil sie überzeugt gewesen war, ihm müsste etwas passiert sein. Alle hatten sie beschwichtigen wollen. Niemand hatte ihr jedoch Auskunft über seinen Verbleib geben können, weil er mittlerweile einige Male seine Pflegefamilien gewechselt hatte. Briefe, Telefonanrufe oder andere Lebenszeichen von ihm hatten sie nicht erreicht. Horrorgeschichten waren ihr im Kopf herumgegeistert. Von bösen Menschen, die Kinder brachen …

Das Fernsehen bot reichlich Nährboden für solcherlei Hirngespinste.

Mehr als einmal hatte sich Victoria in Panik übergeben, wegen der Szenarien, mit denen sie sein Fortbleiben erklärte. Sie hatte Albträume durchlitten, die sie schweißgebadet hatten erwachen lassen.

Im zweiten Jahr nach seinem Auszug hatte sie begonnen ihn zu hassen.

Diesen Hass hatte sie geschürt und sich hineingesteigert. Er mochte ein Schutzmechanismus gewesen sein und eine Möglichkeit, diesen Kummer abzuschütteln, der sie lange Zeit kaum hatte ihren Alltag bestreiten lassen.

Denn sie hatte Seth geliebt. Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie niemals enttäuscht. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass er sein Wort nicht halten würde.

Mehr als einmal hatte Schwester Filippa an ihrem Bett gesessen und sie aufmuntern wollen. Keiner im Waisenhaus hatte diese Frau gemocht. Victoria, wenn sie ehrlich war, auch nicht. Aus einem unerfindlichen Grund hatte die Nonne ihr eine gewisse Anhänglichkeit entgegengebracht. Filippa hatte sie aufgefordert, nicht mehr an Seth zu denken, hatte ihr weismachen wollen, dass sie ohne ihn besser dran sei. Dass er ein Taugenichts gewesen sei, der sie in dem Moment vergessen habe, als er den Fuß aus der Tür gesetzt hatte. Sie hatte es nie gutgeheißen, dass sie Freunde gewesen waren. »Kein guter Umgang«, hatte Victoria Filippa zu Pastor Frank sagen hören. Lange hatte sich Victoria gewehrt, diese Worte anzunehmen.

Weil der Hass ihr geholfen hatte, am Morgen aufzustehen und zur Schule zu gehen, hatte sie ihn zuletzt willkommen geheißen. Sie verinnerlichte die Gehirnwäsche, die ihre Gedanken an Seth verpestet und durch schmähliche ersetzt hatte. Mit der neu gewonnenen Wut hatte sie einen Katalysator für ihre Gefühle erlangt. Ihr Kummer wurde erträglicher, indem sie ihn in Abneigung umwandelte.

Seit Seth fort gewesen war, war sie mehr denn je gehänselt worden. Filippas Wohlwollen hatte dies bloß schlimmer gemacht. Tim war einer ihrer größten Peiniger gewesen. Ihr Hass auf Seth wurde nur durch ihren Hass auf Tim übertroffen. Er hatte sie Durchhaltevermögen gelehrt.

Gleichwohl war ein Wiedersehen mit Seth zu einer Utopie geworden. Das einzusehen hatte geschmerzt.

Jetzt auf diesen Mann zu treffen, der nichts mit dem Jungen gemein hatte, den sie zu kennen geglaubt hatte, bestätigten Filippas Warnungen.

Ihr Aufeinandertreffen schien ihm einerlei gewesen zu sein. Er hatte sie vergessen, und es hätte ihm offensichtlich nicht leidgetan, wäre sie eine vage Erinnerung geblieben. Das war hart zu akzeptieren, wo noch heute keine Woche vergangen war, in der sie nicht an ihn dachte.

Sie hatte ihm nichts bedeutet, wohingegen er die Welt für sie gewesen war.

Abermals betrachtete Victoria ihre Skizze.

Der Hass war da.

Der Kummer auch.

***

Eine Woche später hatte Victoria einen halben Tag frei und nutzte die Gelegenheit, über die Mittagszeit im Park zu bummeln und das Grün zu genießen. Manchmal beobachtete sie Paare, die spazieren gingen, und überlegte sich, welchen Hochzeitsdress sie für dieses oder jenes Pärchen entwerfen würde. Was sie an New York mochte: Junge und alte Menschen verschiedenster Kulturen flanierten durch die Stadt, dick und dünn, Männer wie Frauen, ein bunter Mix, den sie aufmerksam begleitete. Sie erblickte ein hochbetagtes Ehepaar, das händchenhaltend nebeneinander lief, ein frisch verliebtes Pärchen, das zwischen den Küssen kaum Luft holte, zwei Männer, die auf einer Decke saßen – der eine hatte seinen Kopf auf dem Schoß des anderen gebettet und las ihm aus einem Buch vor.

Der Lärm der Stadt schien an diesem Rückzugsort weit fort zu sein.

Bisweilen zückte sie ihren Skizzenblock und malte drauflos. Sie schuf eine hochgeschlossene A-Linie für die Frau mit dem Trenchcoat und den hohen Pumps. Eine ausladende Robe, die sich in ihren Accessoires verlor, für die vollschlanke Brünette mit der auffälligen Handtasche. Einen schmal geschnittenen Anzug mit einer pinkfarbenen Weste für den Businessmann, der seiner Freundin einen Happen von seinem Hotdog abgab und den Senf von ihren Lippen küsste.

Sonnenschein strömte durch die Baumkronen, und die zarte Wärme eines heiteren Frühlingstages umgab sie wie eine Brise an der See. Dessen ungeachtet war Victoria dankbar für den schwarzen Mantel, den sie übergeworfen hatte, bevor sie nach draußen gegangen war.

Nun ließ sie sich auf einer Parkbank nieder, lehnte sich zurück und schlürfte den Smoothie, den sie sich an einem Stand gekauft hatte. Die Tasche mit ihrem Skizzenblock legte sie neben sich. Ihre Beine streckte sie von sich und überkreuzte sie an den Knöcheln, was ihren ledernen Stiefeln ein Knarzen entlockte.

Da klingelte ihr Smartphone.

Victoria hatte die Rufumleitung im Laden eingeschaltet, falls dort keiner abheben konnte. So wurde ihr die Nummer der ›Sewing Box‹ angezeigt. Wahrscheinlich waren Pat und Molly mit Beratungen beschäftigt.

»Sewing Box, hier ist Vicky.«

»Hi Vicky, Luca Ricardo hier.«

Ricardo war ein bekannter New Yorker Fotograf, der seit einigen Jahren ihre Kundinnen und Kunden für Kataloge ablichtete. Victoria liebte seine Bilder. Er hatte lange in der Modefotografie gearbeitet. In letzter Zeit wandte er sich dahingegen zunehmend sozialen, gesundheitlichen oder ökologischen Themen zu. Umso dankbarer waren sie, dass er die Zusammenarbeit aufrechterhielt. Es gäbe niemanden, der ihre Message und die Brand, die sie mit der ›Sewing Box‹ erschaffen hatten, besser einfangen konnte als Luca Ricardo.

Sie waren hip, sie waren vintage, für alle offen und unkonventionell oder klassisch – was auch immer gewünscht war.

»Oh, hi. Ich wusste doch, dass unser jährliches Shooting bald wieder ansteht«, sagte sie und schob sich den Strohhalm des Smoothies zwischen die Lippen.

»Genau deswegen rufe ich an. Habt ihr schon eine Auswahl an Bräuten und Bräutigamen getroffen?«

Seit dem ersten Shooting bestand Pat darauf, dass sie für ihre Aufnahmen keine Models, sondern Kundinnen und Kunden ansprachen. Die Termine dauerten dadurch länger, da man von den Aufgenommenen nicht die Professionalität und Erfahrung eines Models erwarten konnte. Aber Luca war geduldig und trotz seines großen Namens nicht im Mindesten kapriziös. Er schaffte es auf sympathische Art, dass die Fotografierten sich in seine Hände gaben und sich formen ließen.

Vicky nickte, obwohl Luca sie nicht sehen konnte. »Ja, Molly hat eine Liste fertiggemacht. Wenn du uns die Terminvorschläge schickst, können wir alle abtelefonieren und uns um einen Visagisten für Haare und Make-up kümmern.«

»Ladys, ich sehe schon, ihr seid wie immer top organisiert«, lobte er, und Vicky spürte sein Lächeln in der Wärme seiner Stimme durch das Telefon.

Sie besprachen kleinere Details und verabschiedeten sich bis zum Fototermin in ein paar Wochen. Victoria verpasste ihn nie. Zum einen sah sie Ricardo mit Vergnügen bei seiner Arbeit zu – immerhin war sie Künstlerin und schätzte sein ästhetisches Auge. Zum anderen half sie gerne bei Make-up und Haaren und plauderte bei diesen Gelegenheiten mit den Kundinnen und Kunden, die sie im Laden beraten und zu ihrem Traumdress begleitet hatten. Von dem Tag zu hören, für den ihre Kleider erschaffen worden waren, erfüllte sie mit einem seltsamen Frieden. Diese Happy Ends, dieser eine Tag im Leben eines Paares, zu dem sie mit ihrer Arbeit beigetragen hatten, das waren die Momente, die sie aufs Neue beflügelte, Traumoutfits zu kreieren.

Victoria lehnte sich auf der Parkbank zurück und ließ die Sonne auf sich scheinen, während sie ihren Smoothie austrank. Die buttergelben Strahlen wärmten ihr Gesicht und schienen weit tiefer zu dringen als in die oberen Schichten ihrer Haut. Es fühlte sich an, als führe das Licht nach dem langen Winter an einen versteckten Ort in ihr und tanke Akkus auf, die ihr zuvor nicht leer erschienen waren.

Spaziergänger, Jogger und Touristen passierten sie. Aber sie hielt ihre Lider geschlossen und blendete die Menschen aus, während sie ihre Pause genoss.

Zu vorgerückter Stunde packte Victoria den leeren Becher in ihre Tasche und kehrte nach einem winzigen Umweg durch den Park in den Laden zurück. Dort bereitete sie alles für ihren nächsten Termin mit Seth und Charles vor. Fix legte sie Maßbänder, Stoffmuster und die Unterlagen mit ihren Notizen an ihren Platz. Für dieses Aufeinandertreffen fühlte sie sich besser gewappnet als für das letzte. Dennoch zitterten ihre Hände, als sie jemanden den Raum betreten hörte, dabei war es nur Pat – ihre Chefin.

»Ist alles okay bei dir?«, fragte die Frau, die für sie Freundin, Mutter und Kollegin zugleich darstellte. Sie war Anfang vierzig und kleidete sich so unkonventionell wie am ersten Tag ihrer Begegnung: ein bunter Wickelrock, ein bauchfreies Häkeloberteil und ein filigraner Zehenring an ihren nackten Füßen. Pat war exzentrisch – eine jener Eigenschaften, aufgrund derer Victoria sie noch mehr schätzte. Sie verstellte sich nicht und zeigte jedem die Version von sich, die sie lebte.

Vicky konnte behaupten, dass sie diese Frau aus vollem Herzen liebte. Pat hatte damals einem vierzehn Jahre alten verstörten Mädchen eine Chance gegeben, ihre Träume zu verwirklichen. Victoria hatte keine Worte, um zu beschreiben, wie dankbar sie Pat für diese Möglichkeit war.

»Mir geht es gut«, entgegnete sie und versuchte, unbedarft zu klingen. Sie hatte mit Pat nicht über Seth gesprochen – damals wie heute.

»Danke, dass du mir beim Vermessen hilfst, so wird es schneller gehen«, fügte sie noch hinzu und richtete das Maßband auf dem Tisch senkrecht zu den anderen Utensilien aus.

»Na klar, ist immer einfacher bei einem Doppeltermin. Meine Braut für heute Abend hat ja sowieso abgesagt.« Ihre Freundin knotete ihre langen braunen Haare am Hinterkopf zusammen und befestigte sie mit zwei Bleistiften.

»Guten Abend, Ladys«, begrüßte Charles sie, während er nähertrat. Das Bimmeln der Türglocke hatte die Besucher angekündigt und Vickys Puls beschleunigt.

Hinter ihm betrat Seth den Raum und nickte ihnen zu. Victoria mochte es sich einbilden, hatte aber das Gefühl, sein Blick verweilte eine Sekunde zu lange auf ihr, bevor er sich an Pat wandte und sich vorstellte.

»Packen wirs an?«, fragte Pat anschließend und klatschte in die Hände.

»Dafür sind wir da.« Charles lächelte verbindlich in die Runde.

»Dann kommt mal mit um die Ecke, Vicky hat schon alles vorbereitet.«

Pat dirigierte die Männer zum blickgeschützten Bereich vor den Umkleiden.

»Möchtet ihr etwas zu trinken?«, bot sie an und legte sich ihr Kissen mit Stecknadeln um das Handgelenk.

»Nur ein Wasser«, entgegnete Charles, und Seth nickte zustimmend, als Pat auch ihm ein Glas hinhielt.

»Weiht mich kurz ein, was der Plan ist«, bat Pat, und Victoria schnappte sich das Tablet, um Pat die Skizzen für die Anzüge zu zeigen, die sie eingescannt hatte. Ihre Chefin warf einen Blick darauf und nickte. »Alles klar, zwei klassische Schnitte, gediegene Farbwahl mit einem Dunkelgrau, Akzente am Kragen, bei den Westen und dem Plastron. Seid ihr ein Brautpaar?«

Seth schaute mit großen Augen zu ihr, zu Charles und abermals zu Pat, bevor er die Frage verstand.

»Nein, Bräutigam und Trauzeuge«, stellte Chip richtig und fügte an Seth gewandt hinzu: »Auch wenn du echt heiß bist, Mann.«

Seth prostete seinem Freund schief lächelnd zu, kommentierte es aber nicht.

Vicky blinzelte. Seth Campbell hatte gelächelt? Und sie fühlte sich, als hätte sie ein Bus überfahren. Rasch senkte sie den Blick.

»Ah, ich glaube, mein Mann Jamie hat mir von dir erzählt.« Pat schaute zu Seth und musterte ihn. »Bist du nicht einer seiner Anwälte? Er erwähnte so etwas, dass ihr kommen würdet.«

»Das ist korrekt«, bestätigte Seth nüchtern, als hätte Pat nicht eine Bombe platzen lassen.

Er war Anwalt?

Erstaunt starrte Vicky ihn an. Sie klappte ihren Mund auf und wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Gedanken huschten durch ihren Kopf, an den Jungen, der geklaute Süßigkeiten unter seinem Bett verwahrt hatte. Oder der lange Zeit für die Schule nur ein Schulterzucken übriggehabt hatte, anstatt dem Berg an Hausaufgaben Beachtung zu schenken.

Wieso fühlte es sich wie ein neuerlicher Verrat an?

Bereits nach ihrem ersten Aufeinandertreffen war ihr klar gewesen, dass aus ihm kein Kleinkrimineller geworden war. Das sollte sie für ihn freuen, immerhin hatte er die Kurve gekriegt.

Abermals ließ sie ihren Blick über ihn schweifen und erkannte die Handschrift von Armani in seinem Anzug sowie eine teure Uhr, die an seinem Handgelenk aufblitzte. In James Kanzlei wurde ein gewisses Auftreten erwartet.

Und ich habe geglaubt, auf dieses Treffen vorbereitet zu sein.

»Mein Mann hat viel von dir erzählt«, fuhr Pat fort, und es klang nach Anerkennung und Respekt.