Cold Case Academy – Ein tödliches Rätsel - Jennifer Lynn Barnes - E-Book

Cold Case Academy – Ein tödliches Rätsel E-Book

Jennifer Lynn Barnes

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Beschreibung

Eine jugendliche Profilerin und ihr hochbegabtes Team auf den Spuren der eigenen Vergangenheit

Die 17-jährige Cassie durchläuft eine Eliteausbildung des FBI – dank ihrer besonderen Begabung: Sie kann anderen Menschen ihr Wesen regelrecht am Gesicht ablesen. Und sie ist nicht die einzige in ihrem Team mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Ihr zur Seite steht ein menschlicher Lügendetektor, ein Mathegenie, ein Spezialist im Deuten menschlicher Gefühle – und der Sohn eines Serienmörders. Ihr neuer Fall führt die jungen Profiler tief in die eigene Vergangenheit und stellt sie vor eine hochgefährliche Herausforderung ...
Ein absoluter Pageturner mit atemberaubenden Wendungen von der Bestsellerautorin der »The Inheritance Games«-Reihe

Die »Cold Case Academy«-Reihe:
Cold Case Academy – Ein mörderisches Spiel (Band 1)
Cold Case Academy – Ein tödliches Rätsel (Band 2)

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Seitenzahl: 418

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Jennifer Lynn Barnes

Cold Case Academy

EIN TÖDLICHES RÄTSEL

Aus dem Amerikanischen von Tanja Ohlsen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe als cbt Taschenbuch September 2023 

© 2014 Jennifer Lynn Barnes

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Killer Instinct« bei Hyperion Books for Children, einem Imprint von Buena Vista Books, Inc.

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die deutsche Erstausgabe erschien zunächst unter dem Titel »The Gifted – Auf ewig dein« bei cbj Verlag

Das Zitat auf S. 249 stammt aus: William Shakespeare: »Hamlet, Prinz von Dänemark«, in der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel, Berlin 1925 

Übersetzung: Tanja Ohlsen

Überarbeitung: Katja Hildebrandt

Covergestaltung: Carolin Liepins, Berlin

unter Verwendung einer Abbildung von © Katt Phatt

MP · Herstellung: AW

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30505-5V002

www.cbj-verlag.de

Für »Special Agent« Elizabeth Harding.

Danke für alles.

Kapitel 1 

Die meisten entführten Kinder, die auch ermordet werden, werden innerhalb der ersten drei Stunden nach ihrer Entführung getötet. Dank meiner Zimmergenossin Sloane, dem wandelnden Lexikon für Wahrscheinlichkeiten und Statistiken, kannte ich die genauen Zahlen. Wenn man erst dazu überging, von Tagen anstatt von Stunden und dann von Wochen zu sprechen, war die Wahrscheinlichkeit, das Kind unversehrt zu finden, so gering, dass das FBI die Ausgaben für sein Personal nicht mehr rechtfertigen konnte, um den Fall weiterzuverfolgen.

Wenn so ein cold case seinen Weg bis zu uns fand, suchten wir wahrscheinlich nach einer Leiche und nicht länger nach einem kleinen Mädchen. Das alles war mir absolut klar.

Aber …

… Mackenzie McBride war sechs Jahre alt.

… ihre Lieblingsfarbe war Lila.

… sie wollte »Tierarzt-Rockstar« werden.

Man hörte nicht auf, nach so einem Kind zu suchen. Man hörte nicht auf zu hoffen, selbst wenn man es versuchte.

»Du siehst aus, als könntest du ein kleines bisschen Aufmunterung vertragen. Oder vielleicht auch einen Drink.« Michael Townsend zeigte sein unverschämt hübsches Grinsen, ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder und streckte sein verletztes Bein zur Seite aus.

»Mir geht es gut«, erwiderte ich.

»Du ziehst die Mundwinkel hoch«, schnaubte Michael, »obwohl der Rest deines Gesichts dagegen ankämpft, als könnte das kleinste Lächeln, das du dir erlaubst, in ein Schluchzen umschlagen.«

Das hatte man davon, mit anderen sogenannten Naturtalenten in dieser Akademie – der sogenannten Cold Case Academy – zusammenzuwohnen. Wir alle waren hier, weil wir Dinge sahen, die andere nicht bemerkten. Michael war Experte für Emotionen, er konnte Gesichtsausdrücke lesen, als wären die anderen ein offenes Buch.

Er neigte sich zu mir. »Du musst es nur sagen, Colorado, dann liefere ich dir die längst überfällige Ablenkung.«

Widerwillig musste ich fast lächeln, wie jedes Mal, wenn er mich mit dem Spitznamen ansprach, den nur er benutzte. Als Michael das letzte Mal angeboten hatte, mich abzulenken, hatten wir eine halbe Stunde lang Dinge in die Luft gesprengt und uns dann in gesicherte Dateien des FBI gehackt.

Na ja, eigentlich hatte Sloane die Dateien gehackt, aber es war auf dasselbe hinausgekommen.

»Keine Ablenkung«, erklärte ich bestimmt.

»Bist du sicher?«, fragte Michael. »Denn zu dieser Ablenkung gehören Lia, Wackelpudding und eine Vendetta, die unbedingt beglichen werden will.«

Danke, aber nein danke. Ich wollte gar nicht wissen, was unser hauseigener Lügendetektor angestellt hatte, um eine mit Wackelpudding geladene Vendetta zu provozieren. Bei Lias Persönlichkeit und ihrer Vorgeschichte mit Michael war die Zahl der Möglichkeiten praktisch unbegrenzt.

»Dir ist schon klar, dass es keine gute Idee ist, einen Kleinkrieg mit Lia anzufangen, oder?«, meinte ich.

»Absolut«, erwiderte Michael. »Wenn ich nur nicht so dermaßen vernünftig wäre und diesen unfassbar ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb hätte.«

Michaels Fahrkünste konnte man nur als irre bezeichnen und er verabscheute Autorität in jeglicher Form. Vor knapp zwei Monaten war er mir aus dem Haus gefolgt, obwohl er wusste, dass ein Serienkiller hinter mir her war, und war deswegen angeschossen worden.

Zwei Mal.

Sein Selbsterhaltungstrieb ließ mehr als zu wünschen übrig.

»Und wenn wir uns in diesem Fall irren?«, fragte ich. Meine Gedanken hatten sich im Kreis bewegt: von Michael zu Mackenzie, von dem, was vor sechs Wochen passiert war, zu dem, was Agent Briggs und sein Team gerade taten.

»Wir haben uns nicht geirrt«, widersprach Michael sanft.

Bitte mach, dass das Telefon klingelt, dachte ich. Briggs soll anrufen und mir sagen, dass dieses Mal … dass mich meine Instinkte dieses Mal nicht getäuscht haben.

Als mir Agent Briggs die Mackenzie-McBride-Akte gegeben hatte, hatte ich zuerst ein Profil vom Verdächtigen erstellt, einem auf Bewährung entlassenen Mann, der um die gleiche Zeit wie Mackenzie verschwunden war. Mein Talent war nicht wie Michaels. Ich konnte mich mit nur wenigen Details komplett in andere Menschen hineinversetzen und mir vorstellen, wie es wäre, sie zu sein, zu wollen, was sie wollten, und zu tun, was sie taten.

Verhalten. Persönlichkeit. Umgebung.

Der Verdächtige in Mackenzies Fall verfolgte kein Ziel. Die Entführung war aber sehr gut geplant. Das passte nicht zusammen.

Ich hatte die Akte durchforstet und nach jemandem gesucht, der ungefähr passen konnte. Jung, männlich, intelligent, präzise. Ich hatte Lia halb gebeten und halb gezwungen, die Zeugenaussagen durchzugehen, die Befragungen und Vernehmungen – einfach alle Aufzeichnungen zu diesem Fall, in der Hoffnung, dass sie jemanden bei einer Lüge ertappte. Und schließlich hatte sie das auch. Der Anwalt der Familie McBride hatte für seine Klienten ein Statement vor der Presse abgegeben. Mir war es sehr standardmäßig vorgekommen, aber für Lia waren Lügen so offensichtlich wie falsche Töne für einen Menschen mit absolutem Gehör.

»Eine derartige Tragödie ergibt für niemanden einen Sinn.«

Der Anwalt war jung, männlich, intelligent und präzise – und bei diesen Worten hatte er gelogen. Denn es gab einen Menschen, für den das Geschehen einen Sinn ergab und der es nicht für eine Tragödie hielt.

Den Menschen, der Mackenzie entführt hatte.

Michaels Meinung nach hatte es dem Anwalt der McBrides einen Kick gegeben, den Namen des kleinen Mädchens auch nur auszusprechen. Ich hatte gehofft, das ließe auf eine Chance schließen – zumindest eine winzige –, dass der Mann sie am Leben gelassen hatte, als einen lebenden, atmenden Beweis dafür, dass er dem FBI weit überlegen war.

»Cassie!«

Dean Redding platzte ins Zimmer und sofort schnürte es mir die Kehle zu. Dean war ruhig und selbstbeherrscht. Er erhob fast nie die Stimme.

»Dean?«

»Sie haben sie gefunden«, verkündete Dean. »Cassie, sie haben sie auf seinem Grundstück gefunden, genau dort, wo sie nach Sloanes schematischen Berechnungen sein sollte. Sie lebt!«

Ich sprang auf. Das Herz hämmerte in meinen Ohren, und ich wusste nicht, ob ich weinen, kreischen oder mich übergeben sollte. Dean lächelte. Es war kein schwaches Lächeln. Und auch kein Grinsen. Er strahlte und sein ganzes Gesicht veränderte sich. Funkelnde schokoladenbraune Augen unter den blonden Haaren, die ihm wie üblich ins Gesicht hingen. Und auf einer Wange erschien ein Grübchen, das ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte.

Stürmisch fiel ich ihm um den Hals. Einen Moment später sprang ich zurück und umarmte Michael genauso heftig.

Der fing mich auf und stieß einen Jubelruf aus. Dean ließ sich auf der Armlehne des Sofas nieder, und so saß ich zwischen den beiden, spürte die Wärme beider Körper und konnte nur daran denken, dass Mackenzie auf dem Weg nach Hause war.

»Ist das eine Privatparty oder kann da jeder mitfeiern?«

Wir drehten uns um und sahen Lia in der Tür. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und hatte sich nur einen weißen Schal um den Hals geknotet. Sie zog die Augenbrauen hoch und wirkte cool und ruhig und ein klein wenig spöttisch.

»Gib es zu, Lia«, meinte Michael. »Du freust dich genauso wie wir.«

Lia sah mich an. Dann Michael und schließlich Dean.

»Ganz ehrlich«, sagte sie, »ich bezweifle, dass irgendjemand im Augenblick glücklicher ist als Cassie.«

Ich wurde immer besser darin, Lias kleine Sticheleien zu ignorieren, aber diese trafen genau ins Schwarze. Eingeklemmt zwischen Michael und Dean schoss mir Hitze in die Wangen. Sollte sie doch reden – ich würde mir von Lia nicht die Stimmung verderben lassen.

Dean schien das anders zu sehen. Mit grimmigem Gesicht stand er auf und ging auf Lia zu. Einen Moment lang glaubte ich schon, er wolle ihr die Meinung sagen, doch das tat er nicht. Stattdessen hob er sie einfach hoch und warf sie sich über die Schulter.

»He!«, protestierte Lia.

Dean grinste und ließ sie neben Michael und mir aufs Sofa fallen. Dann setzte er sich wieder auf die Lehne, als wäre nichts geschehen. Lia verzog das Gesicht und Michael kniff sie in die Wange.

»Gib es zu«, wiederholte er. »Du freust dich genauso sehr wie wir.«

Lia warf die Haare über die Schulter, starrte geradeaus und weigerte sich, einen von uns anzusehen. »Ein kleines Mädchen kommt nach Hause«, sagte sie schließlich. »Unseretwegen. Natürlich freue ich mich genauso wie ihr.«

»Berücksichtigt man den individuellen Serotoninspiegel, ist die Wahrscheinlichkeit, dass vier verschiedene Personen den gleichen Grad an Freude zur gleichen Zeit erfahren, ziemlich –«

»Sloane«, unterbrach sie Michael, ohne sich umzudrehen, »wenn du den Satz nicht zu Ende bringst, könntest du in naher Zukunft eine Tasse Kaffee dein Eigen nennen.«

»In allernächster Zukunft?«, erkundigte sich Sloane misstrauisch. Michael regulierte seit Langem ihre Koffeinzufuhr.

Wortlos sahen Michael, Lia und ich Dean an. Der verstand den Hinweis, erhob sich, ging zu Sloane und verfuhr mit ihr ebenso wie zuvor mit Lia. Als er sie sanft auf mich herunterließ, wäre ich kichernd beinahe vom Sofa gefallen, doch Lia hielt mich am Hemdkragen fest.

Wir haben es geschafft, dachte ich, während wir uns mit den Ellbogen auf dem Sofa Platz zu schaffen versuchten und Dean aus seiner Position außerhalb des Gedränges amüsiert zusah.

Mackenzie McBride wird keine Zahl in einer Statistik werden.

Sie wird nicht vergessen werden.

Mackenzie McBride würde aufwachsen können.

Unseretwegen.

»Also«, meinte Lia mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, »ist hier noch jemand der Meinung, dass das gefeiert werden sollte?«

Kapitel 2 

Es war Ende September, die Jahreszeit, in der man die letzten, schweren Atemzüge des Sommers fast spüren konnte, der langsam dem Herbst Platz machte. In der untergehenden Sonne war es kühl im Garten, aber das fühlten wir fünf kaum, weil wir trunken waren von unserer Macht und dem Unglaublichen, das wir gerade geschafft hatten. Lia wählte die Musik aus und das gleichmäßige Dröhnen des Basses übertönte die Geräusche der kleinen Stadt Quantico in Virginia.

Bevor ich der Cold Case Academy beigetreten war, hatte ich nie irgendwo dazugehört, doch in diesem Augenblick, diesem einzigen Moment, in dieser Nacht, zählte nichts anderes.

Nicht das Verschwinden meiner Mutter und dass sie vermutlich ermordet wurde.

Nicht die Leichen, die angefangen hatten, sich anzuhäufen, seit ich zugestimmt hatte, für das FBI zu arbeiten.

In diesem Augenblick, diesem einzigen Moment, in dieser Nacht, war ich unbesiegbar und mächtig und Teil eines Ganzen.

Lia nahm mich an der Hand und führte mich von der Terrasse auf den Rasen. Sie bewegte sich mit einer geschmeidigen Anmut, als sei sie zur Tänzerin geboren.

»Lass dich einfach fallen«, forderte sie mich auf, »wenigstens dieses eine Mal.«

Ich konnte nicht besonders gut tanzen, doch meine Hüften begannen irgendwie wie von selbst im Takt der Musik zu schwingen.

»Sloane«, schrie Lia, »schwing deinen Hintern hierher!«

Sloane, die ihre versprochene Tasse Kaffee bereits intus hatte, kam auf uns zugesprungen. Schnell wurde klar, dass ihre Art zu tanzen aus jeder Menge Herumhüpfen und gelegentlichen Fingerfiguren bestand. Grinsend gab ich es auf, Lias geschmeidige, sinnliche Bewegungen nachahmen zu wollen, und passte mich Sloanes Tanzstil an. Hüpfen, mit den Fingern wackeln, hüpfen.

Lia sah uns ein wenig mitleidig an und wandte sich an die Jungen zur Verstärkung.

»Nein«, weigerte sich Dean strikt. »Auf keinen Fall.« Es war schon so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, aber ich konnte mir vorstellen, wie er starrsinnig die Kiefer aufeinanderpresste. »Ich tanze nicht.«

Michael zeigte keine solchen Bedenken. Er kam zu uns, deutlich humpelnd, doch er schaffte ein paar ganz gute einbeinige Hüpfer.

Lia sah gottergeben zum Himmel. »Ihr seid hoffnungslos«, erklärte sie.

Michael zuckte mit den Schultern und hob die Hände mit gespreizten Fingern. »Das ist nur eine meiner vielen guten Eigenschaften.«

Lia schlang den Arm um seinen Nacken und schmiegte sich, immer noch tanzend, dicht an ihn. Er zog die Augenbrauen hoch, schob sie aber nicht weg, sondern wirkte eher amüsiert.

Mein Magen verkrampfte sich heftig. Die beiden hatten früher mal eine On-off-Beziehung, doch seit ich sie kannte, war nichts zwischen ihnen gelaufen. Das geht dich nichts an. Das musste ich mir immer wieder sagen. Lia und Michael können tun und lassen, was sie wollen.

Michael bemerkte meinen Blick. Er studierte mein Gesicht wie jemand, der ein Buch liest. Dann lächelte er und zwinkerte mir langsam und ganz bewusst zu.

Sloane trat neben mich und sah erst Michael und dann Dean an. Daraufhin hüpfte sie noch näher an mich heran.

»Es besteht die vierzigprozentige Chance, dass heute noch jemand eine geknallt kriegt«, prophezeite sie im Flüsterton.

»Komm schon, Dean!«, rief Lia. »Mach mit!«

Ihre Worte waren teils Einladung, teils Herausforderung. Michaels Körper bewegte sich im Einklang mit Lias, und plötzlich wurde mir klar, dass sie ihre Show weder für mich noch für Michael abzog. Sie wollte Dean eine Reaktion entlocken.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte Lia schon längst gewonnen.

»Du willst es doch auch!«, neckte sie ihn und drehte Michael im Tanz den Rücken zu. Dean und Lia waren die ersten Rekruten in der Akademie gewesen, und es waren Jahre vergangen, bis andere dazukamen. Lia hatte mir einmal erzählt, dass Dean und sie wie Geschwister füreinander waren, und im Augenblick sah Dean ganz genau so aus wie ein überfürsorglicher großer Bruder.

Michael liebt es, Dean zu reizen. Was keine große Neuigkeit war. Lia liebt es, Dean aus seinem Schneckenhaus zu locken. Und Dean …

In Deans Kiefer zuckte ein Muskel, als Michael seine Hand über Lias Arm gleiten ließ. Sloane hatte recht, es lag eine Schlägerei in der Luft. Und wie ich Michael kannte, hielt er das garantiert für einen Akt der Verbrüderung oder so was. Ich verdrehte innerlich die Augen.

»Komm schon, Dean«, warf ich schnell ein, bevor Lia etwas sagen konnte, was die Situation noch mehr anheizte. »Du musst ja nicht tanzen, du kannst einfach im Takt schmollen.«

Das entlockte Dean sogar ein überraschtes Lächeln und ich grinste. Michael entspannte sich und brachte etwas mehr Abstand zwischen seinen und Lias Körper.

»Hast du Lust zu tanzen, Colorado?«, fragte er, nahm meine Hand und wirbelte mich herum. Lia sah uns finster an, fing sich aber schnell wieder, schlang den Arm um Sloanes Taille und versuchte, sie zu etwas zu zwingen, was ein wenig mehr nach Tanz aussah.

»Du ärgerst dich über mich«, stellte Michael fest, als ich ihm direkt in die Augen sah. In diese verdammt hübschen Augen. Himmel, konzentrier dich.

»Ich mag keine Spielchen.«

»Ich habe doch nicht mit dir gespielt«, verteidigte Michael sich und wirbelte mich ein zweites Mal herum. »Und nur fürs Protokoll, mit Lia habe ich auch nicht gespielt.«

»Aber du hast mit Dean gespielt.«

»Jeder braucht ein Hobby«, erklärte Michael und zuckte mit den Schultern. Diesmal verdrehte ich die Augen nicht nur innerlich, aber auf gutmütige Weise. Michael ist und bleibt ein Spinner.

Dean war am Rand des Rasens stehen geblieben, doch ich spürte, dass er mich ansah.

»Deine Lippen zucken verdächtig nach oben«, bemerkte Michael mit schief gelegtem Kopf. »Aber auf deiner Stirn sehe ich ein Runzeln.«

Ich wandte den Blick ab. Vor sechs Wochen hatte Michael mich aufgefordert, ich solle herausfinden, wie ich zu ihm stand – und zu Dean. Ich hatte mir Mühe gegeben, nicht daran zu denken und möglichst gar nichts für einen von ihnen zu empfinden, denn sobald ich etwas fühlte – egal was –, würde Michael es wissen. Bislang war ich ganz gut ohne Liebesschwüre und Herzschmerz durchs Leben gegangen. Ich brauchte das nicht, jedenfalls nicht so sehr wie das hier: das Gefühl, zu etwas dazuzugehören, etwas in einer Weise für Menschen zu empfinden, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Nicht nur für Michael und Dean, sondern auch für Sloane und sogar Lia. Ich passte hierher. Schon lange hatte ich nicht mehr irgendwo dazugehört.

Vielleicht noch nie.

Das durfte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Für niemanden. Nicht für Michael, auch wenn er noch so verboten hübsche Wangenknochen hatte und mich immer wieder zum Lachen brachte und aus der Reserve lockte. Und auch nicht für Dean, der auf seine ganz eigene, verwegene Art vermutlich jedes Mädchen in seinen Bann zog.

»Und wir können dich wirklich ganz sicher nicht zum Tanzen überreden?«, rief Lia Dean zu.

»Nein, ganz sicher nicht.«

»Na, wenn das so ist …« Lia drängte sich zwischen Michael und mich, und ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, tanzte ich wieder mit Sloane, während Lia erneut an Michael hing. Unter den dichten Wimpern hervor sah sie ihn an und legte ihm die Hand auf die Brust. »Sag mir, Townsend«, schnurrte sie, »fühlst du dich wohl?«

Das konnte echt nicht gut gehen.

Kapitel 3 

Ich war tot. Übermannt, überwältigt, nur Sekunden von einer Katastrophe entfernt – und ich konnte absolut nichts dagegen unternehmen.

»Ich nehme deine drei und erhöhe um zwei.« Michael grinste. Könnte ich Emotionen lesen, wüsste ich, ob das ein Ich habe ein unfassbar gutes Blatt und sehe genüsslich deinem Untergang zu-Grinsen war oder ein Wie cool ist das denn, dass du nicht weißt, ob ich bluffe-Grinsen. Dummerweise war ich besser darin, die Persönlichkeiten und Motivationen anderer Leute zu erkennen als das, was ein Gesichtsausdruck über ihre Gefühle verrät.

Spiel nie wieder Poker mit anderen Naturtalenten, dachte ich. Unter keinen Umständen, ganz egal, was passiert.

»Ich gehe mit.«

Lia drehte sich ihren glänzenden schwarzen Pferdeschwanz um den Zeigefinger, bevor sie die entsprechende Anzahl Oreo-Kekse in die Mitte des Tisches schob. Da sie Lügen erkennen konnte, nahm ich das als gutes Anzeichen dafür, dass Michael bluffte.

Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, ob vielleicht Lia bluffte.

Sloane sah hinter einem ansehnlichen Haufen Kekse hervor.

»Ich passe«, sagte sie. »Übrigens erwäge ich, ein paar von meinen Pokerchips zu essen. Können wir uns darauf einigen, dass ein Oreo ohne die Glasur ein Drittel weniger wert ist als ein ganzer?«

»Iss einfach deine Kekse«, meinte ich mit neidischem Blick auf ihren Haufen und nur halb im Scherz. »Du hast doch mehr als genug davon.«

Sloane war in Las Vegas geboren und aufgewachsen, ehe sie der Akademie beigetreten war. Sie hatte Karten gezählt, seit sie zählen konnte. Bei einem Drittel aller Blätter passte sie, aber die, die sie spielte, gewann sie jedes Mal.

»Da ist aber jemand ein schlechter Verlierer«, meinte Lia und drohte mir mit dem Finger.

Ich streckte ihr die Zunge heraus.

Der fragliche Jemand hatte nur noch zwei Kekse übrig.

»Ich gehe mit«, seufzte ich und schob sie zu dem Haufen. Es gab keinen Grund, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Hätte ich mit einem Fremden gespielt, wäre ich im Vorteil gewesen. Ich hätte mir seine Kleidung und seine Haltung angesehen und sofort gewusst, ob es sich um eine risikofreudige Person handelte oder ob er bluffte oder eine Show abzog. Dummerweise spielte ich aber nicht mit einem Fremden, und bei Leuten, die man bereits kannte, nutzte es einem leider kaum etwas, dass man Persönlichkeiten interpretieren konnte.

»Was ist mit dir, Redding? Bist du dabei oder nicht?«, fragte Michael herausfordernd.

Vielleicht hat ihn Lia doch falsch interpretiert, überlegte ich. Vielleicht blufft er gar nicht. Ich bezweifelte, dass Michael Dean herausgefordert hätte, wenn er sich nicht sicher wäre, gewinnen zu können.

»Ich gehe mit«, verkündete Dean. »All in.«

Er schob fünf Kekse in die Mitte und sah Michael mit hochgezogenen Augenbrauen an, sodass er dessen Gesichtsausdruck fast perfekt nachahmte.

Michael ging mit Dean mit, Lia mit Michael. Ich war an der Reihe.

»Ich habe keine Kekse mehr«, erklärte ich.

»Ich könnte einen bescheidenen Zinssatz in Erwägung ziehen«, meinte Sloane und beschäftigte sich wieder damit, einen Oreo-Keks von seiner Glasur zu befreien.

»Ich habe eine Idee«, verkündete Lia in dem überaus unschuldigen Tonfall, der immer nur eins bedeutete: Ärger. »Wir könnten das Spiel ja auf die nächste Ebene bringen.« Sie löste das weiße Halstuch von ihrem Nacken und warf es mir zu. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres Tanktops und hoben es ein wenig an, um zu verdeutlichen, was die »nächste Ebene« war.

»Soweit ich das verstanden habe, muss sich nach den Regeln des Strip-Poker nur derjenige ausziehen, der verloren hat«, warf Sloane ein. »Bis jetzt hat niemand verloren, ergo …«

»Nenn es eine Solidaritätserklärung«, meinte Lia und zog langsam ihr Hemd hoch. »Cassie hat fast keine Chips mehr. Ich versuche nur, das Spiel auszugleichen.«

»Lia.« Dean klang wenig erfreut.

»Komm schon, Dean!« Lia schob die Unterlippe zu einem übertriebenen Schmollmund vor. »Bleib locker, wir sind doch hier unter Freunden.« Damit zog sie ihr Top aus. Darunter trug sie ein Bikinioberteil. Offensichtlich hatte sie sich schon passend gekleidet.

»Und jetzt du«, sagte sie zu mir.

Da ich keinen Badeanzug unter dem Top trug, würde ich es auf keinen Fall ausziehen. Langsam nahm ich den Gürtel ab.

»Sloane?«, wandte sich Lia an sie. Sloane starrte sie an und wurde langsam rot.

»Ich ziehe nichts aus, bis wir uns nicht auf eine Umtauschrate geeinigt haben«, meinte sie und deutete auf ihren Keksstapel.

»Sloane«, sagte Michael.

»Ja?«

»Wie wäre es mit einer zweiten Tasse Kaffee?«

Fünfundvierzig Sekunden später stand Sloane in der Küche und die Jungs hatten kein Hemd mehr an. Deans Oberkörper war gebräunt, ein oder zwei Nuancen dunkler als der von Michael, dessen Haut wie Marmor war, bis auf die Narbe von der Schusswunde, die rosa und geschwollen am Übergang von der Schulter zur Brust prangte. Auch Dean hatte eine Narbe – eine ältere, blassere, die so aussah, als ob jemand ein Messer von seinem Schlüsselbein bis zu seinem Nabel gezogen hätte.

»Ich will sehen«, verlangte Lia.

Einer nach dem anderen drehten wir unsere Karten um.

Drei gleiche.

Flush.

Full House aus Königinnen und Achten. Das war Michaels Blatt.

Wusste ich es doch, dachte ich. Er hat nicht geblufft.

»Du bist dran«, forderte Lia mich auf.

Ich drehte meine Karten um und mein Gehirn registrierte das Ergebnis.

»Full House«, verkündete ich grinsend. »Könige und Zweien. Das heißt wohl, ich habe gewonnen, was?«

»Wie hast du …?«, stieß Michael hervor.

»Soll das heißen, die Mitleidsmasche war nur gespielt?«, entrüstete sich Lia halb bewundernd.

»Nein, war sie nicht«, antwortete ich. »Ich dachte wirklich, dass ich verliere, ich hatte mir meine letzten Karten einfach noch gar nicht angesehen.«

Ich hatte mir das als Strategie überlegt: Wenn ich nicht wusste, was ich auf der Hand hatte, dann konnten es Michael und Lia auch nicht herausfinden.

Dean fing als Erster an zu lachen.

»Sei gegrüßt, Cassie, Königin der Schlupflöcher!«, sagte Michael.

Lia schnaubte.

»Heißt das, ich darf eure T-Shirts behalten?«, fragte ich, griff nach meinem Gürtel und mopste mir auch gleich noch einen Keks.

»Ich halte es für das Beste, wenn jeder im Besitz seines eigenen Hemdes bleiben und es auf der Stelle anziehen würde!«

Ich erstarrte. Der Befehl wurde von einer weiblichen, scharfen Stimme erteilt. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte ich mich wieder an die ersten Wochen hier, an unsere Betreuerin, meine Mentorin. Special Agent Lacey Locke. Sie hatte mich ausgebildet. Ich hatte sie vergöttert. Ich hatte ihr vertraut. Ich drehte mich um.

»Wer sind Sie?«, wollte ich wissen und zwang mich in die Gegenwart zurück. Ich konnte mir nicht erlauben, an Agent Locke zu denken – wenn ich diesen Weg erst einmal einschlug, würde ich nur schwer wieder zurückfinden. Stattdessen konzentriere ich mich mit aller Macht auf die Person, die hier Befehle gab. Sie war groß und schlank, doch nichts an ihr schien locker zu sein. Das dunkelbraune Haar hatte sie im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden und sie hielt das Kinn leicht vorgereckt. Ihre Augen waren grau, ein wenig heller als ihr teurer Anzug, den sie trug, als sei ihr der Wert nicht bewusst.

An ihrer Seite trug sie eine Pistole im Halfter.

Pistole. Dieses Mal konnte ich die Erinnerung nicht im Keim ersticken. Locke. Die Pistole. Alles stürmte wieder auf mich ein. Das Messer.

Dean legte mir eine Hand auf die Schulter. »Cassie.« Ich spürte die Wärme seiner Hand durch mein T-Shirt und hörte ihn meinen Namen sagen. »Es ist in Ordnung. Ich kenne sie.«

Ein Schuss. Zwei. Michael geht zu Boden. Locke – sie hat eine Pistole …

Ich atmete tief durch, konzentrierte mich erst mal nur auf meine Atmung und verdrängte die Erinnerungen. Nicht ich war es, die angeschossen worden war. Es war nicht mein Trauma. Aber ich war der Grund dafür, dass Michael da gewesen war.

Ich war diejenige, die das Monster auf seine eigene verdrehte Weise geliebt hatte.

»Wer sind Sie?«, wiederholte ich scharf und bemühte mich, wieder in die Realität zurückzukehren. »Und was machen Sie in unserem Haus?«

Die Frau in Grau ließ ihren Blick über mein Gesicht gleiten und vermittelte mir das ungute Gefühl, als wüsste sie genau, was in meinem Kopf vorging und woran ich gerade gedacht hatte.

»Mein Name ist Special Agent Veronica Mullins«, sagte sie schließlich. »Und ab sofort wohne ich hier.«

Kapitel 4 

Sie lügt nicht«, durchbrach Lia die darauffolgende Stille. »Sie ist tatsächlich Special Agent, ihr Name ist Veronica Mullins, und aus irgendeinem Grund leidet sie an dem Irrglauben, sie würde unter unserem Dach residieren.«

»Lia, nehme ich an?«, fragte Agent Mullins. »Die Spezialistin für Lügen.«

»Welche zu verbreiten oder sie zu entlarven – beides liegt mir im Blut.« Lia zuckte lässig mit den Schultern, aber ihr Blick war kalt.

»Und dennoch«, fuhr Agent Mullins fort, ohne sich von Lia aus dem Konzept bringen zu lassen, »dennoch hast du fast täglich mit einer FBI-Agentin zusammengearbeitet, die als Serienmörderin unterwegs war. Sie gehörte zu euren Betreuern und ging hier jahrelang ein und aus, ohne dass die Alarmglocken geläutet haben.« Agent Mullins’ Ton war neutral, sie konstatierte lediglich Fakten.

Locke hatte uns alle hereingelegt.

»Und du«, wandte sich Agent Mullins an mich, »du musst Cassandra Hobbes sein. Ich hätte dich nicht für den Typ gehalten, der Strip-Poker spielt. Und nein, du bekommst keine Pluspunkte dafür, dass du abgesehen von mir die Einzige hier im Raum bist, die ihr Oberteil noch anhat.«

Dann wandte Agent Mullins ihre Aufmerksamkeit demonstrativ dem Haufen Kleidungsstücke auf dem Tisch zu, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Dean griff nach seinem T-Shirt und warf Lia ihr Top zu. Michael schien sich nicht weiter an den verschränkten Armen zu stören und hatte es auch keineswegs eilig, sich anzuziehen. Agent Mullins sah ihn von oben herab an und heftete ihren Blick auf die Narbe auf seiner Brust.

»Dann bist du also Michael«, meinte sie, »der Emotionsleser mit dem Verhaltensproblem, der ständig dumme Dinge für Mädchen tut.«

»Das ist nicht fair«, entgegnete Michael. »Ich mache auch haufenweise dumme Dinge, ohne dass sie was mit einem Mädchen zu tun haben.«

Special Agent Veronica Mullins zeigte nicht den leisesten Anflug eines Lächelns. Stattdessen wandte sie sich an uns andere und vervollständigte ihre Vorstellung.

»In dieser sogenannten Akademie ist eine Stelle für eine Betreuerin frei. Ich bin hier, um sie zu besetzen.«

»Stimmt schon«, sagte Lia gedehnt. »Aber Sie übersehen da eine Kleinigkeit.« Da Agent Mullins sich nicht ködern ließ, fuhr sie fort: »Es ist bereits sechs Wochen her, seit Locke von der Bildfläche verschwunden ist. Wir haben uns schon gefragt, ob das FBI überhaupt einen Ersatz schicken würde.« Sie musterte Agent Mullins von oben bis unten. »Wo hat man Sie gefunden? Im Zentralregister? Um eine junge weibliche Agentin gegen eine andere auszutauschen?«

Wie immer verzichtete Lia auf jegliche Höflichkeitsfloskeln.

»Sagen wir mal so, ich bin einzigartig qualifiziert für diesen Job«, erwiderte Agent Mullins. Ihr nüchterner Ton erinnerte mich an etwas. An jemanden. Und erst in diesem Moment fiel mir ein, wo ich ihren Nachnamen schon einmal gehört hatte.

»Agent Mullins«, sagte ich. »Sind Sie mit Direktor Mullins verwandt?«

Ich hatte den Direktor des FBI erst ein einziges Mal getroffen. Er hatte eingegriffen, als der Serienmörder, den Locke und Briggs jagten, die Tochter eines Senators entführt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte noch keiner von uns geahnt, dass das UNSUB – das Unbekannte Subjekt – Locke selbst gewesen war.

»Er ist mein Vater«, erklärte Agent Mullins gleichmütig. Zu gleichmütig. Ich fragte mich sofort, was für Probleme sie wohl mit ihrem Vater hatte. »Er hat mich zur Schadensbegrenzung hergeschickt.«

Direktor Mullins hatte seine eigene Tochter geschickt, um Locke zu ersetzen. Und sie war gekommen, als Agent Briggs gerade wegen eines Falls nicht in der Stadt war. Das war doch garantiert kein Zufall.

»Briggs hat mir erzählt, Sie hätten das FBI verlassen«, sagte Dean leise. »Ich habe gehört, dass Sie zur Heimatschutzbehörde gegangen sind.«

»Das bin ich auch.«

Ich versuchte, Agent Mullins’ Gesichtsausdruck zu lesen und ihren Tonfall zu interpretieren. Dean und sie kannten einander, so viel war klar, nicht nur durch Deans Aussage, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass ihr Gesicht fast unmerklich weicher wurde, als sie ihn ansah.

Ein mütterlicher Zug?, fragte ich mich. Doch es passte nicht zu der Art, wie sie sich kleidete, zu ihrer viel zu aufrechten Haltung oder wie sie eher über uns redete als mit uns. Mein erster Eindruck von Agent Mullins war, dass sie superprofessionell und hyperkontrolliert war und dass sie andere Menschen auf Abstand hielt. Entweder mochte sie Teenager nicht oder sie mochte speziell uns nicht.

Aber etwas war seltsam an der Art, wie sie Dean angesehen hatte, auch wenn es nur für eine Sekunde gewesen war …

Du warst nicht immer so, dachte ich in dem Versuch, mich in sie hineinzuversetzen. Dein Haar zu einem strengen Knoten zu binden, jede Aussage klinisch neutral und emotionslos zu lassen – das war früher nicht so. Etwas ist passiert, was dich in diesen superprofessionellen und hyperkontrollierten Zustand versetzt hat.

»Möchtest du der Klasse etwas mitteilen, Cassie?«

Hatte sich eben noch eine gewisse Nachgiebigkeit in Agent Mullins’ Ausdruck geschlichen, so war sie jetzt verschwunden. Sie hatte mich dabei erwischt, wie ich ein Profil von ihr erstellte, und scheute nicht davor zurück, mich vor allen bloßzustellen. Was mir wiederum zwei Dinge offenbarte. Zum einen sagte mir die Art, wie sie es getan hatte, dass hinter ihrem humorlosen Äußeren eine sarkastische Ader schlummerte. Irgendwann früher einmal hätte sie diese Worte mit einem Lächeln anstatt mit einer aufgesetzten Grimasse hervorgebracht.

Und zum anderen …

»Sie sind eine Profilerin«, sagte ich laut. Es braucht einen Profiler, um einen anderen zu erkennen.

»Wie kommst du darauf?«

»Man hat Sie hierhergeschickt, um Agent Locke zu ersetzen.« Es so zu formulieren – sie als Ersatz zu betrachten –, schmerzte mehr als nötig.

»Und?« Agent Mullins’ Stimme war laut und deutlich, doch ihr Blick blieb hart. Es war eine Herausforderung, ebenso deutlich lesbar wie zuvor bei Dean und Michael.

»Profiler stecken Leute in Schubladen«, erklärte ich, erwiderte Agent Mullins’ Blick und weigerte mich, als Erste wegzusehen. »Wir sammeln eine Reihe von Details und nutzen sie, um damit das Gesamtbild zusammenzusetzen und um herauszufinden, mit was für einer Art Mensch wir es zu tun haben. Bei Ihnen ist es die Art, wie Sie reden, die Sie verrät: Michael ist der Emotionsleser mit dem Verhaltensproblem, Sie haben mich nicht für den Typ gehalten, der Strip-Poker spielt.« Ich hielt inne, und da sie nicht antwortete, fuhr ich fort: »Sie haben unsere Akten gelesen und ein Profil von uns erstellt, noch bevor Sie einen Fuß in dieses Haus gesetzt haben: Sie wissen also ganz genau, wie schwer es uns belastet, dass wir Agent Locke nicht durchschaut haben. Das bedeutet, dass Sie entweder sehen wollen, wie wir damit fertigwerden, dass Sie es ansprechen, oder Sie wollten uns nur zum Vergnügen Salz in die Wunden streuen.« Einen Augenblick lang musterte ich sie und registrierte all die kleinen Details – den Nagellack, ihre Haltung, ihre Schuhe. »Sie kommen mir eher wie eine Masochistin als wie eine Sadistin vor, daher nehme ich an, Sie wollten sehen, wie wir reagieren.«

Es wurde unangenehm still im Raum und Agent Mullins nutzte diese Stille wie eine Waffe.

»Es ist nicht nötig, dass du mir einen Vortrag darüber hältst, was es bedeutet, ein Profiler zu sein«, sagte sie schließlich leise, aber bestimmt. »Ich habe einen Universitätsabschluss in Kriminologie. Ich war die jüngste Abgängerin der FBI-Akademie aller Zeiten. Ich habe mehr Zeit bei der Feldarbeit während meiner Jahre beim FBI verbracht, als du es in deinem ganzen Leben tun wirst, und ich habe die letzten fünf Jahre beim Heimatschutz damit verbracht, hiesige Terrorismusfälle zu bearbeiten. Solange ich in diesem Haus wohne, wirst du mich mit Agent Mullins oder Ma’am ansprechen, und du wirst dich selbst nicht als Profilerin bezeichnen, denn letztendlich bist du nur ein Kind.«

Da war er wieder, dieser bestimmte Klang in ihrer Stimme, der auf etwas unter ihrem eisigen Äußeren hindeutete. Doch sosehr ich auch versuchte, diese meterdicke Eisschicht zu durchdringen – es gelang mir nicht, dieses Etwas zu fassen zu kriegen.

»Es gibt kein Wir, Cassie. Es gibt dich, und es gibt mich, und es gibt den Auftrag, eine Bewertung für diese Akademie zu schreiben. Den werde ich ausführen. Daher schlage ich also vor, dass ihr die Sauerei hier aufräumt, ins Bett geht und euch ausschlaft.« Sie warf Michael sein T-Shirt zu. »Das hier wirst du noch brauchen.«

Kapitel 5 

Als ich im Bett lag, starrte ich an die Decke und konnte die Furcht nicht loswerden, dass, sobald ich die Augen schloss, nichts mehr die Geister zurückhalten würde. Wenn ich schlief, verschwamm alles miteinander: was mit meiner Mutter geschehen war, als ich zwölf Jahre alt gewesen war, die Frauen, die Agent Locke letzten Sommer getötet hatte; das Leuchten in ihren Augen, als sie mir das Messer hingehalten hatte. Das Blut.

Ich drehte mich auf die Seite und langte nach dem Nachttisch.

»Cassie?«, fragte Sloane von ihrem Bett aus.

»Schon gut«, sagte ich. »Schlaf weiter.«

Meine Finger schlossen sich um den Gegenstand, den ich gesucht hatte: einen Lippenstift in der Farbe Rose Red, der Lieblingsfarbe meiner Mutter. Er war ein Geschenk von Locke an mich gewesen, Teil des kranken Spiels, das sie gespielt hatte, bei dem sie Hinweise geliefert hatte und mich nach ihrem Bild hatte formen wollen. Du wolltest mich wissen lassen, wie nah du mir warst. Ich schlüpfte in ihren Kopf und erstellte ihr Profil wie schon so viele Nächte zuvor. Du wolltest, dass ich dich finde. Der nächste Teil war immer der schwerste. Du wolltest, dass ich so bin wie du.

Sie hatte mir das Messer hingehalten. Sie hatte mir befohlen, das Mädchen zu töten. Und sie hatte tatsächlich geglaubt, ich würde mich darauf einlassen.

Lockes richtiger Name war Lacey Hobbes gewesen. Sie war die jüngere Schwester von Lorelai Hobbes – einer sogenannten Hellseherin und ein vermutliches Mordopfer. Meine Mutter. Ich drehte den Lippenstift in der Hand und starrte ihn im Dunkeln an. Egal wie oft ich versuchte, ihn wegzuwerfen, ich konnte es nicht. Es war eine Art masochistisches Souvenir: eine Erinnerung an die Menschen, denen ich vertraut und die ich verloren hatte.

Schließlich zwang ich mich, den Lippenstift zurückzustellen. Ich durfte mir das nicht immer wieder antun.

Wenn ich dafür nur stark genug wäre.

Denk an etwas anderes. Irgendetwas anderes. Ich dachte an Agent Mullins, den Ersatz für Locke. Ihre Kleidung war wie eine Rüstung für sie. Teuer und frisch gebügelt. Sie trug klaren Nagellack. Keine French Nails, keine Farbe – nur farblosen Lack. Warum überhaupt Nagellack, wenn er durchsichtig war? Mochte sie das Ritual, ihn aufzutragen und damit eine Art Schutzschicht zwischen ihre Nägel und den Rest der Welt zu bringen? Unterschwellig stand er für Schutz, Distanz, Stärke.

Du erlaubst dir keine Schwäche, dachte ich und redete sie im Stillen direkt an. Diese Vorgehensweise hatte man mir beigebracht, um eine direktere Verbindung zu der Person zu haben, deren Profil ich erstellte. Warum willst du um jeden Preis stark sein? Ich ging die Hinweise, die sie mir über ihre Vergangenheit gegeben hatte, noch einmal durch. Sie war die Jüngste gewesen, die je die FBI-Akademie verlassen hatte – und stolz darauf. Irgendwann einmal war sie ehrgeizig gewesen. Vor fünf Jahren hatte sie das FBI verlassen. Warum?

Anstelle einer Antwort hielten sich meine Gedanken an der Tatsache fest, dass sie irgendwann vor ihrem Ausscheiden Dean getroffen haben musste. Er kann nicht älter als zwölf gewesen sein, als du ihn kennengelernt hast. Der Gedanke löste in mir einen Alarm aus. Die einzige Möglichkeit für einen FBI-Agenten, zu diesem Zeitpunkt etwas mit Dean zu tun gehabt zu haben, war, dass sie dem Team angehört haben musste, das seinen Vater zur Strecke gebracht hatte.

Dieses Team hatte Agent Briggs geleitet. Kurz darauf hatte er begonnen, Dean zu benutzen – den Sohn eines berüchtigten Serienkillers –, um einen Einblick in die Denkweise anderer Mörder zu bekommen. Schließlich war das FBI dahintergekommen, was Briggs tat, doch anstatt ihn zu feuern, hatten sie die Sache offiziell gemacht. Dean war in ein altes Haus in der Stadt in der Nähe der Marine-Corps-Basis Quantico gebracht worden. Briggs hatte einen Mann namens Judd eingestellt, der als Deans Vormund fungierte. Mit der Zeit hatte Briggs noch weitere Teenager mit außergewöhnlichen Fähigkeiten rekrutiert und diese kleine Akademie gegründet. Zuerst war Lia mit ihrer Gabe, zu lügen und Lügen zu erkennen, sobald jemand sie ausgesprochen hatte, dazugekommen. Danach Sloane und Michael und zuletzt ich.

Du hast mit Agent Briggs zusammengearbeitet, dachte ich und versuchte, mir Agent Veronica Mullins vorzustellen. Du warst in seinem Team. Vielleicht warst du sogar seine Partnerin. Als ich zur Akademie kam, war Agent Locke Briggs’ Partnerin gewesen. Vielleicht war sie als Ersatz für Agent Mullins zum FBI gekommen, bevor sich die Situation umgekehrt hatte.

Es gefällt dir nicht, ersetzbar zu sein. Du bist nicht nur hier, um deinem Vater einen Gefallen zu tun, sagte ich im Stillen zu Agent Mullins. Du kennst Briggs. Du mochtest Locke nicht. Und irgendwann einmal hast du dir Sorgen um Dean gemacht. Hier geht es um etwas Persönliches.

»Wusstest du, dass die durchschnittliche Lebenserwartung des Haarnasenwombats zehn bis zwölf Jahre beträgt?«

Als ich gesagt hatte, es sei alles in Ordnung, hatte Sloane offensichtlich entschieden, dass dem nicht so war. Je mehr Kaffee meine Zimmergenossin trank, desto geringer war ihre Hemmschwelle, belanglose Statistiken von sich zu geben – besonders, wenn sie der Meinung war, dass jemand eine Ablenkung brauchte.

»Der älteste Wombat in Gefangenschaft wurde vierunddreißig Jahre alt«, fuhr Sloane fort und stützte sich auf den Ellbogen, um mich anzusehen. Da wir uns ein Zimmer teilten, hätte ich wahrscheinlich stärker dagegen protestieren sollen, ihr eine zweite Tasse Kaffee zu verabreichen. Doch heute fand ich Sloanes Hochgeschwindigkeits-Statistik-Stakkato irgendwie beruhigend. Ein Profil von Mullins zu erstellen hatte mich nicht davon abhalten können, an Locke zu denken.

Das hier vielleicht schon.

»Erzähl mir mehr über Wombats«, bat ich sie.

Sloane strahlte wie ein kleines Kind, das am Weihnachtsmorgen ein Wunder erlebte, und erfüllte mir meinen Wunsch.

Du

Als du sie zum ersten Mal gesehen hast, warst du nervös. Sie stand neben der großen Eiche, ihr langes Haar hing ihr glänzend über den halben Rücken. Du hast sie nach ihrem Namen gefragt und dir jede Einzelheit an ihr eingeprägt.

Doch das alles spielt jetzt keine Rolle. Nicht ihr Name, nicht der Baum, nicht deine Nerven.

Du bist schon zu weit gegangen. Du hast schon zu lange gewartet.

»Wenn du sie lässt, wird sie sich wehren«, flüstert eine Stimme irgendwo in deinem Kopf.

»Ich werde es nicht zulassen«, flüsterst du zurück. Deine Kehle ist wie zugeschnürt. Du bist bereit. Du bist schon lange bereit dazu. »Ich werde sie fesseln.«

»Fessle sie«, verlangt die flüsternde Stimme.

Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen.

Genau so muss es getan werden. Genau das erwartet dieses Mädchen. Die Kleine hätte nicht so weit weg vom Haus des Mannes parken sollen. Und sie hätte vor allem gar nicht mit ihm schlafen sollen.

Hätte sie nicht.

Hätte sie nicht.

Hätte sie nicht.

Du wartest im Auto auf sie, als sie einsteigt. Du bist darauf vorbereitet. Sie muss heute einen Test bestehen, du allerdings auch.

Sie schließt die Wagentür. Sie sieht in den Rückspiegel und für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich eure Blicke.

Sie sieht dich.

Du wirfst dich nach vorne. Sie öffnet den Mund, um zu schreien, doch du presst ihr das feuchte Tuch über Mund und Nase.

»Sie wird sich wehren, wenn du sie lässt«, flüsterst du ihr die Worte wie Koseworte ins Ohr.

Ihr Körper erschlafft. Du ziehst sie auf den Rücksitz und greifst nach den Fesseln.

Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen.

Es hat angefangen.

Kapitel 6 

Ich schlief bis Mittag und erwachte dennoch völlig unausgeschlafen. Gott, tat mir der Kopf weh. Ich brauchte etwas zu essen. Und Koffein. Und eine Aspirin könnte auch nicht schaden.

»Schlecht geschlafen?«, erkundigte sich Judd, sobald ich die Küche betrat, sah aber nicht von seinem Kreuzworträtsel auf.

»Kann man wohl sagen«, erwiderte ich. »Haben Sie schon Agent Mullins getroffen?«

Judd verzog leicht die Lippen und wiederholte meine Worte: »Kann man wohl sagen.«

Judd Hawkins war über sechzig. Laut seiner offiziellen Stellenbeschreibung sollte er sich sowohl um das Haus als auch um uns kümmern. Das Haus war in ausgezeichnetem Zustand. Was die fünf Teenager anging, die darin wohnten … er sorgte dafür, dass wir immer was zu essen hatten und unsere Gliedmaßen einigermaßen intakt waren, aber ansonsten ließ uns Judd die meiste Zeit in Ruhe.

»Agent Mullins scheint zu glauben, dass sie hier einziehen kann«, bemerkte ich.

Judd füllte eine weitere Zeile in seinem Kreuzworträtsel aus. Falls es ihn ärgerte, dass mehr oder minder unangekündigt eine FBI-Agentin hier aufgekreuzt war, so ließ er sich nichts anmerken.

»Darf sie das überhaupt?«, fragte ich.

Endlich sah Judd von seinem Kreuzworträtsel auf.

»Wäre sie jemand anderes, würde die Antwort höchstwahrscheinlich nein lauten«, antwortete er.

Angesichts der Tatsache, dass Agent Mullins auf Wunsch ihres Vaters gekommen war, wurde mir klar, dass Judd absolut nichts dagegen sagen konnte. Was ich nicht verstand, war, warum Judd offensichtlich nichts dagegen sagen wollte. Sie war hier, um eine Bewertung der Akademie zu schreiben. Sie hatte es Schadensbegrenzung genannt. Aber jetzt mal ehrlich, für mich klang das eher nach einer Invasion.

»Gut, du bist schon wach.«

Wenn man vom Teufel spricht, dachte ich. Doch dann hielt ich inne. Ich war nicht objektiv – und auch nicht fair. Ich beurteilte Agent Mullins mehr danach, was sie auf meine Vermutung hin tun würde, als nach dem, was sie tatsächlich getan hatte. Tief im Innersten war mir eine Sache aber mehr als klar: Völlig egal, wen sie als Ersatz für Locke geschickt hätten, ich wäre nicht dafür bereit gewesen. Jede Ähnlichkeit war Salz in der Wunde. Und jeder Unterschied ebenfalls.

»Schläfst du üblicherweise immer bis mittags?«, erkundigte sich Agent Mullins, legte den Kopf schief und musterte mich. Da ich sie nicht daran hindern konnte, tat ich es ihr gleich und betrachtete sie ebenfalls aufmerksam. Sie trug Make-up, sah allerdings nicht zurechtgemacht aus. Wie bei dem klaren Nagellack hatte sie die Farben für Augen und Lippen so ausgesucht, dass die Schminke kaum auffiel, sondern fast natürlich wirkte.

Ich fragte mich, wie viel Mühe es sie kostete, so mühelos perfekt zu wirken.

Wenn du einem UNSUB nahekommen, aber nicht in seinen Schuhen stecken willst, kannst du noch ein anderes Wort verwenden: du. Diesen Ratschlag hatte mir Agent Locke gleich zu Beginn gegeben.

»Haben Sie die Nacht hier verbracht?«, fragte ich Mullins und spielte beide Antwortmöglichkeiten im Kopf durch. Locke hatte nie hier geschlafen. Briggs schlief auch nicht hier. Du machst keine halben Sachen.

»Im Arbeitszimmer gibt es ein Schlafsofa«, erklärte Judd ein wenig mürrisch. »Ich habe ihr mein Zimmer angeboten, aber Miss Dickkopf wollte es ja nicht annehmen.«

Miss Dickkopf? Bevor Judd beim FBI angefangen hatte, hatte er im Militär gedient. Ich hatte noch nie gehört, dass er einen FBI-Agenten anders als mit seinem Titel oder dem Nachnamen angesprochen hatte. Warum also redete er mit Agent Mullins in genau dem Ton, den er normalerweise Lia gegenüber anschlug?

»Ich werde Sie bestimmt nicht aus Ihrem Bett vertreiben, Judd.«

Ihr genervter Tonfall sagte mir, dass sie diese Diskussion schon mindestens zwei Mal geführt hatten.

»Setzen Sie sich«, murrte Judd. »Alle beide. Cassie hat heute noch nichts gegessen, und wenn ich schon dabei bin, ich kann ebenso gut gleich zwei Sandwiches machen.«

»Ich kann mir mein Sandwich selber machen«, entgegnete ich.

Judd warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Diese Seite an ihm kannte ich noch gar nicht. Auf seltsame Weise erinnerte er mich fast an meine durch und durch italienische Großmutter, die glaubte, ich befände mich an einer sehr fortschrittlichen, von der Regierung geförderten Hochbegabtenschule. Nonna hielt es für ihr größtes Lebensziel, Essen in Leute zu stopfen, und wehe dem Unglücklichen, der sich ihr dabei in den Weg zu stellen versuchte.

»Ich habe mir bereits ein Sandwich gemacht«, erklärte Agent Mullins steif.

Judd machte trotzdem zwei. Eines stellte er vor mir ab und das andere vor einem leeren Platz am Tisch, bevor er sich setzte und sich wieder seinem Kreuzworträtsel widmete. Er sagte kein Wort und nach einer kleinen Weile ließ sich auch Agent Mullins auf einem Stuhl nieder.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte ich Judd. Normalerweise konnte ich keine fünf Minuten in der Küche verbringen, ohne dass sich Michael von meinem Teller bediente oder Lia hereinkam, um ein bisschen Eis zu stehlen.

An Judds Stelle antwortete mir Agent Mullins. »Michael ist noch nicht aufgetaucht. Dean, Lia und Sloane sind im Wohnzimmer und befassen sich mit den Prüfungen zur Hochschulzugangsberechtigung.«

Fast wäre ich an einem Stück Schinken erstickt. »Womit?«

»Es ist Ende September«, informierte mich Agent Mullins, in diesem viel zu ruhigen Tonfall, der sie wahrscheinlich bei der Befragung von Verdächtigen auszeichnete. »Wärst du nicht Teil dieser Akademie, dann würdest du zur Schule gehen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass man deiner Familie erzählt hat, du würdest hier Unterricht bekommen. Manche Leute drücken bei so was vielleicht ein Auge zu. Ich aber nicht.«

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sie in diesem Fall mit »manche Leute« nicht Judd meinte, sondern Agent Briggs.

»Du hast das Glück, eine Familie zu haben, die sich irgendwann vielleicht tatsächlich für deine Schulbildung interessiert«, fuhr Agent Mullins fort. »Nicht alle in diesem Haus können das von sich behaupten, aber du wirst genau die Ausbildung erhalten, die man dir versprochen hat.« Sie warf einen Blick auf Judd und sah dann wieder mich an. »Dean und Lia sind jahrelang hier zu Hause unterrichtet worden. Wenn Judd seinen Job richtig gemacht hat, sollten sie die Zulassungsprüfungen bestehen. Bei Sloane mache ich mir da keine Gedanken.«

Damit blieben nur Michael und ich übrig. Wäre das Programm nicht gewesen, würde ich diesen Monat mein letztes Schuljahr beginnen.

»Mach die Zulassungstests«, befahl mir Mullins beiläufig in einem Ton, der mir sagte, dass sie es gewohnt war, keine Widerworte zu hören. »Wenn du einen Tutor brauchst, besorgen wir dir einen, aber auf jeden Fall können die anderen Aspekte deiner … Ausbildung erst mal warten.«

Seit ich der Akademie beigetreten war, hatte ich schon fast vergessen, dass es auch eine Art des Lernens gab, bei der es nicht um das Innen und Außen eines kriminellen Gehirns ging.

»Ihr entschuldigt mich bitte?«, sagte ich und stand vom Tisch auf.

Judd sah mich amüsiert an. »Das hast du doch sonst auch noch nie gefragt, oder?«

Das reichte mir als Antwort. Judd beendete sein Kreuzworträtsel, und als ich schon fast die Tür erreicht hatte, wandte er sich an Agent Mullins. »Essen Sie Ihr Sandwich, Ronnie?«

Ronnie? Ich riss die Augen auf und hatte es plötzlich nicht mehr eilig, aus der Küche zu kommen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Agent Mullins bei der Nennung des Kosenamens leicht erstarrte.

»Ich heiße Veronica«, korrigierte sie Judd. »Oder Agent Mullins. In diesem Haus geht es nicht anders.«

Sie kennen sich, dachte ich. Sie kennen sich schon sehr lange.

Und plötzlich kam mir in den Sinn, dass Direktor Mullins seine Tochter vielleicht aus ganz anderen Gründen für diesen Job ausgesucht hatte als wegen der Tatsache, dass sie miteinander verwandt waren.

Gerade wollte ich durch die Küchentür verschwinden, da schwang sie nach innen auf und stieß mich beinahe um. Agent Briggs trat herein und sah aus, als sei er eben aus einem Flugzeug gestiegen. Er streckte die Hand aus, um mich festzuhalten, doch sein Blick fiel in eine andere Richtung.

»Ronnie!«

»Briggs«, entgegnete Agent Mullins. Sie verwendete bewusst nicht seinen Vornamen oder eine Abkürzung. »Ich nehme an, der Direktor hat dich informiert?«

Briggs neigte leicht den Kopf. »Du hättest anrufen können.«

Es stimmt also, dachte ich. Die beiden haben definitiv schon zusammengearbeitet.

»Cassie«, sagte Agent Briggs. Plötzlich bemerkte er, dass seine Hände noch auf meinen Schultern lagen, und er ließ sie fallen. »Wie ich sehe, hast du Agent Mullins bereits kennengelernt.«

»Ja, gestern Abend schon.« Ich sah Briggs an und suchte nach Anzeichen dafür, dass er die Gegenwart dieser Frau in unserem Haus ablehnte. »Wie geht es Mackenzie?«

Briggs lächelte – was selten genug vorkam. »Sie ist zu Hause. Sie wird in nächster Zeit viel Unterstützung brauchen, aber sie wird es schaffen. Das Mädchen ist eine Überlebenskünstlerin.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Agent Mullins zu. »Die Cold Case Academy hat diesen Monat gerade den zweiten alten Fall abgeschlossen«, erzählte er ihr. »Es ging um eine Entführung.«

Da war er – der Hinweis, dass Agent Briggs keineswegs beabsichtigte, seine Autorität der Neuen unterzuordnen. Seine Worte sollten eine klare Botschaft übermitteln: Er hatte es nicht nötig, sich bedroht zu fühlen. Die Akademie funktionierte. Wir retteten Leben.

»Beeindruckend«, fand Agent Mullins, aber ihr Ton machte mehr als deutlich, was sie wirklich dachte. Das eine Wort strotzte vor Sarkasmus. »Besonders, wenn man bedenkt, dass wegen dieser Akademie nur zwei Kinder ins Krankenhaus mussten und nur eines davon tatsächlich angeschossen wurde. Das gleicht sich ja offensichtlich ganz gut aus.«

Zwei Kinder – Michael und Dean. Ich machte den Mund auf, um Agent Mullins zu sagen, dass wir keine Kinder mehr waren, doch Briggs warf mir einen warnenden Blick zu.

»Cassie, geh doch bitte mal nachsehen, was die anderen so treiben.«

Genauso gut hätte er sagen können: »Geh doch ein bisschen im Garten spielen.«