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Der Auftakt der fesselnden Thriller-Reihe der-Bestsellerautorin der »The Inheritance Games«
Die 17-jährige Cassie kann andere Menschen lesen wie ein Buch – absolut nichts bleibt ihr verborgen. Als eines Tages ein mysteriöser junger Mann bei ihr auftaucht, behauptet, beim FBI zu sein, und sie zu einem Gespräch einlädt, hält sie das zunächst für einen schlechten Scherz. Aber ihre besondere Begabung hat sie zur Anwärterin für einen Platz in der »Cold Case Academy« gemacht. Und so findet sich Cassie kurz darauf in einem Eliteausbildungsprogramm für junge Profiler wieder – unter lauter ähnlich Hochbegabten, wie sie selbst eine ist. Doch dann stoßen sie und ihr Team auf Geheimnisse aus der Vergangenheit, die sie alle in tödliche Gefahr bringen ...
Eine jugendliche Profilerin, ein hochbegabtes Team und ein mörderisches Familiengeheimnis: Der Auftakt der fesselnden Thriller-Reihe von New-York-Times-Bestsellerautorin Jennifer Lynn Barnes
Die »Cold Case Academy«-Reihe:
Cold Case Academy – Ein mörderisches Spiel (Band 1)
Cold Case Academy – Ein tödliches Rätsel (Band 2)
Cold Case Academy – Eine riskante Entscheidung (Band 3)
Cold Case Academy – Eine gefährliche Enthüllung (Band 4, erscheint im Dezember 2024)
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Seitenzahl: 306
Jennifer Lynn Barnes
Cold Case Academy
EIN MÖRDERISCHES SPIEL
Aus dem Amerikanischen von Tanja Ohlsen
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Neuausgabe als cbt Taschenbuch Mai 2023
© 2013 Jennifer Lynn Barnes
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Naturals« bei Hyperion Books for Children, einem Imprint von Buena Vista Books, Inc.
© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die deutsche Erstausgabe erschien zunächst unter dem Titel »The Gifted – Vergiss mein nicht« bei cbj Verlag
Übersetzung: Tanja Ohlsen
Überarbeitung: Katja Hildebrandt
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, Berlin
unter Verwendung einer Abbildung von © Katt Phatt
MP · Herstellung: AW
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-30504-8V001
www.cbj-verlag.de
Du hast gewählt. Und du hast eine gute Wahl getroffen. Vielleicht ist sie diejenige, die dich aufhalten wird.
Vielleicht ist sie anders. Vielleicht ist sie gut genug.
Sicher ist nur, dass sie etwas Besonderes ist.
Du glaubst, es läge an ihren Augen – nicht an der Farbe, einem eisigen, klaren Blau. Nicht an den Wimpern oder der Form oder an der Tatsache, dass sie keinen Eyeliner braucht, um sie wie die Augen einer Katze aussehen zu lassen.
Nein, es ist eher das, was hinter diesen eisblauen Augen verborgen ist, das dafür sorgt, dass ihr alle Welt zu Füßen liegt. Du fühlst es jedes Mal, wenn du sie ansiehst. Die Sicherheit. Die Gewissheit. Dieses unirdische Glitzern, mit dem sie die Leute davon überzeugt, dass sie das einzig Wahre ist.
Vielleicht ist sie es ja auch.
Vielleicht kann sie wirklich Dinge sehen. Womöglich weiß sie etwas. Womöglich ist sie alles, was sie zu sein behauptet, und noch mehr. Aber während du sie ansiehst und ihre Atemzüge zählst, lächelst du, weil du tief in deinem Innersten weißt, dass sie dich doch nicht aufhalten wird.
Eigentlich willst du gar nicht, dass sie das tut.
Sie ist zerbrechlich.
Perfekt.
Gezeichnet.
Und das Einzige, was diese sogenannte Hellseherin nicht kommen sehen wird, bist du.
Die Arbeitszeiten waren lausig, die Trinkgelder schlecht, und die meisten meiner Kollegen gingen mir pausenlos auf die Nerven, aber c’est la vie. Es war ein Sommerjob, der mir immerhin Nonna vom Hals hielt. Außerdem hatten meine diversen Tanten, Onkel und die übrige Sippschaft so wenigstens keinen Grund, mir zeitweilige Beschäftigung in ihren Restaurants/Metzgereien/Anwaltskanzleien/Boutiquen etc. anzubieten. Angesichts der sehr großen (und sehr italienischen) Familie meines Vaters boten sich dort schier unendliche Möglichkeiten, die jedoch im Grunde alle auf das Gleiche hinausliefen.
Man wollte mich im Auge behalten, denn mein Vater wohnte am anderen Ende der Welt, und meine Mutter war spurlos verschwunden – falls sie überhaupt noch lebte. Daher war ich als Problemfall prädestiniert. Und als Teenager war ich sowieso allen verdächtig.
»Bestellung ist fertig!«
Mit geübtem Griff angelte ich mit der linken Hand einen Teller mit Pfannkuchen (Speck) und mit der rechten einen doppelten Frühstücksburrito (Jalapeños). Wenn es mit dem Studientest im Herbst nicht klappte, hätte ich in den Niederungen der Gastronomiebranche immerhin echte Chancen.
»Pfannkuchen mit Speck, Frühstücksburrito mit extra Jalapeños«, verkündete ich, als ich die Teller servierte. »Kann ich sonst noch etwas für die Herren tun?«
Ich wusste bereits genau, was dieses Duo sagen würde, noch bevor einer von ihnen den Mund aufmachte. Der Typ links wollte eine Extraportion Butter. Und der andere? Er würde noch ein Glas Wasser brauchen, bevor er auch nur einen Blick auf diese Jalapeños geworfen hatte.
Ich würde hundert zu eins wetten, dass er sie nicht mal mochte.
Wer Jalapeños mag, bestellt sie nicht als Beilage. Mr Frühstücksburrito wollte nur nicht, dass man ihn für ein Weichei hielt – auch wenn er das vor sich selbst nie zugegeben hätte.
Hey, Cassie, mahnte ich mich, nun sei mal nicht so streng mit dem Typen.
»Könnte ich noch ein paar Päckchen Butter bekommen?«, fragte der Mann links.
Ich nickte … und wartete.
»Mehr Wasser«, knurrte der Kerl rechts. Er warf sich in die Brust und stierte auf meine.
Ich zwang mich zu lächeln. »Kommt sofort.«
Fast hätte ich Perversling hinzugefügt, konnte mich aber gerade so noch davon abhalten.
Ich hatte nämlich die stille Hoffnung, dass ein Kerl Ende zwanzig, der so tat, als möge er scharf gewürztes Essen – und der seiner minderjährigen Bedienung auf die Brust glotzte, als würde er für die Augenolympiade trainieren –, sich beim Trinkgeld ebenso würde hervortun wollen.
Andererseits, dachte ich mir dann, könnte er auch der Typ sein, der die dumme kleine Bedienung ignoriert, nur um zu zeigen, dass er es kann.
Gedankenverloren dachte ich über die Details meiner Beobachtungen nach: die Art, wie Mr Frühstücksburrito sich kleidete, seinen mutmaßlichen Beruf und die Tatsache, dass sein Freund, der den Pfannkuchen bestellt hatte, eine wesentlich teurere Uhr trug als er.
Er wird sich mit ihm um die Rechnung streiten und dann ein ganz mieses Trinkgeld geben. Ich hoffte, dass ich unrecht hatte, war mir aber leider ziemlich sicher, dass dem nicht so war.
Andere Kinder verbrachten ihre Vorschuljahre damit, Ich sehe was, was du nicht siehst zu spielen. Ich war mit einem ganz anderen Spiel aufgewachsen: Verhalten, Persönlichkeit, Umgebung – VPU nannte meine Mutter das, deren professionelles Handwerkszeug diese Art Beobachtungen waren. Und wenn man erst mal gelernt hatte, andere so zu betrachten, konnte man später nicht einfach wieder damit aufhören – selbst, wenn man inzwischen alt genug war, um zu verstehen, dass die eigene Mutter log, wenn sie anderen Leuten erzählte, sie könne hellsehen, und dass es Betrug war, wenn sie ihnen für ihre Prophezeiungen Geld abnahm.
Selbst jetzt, wo sie schon so lange fort war, konnte ich nicht damit aufhören, andere Menschen zu beurteilen, ebenso wenig, wie ich aufhören konnte zu atmen, zu zwinkern oder die Tage zu zählen, bis ich achtzehn wurde.
»Ein Tisch für eine Person?«, holte mich eine leise, männliche Stimme mit einem amüsierten Unterton in die Realität zurück. Der Typ, zu dem die Stimme gehörte, sah aus wie jemand, den man eher in einem Countryclub als in einem Diner antreffen würde. Er trug Jeans und ein gestreiftes Poloshirt, hatte perfekte Haut, und sein Haar war kunstvoll mit Gel verwuschelt – Out-of-bed-Style. Seine Worte klangen zwar wie eine Frage, doch das waren sie nicht – keineswegs.
»Sicher«, sagte ich und griff nach einer Speisekarte, »bitte hier entlang.«
Countryclubboy muss etwa in meinem Alter sein, dachte ich, als ich die Details an ihm unauffällig in Augenschein nahm. Er hatte ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und einen lässigen Gang, so wie alle Coolen auf der Highschool, die sich für etwas Besseres hielten. Bei seinem Anblick kam ich mir wie eine Unterwürfige vor.
»Wie wäre es hier?«, fragte ich, als ich ihm einen Tisch am Fenster zeigte.
»Passt«, bestätigte er und setzte sich. Mit einer bemerkenswerten Selbstsicherheit für einen Teenager ließ er beiläufig den Blick durch das Restaurant schweifen. »Ist hier an den Wochenenden viel los?«
»Sicher«, erwiderte ich. Kann ich vielleicht auch noch etwas anderes sagen? Seinem Blick nach zu urteilen fragte der Typ sich wohl gerade dasselbe. »Ich lasse dir einen Moment Zeit, damit du dir die Karte ansehen kannst.«
Da er nicht antwortete, nutzte ich die Gelegenheit, um Mr Pfannkuchen und Mr Frühstücksburrito ihre Rechnung zu bringen, und zwar jedem seine eigene – in der Hoffnung, dass auf diese Weise ein halbwegs vernünftiges Trinkgeld herausspringen würde.
»Sie können bei mir bezahlen, wenn Sie so weit sind«, sagte ich mit gekonnt falschem Lächeln auf den Lippen. Als ich mich zur Küche umwandte, bemerkte ich, dass mich Countryclubboy ansah. Es war kein »Ich will bestellen«-Blick. Ich hatte keine Ahnung, was es war – aber ich wusste, dass da irgendetwas war. Das bohrende Gefühl, das mir klarmachte, ein wichtiges Detail an der ganzen Sache nicht mitbekommen zu haben – etwas über ihn –, wollte einfach nicht wieder verschwinden. Typen wie er gingen normalerweise nicht in solchen Restaurants essen.
Und sie starrten Mädchen wie mich nicht so an.
Verunsichert und misstrauisch ging ich zu ihm.
»Weißt du schon, was du willst?«, fragte ich. Schließlich kam ich nicht umhin, seine Bestellung aufzunehmen, doch ich ließ meine Haare vors Gesicht fallen, um es vor ihm zu verbergen.
»Drei Eier.« Seine schönen braunen Augen suchten meine. Verdammt. »Mit Speck.«
Ich erfüllte nicht das Klischee einer Kellnerin, der immer ein Stift hinter dem Ohr klemmte, und für diese Bestellung – wie für die meisten anderen auch – brauchte ich nun wirklich keinen Notizblock. Doch plötzlich wünschte ich mir, ich hätte wenigstens eins von beidem, um mich an irgendetwas festhalten zu können.
»Wie hättest du deine Eier gerne?«
»Sag du es mir.«
Überrascht blickte ich auf.
»Wie bitte?«
»Rate!«, forderte er mich auf.
Durch den Haarschleier vor meinem Gesicht hindurch starrte ich ihn an.
»Ich soll raten, wie du deine Eier zubereitet haben möchtest?«
»Warum nicht?« Er lächelte.
Damit war das Spiel eröffnet.
»Kein Rührei«, überlegte ich laut. Rührei war zu durchschnittlich, zu gewöhnlich, und der hier legte Wert darauf, anders zu sein. Allerdings auch nicht zu anders, was pochierte Eier ausschloss – zumindest hier. Normales Spiegelei war eine zu große Schweinerei, von beiden Seiten durchgebratenes Spiegelei nicht genug Schweinerei.
»Spiegelei, kurz gewendet«, schloss ich und war mir dabei so sicher wie bei der Farbe seiner Augen.
Lächelnd klappte er die Karte zu.
»Und? Erfahre ich, ob ich richtig geraten habe?«, fragte ich, nicht um meine Vermutung bestätigt zu bekommen, sondern weil ich seine Reaktion sehen wollte.
»Dann wäre der ganze Spaß ja vorbei, findest du nicht?«, meinte er und zuckte die Schultern.
Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte ihn angestarrt, bis ich aus ihm schlau geworden wäre. Doch das tat ich nicht. Ich gab seine Bestellung auf und brachte ihm sein Essen. Dann nahm mich die hektische Mittagszeit völlig in Anspruch, und als ich sie überstanden hatte, war Countryclubboy weg. Er hatte nicht einmal nach seiner Rechnung gefragt, sondern einfach zwanzig Dollar auf dem Tisch liegen lassen. Für zwölf Dollar Trinkgeld kann er gern wiederkommen, um Ratespielchen mit mir zu spielen. Doch dann bemerkte ich, dass das Geld nicht das Einzige war, was er auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Dort lag auch eine Visitenkarte.
Blütenweiß, schwarze Buchstaben. Gleichmäßige Abstände. Oben links war ein Wappen, aber ansonsten relativ wenig Text: ein Name, ein Titel, eine Telefonnummer. Oben auf der Karte standen vier Wörter – vier kleine Wörter, die mir den Atem verschlugen wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich steckte die Karte ein, legte das Geld in die Kasse und warf das Trinkgeld in meinen dafür vorgesehenen Behälter. Dann machte ich einen Abstecher in die Küche.
Ganz ruhig, tief durchatmen.
Doch ich konnte nicht anders, als die Visitenkarte aus meiner Hosentasche zu ziehen und erneut darauf zu starren.
Tanner Briggs. Der Name.
Special Agent. Der Titel.
Federal Bureau of Investigation.
Vier Wörter, von denen ich den Blick nicht abwenden konnte, sodass sie vor meinen Augen verschwammen und ich nur noch drei Buchstaben sah.
Was in aller Welt habe ich getan, um die Aufmerksamkeit des FBI zu erregen?
Am Ende der achtstündigen Schicht war ich körperlich erschöpft und mir schwirrte der Kopf. Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen, mich aufs Bett geworfen und versucht herauszufinden, was zum Henker an diesem Tag eigentlich passiert war.
Dummerweise war heute Sonntag.
»Da ist sie ja! Cassie, wir wollten schon fast die Jungs losschicken, um dich zu suchen.« Meine Tante Tasha gehörte zu den vernünftigeren Geschwistern meines Vaters, daher unterließ sie es, mich augenzwinkernd zu fragen, ob ich mir die Zeit mit meinem Freund vertrieben hätte.
Das war Onkel Rios Job.
»Unsere kleine Herzensbrecherin, was? Hast du wieder ein paar Jungen den Kopf verdreht? Natürlich hast du das!«
Seit mich der Sozialdienst im Alter von zwölf Jahren dazu verdonnert hatte, zu meinem Vater zu ziehen, war ich ein fester Bestandteil des sonntäglichen Abendessens. In den vergangenen fünf Jahren war es kein einziges Mal vorgekommen, dass Onkel Rio eine Frage stellte, die er nicht augenblicklich selbst beantwortete.
»Ich habe keinen Freund«, entgegnete ich. Das Skript war fest vorgeschrieben und dies war meine Zeile. »Ich schwöre.«
»Worüber redet ihr?«, erkundigte sich einer von Onkel Rios Söhnen, warf sich aufs Sofa und ließ die Beine über die Lehne baumeln.
»Über Cassies Freund«, antwortete Onkel Rio.
Ich verdrehte die Augen. »Ich habe keinen Freund.«
»Cassies heimlichen Freund«, korrigierte sich Onkel Rio.
»Ich glaube, du verwechselst mich mit Sofia oder Kate«, behauptete ich. Unter normalen Umständen hätte ich meine Cousinen nicht mit ins Spiel gebracht, aber verzweifelte Situationen erforderten drastische Maßnahmen. »Die haben wesentlich mehr heimliche Freunde als ich.«
»Quatsch«, widersprach Onkel Rio. »Sofias Freunde sind nie geheim.«
Und so ging es weiter – mit Sprüchen und Witzen über die Familie. Ich spielte mit, ließ mich von ihrer Energie anstecken, sagte, was sie hören wollten, und erwiderte ihr Lächeln. Alles schön und gut – aber es entsprach nicht mir.
Das tat es nie.
Sobald ich sicher war, dass mich keiner vermissen würde, verschwand ich in der Küche.
»Schön, dass du da bist, Cassandra.« Meine Großmutter, die Hände bis zu den Ellbogen im Mehl und ihr graues Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden, lächelte mich an. »Wie war die Arbeit?«
Nonna sah zwar aus wie eine kleine alte Dame, doch sie regierte die ganze Familie wie eine Königin ihr Volk.
Zurzeit war ich diejenige, die aus der Reihe tanzte. »Arbeit ist Arbeit«, meinte ich, »nicht schlecht.«
»Aber auch nicht gut?« Sie sah mich kritisch an.
Wenn ich jetzt etwas Falsches sagte, konnte ich innerhalb einer Stunde zehn neue Jobs angeboten bekommen. Die Familie kümmerte sich um ihre Mitglieder, auch wenn diese sehr wohl dazu in der Lage waren, sich um sich selbst zu kümmern. Innerlich verdrehte ich die Augen. Aber mir war schon klar, dass sie es nur gut meinten.
»Heute war es eigentlich ganz okay«, meinte ich also und versuchte, fröhlich zu klingen. »Jemand hat mir zwölf Dollar Trinkgeld gegeben.«
Und außerdem eine Visitenkarte vom FBI, fügte ich im Stillen hinzu.
»Gut«, fand Nonna. »Das ist gut. Du hattest einen guten Tag.«
»Ja, Nonna«, sagte ich und ging zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, weil ich wusste, dass sie sich darüber freuen würde. »Es war ein guter Tag.«
Als um neun alle gegangen waren, fühlte sich die Karte in meiner Tasche an wie Blei. Ich versuchte, Nonna mit dem Geschirr zu helfen, doch sie scheuchte mich nach oben. In der Stille meines eigenen Zimmers spürte ich, wie die Energie aus mir wich wie die Luft aus einem langsam immer schlaffer werdenden Ballon.
Ich setzte mich aufs Bett und ließ mich nach hinten fallen. Die alten Federn ächzten empört auf und ich schloss die Augen. Mit der rechten Hand tastete ich in meine Tasche und zog die Karte hervor.
Es war bloß ein Scherz. So musste es sein. Deshalb war mir der Countryclubboy – dessen unverschämt schöne Augen, hohe Wangenknochen und verschmitztes Lächeln verboten gehörten – so merkwürdig fehl am Platz vorgekommen. Nur deshalb hatte er sich für mich interessiert – um sich einen Scherz mit mir zu erlauben.
Aber eigentlich hat er so gar nicht ausgesehen.
Ich schlug die Augen auf und betrachtete die Karte. Dieses Mal gestattete ich es mir, sie laut zu lesen. »Special Agent Tanner Briggs. FBI.«
Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn sich der Text auf der Karte während der paar Stunden in meiner Tasche auf mysteriöse Weise verändert hätte. FBI? Im Ernst? Wen wollte der Kerl eigentlich verarschen? Er sah aus wie sechzehn, höchstens siebzehn.
Er kann unmöglich ein Special Agent sein.
Speziell war er allerdings schon, das musste ich zugeben. Und, einmal im Kopf, konnte ich diesen Gedanken nicht mehr verdrängen. Reflexartig glitt mein Blick zum Spiegel an der Wand. Es war so was von ironisch, aber typisch, dass ich zwar alle Züge meiner Mutter geerbt hatte, aber nichts von der Magie, mit der sie sich in ihrem Gesicht zusammenfügten. Sie war wunderschön gewesen. Ich dagegen war einfach nur seltsam – ich sah seltsam aus, war seltsam ruhig, stand immer irgendwie seltsam in der Gegend rum, abseits von allen und allem um mich herum.
Selbst nach fünf Jahren schaffte ich es immer noch nicht, an meine Mutter zu denken, ohne sie so vor Augen zu haben, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte – als sie mich mit einem breiten Lächeln im Gesicht aus ihrem Ankleidezimmer gescheucht hatte. Ich konnte nicht daran denken, wie ich den Ankleideraum verlassen hatte, ohne gleichzeitig von der Erinnerung daran eingeholt zu werden, wie ich wieder hineingegangen war. Und es war mir nicht möglich, das zu verdrängen, was ich danach gesehen hatte – Blut, überall: auf dem Fußboden, an den Wänden, auf dem Spiegel. Ich war nicht lange weg gewesen. Ich hatte die Tür aufgemacht …
Reiß dich zusammen, befahl ich mir. Ich setzte mich auf und lehnte mich ans Kopfteil des Betts, unfähig, nicht an den Geruch des Bluts und den Augenblick zu denken, in dem ich wusste, dass es das Blut meiner Mutter war, und gleichzeitig betete, ich würde mich täuschen.
Vielleicht ging es ja darum? Vielleicht war die Karte doch kein Scherz? Beschäftigte sich das FBI etwa mit dem Mord an meiner Mutter?
Es ist fünf Jahre her, rief ich mir in Erinnerung. Und es war eigentlich nie ein Fall fürs FBI gewesen, obwohl er aktenkundig war. Doch irgendwo in meinem Hinterkopf tauchte noch ein weiteres »nie« auf.
Die Polizei hat nie eine Leiche gefunden.
Ich drehte die Karte um. Auf der Rückseite fand ich eine handschriftliche Aufforderung.
Cassandra. BITTE RUF AN!
Das war alles. Keine Erklärung. Nichts.
Unter diese Worte hatte jemand mit einer anderen Handschrift noch weitere Worte in kleinen, kantigen Buchstaben gekritzelt, die kaum lesbar waren. Ich strich mit dem Finger darüber und dachte an Countryclubboy.
Vielleicht war gar nicht er der Special Agent.
Aber wer ist er dann? Der Bote?
Ich hatte darauf keine Antwort, aber die schwer entzifferbaren Worte am unteren Rand der Karte starrten mich ebenso an wie Special Agent Tanner Briggs’ BITTE RUF AN!.
»Wenn ich du wäre«, las ich den Rat des gut aussehenden Typen laut, »dann würde ich es lassen.«
Du bist gut darin zu warten. Auf den richtigen Moment zu warten. Auf das richtige Mädchen. Jetzt hast du die Kleine, doch du wartest immer noch. Du wartest darauf, dass sie aufwacht. Du wartest darauf, dass sie diese Augen aufschlägt und dich sieht.
Du wartest darauf, dass sie schreit.
Und schreit.
Und schreit.
Und erkennt, dass sie niemand außer dir hören kann.
Du weißt, wie das laufen wird. Sie wird böse werden, später ängstlich, dann wird sie bei allem schwören, was ihr heilig ist, nichts zu verraten, wenn du sie gehen lässt. Sie wird dich anlügen, und sie wird versuchen, dich zu manipulieren. Und schließlich wirst du ihr zeigen müssen – wie schon so vielen anderen zuvor –, dass das einfach nicht funktioniert.
Aber so weit ist es noch nicht. Im Moment schläft sie noch. Sie ist wunderschön – allerdings nicht so schön, wie sie sein wird, wenn du fertig bist.
Ich brauchte zwei Tage, bis ich mich durchrang, die Nummer zu wählen. Als ich auf das Tuten wartete, fragte ich mich allerdings, wem ich eigentlich etwas hatte vormachen wollen. Es war absolut keine Option gewesen, nicht anzurufen, denn auch wenn es mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ein Scherz war, so gab es doch immerhin eine geringe Chance, dass es keiner war.
Erst als jemand ranging, fiel mir auf, dass ich den Atem angehalten hatte.
»Briggs.«
Ich konnte nicht sagen, was mich mehr entwaffnete – die Tatsache, dass dieser Agent Briggs mir offensichtlich seine direkte Durchwahl gegeben hatte, oder wie er sich am Telefon meldete, als ob ein Hallo reine Zeitverschwendung gewesen wäre.
»Hallo?«, sagte Special Agent Tanner Briggs. Er kann wohl meine Gedanken lesen. »Ist da jemand?«
»Hier ist Cassandra Hobbes«, antwortete ich. »Cassie.«
»Cassie.« Offensichtlich weiß er, dass ich nicht Cassandra genannt werde. Die Art, wie er meinen Namen aussprach, noch bevor ich etwas gesagt hatte, brachte mich zu dieser Vermutung. »Ich freue mich, dass Sie anrufen.«
Er wartete darauf, dass ich etwas sagte, doch ich schwieg. Ich würde diesem Mann bestimmt nicht freiwillig Informationen über mich geben, die er irgendwann, aus welchen Gründen auch immer, gegen mich verwenden könnte – außerdem wollte er etwas von mir.
»Sie fragen sich sicher, warum ich Sie kontaktiert habe beziehungsweise warum ich Michael beauftragt habe, Ihnen meine Visitenkarte zu geben.«
Michael. Jetzt hatte Countryclubboy also einen Namen.
»Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, über das Sie vielleicht nachdenken sollten.«
»Ein Angebot?« Keine Ahnung, wie, aber ich schaffte es, dass meine Stimme ebenso ruhig und gelassen klang wie seine.
»Ich glaube, diese Unterhaltung sollten wir lieber persönlich führen, Miss Hobbes. Welcher Ort wäre Ihnen denn für ein Treffen recht?«
Offensichtlich ist er ein Profi. Was für ein cleverer Schachzug, mich den Ort wählen zu lassen, denn hätte er einen genannt, hätte ich vielleicht abgelehnt. Mir war klar, dass ich mich lieber gar nicht auf ein Treffen einlassen sollte, aber genauso klar war mir, dass das unmöglich war. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem ich zum Telefon gegriffen und ihn angerufen hatte. Trotz Michaels Warnung.
Fünf Jahre ohne Leiche waren eine lange Zeit. Es waren fünf Jahre ohne Antworten.
»Haben Sie ein Büro?«, erkundigte ich mich.
Die kurze Pause am anderen Ende der Leitung sagte mir, dass er diesen Vorschlag nicht erwartet hatte. Ich hätte ihn bitten können, sich mit mir im Diner oder in einem Café an der Highschool zu treffen – an irgendeinem Ort, an dem ich einen Heimvorteil gehabt hätte. Allerdings hatte ich schon früh gelernt, dass es so etwas wie Heimvorteil nicht gab.
Man konnte wesentlich mehr über einen Fremden erfahren, wenn man sein Haus sah, als wenn man ihn zu sich selbst einlud.
Und wenn dieser Kerl kein richtiger FBI-Agent, sondern ein Perverser war und das hier so was wie ein Spiel sein sollte, dann würde es ihm verdammt schwerfallen, ein Treffen im hiesigen FBI-Büro zu arrangieren.
»Ich arbeite normalerweise nicht in Denver«, erklärte er schließlich. »Aber ich bin sicher, dass sich da etwas machen lässt.«
Anscheinend war er wohl doch kein Perverser.
Er nannte mir eine Adresse, ich nannte ihm einen Zeitpunkt.
»Und … Cassandra?«
Was will er damit bezwecken, dass er mich nun doch bei meinem richtigen Namen nennt?
»Ja?«
»Es geht nicht um Ihre Mutter.«
•••
Ich ging natürlich trotzdem zu dem Treffen. Special Agent Tanner Briggs wusste offensichtlich einiges über mich – genug jedenfalls, um sich darüber klar zu sein, dass mich nur der Fall meiner Mutter dazu gebracht hatte, der Aufforderung auf der Karte zu folgen. Ich wollte herausfinden, wie er an diese Information gekommen war, ob er sich ihre Akte angesehen hatte oder ob er sie sich ansehen würde, wenn ich ihm das gab, was er sich von mir erhoffte.
Was auch immer das sein sollte.
Ich wollte wissen, warum es sich Agent Briggs zur Aufgabe gemacht hatte, etwas über mich in Erfahrung zu bringen. Was bitte schön ist so interessant an mir?
»Welches Stockwerk?«, fragte die Frau neben mir im Aufzug. Sie war Anfang sechzig, ihr silberblondes Haar hatte sie im Nacken zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihr Hosenanzug war maßgeschneidert.
Genauso geschäftsmäßig, wie Special Agent Tanner Briggs sich gab.
»Fünfter Stock, bitte«, sagte ich.
Aus Neugier warf ich einen weiteren Blick auf die Frau und begann, mir ihr Leben zusammenzureimen, wie es mir durch ihre Haltung, die Kleidung, ihren leichten Akzent und den Klarlack auf ihren Nägeln erzählt wurde.
Sie war verheiratet.
Keine Kinder.
Als sie beim FBI angefangen hatte, war es ein reiner Männerverein gewesen.
Verhalten, Persönlichkeit, Umgebung.
»Fünfter Stock«, verkündete die Frau kurz, und ich fügte meiner mentalen Liste über sie eine weitere Beschreibung hinzu: ungeduldig.
Gehorsam stieg ich aus dem Lift. Während sich hinter mir die Tür schloss, schaute ich mich um. Es sah alles so … normal aus. Ohne die Sicherheitskontrolle am Eingang und das Besucherschild, das man mir an mein verblasstes schwarzes Sommerkleid gehängt hatte, hätte ich nie vermutet, dass man sich an diesem Ort dem Lösen von Schwerverbrechen widmete.
»Was denn? Hast du eine Jahrmarktsparade erwartet?«
Die Stimme erkannte ich sofort. Der Typ aus dem Diner. Michael. Er klang amüsiert, und als ich mich zu ihm umdrehte, huschte das spöttische Lächeln über sein Gesicht, mit dem er mich schon bei unserer ersten Begegnung bedacht hatte und das er wahrscheinlich leicht hätte unterdrücken können, wenn er denn gewollt hätte.
»Ich habe gar nichts erwartet«, klärte ich ihn auf. »Ich habe keine Erwartungen.«
Er sah mich mit diesen unverschämt schönen Augen wissend an. »Keine Erwartungen, keine Enttäuschungen.«
Ob er gerade versuchte, meinen momentanen Geisteszustand einzuschätzen, oder ob das sein eigenes Lebensmotto war, konnte ich nicht sagen. Um ehrlich zu sein, fiel es mir schwer, überhaupt irgendwie aus ihm schlau zu werden. Sein gestreiftes Polohemd hatte er gegen ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt eingetauscht und die Jeans gegen eine Kakihose. Doch er wirkte hier genauso fehl am Platz wie im Diner.
Vielleicht ist das ja Absicht.
»Weißt du«, bemerkte er im Plauderton, »ich wusste, dass du kommen wirst.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Obwohl du mir geraten hast, es nicht zu tun?«
»Der Pfadfinder in mir hat mich dazu getrieben«, erklärte er.
Ich rollte mit den Augen. Schon klar.
»Du sollst mich also zu Special Agent Tanner Briggs bringen?« Die Frage klang kurz angebunden, aber zumindest nicht fasziniert, hingerissen oder als verspürte ich beim Klang seiner Stimme ein angenehmes Kribbeln.
»Hmmm.« Dieser unterdrückte Laut und ein Kopfnicken war alles, was ich als Antwort bekam. Er führte mich um den Treppenabsatz und einen Gang entlang: neutraler Teppichboden, neutrale Wände, ein neutraler Ausdruck auf seinem fast schon kriminell hübschen Gesicht.
»Und? Was hat Briggs über dich in der Hand?«, fragte Michael. Ich spürte, wie er mich beobachtete und nach Anzeichen für Emotionen – irgendeine Emotion – suchte, um zu erfahren, ob seine Frage bei mir ins Schwarze getroffen hatte.
Hatte sie nicht.
»Du willst, dass ich nervös werde«, warf ich ihm vor. »Und du hast mir gesagt, ich sollte lieber nicht kommen.«
Er lächelte, doch in seinen Augen lag eine gewisse Härte. »Man könnte sagen, ich sei widersprüchlich.«
Ich schnaubte. Doch das traf es genau.
»Wirst du mir wenigstens einen kleinen Hinweis darauf geben, was hier los ist?«, wollte ich wissen, als wir fast am Ende des Ganges angekommen waren.
Erneut zuckte er mit den Schultern. »Kommt darauf an. Wirst du aufhören, mit mir Wer hat das beste Pokerface? zu spielen?«
Überrascht lachte ich auf und stellte gleichzeitig fest, dass es lange her war, seit ich nur einfach so gelacht hatte, weil ich nicht anders konnte, und nicht nur deshalb, weil jemand anderes ebenfalls lachte.
Michaels Lächeln wurde weicher, und einen Augenblick lang veränderte sich sein Gesicht vollkommen – auf einmal sah er nicht nur gut aus, er war geradezu schön. Doch es hielt nicht lange an. Ebenso schnell, wie diese Lockerheit gekommen war, verschwand sie auch wieder.
»Ich habe ernst gemeint, was ich auf die Karte geschrieben habe«, sagte er leise und nickte zu einer geschlossenen Bürotür rechts von uns. »Wenn ich du wäre, würde ich dort nicht hineingehen.«
In diesem Moment wurde mir klar – so wie ich solche Dinge jedes Mal einfach wusste –, dass Michael auch einmal in dieser Situation gesteckt und er die Tür aufgestoßen hatte. Obwohl seine Warnung wohl also tatsächlich kein Witz gewesen war, öffnete auch ich die Tür.
»Miss Hobbes, bitte kommen Sie herein.«
Mit einem letzten Blick auf Michael betrat ich das Zimmer.
»Bonne chance«, wünschte der Typ mit dem perfekten Pokerface und unterstrich seine Worte mit einem übertriebenen Fingerschnippen.
Special Agent Tanner Briggs räusperte sich. Hinter mir schloss sich die Tür. Was auch immer sich daraus ergeben mochte, ich war hier, um einen FBI-Agenten zu treffen. Allein.
»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Miss Hobbes. Bitte setzen Sie sich doch.«
Agent Briggs war jünger, als mich seine Stimme am Telefon hatte vermuten lassen. Ich dachte angestrengt nach, um sein Alter in die Informationen zu integrieren, die ich sonst noch über ihn hatte. Wenn ein älterer Mann sich bemüht, geschäftsmäßig zu klingen, ist er wachsam. Wenn ein Endzwanziger so etwas tut, dann, weil er ernst genommen werden will.
Das war ein Unterschied.
Folgsam nahm ich Platz. Agent Briggs blieb sitzen, neigte sich jedoch nach vorne. Der Schreibtisch zwischen uns war aufgeräumt bis auf einen Stapel Papier und zwei Stifte, von denen einer keine Kappe hatte.
Er war also nicht von Natur aus ordentlich. Aus irgendeinem Grund fand ich das beruhigend. Es sagte mir, dass er ehrgeizig, aber nicht pedantisch war.
»Sind Sie fertig?«, fragte er mich. Er klang nicht kurz angebunden, sondern eher wirklich neugierig.
»Fertig womit?«
»Mich zu analysieren«, erwiderte er. »Ich bin erst seit zwei Stunden in diesem Büro. Im Grunde dürfte es hier kaum etwas geben, was Ihre Aufmerksamkeit erregen könnte, aber mir war klar, dass es irgendetwas geben würde. Das ist fast immer so bei Naturtalenten.«
Naturtalente. Er sprach das Wort so aus, als erwarte er, dass ich es mit einem Fragezeichen versehen wiederholen würde. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Je weniger ich ihm gab, desto mehr würde er mir geben müssen.
»Sie sind sehr gut darin, Menschen zu interpretieren, sich aus kleinen Details ein Gesamtbild von ihnen zu machen: wer sie sind, was sie wollen, wie sie ticken.« Lächelnd fügte er hinzu: »Und wie sie ihre Eier mögen.«
»Sie haben mich eingeladen, weil ich gut darin bin zu erraten, ob jemand lieber Spiegelei oder Rührei isst?«, hakte ich nach. Ich konnte nicht verhindern, ungläubig zu klingen.
Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich habe Sie hergebeten, weil Sie eine natürliche Begabung für etwas haben, was die meisten Menschen ihr Leben lang nicht lernen.«
Ob er, wenigstens zum Teil, auch sich selbst damit meinte, wenn er von den meisten Menschen sprach?
Mein beharrliches Schweigen schien er als eine Art Widerspruch zu betrachten. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie nicht ständig jemanden analysieren? Dass Sie mir nicht jetzt schon auf den Kopf zusagen können, ob ich lieber Basketball oder Golf spiele?«
Basketball. Aber er ließ andere lieber glauben, die Antwort sei Golf.
»Sie könnten versuchen, mir zu erklären, wie Sie das machen, wie Sie Leute analysieren, Cassie, doch der Unterschied zwischen Ihnen und dem überwiegenden Rest der Welt ist folgender: Sie müssten lange darüber nachdenken, um zu erklären, wie Sie herausgefunden haben, dass ich mir lieber eine blutige Nase auf dem Basketballfeld hole, als mit dem Boss eine Runde über den Golfplatz zu drehen. Sie müssten überlegen, welche Hinweise es gab und wie Sie sie interpretiert haben. Denn Sie tun es einfach. Sie müssen sich gar nicht erst anstrengen, um so etwas herauszufinden, so wie ich, so wie mein Team es müsste. Und wahrscheinlich könnten Sie es nicht mal verhindern, selbst wenn Sie es wollten.«
Ich hatte nie darüber gesprochen, nicht einmal mit Mom, die mir die Dinge beigebracht hatte, die man tatsächlich lernen konnte, um andere besser einzuschätzen. Menschen waren Menschen, aber egal, wer sie waren und wer sie sein wollten, meistens waren sie nur Rätsel für mich. Leichte Rätsel, schwere Rätsel, Kreuzworträtsel, knifflige Rätsel, Sudokus. Es gab immer eine Antwort, und ich konnte nicht eher aufhören, als bis ich sie herausgefunden hatte.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich den Mann vor mir. »Und selbst wenn es stimmt, selbst wenn ich einen guten Instinkt habe, was Menschen angeht, was haben Sie damit zu tun?«
Er neigte sich vor. »Ich weiß es, weil ich es zu meiner Aufgabe gemacht habe, so etwas zu wissen. Weil ich derjenige bin, der das FBI davon überzeugt hat, Leute wie Sie ausfindig zu machen.«
»Was wollen Sie von mir?«
Er lehnte sich zurück. »Was glauben Sie denn, was ich von Ihnen will, Cassie?«
Mir wurde der Mund trocken. »Ich bin erst siebzehn.«
»Natürliche Begabungen wie die Ihrigen sind in den Teenagerjahren am stärksten. Normale Erziehung, College, die falschen Einflüsse, all das könnte das unglaubliche Potenzial beeinträchtigen, über das Sie jetzt verfügen.« Sorgfältig verschränkte er die Hände vor sich. »Ich möchte dafür sorgen, dass Sie die richtigen Einflüsse bekommen und dass Ihre Gabe zu etwas Außerordentlichem ausgebildet wird, zu etwas, mit dessen Hilfe Sie jede Menge Gutes tun könnten.«
Am liebsten hätte ich ihn ausgelacht, wäre gegangen und hätte vergessen, dass dieses Treffen je stattgefunden hatte – doch etwas in mir, ein äußerst starkes Gefühl, sagte mir, dass das hier das Richtige war. Das hier war mehr.
»Sie können so lange darüber nachdenken, wie Sie wollen, Miss Hobbes, aber was ich Ihnen biete, ist eine Chance, die Sie nur ein Mal im Leben bekommen. Das Programm in unserer Akademie ist einzigartig, und es kann eine Erfolgsgeschichte aufweisen, bei der Naturtalente – so wie Sie – zu etwas wirklich Außergewöhnlichem geworden sind.«
»Wie ich«, wiederholte ich, während ich fieberhaft überlegte. »Und wie Michael.«
Letzteres war zwar nur eine Vermutung, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich damit richtiglag. In den zwei Minuten, die wir für den Weg zum Büro gebraucht hatten, hatte Michael mehr darüber herausgefunden, was sich in meinem Kopf abspielte, als je irgendjemand zuvor.
»Menschen wie Sie. Und wie Michael«, bestätigte Agent Briggs mit einem Strahlen im Gesicht. Der hartgesottene Geschäftsmann war verschwunden, nun wurde er persönlich. Dieses Programm, wie er es nannte, war etwas, an das er wirklich glaubte.
Und er musste etwas beweisen.
»Was würde es denn bedeuten, an diesem Programm teilzunehmen?«, erkundigte ich mich.
Die Begeisterung in seinem Gesicht verwandelte sich in etwas noch viel Intensiveres und er sah mich mit durchbohrendem Blick an.
»Was halten Sie davon, nach Washington, D. C. umzuziehen?«
Was ich davon halten würde, nach Washington, D. C. umzuziehen?
»Ich bin erst siebzehn«, wiederholte ich. »Es wäre angebrachter zu fragen, was meine Erziehungsberechtigten davon halten würden.«
»Sie wären nicht die erste Minderjährige, die wir rekrutieren, Miss Hobbes. Es gibt Möglichkeiten.«
Offensichtlich hatte er Nonna noch nicht kennengelernt.
»Vor fünf Jahren wurde die Vormundschaft für Sie Ihrem leiblichen Vater, Vincent Battaglia, United States Air Force, übertragen.« Agent Briggs machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Vierzehn Monate nachdem Sie in sein Leben getreten waren, wurde er nach Übersee versetzt. Sie entschieden sich dafür, hier bei Ihrer Großmutter väterlicherseits zu bleiben.«
Ich fragte nicht, wie Agent Briggs an diese Informationen gelangt war. Er war vom FBI. Wahrscheinlich wusste er sogar, welche Farbe meine Zahnbürste hatte.
»Der Punkt dabei ist, Miss Hobbes, dass rechtlich gesehen immer noch Ihr Vater Ihr gesetzlicher Vertreter ist, und ich bin äußerst zuversichtlich, dass ich die Teilnahme an unserem Programm für Sie in die Wege leiten kann, wenn Sie es wünschen.« Wieder hielt er inne. »Nach außen hin betreiben wir ein Programm für Hochbegabte. Sehr selektiv und mit der Unterstützung sehr bedeutender Leute. Ihr Vater hat seine Karriere beim Militär gemacht. Er sorgt sich darum, dass Sie sich isolieren – wodurch es für uns leichter sein wird, ihn zu überzeugen, als das bei den meisten anderen Vätern der Fall wäre.«
Ich wollte schon den Mund aufmachen, um zu erfragen, was ihn auf die Idee brachte, mein Vater würde sich Sorgen machen, doch Briggs hob die Hand.
»Ich laufe nicht blind in so eine Situation, Miss Hobbes. Sobald Sie in unserem System als potenzielle Rekrutin gekennzeichnet wurden, habe ich meine Hausaufgaben gemacht.«
»Gekennzeichnet?«, fragte ich und hob die Augenbrauen. »Weshalb?«
»Darüber wurde ich nicht informiert. Nicht ich habe Sie markiert – und das alles spielt auch keine Rolle, wenn Sie mein Angebot nicht interessiert. Sagen Sie Bescheid, wenn das der Fall sein sollte, dann werde ich Denver noch heute Abend verlassen.«
Das konnte ich nicht – aber das war Agent Briggs wahrscheinlich schon klar gewesen, bevor er überhaupt gefragt hatte.
Er nahm den Stift ohne Kappe und schrieb etwas auf den Rand eines seiner Papiere.
»Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich an Michael wenden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass er Ihnen gegenüber in Bezug auf seine Erfahrungen in der Akademie kein Blatt vor den Mund nehmen wird.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse – was laut Special-Agent-Etikette eigentlich so was wie Hochverrat bedeuten müsste. »Und wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, die ich beantworten kann …?«
Er verstummte und wartete ab. Ich schluckte den Köder und begann, ihn nach Details auszufragen. Eine Viertelstunde später schwirrte mir der Kopf. Das Programm war nur klein und noch in der Testphase. Der Inhalt bestand aus zwei Teilen. Erstens: die ausgewählten Teilnehmer auszubilden und ihre natürlichen Fähigkeiten zu verstärken; zweitens: diese Fähigkeiten hinter den Kulissen für das FBI einzusetzen. Ich konnte die Akademie jederzeit verlassen, musste aber eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben.