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Das umwerfende Finale der Thriller-Reihe der Spiegel-Bestsellerautorin
Cassie Hobbes hatte ihre Ausbildung in der Eliteeinheit des FBI nur aus einem Grund angetreten: um die Wahrheit über den Mord an ihrer Mutter herauszufinden. Doch jetzt muss sie alles infrage stellen, was sie glaubte, über jene Nacht zu wissen. Denn ihre Mutter lebt! Doch die Menschen, die sie gefangen halten, sind mächtiger und gefährlicher als alle Gegner, denen sich das Team bisher stellen musste. Die Uhr tickt, als Cassie und das Team die Geheimnisse um diese Gruppe, die seit Generationen im Geheimen mordet, nach und nach aufdecken. Als immer mehr Leichen auftauchen, wird schnell klar: Das Team jagt nicht nur Serienmörder, sondern diesmal machen die Mörder Jagd auf sie!
Die Jäger werden zu Gejagten in diesem nervenzerreißenden Abschluss der Thriller-Reihe von Spiegel-Bestsellerautorin Jennifer Lynn Barnes.
Die Cold Case Academy-Reihe:
Ein mörderisches Spiel (Band 1)
Ein tödliches Rätsel (Band 2)
Eine riskante Entscheidung (Band 3)
Eine gefährliche Enthüllung (Band 4)
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Seitenzahl: 382
Jennifer Lynn Barnes
EINEGEFÄHRLICHEENTHÜLLUNG
Aus dem Amerikanischenvon Sascha Wander
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Erstmals als cbt Taschenbuch Dezember 2024
© 2016 Jennifer Lynn Barnes
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Bad Blood« bei Hyperion Books for Children, einem Imprint der Disney Book Group
© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Sascha Wander
Überarbeitung: Melanie Hartmann
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
Umschlagmotiv: © 2022 by Katt Phatt
SKN · Herstellung: DiMo
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-32292-2V001
www.cbj-verlag.de
Für William, der Mom beim Überarbeiten dieses Buchs geholfen hat, als er gerade mal fünf Wochen war.
DU
Ohne Ordnung herrscht Chaos.
Ohne Ordnung herrscht Schmerz.
Das Rad dreht sich. Leben sind verwirkt. Sieben Meister. Sieben Arten zu töten.
Diesmal wird es Feuer sein. Neun wird brennen.
So wurde es beschlossen, so muss es sein. Schon dreht sich das Rad. Die Dinge haben ihre Ordnung. Und im Zentrum von allem stehst du.
Der Serienkiller, der mir gegenübersaß, hatte dieselben Augen wie sein Sohn. Dieselbe Form. Dieselbe Farbe. Nur das Glitzern darin, das Funkeln der Vorfreude – das ist ganz und gar deines.
Die Erfahrung und meine Mentoren beim FBI hatten mich gelehrt, dass ich tiefer in die Psyche anderer Menschen eindringen konnte, wenn ich mit ihnen redete statt nur über sie. Ich gab dem Drang nach, ein Profil des Mannes zu erstellen, und musterte ihn gründlich. Du wirst mich verletzen, wenn du kannst. Das war mir bereits klar gewesen, bevor ich in dieses Hochsicherheitsgefängnis gekommen war und bei meinem Anblick ein hintergründiges Lächeln Daniel Reddings Lippen umspielt hatte. Wenn du mich verletzt, verletzt du den Jungen. Ich tauchte tiefer und tiefer in Reddings psychopathische Sichtweise ein. Und es ist der Junge, dem du wehtun willst.
Es spielte keine Rolle, dass Daniel Reddings Hände mit Handschellen gefesselt und an den Tisch gekettet waren. Oder dass ein bewaffneter FBI-Agent an der Tür stand. Der Mann vor mir war einer der grausamsten Serienkiller der Welt, und wenn ich ihn meine innere Deckung überwinden ließ, würde er sein Zeichen so sicher in meine Seele brennen, wie er den Buchstaben R in das Fleisch seiner Opfer gebrannt hatte.
Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen.
So hatte Redding seine Opfer ermordet. Aber das war nicht der Grund, warum ich heute hier war.
»Sie haben einmal behauptet, dass ich den Mörder meiner Mutter niemals finden würde«, sagte ich und klang ruhiger, als ich mich fühlte. Ich kannte diesen Psychopathen gut genug, um zu wissen, dass er versuchen würde, mich zu provozieren.
Du wirst versuchen, in meinen Kopf einzudringen, Fragen und Zweifel zu säen, damit ein Teil von dir mit mir geht, wenn ich diesen Raum verlasse.
Genau das hatte Redding vor Monaten getan, als er diese Bombe über meine Mutter platzen ließ. Und deshalb war ich jetzt hier.
»Habe ich das behauptet?«, fragte Redding mit einem leichten Grinsen. »Es klingt wie etwas, das ich erwähnt haben könnte, aber …« Er zuckte übertrieben mit den Schultern.
Ich faltete die Hände auf dem Tisch und wartete. Du wolltest doch, dass ich zurückkomme. Deshalb hast du diesen Köder ausgelegt. Jetzt bin ich hier, weil ich angebissen habe.
Schließlich brach Redding sein Schweigen. »Du musst mir noch etwas anderes zu sagen haben.« Redding hatte die Geduld eines selbstbeherrschten Killers – aber nur wenn es um seine Interessen ging, nicht um meine. »Denn letztlich«, fuhr er mit einem leisen Summen fort, »haben du und ich so viel gemeinsam.«
Natürlich spielte er auf meine Beziehung zu seinem Sohn an. Und mir war klar, dass ich darauf eingehen musste, um zu bekommen, was ich wollte. »Sie sprechen von Dean.«
In dem Moment, als ich Deans Namen aussprach, wurde Reddings Grinsen noch breiter. Mein Freund und Kollege beim Naturtalente-Programm wusste nichts von meiner Anwesenheit hier. Er hätte darauf bestanden, mich zu begleiten, und das konnte ich ihm nicht antun. Daniel Redding war ein Meister der Manipulation, aber mich würde er niemals so verletzen können, wie jedes seiner Worte Dean im Innersten vernichtet hätte.
»Bildet sich mein Sohn ein, in dich verliebt zu sein?« Redding beugte sich vor und imitierte meine Haltung, indem er seine gefesselten Hände faltete. »Schleichst du dich nachts auf Zehenspitzen in sein Zimmer? Durchwühlt er dein Haar mit seinen Händen?« Reddings Gesichtsausdruck wurde weicher. »Wenn Dean dich in seinen Armen wiegt«, murmelte er, und seine Stimme bekam einen musikalischen Klang, »fragst du dich manchmal, wie nah er dran ist, dir das Genick zu brechen?«
»Es muss Sie quälen«, sagte ich leise, »dass Sie so unglaublich wenig über Ihren eigenen Sohn wissen.«
Wenn Redding mich verletzen wollte, musste er sich etwas Besseres einfallen lassen, als Zweifel an Dean zu säen. Wenn er wollte, dass mich seine Worte in den nächsten Tagen und Wochen verfolgten, musste er mich dort treffen, wo ich am verwundbarsten war. Wo ich schwach war.
»Es muss dich quälen«, wiederholte Redding meine eigenen Worte, »dass du so unglaublich wenig darüber weißt, was mit deiner eigenen Mutter passiert ist.«
Das Bild der blutgetränkten Garderobe meiner Mutter drängte sich in mein Gedächtnis, doch ich setzte eine neutrale Miene auf. Ich hatte Redding dazu gebracht, mich dort zu treffen, wo es wehtat, und damit das Gespräch genau dorthin gelenkt, wo ich es haben wollte.
»Bist du nicht deshalb hier?«, fragte mich Redding mit tiefer, samtweicher Stimme. »Um herauszufinden, was ich über den Mord an deiner Mutter weiß?«
»Ich bin hier«, sagte ich und starrte ihn an, »weil ich weiß, dass Sie die Wahrheit gesagt haben, als Sie mir schworen, dass ich den Mörder meiner Mutter niemals finden würde.«
Jeder der fünf Teenager im Naturtalente-Programm des FBI hatte ein Spezialgebiet. Meins war Profiling. Lia Zhangs Spezialität war es, Täuschungen und Lügen aufzudecken. Vor Monaten hatte sie Reddings hämische Worte über meine Mutter als wahr eingestuft. Jetzt spürte ich Lia auf der anderen Seite des Einwegspiegels, bereit, jede Aussage von Deans Vater nach Wahrheit oder Lüge zu unterscheiden.
Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. »Was ich wissen möchte, ist Folgendes«, sagte ich zu dem Mörder vor mir, jedes Wort deutlich akzentuierend. »Als Sie mir versicherten, dass ich niemals den Mann finden würde, der meine Mutter ermordet hat, meinten Sie da, dass sie von einer Frau ermordet wurde?« Ich hielt inne. »Oder hatten Sie Grund zu der Annahme, dass meine Mutter noch am Leben war?«
Zehn Wochen. So lange hatten wir nach einer Spur gesucht – irgendeiner Spur, so klein sie auch sein mochte –, die uns zu der Sekte von Serienkillern führen könnte, die den Tod meiner Mutter vor fast sechs Jahren vorgetäuscht haben könnte. Eine Organisation, die sie seitdem gefangen hielt.
»Das ist kein zufälliger Besuch, oder?« Redding lehnte sich in seinem Stuhl zurück und neigte den Kopf zur Seite, während seine Augen – Deans Augen – meine genau studierten. »Du hast nicht einfach genug gehabt, meine Worte haben dich nicht über die Monate mürbe gemacht. Du hast etwas erfahren.«
Ich wusste, dass meine Mutter lebte. Ich wusste, dass diese Monster sie in ihrer Gewalt hatten. Und ich wusste, dass ich sogar einen Pakt mit dem Teufel schließen würde, um diese Leute zur Strecke zu bringen.
Um meine Mutter nach Hause zu bringen.
»Was würden Sie sagen«, fragte ich Redding, »wenn ich Ihnen erzählte, dass es eine Organisation von Serienkillern gibt, die im Geheimen arbeitet und alle drei Jahre neun Opfer tötet?« Ich hörte die Intensität in meiner eigenen Stimme. Ich klang nicht mehr wie ich selbst. »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass diese Gruppe sehr ritualisiert vorgeht, dass sie seit mehr als einem Jahrhundert mordet und dass ich diejenige bin, die sie zur Strecke bringen wird?«
Redding beugte sich vor. »Ich würde sagen, ich wäre zu gerne dabei, wenn diese Gruppe dich in die Finger kriegt, weil du sie verfolgst. Um mitzuerleben, wie sie dich bei lebendigem Leib zerstückeln.«
Mach weiter, du krankes Monster. Erzähl mir weiter, was sie mit mir machen werden. Erzähl mir alles, was du weißt.
Redding hielt plötzlich inne, dann kicherte er. »Du bist ein schlaues Mädchen, nicht wahr? Mich so zum Reden zu bringen. Ich verstehe, was mein Junge in dir sieht.«
Ein Muskel in meinem Kiefer begann zu kribbeln. Fast hätte ich ihn gehabt. Ich war so nah dran gewesen …
»Kennst du deinen Shakespeare, Mädchen?« Neben seinen vielen charmanten Eigenschaften hatte der Serienkiller mir gegenüber auch eine Schwäche für den berühmten Dichter.
»›Vor allen Dingen sei wahrhaftig dir selbst gegenüber‹«, schlug ich vor und überlegte, wie ich ihn dazu bringen könnte, mir sein Wissen zu offenbaren.
Redding lächelte, seine Lippen öffneten sich und entblößten seine Zähne. »Ich dachte eher an Der Sturm. ›Die Hölle ist leer und alle Teufel sind hier.‹«
Alle Teufel. Der Killer mir gegenüber. Die kranke Bande, die meine Mutter entführt hatte.
Sieben Meister, flüsterte eine Stimme in meiner Erinnerung. Die Pythia. Und Neun.
»Ich weiß nicht viel über diese Organisation«, sagte Redding. »Aber wenn sie deine Mutter tatsächlich all die Jahre in ihrer Gewalt hatte?« Ohne Vorwarnung beugte er sich vor und brachte sein Gesicht so nah an meins, wie es seine Ketten zuließen. »Dann könnte es sehr gut sein, dass sie selbst der Teufel ist.«
Der FBI-Agent an der Tür zog seine Waffe, als Redding abrupt in meine Richtung schnellte. Ich starrte in das Gesicht des Killers, nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.
Du willst, dass ich zurückweiche. Bei Gewalt ging es um Macht und Kontrolle – wer sie hatte und wer nicht.
»Alles in Ordnung«, sagte ich zu meinem FBI-Beschützer. Agent Vance hatte mit Agent Briggs zusammengearbeitet, seit ich dem Naturtalente-Programm beigetreten war. Er war als Eskorte abgestellt worden, weil Briggs und seine Partnerin, Agent Mullins, beschlossen hatten, auf der anderen Seite des Einwegspiegels zu bleiben. Sie hatten eine Vorgeschichte mit Daniel Redding, und wir wollten sicherstellen, dass der Psychopath seine ganze Aufmerksamkeit mir zuwandte.
»Er kann mir nichts tun«, sagte ich zu Agent Vance und richtete diese Worte sowohl an den Agenten als auch an mein Gegenüber. »Er neigt zu melodramatischen Effekten.«
Ich spielte die Sache herunter, damit Redding unseren verbalen Schlagabtausch fortsetzte. Ich hatte ihn dazu gebracht, zuzugeben, dass er zumindest von der Existenz dieser Gruppe wusste. Jetzt musste ich herausfinden, was er gehört hatte und von wem.
Ich musste fokussiert bleiben.
»Kein Grund, nervös zu werden.« Redding lehnte sich in seinem Sitz zurück und hob demonstrativ seine gefesselten Hände, um sich bei Vance zu entschuldigen, der seine Pistole wieder in das Holster steckte. »Ich nehme nur kein Blatt vor den Mund.« Reddings Lippen verzogen sich, als er sich wieder mir zuwandte. »Es gibt Erfahrungen, die einen Menschen zerbrechen können. Und wenn er einmal gebrochen ist, kann er – wie deine Mutter – zu etwas Neuem geformt werden.« Redding neigte den Kopf zur Seite und schloss halb die Augen, als hätte er einen besonders lebhaften Tagtraum. »Zu etwas Großartigem.«
»Wer sind die?«, fragte ich, ohne den Köder zu schlucken. »Wo haben Sie von ihnen gehört?«
Es entstand eine lange Pause.
»Angenommen, ich wüsste etwas.« Reddings Gesicht entspannte sich. Seine Stimme klang ruhig, als er fortfuhr. »Was hättest du mir dafür zu bieten?«
Redding war hochintelligent, berechnend und sadistisch. Und er hatte nur zwei Obsessionen. Was du deinen Opfern angetan hast. Und Dean.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und ich war entschlossen, es durchzuziehen. Egal, wie schlecht ich mich dabei fühlen würde. Egal, wie sehr ich es hasste, diese Worte auszusprechen.
»Dean berührt mich jetzt öfter als früher.« Ich schaute auf meine Hände hinunter. Sie zitterten. Ich zwang mich, meine linke Hand umzudrehen, und verflocht die Finger meiner rechten mit denen meiner linken. »Seine Finger verschränken sich mit meinen und sein Daumen …« Ich schluckte schwer und mein Daumen bahnte sich den Weg zu meiner Handfläche. »Sein Daumen zeichnet kleine Kreise auf meine Handfläche. Manchmal fährt er mit seinen Fingern an der Außenseite meiner Hand entlang. Und manchmal …« Meine Stimme stockte. »Manchmal fahre ich mit den Fingern an seinen Narben entlang.«
»Ich habe ihm diese Narben zugefügt.« Reddings Gesichtsausdruck verriet mir, dass er meine Worte genoss und noch länger genießen würde.
Mir wurde übel. Mach weiter, Cassie. Du musst es tun.
»Dean träumt von Ihnen.« Die Worte fühlten sich an wie Sandpapier in meinem Mund, aber ich zwang mich weiterzumachen. »Manchmal wacht er aus einem Albtraum auf und sieht nicht einmal, was direkt vor ihm ist, weil er nur Sie sieht.«
Deans Vater diese Dinge zu erzählen, war nicht nur ein Pakt mit dem Teufel. Ich verkaufte damit meine Seele. Und ich war gefährlich nahe daran, auch Deans Seele zu verkaufen.
»Du wirst meinem Sohn nicht erzählen, was du tun musstest, um mich zum Reden zu bringen.« Redding trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Aber jedes Mal, wenn er nach deiner Hand greift, jedes Mal, wenn du seine Narben berührst, wirst du dich an dieses Gespräch erinnern. Ich werde da sein. Auch wenn der Junge es nicht weiß, du wirst es spüren.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen«, stieß ich hervor.
»Gut.« Ein zufriedenes Lächeln spielte um Reddings Lippen. »Die Gruppe, die ihr jagt, sucht nach einer bestimmten Art von Killer. Jemanden, der sich danach sehnt, Teil von etwas zu sein. Einen Mitläufer.«
Das Monster erfüllte nun seinen Teil unseres Paktes.
»Ich selbst bin kein Mitläufer«, fuhr Redding fort. »Aber ich bin ein Zuhörer. Im Laufe der Jahre habe ich Gerüchte gehört. Getuschel. Urbane Legenden. Meister und Lehrlinge, Rituale und Regeln.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite und beobachtete meine Reaktion, als studierte er die Vorgänge in meinem Gehirn und fände sie faszinierend. »Ich weiß, dass jeder Meister seinen Nachfolger selbst auswählt. Ich weiß nicht, wie viele es sind. Und ich habe auch keine Ahnung, wer sie sind und wo sie sich aufhalten.«
Ich beugte mich vor. »Aber Sie wussten, dass sie meine Mutter entführt haben. Sie wussten, dass sie nicht tot war.«
»Ich bin ein Mann, der Muster erkennt.« Redding genoss es, sich selbst darzustellen und seine Überlegenheit mir und Briggs und Mullins gegenüber zu demonstrieren, die er hinter der Glasscheibe vermutete. »Kurz nach meiner Inhaftierung wurde ich auf einen anderen Gefangenen aufmerksam. Er war wegen Mordes an seiner Ex verurteilt, bestand aber darauf, dass sie noch lebte. Man hatte nie eine Leiche gefunden. Es hatte nur sehr viel Blut gegeben – zu viel, wie der Staatsanwalt behauptete, als dass das Opfer noch am Leben sein könnte.«
Diese Sätze klangen so vertraut, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Die Garderobe meiner Mutter. Meine Hand tastet nach dem Lichtschalter. Meine Fingerspitzen berühren etwas Klebriges, etwas Feuchtes und Warmes und …
»Hatten Sie den Verdacht, dass diese Gruppe etwas damit zu tun haben könnte?« Ich hörte meine eigene Frage kaum, so ohrenbetäubend pochte mein Herz.
Reddings Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. »Jedes Königreich braucht seine Königin.«
Aber das war nicht alles. Es musste mehr geben.
»Jahre später«, fügte Deans Vater hinzu, »sah ich mich veranlasst, selbst einen Lehrling einzustellen.«
Er hatte drei eingestellt, aber ich wusste, welchen er meinte. »Webber.« Der Mann hatte mich entführt, in einem Wald ausgesetzt und gejagt. Als wäre ich ein Tier. Als wäre ich eine Jagdbeute.
»Webber hat mir Informationen gebracht. Über Dean. Über Briggs. Über dich – und über Special Agent Lacey Locke.«
Locke, meine ursprüngliche Mentorin beim FBI, hatte ihr Leben als Lacey Hobbes begonnen, die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie hatte ihr Leben als Serienkillerin beendet, die den Mord an meiner Mutter wieder und wieder nachstellte.
Es war kein Mord, korrigierte ich mich. Die ganze Zeit, in der Locke Frauen nach dem Vorbild meiner Mutter getötet hatte, war diese am Leben gewesen.
»Sie haben Details über den Fall meiner Mutter herausgefunden.« Ich konzentrierte mich, so gut es ging, auf das Hier und Jetzt, auf Redding. »Sie haben eine Verbindung gesehen.«
»Gerüchte. Getuschel. Urbane Legenden.« Redding wiederholte, was er bereits gesagt hatte. »Meister und Lehrlinge, Rituale und Regeln und im Zentrum von allem eine Frau.« Seine Augen funkelten. »Eine ganz besondere Art von Frau.«
Meine Lippen, meine Zunge und meine Kehle waren ausgetrocknet, sodass ich die Worte kaum herausbrachte. »Welche Art?«
»Die Art von Frau, die man zu etwas Großem formen kann.« Redding schloss genießerisch die Augen. »Zu etwas Neuem.«
DU
Du nimmst das Messer. Schritt für Schritt schreitest du zum steinernen Tisch und prüfst die Balance der Klinge in deiner Hand.
Das Rad dreht sich weiter. Mit ihm dreht sich die Opfergabe, die an dem Stein festgekettet ist, mit Leib und Seele.
»Alle müssen geprüft werden.« Du sprichst diese Worte aus, während du mit der flachen Seite des Messers über den Hals der Opfergabe streichst. »Alle müssen für würdig befunden werden.«
Das Gefühl der Macht pulsiert in deinen Adern. Es ist deine Entscheidung. Deine Wahl. Eine Drehung deines Handgelenks und das Blut wird fließen. Das Rad wird stillstehen.
Ohne Ordnung herrscht Chaos.
Ohne Ordnung herrscht Schmerz.
»Was brauchst du?« Du beugst dich vor und flüsterst die uralten Worte. Das Messer in deiner Hand dringt leicht in den unteren Teil des Halses des Opfers ein. Du könntest es jetzt töten, aber es würde dich einen hohen Preis kosten. Sieben Tage und sieben Schmerzen. Das Rad steht niemals für lange still.
»Was brauche ich?« Das Opfer wiederholt die Frage und lächelt, während ihm das Blut über die nackte Brust rinnt. »Ich brauche Neun.«
Hey, der Typ ist ja eine echte Stimmungskanone.« Lia sprang von dem Tisch, auf dem sie gesessen hatte.
Agent Vance hatte mich gerade in den Beobachtungsraum geführt. Mullins und Briggs starrten immer noch in den Raum, den ich kurz zuvor verlassen hatte. Auf der anderen Seite des Einwegspiegels zogen die Wachen Daniel Redding auf die Beine. Briggs – kämpferisch, ehrgeizig und auf seine Art idealistisch – würde in Redding nie etwas anderes sehen als ein Monster, eine Bedrohung. Mullins dagegen hielt ihre Gefühle unter Verschluss, indem sie festgelegten Regeln folgte, zu denen auch gehörte, dass sie sich niemals von Männern wie Daniel Redding aus der Ruhe bringen ließ.
»Ich schwöre«, fuhr Lia mit erhobener Hand fort, »Serienmörder sind so berechenbar. Es geht immer nur um ›Ich will dich leiden sehen‹ und ›Lass mich Shakespeare zitieren, während ich mir vorstelle, auf deiner Leiche zu tanzen‹.«
Lias verächtliche Reaktion zeigte mir, dass sie von dem Gespräch, das sie gerade mitangehört hatte, fast genauso mitgenommen war wie ich.
»Hat er gelogen?«, fragte ich. Egal, wie sehr ich ihn bedrängt hatte, Redding hatte darauf bestanden, dass er den Namen des Gefangenen nicht kannte, dessen Ex-Frau unter ähnlichen Umständen wie meine Mutter »gestorben« war. Allerdings hätte ich diesen Meister der Täuschung nie beim Wort genommen.
»Redding weiß vielleicht mehr, als er sagt«, erklärte mir Lia, »aber er lügt nicht – zumindest nicht, wenn es um das gute alte Konsortium serienmordender Psychopathen geht. Er hat ein bisschen geflunkert, als er meinte, er wolle zusehen, wie sich die Psychopathen an dir vergreifen.«
»Natürlich will Redding nicht zusehen.« Ich versuchte, Lias schnoddrigen Tonfall nachzuahmen, um die Sache – oder etwas davon – weniger schlimm klingen zu lassen. »Er ist Daniel Redding. Er will mich persönlich abschlachten.«
Lia zog eine Augenbraue hoch. »Du scheinst diese besondere Wirkung auf Menschen zu haben.«
Ich schnaubte. Wenn man bedachte, dass es seit meinem Eintritt bei den Naturtalenten nicht nur ein, sondern gleich zwei Serienkiller auf mich abgesehen hatten, ließ sich das nicht leugnen.
»Wir werden den Fall ausgraben, von dem Redding gesprochen hat.« Briggs drehte sich schließlich zu Lia und mir um. »Es könnte eine Weile dauern, aber wenn es einen Häftling gibt, auf den Reddings Beschreibung passt, werden wir ihn finden.«
Agent Mullins legte eine Hand auf meine Schulter. »Du hast dadrin getan, was du tun musstest, Cassie. Dean würde das verstehen.«
Natürlich würde er das. Aber das machte es nicht besser. Das machte es nur schlimmer.
»Und was Redding über deine Mutter gesagt hat …«
»Sind wir hier fertig?«, unterbrach Lia Agent Mullins abrupt.
Ich verkniff es mir, Lia einen dankbaren Blick zuzuwerfen, aber ich wusste die Einmischung zu schätzen. Ich wollte nicht über die Andeutungen reden, die Redding über meine Mutter gemacht hatte. Ich wollte mich nicht fragen, ob auch nur ein Körnchen Wahrheit darin steckte, und sei es noch so klein.
Meine Mentorin verstand die Botschaft. Als sie uns nach draußen begleitete, versuchte Agent Mullins nicht, das Thema erneut aufzugreifen.
Lia hakte sich lässig bei mir ein. »Nur fürs Protokoll«, sagte sie mit ungewohnt sanfter Stimme. »Solltest du mich jemals« – zum Reden brauchen, ergänzte ich im Stillen, zum Dampfablassen brauchen – »wieder dazu zwingen, dir dabei zuzuhören, wie du von Cassies und Deans erotischen Händchenhalte-Abenteuern erzählst, werde ich mich rächen und diese Rache wird episch sein.«
Neben dem Aufdecken von Täuschungsmanövern bestand Lias größte Spezialität darin, für Ablenkung zu sorgen – was allerdings manchmal Kollateralschäden nach sich zog.
»Was für eine Art von Rache?«, fragte ich, halb dankbar für die Ablenkung, aber auch ziemlich sicher, dass sie diesmal nicht bluffte.
Lia grinste und ließ meinen Arm los. »Das würdest du wohl gerne wissen, was?«
Als wir nach Hause kamen, fanden wir Sloane in der Küche, wo sie mit einer Lötlampe hantierte. Zum Glück waren Mullins und Briggs noch draußen und tauschten etwas aus, das nicht für unsere Ohren bestimmt war.
Lia sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Willst du fragen? Oder soll ich?«
Sloane legte den Kopf zur Seite. »Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr gleich nach der Lötlampe fragen werdet.«
Ich pflichtete ihr bei. »Was hast du mit der Lötlampe vor?«
»Die ersten Flammenwerfer stammen aus dem Byzantinischen Reich im ersten Jahrhundert nach Christus«, trällerte Sloane. Das kam so schnell über ihre Lippen geschossen, dass ich aufhorchte.
Ich änderte meine Frage. »Was hast du mit der Lötlampe vor und wer hat dir Koffein gegeben?«
In diesem Moment kam Michael mit einem Feuerlöscher in die Küche geschlendert. »Du bist besorgt«, sagte er und musterte meinen Gesichtsausdruck. »Und du befürchtest, dass ich den Verstand verloren habe.« Er ließ seinen Blick zu Lia wandern. »Und du bist …«
»Nicht in der Stimmung, meine Gefühle lesen zu lassen?« Lia hüpfte auf den Küchentresen und ließ die Beine baumeln. Ihre dunklen Augen funkelten, als sich etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen abspielte.
Michael hielt ihrem Blick noch eine Weile stand. »Genau das.«
»Ich dachte, du bist grundsätzlich dagegen, Sloane Koffein zu geben«, sagte ich und warf Michael einen scharfen Blick zu.
»Das bin ich auch«, antwortete er. »Meistens jedenfalls. Aber du weißt ja, wie es in dem Song heißt: ›Wir feiern meine Party, drei Tage dauert sie, und wenn ich will, kriegt meine Sloane Koffein.‹«
»Deine Party«, wiederholte ich. »Du meinst, deinen Geburtstag?«
Michael setzte eine ernste Miene auf. »In zwei Tagen werde ich, Michael Alexander Thomas Townsend, ein Jahr älter, ein Jahr weiser und bin dann sicherlich alt genug, um Sloane beim Umgang mit der Lötlampe zu beaufsichtigen. Was kann es also schaden, mit den Feierlichkeiten ein wenig früher zu beginnen?«
Ich ergänzte, was er unausgesprochen gelassen hatte. »Du wirst achtzehn.«
Ich wusste, was das für ihn bedeutete: Freiheit. Von deiner Familie. Von dem Mann, der dich zu einem Menschen gemacht hat, der den leisesten Anflug von Wut in einem lächelnden Gesicht erkennen kann.
Wie aufs Stichwort klingelte Michaels Telefon. Obwohl ich sein Gesicht nicht so lesen konnte wie er meins, wusste ich instinktiv, dass Michaels Vater nicht der Typ war, der sich einfach zurücklehnte und seine letzten Tage der Kontrolle untätig verstreichen ließ.
Du wirst nicht drangehen, dachte ich, während ich Michael weiter fixierte. Er kann dich nicht nötigen – und in zwei Tagen wird er dich zu gar nichts mehr zwingen können.
»Ich fühl mich zwar alles andere als zuständig.« Lia rutschte vom Tresen und schlenderte zu Michael hinüber. »Aber vielleicht sollte Sloane besser nicht irgendwelchen Kram abfackeln.«
»Ich muss«, widersprach Sloane vehement. »Michaels Geburtstag ist am einunddreißigsten März. Das ist in zwei Tagen und zwei Tage danach ist …«
»Der zweite April«, beendete ich den Satz. 4/2.
Ich fühlte, wie alles, was Daniel Redding gesagt hatte – über die Meister, über meine Mutter –, zurückkehrte und damit auch die letzten zehn erfolglosen Wochen. Neun Opfer, die alle drei Jahre an den von der Fibonacci-Folge bestimmten Tagen getötet wurden. Das war der Modus Operandi der Meister. Seit dem letzten Fibonacci-Datum, dem 21. März, war etwas mehr als eine Woche vergangen.
Das nächste Datum war der 2. April.
»Wir kennen das Muster«, fuhr Sloane energisch fort. »Es beginnt in diesem Kalenderjahr, und wenn es so weit ist, wird der frisch initiierte Mensch bei lebendigem Leibe verbrennen. Ich habe alles gelesen, was ich über Mord durch Verbrennung finden konnte, aber …« Sloane blickte auf die Lötlampe hinunter und umklammerte sie fester. »Das reicht nicht.«
Sloanes Bruder war in Vegas von dem UNSUB – das war unsere Abkürzung für »Unbekanntes Subjekt« – getötet worden, das uns auf die Spur dieser Gruppierung gebracht hatte. Sie war jetzt nicht nur verletzlich, sie war innerlich wund. Du musst dich nützlich fühlen. Denn wenn du Aaron nicht retten konntest, wozu taugst du dann überhaupt? Wozu könntest du je wieder nützlich sein?
Jetzt verstand ich, warum Michael Sloane Kaffee gegeben und einen Feuerlöscher geholt hatte, statt die Lötlampe zu konfiszieren. Ich legte einen Arm um sie. Sie lehnte sich an mich.
Hinter uns ertönte eine Stimme. »Ihr seid wieder da.«
Wir vier drehten uns um. Dean zuckte nicht mit der Wimper, als er Sloanes Lötlampe bemerkte. Seine Aufmerksamkeit galt zu hundert Prozent Lia und mir.
Unsere Abwesenheit war definitiv nicht unbemerkt geblieben.
Wenn man bedachte, wo wir gewesen waren und dass Dean meine Fähigkeit, Profile zu erstellen, teilte, verhieß das nichts Gutes.
»Wir sind wieder da«, erklärte Lia und stellte sich zwischen Dean und mich. »Willst du sehen, wozu Cassie mich im Dessousladen überredet hat?«
Dean und Lia waren die ersten beiden Naturtalente im Programm gewesen. Sie waren schon jahrelang zusammen gewesen, bevor der Rest von uns auf der Bildfläche erschienen war. Sie war in jeder Hinsicht wie seine Schwester, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren.
Dean schauderte. »Ich zahle dir fünfzig Dollar, wenn du in meiner Gegenwart nie wieder das Wort Dessous in den Mund nimmst.«
Lia grinste. »Kein Deal. Also«, sie drehte sich wieder zu uns um, »hat da nicht jemand was von einem lustigen Tischfeuerwerk gesagt?«
Bevor Dean sein Veto einlegen konnte, wurde die Haustür geöffnet. Ich hörte die Schritte von zwei Leuten, die in Richtung Küche kamen, und rechnete mit Mullins und Briggs. Damit lag ich nur zur Hälfte richtig. Denn Briggs wurde nicht von Agent Mullins begleitet, sondern von Mullins’ Vater.
Das war ungewöhnlich, denn Direktor Mullins machte normalerweise keine Hausbesuche.
»Was ist los?« Dean kam mir zuvor. Er legte es nicht auf einen Konflikt an, aber es war kein Geheimnis, dass Direktor Mullins in Dean vor allem dessen Vater sah. Der FBI-Direktor war durchaus bereit, den Sohn eines Serienmörders zu beschäftigen, aber er traute Dean nicht und würde es nie tun.
»Ich habe heute Morgen einen Anruf von Thatcher Townsend erhalten.« Direktor Mullins’ Worte saugten förmlich die Atemluft aus dem Raum.
»Ich bin diese Woche nicht ans Telefon gegangen«, kommentierte Michael mit gespielt freundlicher Stimme. »Vermutlich hat er deshalb bei Ihnen angerufen.«
Bevor der Direktor antworten konnte, kam Agent Mullins herein, mit Judd im Schlepptau. Judd Hawkins sorgte nicht nur für unser leibliches Wohl und für unsere Sicherheit, er hatte vor Monaten auch die Aufsicht darüber erhalten, wann und wie wir Naturtalente eingesetzt wurden. Direktor Mullins war kein Mann, der diese Aufsichtsfunktion schätzte. Er glaubte an vertretbare Kosten und berechenbare Risiken – vor allem, wenn die Berechnungen seine eigenen waren.
»Townsend senior hat mich auf einen Fall aufmerksam gemacht«, sagte Direktor Mullins und wandte sich an Briggs, ohne seine Tochter und Judd weiter zu beachten. »Ich möchte, dass Sie ihn sich vornehmen.«
»Jetzt?«, fragte Briggs. Der Unterton war eindeutig: Wir haben die erste Spur zu den Meistern seit Monaten, und jetzt sollen wir Michaels gewalttätigem Vater einen Gefallen tun?
»Was immer Thatcher Townsend will«, sagte Michael mit fester Stimme, »bekommt Thatcher Townsend.«
Agent Mullins trat einen Schritt auf ihn zu. »Michael …«
Er schob sich an ihr vorbei und verließ den Raum mit demselben trügerisch freundlichen Lächeln.
Briggs’ Kinnpartie war angespannt, als er sich dem Direktor zuwandte. »Welcher Fall?«
»Es gibt ein Problem mit der Tochter von Townsends Geschäftspartner«, antwortete der Direktor ruhig. »Und da er das Naturtalente-Programm unterstützt, möchte er, dass wir uns darum kümmern.«
»Er unterstützt das Programm?«, wiederholte Lia ungläubig. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber hat dieser Mann Ihnen Michael nicht mehr oder weniger verkauft und dafür Straffreiheit für eine ganze Reihe von Wirtschaftsverbrechen erhalten?«
Direktor Mullins ignorierte Lia. »Es wäre ratsam«, sagte er zu Briggs und betonte jedes Wort, »die Ermittlungen in diesem Fall zu übernehmen.«
»Ich denke, diese Entscheidung liegt bei mir.« Judds Worte waren genauso klar und nachdrücklich wie die des Direktors. Ein ehemaliger Elitesoldat als Aufsichtsperson für einen Haufen Teenager in einem FBI-Trainingsprogramm wäre den meisten Leuten sicher merkwürdig vorgekommen, aber Judd hätte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, als Kugelfang vor jeden von uns geworfen.
»Michaels Vater prügelt ihn«, platzte Sloane heraus. Sie hatte keinen Filter, keine Schutzschicht, um ihre wunden Punkte vor der Welt zu verbergen.
Judd sah Sloane einen Moment in ihre großen blauen Augen und hob dann eine Hand. »Alle unter einundzwanzig raus.«
Keiner von uns rührte sich.
»Ich bitte euch kein zweites Mal«, sagte Judd leise.
Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft ich diesen Tonfall schon gehört hatte.
Wir verließen den Raum.
Auf dem Weg nach draußen hielt mich Agent Briggs am Arm fest. »Finde Michael«, sagte er leise zu mir. »Und sorge dafür, dass nichts passiert, das …«
»Typisch Michael wäre?«, schlug ich vor.
Briggs warf einen Blick zu Direktor Mullins. »Das unklug wäre.«
Wir fanden Michael im Keller. Als das FBI das Haus gekauft hatte, das uns als Operationsbasis diente, hatten sie die untere Etage in ein Labor umgewandelt. An den Wänden entlang befanden sich verschiedene Räume, die als mögliche Tatorte eingerichtet waren. Ein kurzer Rundblick verriet mir, dass Michael nichts angezündet hatte.
Noch nicht.
Stattdessen stand Michael am Ende des Raumes vor einer Wand, die von oben bis unten mit Fotografien tapeziert war. Die Opfer der Meister. Ich hatte Hunderte von Stunden hier unten verbracht und auf diese Wand gestarrt, so wie Michael jetzt. Als ich mich neben ihn stellte, fiel mein Blick automatisch auf zwei Fotos, die sich von den anderen abhoben.
Das eine war die Aufnahme eines Skeletts, das die Polizei an einer Straßenkreuzung vergraben gefunden hatte. Das andere war ein Foto meiner Mutter, aufgenommen kurz vor ihrem Verschwinden. Als die Polizei die sterblichen Reste auf dem ersten Bild entdeckt hatte, war sie zunächst davon ausgegangen, dass es sich um meine Mutter handelte.
Später hatten wir jedoch herausgefunden, dass meine Mutter noch lebte – und dass sie es gewesen war, die unsere Unbekannte von der Straßenkreuzung getötet hatte.
Alle werden geprüft, sagte eine Stimme irgendwo in meinem Kopf. Alle müssen für würdig befunden werden.
Das hatte einer der Meister, ein Serienkiller namens Nightshade, bei seiner Gefangennahme zu mir gesagt. Die Pythia musste ihren Wert beweisen, indem sie gegen ihre Vorgängerin kämpfte – auf Leben und Tod.
Meister und Lehrlinge, hörte ich Daniel Redding leise sagen, Rituale und Regeln, und im Zentrum von allem eine Frau.
Dean legte eine Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um und sah ihm in die Augen, in der Hoffnung, dass er den Schmerz und die Verletzlichkeit in meinen Augen nicht bemerken würde.
Nachdem Lia einen Blick auf Dean und mich geworfen hatte, trat sie hinter Michael und legte einen Arm um seinen Bauch, um ihn an sich zu ziehen. Dean musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.
»Zwischen uns läuft wieder was«, informierte uns Lia, »und zwar ziemlich heftig und, wie ich hinzufügen möchte, sehr körperlich.«
Ich tat Lia nicht den Gefallen, sie beim Wort zu nehmen, aber Sloane fiel prompt darauf herein. »Seit wann?«
Michael starrte weiter an die Wand. »Weißt du noch, wie Lia mich in Vegas gegen die Wand gedrückt hat?«
Mir kam der Gedanke, dass Lia vielleicht doch nicht gelogen hatte. »Ihr seid seit Vegas zusammen und keiner von uns wusste es?« Ich versuchte, es mir vorzustellen. »Du wohnst mit drei Profilern und einem ehemaligen Elitesoldaten in einem Haus. Wie …?«
»Tarnung, Täuschung und ein ausgezeichneter Instinkt«, sagte Michael und kam meiner Frage zuvor. Dann warf er Lia einen Blick zu. »Ich dachte, du willst nicht, dass jemand davon erfährt.«
»Die Bürde unseres Geheimnisses lastete schwer auf meiner Seele«, sagte Lia scherzhaft. Mit anderen Worten, sie wollte Dean davon ablenken, zu viel über meine Probleme nachzudenken, und wenn sie bei der Gelegenheit auch noch Michael von der Verkettung der Ereignisse ablenken konnte, die ihn hier runtergetrieben hatte, umso besser.
»Ich bin nicht in der Stimmung für Ablenkung«, sagte Michael. Er kannte Lia. Bis in ihre geheimsten Winkel. Er wusste genau, was sie vorhatte, und im Moment wollte ein Teil von ihm nicht von diesem dunklen Ort gerettet werden. Er wandte sich wieder der Wand zu.
»Ich liebe dich«, sagte Lia leise. In ihrem Ton lag etwas Tiefes, etwas Verletzliches. Kein Getue, keine Spielchen, keine Tricks. »Auch wenn ich es nicht will, ich liebe dich.«
Unwillkürlich wirbelte Michael herum und sah sie an.
Lia klimperte mit den Wimpern. »Ich liebe dich, wie eine Ertrinkende die Luft liebt. Ich liebe dich, wie das Meer den Sand liebt. Ich liebe dich, wie Erdnussbutter die Marmelade liebt, und ich will Babys von dir.«
Michael schnaubte. »Halt die Klappe.«
Lia lächelte. »Für einen Moment hatte ich dich.«
Michael studierte ihren Gesichtsausdruck jenseits des Grinsens, hinter der Maske. »Vielleicht hattest du das wirklich.«
Was es so schwer machte, Lia zu lesen, war, dass sie alles mit demselben Grinsen gesagt hätte, egal, was sie fühlte. Mit diesem Gesichtsausdruck hätte sie ihm verkündet, dass sie sich tatsächlich in ihn verliebt hatte, hätte ihn ebenso gut aber auch verarschen können.
»Frage.« Michael hob den Zeigefinger. »Mir ist klar, warum Lia besonders zufrieden mit sich ist und warum Cassie ihr Profilerinnen-Gesicht aufsetzt, und ich kann mir auch denken, warum Redding jedes Mal verstört dreinschaut, wenn Lia mich berührt, aber warum weicht Sloane meinem Blick aus und verlagert ihr Gewicht auf die Fußballen, als würde sie gleich explodieren, wenn sie weiter schweigen müsste?«
Sloane gab sich alle Mühe, unbeteiligt zu wirken. »Es gibt über einhundertsiebenundneunzig gängige Slangausdrücke für das Geschlechtsteil eines Mannes«, platzte sie dann heraus. Und weil sie sich nicht beherrschen konnte, fuhr sie fort: »Außerdem sind Briggs, Mullins und Judd nicht da oben, um über die Vorteile einer Übernahme des Falls deines Vaters zu diskutieren!«
Eine kurze Stille trat ein.
»So leid es mir tut, aber lasst uns die Diskussion über unangemessenen Slang für einen Moment vertagen.« Michaels Blick wanderte von Sloane zu Lia, Dean und mir. »Kann mir jemand etwas Genaueres über diesen Fall meines Vaters sagen?«
»Direktor Mullins hat sich nicht näher dazu geäußert.« Dean beantwortete Michaels Frage ruhig und bereit, einzugreifen, falls Michael irgendetwas Dummes anstellen sollte. »Er hat nur gesagt, dass es ein Problem mit der Tochter eines Geschäftspartners deines Vaters gibt.«
Michael blinzelte. »Celine?« Der Name hing für ein, zwei Sekunden in der Luft. »Was für ein Problem?« Michael musste an unseren Blicken erkannt haben, dass wir die Antwort auf diese Frage nicht kannten, denn im nächsten Moment setzte er dazu an, zur Kellertür zu sprinten, jeder Muskel seines Körpers angespannt.
Dean packte ihn am Arm, als er an ihm vorbeiwollte. »Denk nach, Townsend.«
»Ich denke nach«, erwiderte Michael und baute sich vor Dean auf. »Genauer gesagt, denke ich, dass du drei Sekunden Zeit hast, deine Hand von meinem Arm zu nehmen, bevor ich dich dazu zwinge.«
»Michael.« Ich versuchte vergeblich, seinen Blick auf mich zu lenken.
»Eins«, sagte Michael zu Dean.
»Ich hoffe, er sagt jetzt zwei«, sagte Lia erwartungsvoll zu Sloane. »Nichts zeugt mehr von echter Männlichkeit als deplatzierte Wut und das Zählen bis drei.«
Das verunsicherte Michael so sehr, dass er tatsächlich in seiner Rage innehielt. »Celine Delacroix ist die einzige Person in meinem früheren Leben vor dem Programm, die sich jemals für mich interessiert hat. Die auch nur ansatzweise verstanden hat, was für ein Mensch der große Thatcher Townsend wirklich ist«, sagte er zu Dean. »Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, helfe ich ihr. Und wenn ich dich dafür aus dem Weg räumen muss, dann habe ich kein Problem damit.«
»Wir gehen alle.« Agent Briggs klang entschlossen, als er die Kellertreppe herunterkam. Er war derjenige, der Michael für das Programm rekrutiert hatte. Er wusste genau, was für ein Mensch Thatcher Townsend war.
Warum also sollte er Michael dorthin zurückschicken? Warum sollte Judd zustimmen? Die Tatsache, dass Agent Mullins nicht bei Briggs war, ließ bei mir die Frage aufkommen, ob sie in dem Punkt vielleicht anderer Meinung war.
»Wollen Sie damit sagen, dass wir einfach die Zelte abbrechen und nach Upstate New York fliegen?« Lia warf Briggs einen bösen Blick zu. »Aus reinem Mitgefühl und Herzensgüte?«
»Nicht aus reiner Herzensgüte. Und auch nicht, weil Direktor Mullins glaubt, dass Townsend senior uns in Zukunft nützlich sein könnte.« Briggs schaute Michael an. »Nicht einmal, weil ein neunzehnjähriges Mädchen vermisst wird, obwohl wir nicht aufhören sollten, uns um solche Dinge zu kümmern, egal, wie sehr wir uns darauf konzentrieren, die Meister zur Strecke zu bringen.«
Das Wort vermisst traf Michael wie ein Schlag in die Magengrube. »Warum dann?«, fragte er.
Warum sollte Direktor Mullins uns mit diesem Fall betrauen? Warum sollten Briggs und Judd Michael freiwillig in die Sphäre seines gewalttätigen Vaters zurückbringen? Warum sollten wir alles stehen und liegen lassen, um nach einem einzelnen Mädchen zu suchen?
Ich kannte die Antwort schon, bevor Briggs sagte: »Weil die Polizei glaubt, dass Celine vor acht Tagen entführt wurde.«
Mein Herz klopfte in meiner Brust. Acht Tage seit dem letzten Fibonacci-Datum. Vier Tage bis zum nächsten.
»Einundzwanzigster März.« Sloanes Stimme stockte. »3/21.«
»Das Mädchen verschwand an einem Fibonacci-Datum.« Lia schien zu spüren, dass Briggs uns noch etwas verheimlichte, denn sie neigte den Kopf zur Seite. »Und?«
Es entstand eine lange Pause.
»Das Mädchen verschwand an einem Fibonacci-Datum«, wiederholte Briggs. »Und der ganze Tatort war mit Kerosin getränkt.«
DU
Der Geruch von verbranntem Fleisch lässt einen nie mehr ganz los. Asche verweht. Haut vernarbt. Der Schmerz lässt nach. Aber der Geruch ist immer da.
Du wehrst dich dagegen und konzentrierst dich. Du kennst diesen langsamen, schmerzhaften Tanz. Du kennst die Regeln. Aber während sich das Rad dreht, ändert sich die Musik. Du kannst sie hören. Diesmal weißt du etwas, was die anderen nicht wissen.
Du kennst sie.
Vielleicht lebte Celine Delacroix noch. Vielleicht war sie gar nicht mit Kerosin übergossen worden. Vielleicht hatte ihr Entführer sie am 21. März nicht bei lebendigem Leib verbrannt.
Aber dieses Risiko durften wir nicht eingehen. Das gesamte Team, einschließlich der Agenten Starmans und Vance, saß im Jet, um in weniger als einer Stunde nach Upstate New York zu fliegen.
Im vorderen Teil des Flugzeugs schaute Briggs auf seine Uhr. Auf der anderen Seite des Ganges blätterte Agent Mullins in einer Kopie der Fallakte, als wüsste sie nicht schon alles auswendig. Die Bemühungen der beiden, Blickkontakt zu vermeiden, hätten mein Interesse wecken können, doch ich konzentrierte mich lieber auf die Tatsache, dass Celine Delacroix Opfer Nummer eins von neun weiteren sein könnte.
Dieser Gedanke lastete schwer auf mir und drohte mich zu ersticken. Dean, der neben mir saß, streifte mit seinen Fingern sanft über meine.
Jedes Mal, wenn er nach deiner Hand greift, hörte ich Daniel Redding flüstern. Jedes Mal, wenn du seine Narben berührst …
Abrupt zog ich meine Hand zurück.
»Cassie?«
»Mir geht es gut«, sagte ich und fiel in eine alte Gewohnheit aus meiner Kindheit zurück, indem ich die anderen Passagiere im Flugzeug studierte. Michael saß allein in einer Reihe, Sloane und Lia nebeneinander auf der anderen Seite des Ganges. Im vorderen Teil des Flugzeugs, hinter Mullins und Briggs, warteten Agent Vance – klein, kompakt, makellos gekleidet und auf die vierzig zugehend – und Agent Starmans – frisch geschieden, unglücklich verliebt und zutiefst verunsichert durch Teenager, die mehr sahen, als sie sollten – auf weitere Anweisungen. Die beiden hatten schon zu Briggs’ Team gehört, bevor ich dem Programm beigetreten war, aber sie begleiteten uns erst seit Las Vegas.
Denn seitdem war jede und jeder von uns ein mögliches Ziel der Killer.
Blieb nur noch Judd. Aus seiner Sitzhaltung konnte ich schließen, dass er bewaffnet war. Bevor ich über die Gründe dafür nachdenken konnte, erreichte das Flugzeug seine Reiseflughöhe.
Agent Mullins stand auf und tauschte die Akte in ihrer Hand gegen eine digitale Version, die auf dem Monitor im vorderen Teil des Flugzeugs angezeigt wurde. »Celine Elodie Delacroix, neunzehn Jahre, Tochter von Remy und Elise Delacroix.« Agent Mullins begann das Briefing, als wäre es ein ganz normaler Tag – und ein ganz normaler Fall. »Remy ist Hedgefonds-Manager. Elise leitet die Wohltätigkeitsstiftung der Familie.«
Agent Mullins erwähnte weder die Meister noch die Verbindung der Familie Delacroix zu Michael. Ich machte es ihr nach und schob alle Spekulationen beiseite, um mich ganz auf die Bilder auf dem Bildschirm konzentrieren. Mein erster Eindruck war, dass Celine Delacroix die Art junger Frau war, die jedes Outfit elegant aussehen lassen konnte, dabei gleichzeitig aber den Eindruck vermittelte, dass sie Eleganz für überbewertet hielt. Auf dem ersten Bild trug sie ihr schwarzes Haar gewellt und in kunstvolle Strähnen gestuft, von denen die längste bis über die Brust reichte und die kürzeste gerade ihr Kinn streifte. Ihr schwarzes Cocktailkleid war eng anliegend, und ein goldenes Medaillon – vermutlich ein antikes Stück – betonte ihren braunen Teint. Auf dem zweiten Bild war Celines dunkles Haar in scheinbar endlosen Locken um ihren Kopf geschlungen. Schwarze Hose. Weiße Bluse. Rote Absätze. Mein Verstand registrierte alle Details, auch als ich meine Aufmerksamkeit auf das letzte Bild richtete. Celines dichte Locken waren zu einem lockeren Dutt auf dem Kopf zusammengebunden, ihr weißes T-Shirt hing wie zufällig von beiden Schultern und gab den Blick auf ein weißes Tanktop darunter frei.
Du trägst einfarbige Teile ohne Aufdrucke. Du bist dir der Kamera immer bewusst.
Agent Mullins fuhr fort: »Celine wurde von ihrer Mitbewohnerin am College als vermisst gemeldet, als sie nach den Frühlingsferien nicht zum Campus zurückkehrte.«
»Welcher Campus?«, fragte Michael.
Ich war überrascht, dass er fragte. Wenn er Celine so nahestand, warum wusste er es dann nicht längst?
»Yale.« Agent Briggs beantwortete Michaels Frage. »Laut Polizei hatten Celines Freundinnen erwartet, dass sie in den Frühlingsferien mit ihnen nach St. Lucia fliegen würde, aber sie hat in letzter Minute abgesagt und ist stattdessen nach Hause gefahren.«
Warum?, fragte ich mich. Hat dich jemand darum gebeten? Ist etwas passiert?
»Unser Opfer wurde von seiner Mitbewohnerin als vermisst gemeldet.« Sloane zog ihre Beine zu sich heran und stützte das Kinn auf die Knie. »Statistisch gesehen ist es unwahrscheinlich, dass eine solche Meldung sofort erfolgt. Der Prozentsatz der Studenten, die zu spät aus den Ferien zurückkehren, steigt gegen Ende des Semesters deutlich an.«
Agent Mullins bemerkte die unausgesprochene Frage in Sloanes Statistik. »Die Meldung kam gestern Morgen, nachdem Celines Mitbewohnerin sie drei Tage lang nicht erreichen konnte. Und Mr und Mrs Delacroix bestätigten daraufhin, dass sie seit Wochen nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatten.«
Ein Muskel in Michaels Kiefer zuckte. »Sie wussten nicht einmal, dass sie nach Hause wollte, oder?«
»Nein«, antwortete Agent Briggs ruhig. »Anscheinend waren Celines Eltern zu der Zeit im Ausland.«
Ich versuchte, diese Information mit meinem Wissen über die unerwartete Heimreise unseres Opfers zusammenzubringen. Wusstest du, dass niemand da sein würde? Haben sich deine Eltern überhaupt die Mühe gemacht, dir zu sagen, dass sie weg sein würden?
»Wenn sie erst am 28. als vermisst gemeldet wurde …«, überlegte Sloane und konzentrierte sich auf die entscheidende Frage. »Woher wissen wir, dass sie am 21. verschwunden ist?«
Agent Mullins klickte auf die nächste Folie ihrer Präsentation. »Aufzeichnungen der Überwachungskameras«, erklärte sie, während ein Splitscreen-Video abgespielt wurde.
»Zwölf Kameras.« Sloane katalogisierte sie sofort. »Anhand der Kamerawinkel und der Länge der Flure würde ich schätzen, dass das Haus mindestens dreitausend Quadratmeter hat.«
Mullins vergrößerte Aufnahmen, die offenbar ein Malatelier zeigten. Celine Delacroix war genau in der Mitte des Bildes zu sehen. Das Datum auf den Aufnahmen war der 21. März.
Du hast etwas gemalt. Während ich Celine betrachtete, versuchte ich, mich immer mehr in ihre Perspektive hineinzuversetzen. Malen ist für dich mit Ganzkörpereinsatz verbunden. Du bewegst dich wie beim Tanzen. Du malst, als wäre es eine Kampfsportart. Die Videoaufzeichnungen waren schwarz-weiß, aber die Auflösung war hervorragend. Mit dem Handrücken wischst du dir den Schweiß von der Stirn. Du hast Farbe an den Armen und im Gesicht. Du trittst einen Schritt zurück und …
Ohne Vorwarnung sprang das Bild. Eben war Celine noch zu sehen, malend, im nächsten Moment war überall zerbrochenes Glas verstreut. Auf dem Boden lag eine zerbrochene Staffelei. Das ganze Atelier war verwüstet.
Und Celine war verschwunden.
Den restlichen Flug über zeigten uns Mullins und Briggs Fotos vom Tatort und informierten uns über die Fakten. Eines war klar: Unser Opfer hatte Widerstand geleistet.
Sie war stärker, als du erwartet hast. Ich verlagerte meinen Fokus von Celine auf das UNSUB. Entweder hast du die Kontrolle verloren oder du hattest sie nie. Du warst nicht bereit. Warst nicht würdig.
Das war eine Mischung aus Mutmaßung und Profiling. Ich musste den wirklichen Tatort sehen. Ich musste dort stehen, wo Celine gestanden hatte. Ich musste sie besser kennenlernen, ihr Zimmer sehen, ihre Fotos studieren, herausfinden, was für eine Art von Kämpferin sie war.
»Wir werden unsere Operationsbasis in einem nahe gelegenen Safehouse einrichten.« Während das Flugzeug zum Sinkflug ansetzte, erläuterte Agent Briggs den Plan. »Die Agenten Starmans und Judd werden die Naturtalente zum Safehouse begleiten. Agent Vance, Sie kommen mit uns.«
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