Cold Case Academy – Eine riskante Entscheidung - Jennifer Lynn Barnes - E-Book

Cold Case Academy – Eine riskante Entscheidung E-Book

Jennifer Lynn Barnes

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Beschreibung

Die rasante Thriller-Reihe der Bestsellerautorin der »The Inheritance Games«-Reihe

Als in Las Vegas eine Reihe brutaler Morde geschieht, sollen Cassie Hobbes und der Rest des Teams ermitteln. Doch trotz ihrer besonderen Talente stellen diese Morde das Team vor ein Rätsel: Alle Opfer wurden in der Öffentlichkeit getötet, ohne dass der Mörder auf einem der Überwachungsvideos zu sehen ist. Und dann sind da noch die Nummern, die der Täter jedem Opfer aufs Handgelenk tätowiert hat. Hinter den Nummern verbirgt sich ein Code – und je näher das Team der Lösung des Falls kommt, desto größer wird die Gefahr, in der sie schweben!
Drei Tage. Drei Casinos. Drei Leichen.– Die Einsätze sind hoch in diesem atemberaubenden Pageturner der Bestsellerautorin der »The Inheritance Games«–Reihe.

Die »Cold Case Academy«–Reihe:

Ein mörderisches Spiel (Band 1)
Ein tödliches Rätsel (Band 2)
Eine riskante Entscheidung (Band 3)
Eine gefährliche Enthüllung (Band 4)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 392

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Jennifer Lynn Barnes

Eine riskante Entscheidung

Aus dem Amerikanischen von Sascha Wander

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2024 

© 2015 Jennifer Lynn Barnes

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »All In« bei Hyperion Books for Children, einem Imprint der Disney Book Group

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Sascha Wander

Überarbeitung: Melanie Hartmann

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

Umschlagmotiv: © 2022 by Katt Phatt

Illustrationen: Adobe Stock/Illustratoren vikusha_art, UA Creative

SKN · Herstellung: DiMo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-32291-5V001

www.cbj-verlag.de

Für Anthony, meinen Komplizen,

jetzt und für immer.

DU

Alles kann gezählt werden. Die Haare auf ihrem Kopf. Die Worte, die sie zu dir gesagt hat. Die Anzahl der Atemzüge, die ihr noch verbleiben.

Das alles ist so wunderschön. Die Zahlen. Das Mädchen. Die Dinge, die du geplant hast.

Das, was du zu werden bestimmt bist.

Kapitel 1 

Silvester fiel auf einen Sonntag. Was vermutlich weiter kein Problem gewesen wäre, wenn es meine Großmutter nicht als ein in Stein gemeißeltes Gebot betrachtet hätte, regelmäßig die ganze Familie zum Sonntagsessen einzuladen. Oder wenn Onkel Rio sich nicht selbst zum Weinausschenker ernannt hätte.

Der Wein floss in Strömen.

Beim Abräumen der Teller war bereits klar, dass keiner der Erwachsenen so bald selbst nach Hause fahren würde. Und da mein Vater sieben Geschwister hatte, die alle verheiratet waren und von denen einige Kinder hatten, die mindestens zehn Jahre älter waren als ich, gab es eine Menge »Erwachsener«. Als ich einen Stapel Teller in die Küche trug, wurden die lautstarken Diskussionen hinter mir von ausgelassenem Gelächter übertönt.

Von außen betrachtet war es ein Chaos. Aber aus Sicht einer Profilerin war es leicht zu durchschauen. Es war eine Familie. Was für eine Art von Familie es war, ihre einzelnen Persönlichkeiten – das war an den Details zu erkennen: Hemden, die in die Hose gestopft waren oder lässig heraushingen, leicht angestoßenes Geschirr, das trotzdem wertgeschätzt und liebevoll behandelt wurde.

»Cassie.« Mein Onkel schenkte mir ein seliges Lächeln mit vom Alkohol feuchten Augen, als ich die Küche betrat. »Hast deine Familie vermisst, was? Kommst zurück, um deinen alten Onkel Rio zu besuchen!«

Alle hier im Haus gingen davon aus, dass ich die letzten sechs Monate an einem staatlich geförderten Begabtenprogramm teilgenommen hatte. Einem Internat, mehr oder weniger. Was zum Teil stimmte.

Mehr oder weniger.

»Bah.« Meine Großmutter schnaubte missbilligend in Onkel Rios Richtung, während sie mir den Stapel Teller aus der Hand riss und ihn in die Spüle stellte. »Cassie ist nicht wegen alter Narren zurückgekommen, die zu viel trinken und zu laut reden.« Nonna krempelte die Ärmel hoch und drehte den Wasserhahn auf. »Sie ist gekommen, um ihre Nonna zu besuchen. Als Wiedergutmachung dafür, dass sie nicht angerufen hat, wie sie es hätte tun sollen.«

Zwei Vorwürfe, die wie ein Stein auf meinem Herzen lasteten. Onkel Rio verzog keine Miene. Ich hingegen fühlte das von ihnen beabsichtigte schlechte Gewissen und gesellte mich zu Nonna an die Spüle. »Bitte«, sagte ich. »Lass mich das machen.«

Nonna brummte unwirsch, trat aber beiseite. Es hatte etwas Beruhigendes, dass sie immer noch dieselbe war, halb Glucke, halb Diktatorin, die ihre Familie mit Baked Ziti, dem typischen süditalienischen Nudelauflauf, und eiserner Faust regierte.

Aber ich bin nicht mehr dieselbe. Dieser Gedanke ließ sich nicht verdrängen. Ich habe mich verändert. Die neue Cassandra Hobbes hatte mehr Narben – im übertragenen und im buchstäblichen Sinne.

»Sie wird launisch, wenn sie zu lange nichts von dir hört«, sagte Onkel Rio und nickte in Richtung Nonna. »Aber vielleicht bist du ja anderweitig gebunden?« Sein Gesicht erhellte sich und er musterte mich mehrere Sekunden lang. »Herzensbrecherin!«, sagte er. »Wie viele Freunde verheimlichst du uns?«

»Ich habe keinen Freund.«

Onkel Rio unterstellte mir schon seit Jahren, dass ich Freunde vor ihm verheimlichen würde. Diesmal traf er zum ersten Mal ins Schwarze.

»Du.« Nonna richtete einen Pfannenwender auf Onkel Rio, der wie aus dem Nichts in ihrer Hand aufgetaucht war. »Raus.«

Er beäugte besorgt den Pfannenwender, blieb aber standhaft.

»Raus!«

Drei Sekunden später waren Nonna und ich allein in der Küche. Sie musterte mich mit scharfem Blick, dann wurde ihre Miene etwas weicher. »Der Junge, der dich letzten Sommer hier abgeholt hat«, sagte sie, »der mit dem schicken Auto … kann er gut küssen?«

»Nonna!«, stotterte ich.

»Ich habe acht Kinder«, sagte Nonna zu mir. »Ich kenne mich mit dem Küssen aus.«

»Nein«, entgegnete ich rasch, schrubbte die Teller und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was genau das bedeuten sollte. »Michael und ich sind nicht … Wir haben keine …«

»Ahh«, sagte Nonna wissend. »Er küsst nicht so gut.« Sie klopfte mir tröstend auf die Schulter. »Er ist jung. Er kann sich noch verbessern!«

Dieses Gespräch war mir in mehrfacher Hinsicht peinlich, nicht zuletzt, weil es nicht Michael war, den ich geküsst hatte. Aber wenn Nonna unbedingt glauben wollte, dass ich so selten zu Hause anrief, weil ich in eine heiße Romanze verstrickt war, dann sollte sie ruhig.

Diese Pille war leichter zu schlucken als die Wahrheit: Ich war eingetaucht in eine Welt von Motiven und Opfern, Mördern und Leichen. Ich war gefangen gehalten worden. Zweimal. Noch immer wachte ich nachts auf und erinnerte mich an die Kabelbinder, die in meine Handgelenke geschnitten hatten, das Echo von Schüssen hallte in meinen Ohren wider. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich eine blutige Klinge aufblitzen.

»Bist du glücklich in dieser Schule?« Nonna bemühte sich, beiläufig zu klingen. Ich ließ mich nicht täuschen. Ich hatte fünf Jahre lang bei meiner Großmutter väterlicherseits gelebt, bevor ich in das Naturtalente-Programm aufgenommen worden war. Sie wollte, dass ich in Sicherheit war, und sie wollte, dass ich glücklich war. Sie wollte mich bei sich haben.

»Das bin ich«, sagte ich zu meiner Großmutter. »Sehr glücklich.« Das war keine Lüge. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Bei den anderen Naturtalenten musste ich nie vorgeben, jemand anders zu sein. Das wäre unmöglich gewesen, selbst wenn ich es gewollt hätte.

In einem Haus voller Menschen, die Dinge sahen, die der Rest der Welt nicht sah, war es unmöglich, sich zu verstecken.

»Du siehst gut aus«, gab Nonna widerstrebend zu. »Besser, jetzt, nachdem ich dich eine Woche lang gefüttert habe.« Sie brummte erneut, dann schob sie mich sanft zur Seite und übernahm den Abwasch. »Ich packe dir Proviant ein«, verkündete sie. »Der Junge, der dich abgeholt hat, ist viel zu dünn. Vielleicht küsst er besser, wenn er etwas Fleisch auf den Knochen hat.«

Ich räusperte mich verlegen.

»Was höre ich da von wegen Küssen?«, fragte eine Stimme von der Tür. Ich drehte mich um und erwartete, einen meiner Onkel zu sehen. Stattdessen stand da mein Vater. Ich erstarrte. Er war in Übersee stationiert und wir hatten erst in ein paar Tagen mit ihm gerechnet.

Ich hatte ihn seit über einem Jahr nicht gesehen.

»Cassie.« Mein Vater begrüßte mich mit einem steifen Lächeln.

Ich musste an Michael denken. Er hätte die Anspannung auf dem Gesicht meines Vaters lesen können. Ich dagegen war Profilerin. Ich konnte aus wenigen Details – dem Inhalt des Koffers einer Person, den Worten, die sie bei der Begrüßung wählte – ein Gesamtbild erstellen: wer sie war, was sie wollte, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten würde.

Aber was genau bedeutete dieses verkrampfte Lächeln? Welche Gefühle verbarg mein Vater? Empfand er einen Funken Anerkennung oder Stolz oder überhaupt etwas Väterliches, wenn er mich ansah?

Ich hatte keine Ahnung.

»Cassandra«, schimpfte Nonna, »begrüße deinen Vater.« Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Nonna ihre Arme um ihn geschlungen und drückte ihn fest an sich. Sie küsste ihn, ohrfeigte ihn ein paar Mal und küsste ihn erneut.

»Du bist zu früh zurück.« Endlich riss Nonna sich von ihrem verlorenen Sohn los. Sie musterte ihn mit einem Blick, den sie ihm wahrscheinlich auch zugeworfen hatte, wenn er als kleiner Junge ihren Teppich schmutzig gemacht hatte. »Warum?«

Der Blick meines Vaters huschte zu mir zurück. »Ich muss mit Cassie reden.«

Nonnas Augen verengten sich. »Und worüber musst du mit unserer Cassie sprechen?« Nonna stieß ihm den Zeigefinger in die Brust. Mehrfach. »Sie ist glücklich auf ihrer neuen Schule, mit ihrem dünnen Freund.«

Ich hörte diese Behauptung nur mit halbem Ohr. Meine ganze Aufmerksamkeit galt meinem Vater. Er wirkte leicht zerknittert. So als hätte er die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Er konnte mir kaum in die Augen schauen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte Nonna mit der Entschlossenheit einer Herrscherin, die das Kriegsrecht verhängt. »Alles ist in Ordnung.« Sie wandte sich wieder meinem Vater zu. »Sag ihr, dass alles in Ordnung ist«, befahl sie.

Mein Vater durchquerte den Raum und legte seine Hände sanft auf meine Schultern.

Normalerweise bist du nicht so sanft.

In meinem Kopf ging ich alles durch, was ich über ihn wusste – unsere Beziehung, was für ein Mensch er war, die Tatsache, dass er überhaupt hier war. Mein Magen zog sich zusammen. Plötzlich wusste ich, was er sagen würde. Das Wissen lähmte mich. Mein Atem stockte. Meine Augen waren weit aufgerissen.

»Cassie«, sagte mein Vater leise. »Es geht um deine Mutter.«

Kapitel 2 

Es gab einen Unterschied zwischen mutmaßlich tot und tot, einen Unterschied zwischen dem Betreten einer Garderobe, die mit dem Blut meiner Mutter besudelt war, und der Nachricht, dass nach fünf langen Jahren eine Leiche gefunden worden war.

Mit zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren hatte ich jede Nacht gebetet, dass man meine Mutter finden würde, dass die Polizei sich täuschen und dass sie trotz all der Spuren, trotz all des verlorenen Blutes irgendwann wieder auftauchen würde. Lebendig.

Irgendwann hatte ich aufgehört zu hoffen und darum gebetet, dass man die Leiche meiner Mutter finden würde. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich gerufen würde, um ihre sterblichen Überreste zu identifizieren. Ich hatte mir gewünscht, mich von ihr verabschieden, sie beerdigen zu können.

Aber das hier hatte ich mir nicht vorgestellt.

»Ist die Polizei sicher, dass sie es ist?«, fragte ich mit leiser, aber fester Stimme.

Mein Vater und ich saßen uns auf der Veranda gegenüber. Nur wir beide, das Maximum an Privatsphäre, das Nonnas Haus zu bieten hatte.

»Der Ort passt.« Er sah mich nicht an, sondern starrte in die Nacht hinaus. »Der Zeitpunkt auch. Sie versuchen, die zahnärztlichen Unterlagen abzugleichen, aber ihr beiden seid so oft umgezogen.« Ihm schien aufzugehen, dass er mir damit nichts Neues erzählte.

Die zahnärztlichen Unterlagen meiner Mutter würden schwer aufzutreiben sein.

»Das haben sie gefunden.« Mein Vater reichte mir eine dünne Silberkette.

An ihrem Ende hing ein kleiner roter Stein.

Meine Kehle war wie zugeschnürt.

Ihre.

Ich schluckte und versuchte den Gedanken zu verdrängen, als würde reine Willenskraft dazu ausreichen. Mein Vater wollte mir die Kette geben. Ich schüttelte den Kopf.

Ihre.

Mir war klar gewesen, dass meine Mutter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot war. Ich hatte es gewusst. Ich hatte es geglaubt. Aber jetzt, beim Anblick der Kette, die sie in jener Nacht getragen hatte, rang ich um Atem.

»Das ist Beweismaterial.« Ich presste die Worte heraus. »Die Polizei hätte es dir nicht geben dürfen. Es ist ein Beweisstück.«

Was hatten sie sich nur dabei gedacht? Ich arbeitete erst seit einem halben Jahr für das FBI. Die meiste Zeit hatte ich hinter den Kulissen verbracht, aber selbst ich wusste, dass man Beweise nicht aus der Hand geben durfte, nur damit ein halb verwaistes Mädchen etwas bekam, das seiner Mutter gehört hatte.

»Es waren keine Fingerabdrücke darauf«, versicherte mir mein Vater. »Auch keine Spuren.«

»Sag ihnen, sie sollen sie behalten«, warf ich ein, stand auf und ging an den Rand der Veranda. »Sie werden sie vielleicht brauchen. Zur Identifizierung.«

Fünf Jahre waren seither vergangen. Wenn sie schon nach zahnärztlichen Unterlagen suchten, gab es wahrscheinlich nichts mehr für mich zu identifizieren. Nichts außer Knochen.

»Cassie ...«

Ich schaltete auf Durchzug. Von einem Mann, der meine Mutter kaum gekannt hatte, wollte ich nicht hören, dass die Polizei keine konkreten Spuren hatte und bedenkenlos Beweismittel herausgab, weil sie offenbar nicht damit rechneten, dass dieser Fall jemals gelöst würde.

Nach fünf Jahren hatte man endlich eine Leiche gefunden. Das war eine Spur. Kerben in den Knochen. Die Art ihrer Bestattung. Der Ort, an dem ihr Mörder sie beerdigt hatte. Es musste etwas geben. Einen Anhaltspunkt für das, was geschehen war.

Er ist mit einem Messer auf dich losgegangen. Ich schlüpfte in die Rolle meiner Mutter, und wie schon so oft zuvor versuchte ich zu verstehen, was an diesem Tag geschehen war. Er hat dich überrascht. Du hast gekämpft.

»Ich will den Ort sehen.« Ich wandte mich wieder meinem Vater zu. »Den Ort, an dem sie die Leiche gefunden haben.«

Mein Vater hatte damals meine Bewerbung für das Begabtenprogramm von Agent Briggs unterschrieben, aber er hatte keine Ahnung, welche Art von »Ausbildung« ich erhielt. Er hatte keinen Schimmer, worum es bei dem Programm wirklich ging. Er wusste nicht, über welche Fähigkeiten ich verfügte. Mörder und Opfer, Täter und Leichen – das war meine Welt. Meine. Und was war mit meiner Mutter passiert?

Auch das war meine Welt.

»Ich halte das für keine gute Idee, Cassie.«

Das hast du nicht zu entscheiden, dachte ich, ohne es laut auszusprechen. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Wenn ich Zugang zu dem Ort, den Fotos und möglichen Beweisstücken haben wollte, dann war Vincent Battaglia nicht der richtige Ansprechpartner.

»Cassie?« Mein Vater erhob sich und machte einen zögerlichen Schritt auf mich zu. »Wenn du darüber reden möchtest ...«

Ich wandte mich ab und schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut«, unterbrach ich ihn. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Ich will einfach nur zurück in die Schule.«

»Schule« war leicht übertrieben. Das Naturtalente-Programm umfasste insgesamt fünf Schülerinnen und Schüler und unser Unterricht bestand hauptsächlich aus praktischen Übungen. Wir waren nicht nur Schüler. Wir waren wertvolle Ressourcen, die genutzt wurden.

Ein Eliteteam.

Alle fünf besaßen wir je eine besondere Fähigkeit, eine Begabung, die durch unsere Kindheitserfahrungen bis zur Perfektion geschärft worden war.

Wir hatten alle keine normale Kindheit. Diese Worte gingen mir wieder und wieder durch den Kopf, als ich vier Tage später am Ende der Einfahrt meiner Großmutter stand und auf meine Mitfahrgelegenheit wartete. Denn sonst wären wir keine Naturtalente.

Um nicht an meine eigene Kindheit denken zu müssen, mit einer Mutter, die von Stadt zu Stadt gezogen war und den Leuten vorgegaukelt hatte, sie sei Hellseherin, dachte ich an die der anderen – an Deans psychopathischen Vater und wie Michael lernen musste, Gefühle zu lesen, um zu überleben. Ich dachte an Sloane und Lia und daran, was ich über ihre Kindheit vermutete.

Eine besondere Art von Heimweh überkam mich, als ich an die anderen Naturtalente dachte. Ich wollte sie hier um mich haben, alle, jeden Einzelnen von ihnen, so sehr, dass ich fast keine Luft mehr bekam.

»Tanz dich frei.« Ich hörte die Stimme meiner Mutter in meiner Erinnerung. Ich sah sie vor mir, in einen königsblauen Schal gehüllt, das rote Haar feucht von Kälte und Schnee, wie sie das Autoradio einschaltete und aufdrehte.

Das war unser Ritual gewesen. Jedes Mal, wenn wir umzogen – von einer Stadt in die nächste, von einer Gemeinde in die nächste, von einer Show zur nächsten –, drehte sie die Musik auf, und wir tanzten auf unseren Sitzen, bis wir alles und jeden vergessen hatten, den wir zurückgelassen hatten.

Meine Mutter war niemand, der Dingen oder Menschen lange nachtrauerte.

»Du siehst so nachdenklich aus.« Eine tiefe, nüchterne Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.

Ich kämpfte gegen die Erinnerungen an – und gegen die mit ihnen aufsteigende Flut von Gefühlen. »Hey, Judd.«

Der Mann, den das FBI angeheuert hatte, um auf uns aufzupassen, musterte mich einen Moment, dann hob er meine Tasche hoch und wuchtete sie in den Kofferraum. »Willst du dich verabschieden?«, fragte er und nickte in Richtung Veranda.

Ich drehte mich um und sah Nonna dort stehen. Sie liebte mich. Wild. Entschlossen. Von dem Moment an, als du mich das erste Mal gesehen hast. Das Mindeste, was ich ihr schuldete, war ein Lebewohl.

»Cassandra?« Nonna klang resolut, als ich näher kam. »Hast du etwas vergessen?«

Jahrelang hatte ich geglaubt, meine Fähigkeit, leidenschaftlich und frei zu lieben, sei mit meiner Mutter gestorben.

Die letzten Monate hatten mich eines Besseren belehrt.

Ich umarmte meine Großmutter, und sie schlang ihre Arme um mich, hielt mich fest, als ginge es um Leben und Tod.

»Ich muss gehen«, sagte ich nach einer Weile.

Sie tätschelte meine Wange mit etwas mehr Schwung als nötig. »Ruf an, wenn du etwas brauchst«, befahl sie. »Egal, was.«

Ich nickte.

Sie zögerte einen Moment. »Es tut mir leid«, sagte sie vorsichtig. »Das mit deiner Mutter.«

Nonna war meiner Mutter nie begegnet. Sie wusste nichts über sie. Ich hatte der Familie meines Vaters nie von dem Lachen meiner Mutter erzählt, oder von den Spielen, mit denen sie mir beigebracht hatte, Menschen zu lesen, oder davon, wie wir »Egal, was passiert« gesagt hatten, statt »Ich liebe dich«, weil sie mich nicht nur liebte – sie liebte mich für immer und ewig, egal, was kommen mochte.

»Danke«, sagte ich zu meiner Großmutter. Meine Stimme klang ein wenig heiser. Ich unterdrückte die emporquellende Traurigkeit. Früher oder später würde sie mich einholen.

Ich war schon immer besser darin gewesen, meine Gefühle in Schubladen zu stecken, statt mich ganz von ihnen zu befreien.

Als ich mich von Nonnas forschendem Blick abwandte und zu Judd und dem Auto zurückging, konnte ich die Erinnerung an die Stimme meiner Mutter nicht abschütteln.

»Tanz dich frei.«

Kapitel 3 

Judd fuhr schweigend. Er wartete darauf, dass ich die Stille durchbrach, sobald ich dazu bereit war.

»Die Polizei hat eine Leiche gefunden.« Ich brauchte zehn Minuten, um die Worte über meine Lippen zu bringen. »Sie glauben, dass es die Leiche meiner Mutter ist.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Judd. »Briggs hat einen Anruf bekommen.«

Special Agent Tanner Briggs war einer der beiden Führungsbeamten des FBI bei den Naturtalenten. Er war derjenige, der mich rekrutiert hatte, und er hatte den Fall meiner Mutter dazu benutzt.

Natürlich hatte er einen Anruf bekommen.

»Ich will die Leiche sehen«, sagte ich und starrte auf die Straße vor uns. Später würde ich es verarbeiten können. Später würde ich trauern können. Jetzt brauchte ich Antworten, Fakten. »Fotos vom Tatort«, fuhr ich fort, »alles, was Briggs von den örtlichen Behörden bekommen kann.«

Judd wartete einen Moment. »Ist das alles?«

Nein. Das war nicht alles. Ich wünschte mir verzweifelt, dass es nicht die Leiche meiner Mutter war. Und gleichzeitig wollte ich genau das. Natürlich war das alles völlig widersprüchlich. Ich bereitete mich darauf vor, auf jeden Fall zu verlieren, egal, was am Ende herauskommen würde.

Meine Zähne gruben sich in die Innenseite meiner Wange und ich biss fest zu. Nach einer Weile antwortete ich laut auf Judds Frage. »Nein, das ist nicht alles. Ich will auch die Person zur Strecke bringen, die ihr das angetan hat.«

Wenigstens das war einfach. Das war klar. Ich war dem Naturtalente-Programm beigetreten, um Mörder hinter Gitter zu bringen. Meine Mutter hatte Gerechtigkeit verdient. Ich verdiente Wiedergutmachung für alles, was ich verloren hatte.

»Ich sollte dir an der Stelle wohl erklären, dass das Aufspüren der Person, die sie getötet hat, sie nicht zurückbringen wird.« Judd wechselte die Spur und schien mehr auf die Straße als auf mich zu achten. Ich ließ mich nicht täuschen. Judd war ein ehemaliger Scharfschütze der Navy, der immer auf seine Umgebung achtete. »Und ich sollte dir wahrscheinlich erklären«, fuhr er fort, »dass es nicht weniger wehtut, wenn du von diesem Fall besessen bist.«

»Aber das werden Sie nicht tun«, sagte ich.

Du weißt, wie es ist, wenn deine Welt in Fetzen zerrissen wird. Du weißt, wie es ist, jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass das Monster, das sie zerstört hat, immer noch da draußen ist und es wieder tun kann.

Judd wollte mir nicht sagen, dass ich das loslassen sollte. Er konnte es nicht.

»Was würden Sie tun«, sagte ich leise, »wenn es Scarlett wäre? Wenn es in ihrem Fall eine Spur gäbe, und sei sie noch so klein?«

Ich hatte den Namen von Judds Tochter noch nie in seiner Gegenwart ausgesprochen. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass sie existierte. Ich wusste nicht viel über sie, außer dass sie das Opfer eines Serienmörders namens Nightshade gewesen war.

Ich ahnte, wie Judd sich gefühlt hätte, wenn es Fortschritte in diesem Fall gegeben hätte.

»Bei mir war es anders«, sagte Judd schließlich, den Blick auf die Straße gerichtet. »Es gab eine Leiche. Ich weiß nicht, ob das besser oder schlechter ist. Besser vielleicht, weil es mir das Rätselraten erspart hat.« Für einen Moment biss er die Zähne zusammen. »Schlimmer«, fuhr er fort, »weil kein Vater so etwas je sehen sollte.«

Ich versuchte mir vorzustellen, was Judd hatte durchmachen müssen, als er die Leiche seiner Tochter gesehen hatte, und wünschte mir sofort, ich könnte damit aufhören. Judd war ein Mann mit einer hohen Schmerztoleranz und einem Gesicht, das einen Großteil dessen verbarg, was er fühlte. Aber als er den leblosen Körper seiner Tochter betrachtet hatte, hatte es kein Verstecken mehr gegeben, kein Zusammenbeißen der Zähne – nur noch das Klingeln in seinen Ohren und eine Verzweiflung, die ich nur zu gut kannte.

Wenn es Scarlett gewesen wäre, deren Leiche gerade gefunden worden wäre, Scarlett, deren Halskette gerade aufgetaucht wäre, könntest du auch nicht tatenlos abwarten. Das könntest du nicht – unter keinen Umständen.

»Werden Sie Briggs und Mullins bitten, mir die Akten zu besorgen?«, fragte ich. Judd war kein FBI-Agent. Seine oberste und einzige Aufgabe war das Wohlergehen der jungen FBI-Agenten. Er hatte das letzte Wort, wenn es um unsere Beteiligung an einem Fall ging.

Auch im Fall meiner Mutter.

Du verstehst mich, dachte ich, während ich ihn anstarrte. Ob du willst oder nicht, du verstehst mich.

»Du kannst die Akten einsehen«, sagte Judd zu mir. Er lenkte den Wagen auf eine private Landebahn und warf mir einen Blick zu. »Aber du machst das nicht allein.«

Kapitel 4 

Der Privatjet hatte zwölf Sitze, aber als ich an Bord ging, waren nur fünf davon besetzt. Die Agenten Mullins und Briggs saßen im vorderen Teil des Flugzeugs, auf gegenüberliegenden Seiten des Ganges. Sie studierte eine Akte. Er sah auf seine Uhr.

Sehr geschäftsmäßig, dachte ich. Andererseits, wenn es wirklich nur ums Geschäft gegangen wäre, hätte es den freien Platz am Gang nicht gebraucht.

Hinter ihnen saß Dean mit dem Rücken zum Cockpit. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Kartenspiel. Lia saß ihm schräg gegenüber und hatte sich auf zwei Sitzen breitgemacht. Sloane hockte im Schneidersitz auf der Tischkante, ihr weißblondes Haar war zu einem schiefen Pferdeschwanz zusammengebunden. Bei jemand anderem hätte ich mir ernsthaft Sorgen gemacht, dass sie gleich herabfallen würde, aber Sloane hatte sich ihre aktuelle Position wahrscheinlich genau ausgerechnet und alles Nötige veranlasst, damit die Gesetze der Physik zu ihren Gunsten wirkten.

»Schau an«, sagte Lia und schenkte mir ein träges Lächeln, »wer sich endlich herabgelassen hat, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren.«

Sie wissen es nicht. Offenbar hatte Briggs dem Rest des Teams nichts von meiner Mutter – vom Fund ihrer Leiche – erzählt. Dann sonst hätte Lia nicht nur leicht gestichelt, sie hätte mich förmlich gelöchert. Manche Menschen trösten einen in solchen Fällen. Lia war stolz darauf, für Ablenkung zu sorgen – aber sie tat es nicht unbedingt auf eine Art, für die man ihr dankbar war.

Meine Vermutung bestätigte sich, als Dean sich umdrehte und mich ansah. »Beachte Lia nicht weiter«, sagte er. »Sie hat schlechte Laune, weil ich sie beim Leiterspiel geschlagen habe.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Dean eilte nicht durch das Flugzeug auf mich zu. Er legte keine beruhigende Hand auf meine Schulter oder meinen Nacken. Also wusste er definitiv nichts davon.

Ich hätte es in dem Moment auch nicht gewollt.

Das Lächeln auf seinem Gesicht, die Art, wie er Lia neckte – Dean tat mir gut. Jeden Tag, den wir zusammen waren, fielen die Barrieren ein wenig. Jeden Tag trat er ein wenig mehr aus dem Schatten heraus und wurde ein wenig mehr er selbst.

Das wünschte ich mir für ihn.

Er sollte nicht daran denken, dass meine Mutter ermordet worden war. Er sollte nicht daran erinnert werden, dass sein Vater ein Mörder war.

Dieses Lächeln wollte ich mir bewahren.

»Leiterspiel?«, wiederholte ich.

Lias Augen funkelten. »Meine Version ist viel interessanter.«

»Klingt vielversprechend«, sagte ich.

»Willkommen zurück«, sagte Agent Briggs zu mir. Ihm gegenüber blickte Agent Mullins von ihrer Akte auf, Briggs’ Ex-Frau war Profilerin. Sie war meine Mentorin.

Wenn Briggs es weiß, weiß es Mullins auch. Sofort fiel mein Blick auf die Akte in ihrer Hand.

»Setz dich«, sagte sie zu mir.

Was wohl heißen sollte: Wir reden später. Mullins überließ es mir, was ich den anderen erzählen wollte – und wann. Natürlich konnte ich es nicht ewig geheim halten. Lia war Spezialistin darin, Täuschungen aufzuspüren. Lügen kam nicht infrage, und egal, wie gut ich es verbarg, auch Dean würde bald spitzkriegen, dass etwas vorgefallen war.

Ich musste es ihnen erzählen. Aber vielleicht könnte ich es ein paar Stunden hinauszögern, zumal der Einzige, der sofort gespürt hätte, dass etwas nicht stimmte, nicht mit im Flugzeug saß.

»Wo ist Michael?«, fragte ich und ließ mich auf den Sitz neben Dean gleiten.

»Fünfzehn Meilen südöstlich von Westchester, ein Stück nördlich des Long Island Sounds.« Sloane neigte den Kopf zur Seite, als würde ihr schief sitzender Pferdeschwanz ihn nach unten ziehen.

»Er ist über Weihnachten nach Hause gefahren«, übersetzte Dean. Unter dem Tisch suchte seine Hand meine. Es fiel Dean nicht leicht, Körperkontakt herzustellen, aber langsam begann er, mehr danach zu suchen.

»Michael ist über Weihnachten nach Hause gefahren?«, wiederholte ich. Ich drehte mich zu Lia. Sie und Michael hatten eine On-off-Beziehung gehabt, schon lange bevor ich auf der Bildfläche erschienen war. Wir beide wussten – alle in diesem Flugzeug wussten –, dass »Zuhause« kein guter Ort für Michael war.

»Michael wollte über die Feiertage nach Hause.« Agent Briggs mischte sich in das Gespräch ein und stellte sich direkt hinter Sloane in den Gang. »Es war sein Wunsch und seine Entscheidung.«

Natürlich war es das. Mir drehte sich der Magen um. Michael hatte mir einmal erklärt, wenn man jemanden nicht davon abhalten könne, einen zu schlagen, wäre es das Beste, ihn dazu zu bringen zuzuschlagen. Wenn Michael verletzt war, wenn er fürchtete, verletzt zu werden, suchte er den Konflikt.

Meine Entscheidung für Dean musste wie ein Schlag ins Gesicht für ihn gewesen sein.

»Er wollte seine Mutter besuchen«, zwitscherte Sloane unschuldig. »Er meinte, er habe sie lange nicht gesehen.«

Wir anderen hatten einen besonderen Sinn für Menschen. Sloane hatte einen Sinn für Fakten. Was immer Michael ihr erzählte, sie würde es glauben.

»Ich habe ihm eine Liste mit möglichen Gesprächsthemen mitgegeben«, sagte Sloane ernst. »Für den Fall, dass er und seine Mutter etwas Gesprächsstoff brauchen.«

So wie ich Sloane kannte, hatte sie Michael wahrscheinlich ermutigt, das Eis zu brechen, indem er seiner Familie mitteilte, dass das letzte Wort im Wörterbuch Zyzzyva war, eine Art tropischer Rüsselkäfer.

»Michael schafft das schon«, schaltete sich Briggs ein. Etwas an der Art, wie sich der Kiefer des Agenten anspannte, verriet mir, dass Briggs Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte: Vermutlich wusste Michaels Vater, dass sein weiterer Aufenthalt in Freiheit von Michaels Wohlergehen abhing.

Wir waren alle auf unterschiedliche Weise zum Naturtalente-Programm gekommen. Michaels Vater – der ihm alles über das Geschlagen-Werden beigebracht hatte – hatte seinen Sohn gegen Straffreiheit bei Wirtschaftsverbrechen beim FBI eingetauscht.

»Wie schön«, mischte sich Lia trocken ein, »dann geht es uns ja allen wieder bestens, Kumbaya. Wenn der Tröstet-Cassie-Teil unseres täglichen Rituals vorbei ist, können wir dann mit etwas weniger Langweiligem weitermachen?«

Eine gute Eigenschaft von Lia: Sie ließ nicht zu, dass man lange in Sorgen und Ängsten schmorte.

»In fünf Minuten starten wir«, antwortete Briggs. »Und Sloane?«

Unsere Zahlenexpertin legte den Kopf in den Nacken und sah Briggs an. »Sie werden mir jetzt höchstwahrscheinlich mitteilen, dass ich runter vom Tisch soll«, sagte sie.

Briggs lächelte fast. »Runter vom Tisch.«

Kapitel 5 

Wir waren etwa zwanzig Minuten in der Luft, als Briggs und Mullins uns informierten, wohin wir flogen – und warum.

»Wir haben einen Fall.« Mullins’ Stimme klang ruhig und kühl. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie noch darauf bestanden, dass es kein Wir gab, dass Minderjährige, egal, wie talentiert, bei FBI-Ermittlungen nichts zu suchen hatten.

Vor nicht allzu langer Zeit war das Naturtalente-Programm auf ungelöste Fälle beschränkt gewesen.

In der Zwischenzeit hatte sich manches geändert.

»Drei Leichen in drei Tagen.« Briggs fuhr fort, wo Mullins aufgehört hatte. »Die örtliche Polizei hatte keinen Schimmer, dass sie es mit einem einzigen Täter zu tun hatte, bis heute Morgen eine erste Autopsie des dritten Opfers durchgeführt wurde. Sie haben sofort das FBI um Hilfe gebeten.«

Warum? Ich stürzte mich auf die Frage. Warum hatte die Polizei keine Verbindung zu den ersten beiden Opfern hergestellt? Und warum haben sie nach dem dritten Opfer so schnell das FBI angefordert? Je mehr mein Gehirn gefordert war, desto weniger konnte es zu der kürzlich entdeckten Leiche zurückkehren.

Zurück zu den tausend und einen Erinnerungen an meine Mutter.

»Unsere Opfer haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam«, fuhr Briggs fort, »abgesehen von der räumlichen Nähe und dem, was die Visitenkarte unseres UNSUBs zu sein scheint.«

Profilerinnen und Profiler verwenden den Begriff »Modus Operandi« – oder »M. O.« –, um die notwendigen und funktionalen Aspekte eines Verbrechens zu beschreiben. Aber eine Visitenkarte zu hinterlassen? Das war nicht funktional. Es war nicht notwendig. Und das machte es zu einem Teil der Handschrift unseres Unbekannten Subjekts, unseres UNSUBs.

»Was für eine Art Visitenkarte?«, fragte Dean. Seine Stimme war sanft, hatte aber diesen leichten Summton, also wechselte er bereits in den Profiling-Modus. Es waren die kleinen Details – die Art Visitenkarte, wo die Polizei sie gefunden hatte, was darauf stand –, die uns das UNSUB verstehen lassen würden. Signierte unser Mörder damit sein Werk oder übermittelte er eine Botschaft? Markierte er seine Opfer als seinen Besitz oder eröffnete er eine Kommunikation mit der Polizei?

Agent Mullins hob eine Hand, um Fragen abzuwehren. »Klären wir zunächst die Hintergründe.« Sie wandte sich an Briggs. »Fangen wir ganz von vorne an.«

Briggs nickte knapp, dann betätigte er einen Schalter. Ein Monitor im vorderen Teil des Flugzeugs leuchtete auf. Briggs drückte eine Taste und ein Tatortfoto erschien. Es zeigte eine Frau mit langen dunklen Haaren, die auf einem Betonboden lag. Ihre Lippen schimmerten bläulich. Ihre Augen waren glasig. Ein durchnässtes Kleid klebte an ihrem Körper.

»Alexandra Ruiz«, sagte Agent Mullins. »Zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin der Beschäftigungstherapie an der Universität von Arizona. Sie wurde etwa zwanzig Minuten nach Neujahr mit dem Gesicht nach unten im Pool auf dem Dach des Apex-Casinos gefunden.«

»Das Apex-Casino.« Sloane blinzelte. »Las Vegas, Nevada.«

Ich wartete darauf, dass Sloane uns die Quadratmeterzahl des Apex oder das Gründungsjahr nennen würde. Fehlanzeige.

»Teuer.« Lia füllte die Lücke. »Vorausgesetzt, unser Opfer hat überhaupt im Apex gewohnt.«

»Hat sie nicht.« Briggs rief ein weiteres Foto auf, das neben dem von Alexandra eingeblendet wurde, diesmal von einem Mann Anfang vierzig. Er hatte dunkles Haar mit einem silbergrauen Schimmer. Es war ein Schnappschuss. Der Mann schaute nicht in die Kamera, aber ich hatte das Gefühl, dass er ihre Anwesenheit gespürt hatte.

»Thomas Wesley«, erklärte Briggs. »Ehemaliger Internetmogul, amtierender Pokerweltmeister. Er ist wegen eines bevorstehenden Pokerturniers in der Stadt und hat die Penthouse-Suite im Apex gemietet, mit exklusivem Zugang zum Pool auf dem Dach.«

»Ich nehme an, Wesley feiert gern?«, fragte Lia. »Besonders an Silvester?«

Ich löste mich von dem Bild Thomas Wesleys und mein Blick wanderte zurück zu dem Alexandras. Du und ein paar Freundinnen, ihr dachtet, es wäre ein Riesenspaß, Silvester in Vegas zu verbringen. Du warst zu einer Party eingeladen. Vielleicht sogar zu der Party. Ihr Kleid war türkis. Sie trug schwarze, hochhackige Schuhe. Ein Absatz war abgebrochen. Wie ist der Absatz abgebrochen?

Bist du gerannt? Hast du dich gewehrt?

»Hat sie blaue Flecken?«, fragte ich. »Irgendwelche Anzeichen, dass sie unter Wasser gehalten wurde?«

Irgendwelche Anzeichen, dass sie sich gewehrt hat?

Agent Mullins schüttelte den Kopf. »Es gab keine Anzeichen für einen Kampf. Ihr Alkoholspiegel war so hoch, dass die Polizei von einem Unfall ausging. Tragisch, aber strafrechtlich nicht relevant.« Das würde erklären, warum die Polizei die ersten beiden Opfer nicht miteinander in Verbindung gebracht hatte. Sie hatten nicht einmal erkannt, dass Alexandra ein Mordopfer war.

»Woher wissen wir, dass es kein Unfall war?« Lia schwang die Beine über die Kante ihres Sitzes und ließ sie baumeln.

»Die Visitenkarte«, antworteten Dean und ich gleichzeitig.

Ich richtete meinen Fokus von Alexandra auf das UNSUB. Du hast es wie einen Unfall aussehen lassen, aber du hast etwas zurückgelassen, das der Polizei verrät, dass es kein Unfall war. Wenn sie schlau genug wären, die Puzzleteile zusammenzusetzen, würden sie es erkennen. Sehen, was du getan hast. Die Eleganz darin sehen.

Bemerken, wie schlau du bist.

»Was war es?« Ich wiederholte die Frage, die Dean zuvor gestellt hatte. »Was hat das UNSUB hinterlassen?«

Wieder ein Klicken Briggs’, ein weiteres Bild auf dem Monitor, diesmal eine Nahaufnahme von Alexandras Handgelenk. Ihr Arm lag auf dem Beton, die Handfläche zeigte nach oben. Ich konnte die Adern unter ihrer Haut sehen, und direkt darüber, am äußeren Rand des Handgelenks, waren vier Zahlen in kunstvoller Schrift auf ihre Haut tätowiert: 3213. Die Tinte war dunkelbraun und hatte einen leichten Orangestich.

»Henna«, schlug Sloane vor und spielte mit dem Rand ihres Ärmels, wobei sie den Blickkontakt zu uns sorgfältig vermied. »Ein Farbstoff, der aus der Blütenpflanze Lawsonia inermis gewonnen wird. Henna-Tätowierungen sind nicht dauerhaft und etwa zwanzigmal seltener als bleibende Tätowierungen.«

Ich spürte, wie Dean neben mir diese Information verarbeitete. Sein Blick war auf das Bild geheftet, als könnte er es zwingen, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. »Das Tattoo auf ihrem Handgelenk«, sagte er. »Ist das die Visitenkarte?«

Du hinterlässt nicht nur Botschaften. Du hinterlässt sie auf den Körpern deiner Opfer.

»Gibt es eine Möglichkeit, den Zeitpunkt der Tätowierung zu bestimmen?«, fragte ich. »Hat er sie erst tätowiert und dann ertränkt, oder hat er sie ertränkt und dann tätowiert?«

Briggs und Mullins tauschten Blicke aus. »Weder noch.« Mullins beantwortete die Frage. »Laut ihren Freundinnen hat sie sich das Tattoo selbst machen lassen.«

Während wir noch darüber nachdachten, rief Briggs ein neues Foto auf. Ich versuchte wegzusehen, aber es gelang mir nicht. Der Körper auf dem Bildschirm war mit Blasen und Verbrennungen übersät. Man konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Es gab nur einen Fleck unversehrter Haut.

Das rechte Handgelenk.

Briggs zeigte uns eine Großaufnahme.

»4 – 5 – 5 – 8.« Sloane las laut vor. »3 – 2 – 1 – 3. 4 – 5 – 5 – 8.« Sie unterbrach sich, aber ihre Lippen bewegten sich weiter, während sie die Zahlen stumm wiederholte.

Währenddessen starrten Dean und ich auf das Foto.

»Diesmal kein Henna«, sagte er. »Diesmal habe ich die Zahlen in die Haut der Zielperson eingebrannt.«

Mein bevorzugtes Pronomen beim Profiling war du. Ich sprach mit dem Mörder, mit den Opfern. Aber wenn Dean in den Kopf eines UNSUBs schlüpfte, wurde er der Mörder. Er beging den Mord.

Angesichts dessen, wer und was sein Vater gewesen war – und Deans ständiger Sorge, eine Spur von dessen Monstrosität geerbt zu haben –, überraschte mich das nicht. Jedes Mal, wenn er in den Profiler-Modus schaltete, stellte er sich dieser Angst.

»Vermutlich werden Sie uns gleich mitteilen, dass sich Opfer Nummer zwei die Zahlen selbst auf den Arm gebrannt hat?«, fragte Lia Briggs. Sie gab sich ungerührt von der Grausamkeit des Gesehenen, aber mir konnte sie nichts vormachen. Lia war eine Expertin darin, ihre wahren Gefühle zu verbergen und nur das zu offenbaren, was sie der Welt zeigen wollte.

»Sozusagen.« Briggs rief ein weiteres Bild auf. Es zeigte eine Art Armband. In das dicke Material, aus dem es gefertigt war, waren vier Metallzahlen eingestanzt: 4558, aber seitenverkehrt – ein Spiegelbild der Zahlen auf der Haut des Opfers.

Agent Mullins klärte uns auf. »Feuerhemmendes Material. Als unser Opfer in Brand gesteckt wurde, erhitzte sich das Metall, aber nicht der Stoff, sodass darunter ein deutlich sichtbares Brandmal zurückblieb.«

»Unseren Quellen zufolge erhielt das Opfer das Armband zusammen mit einem Paket Fanpost«, fuhr Briggs fort. »Der Umschlag, in dem es verschickt wurde, ist verschwunden.«

»Fanpost?«, fragte ich. »Also ist das Opfer … wer?«

Als Antwort auf meine Frage erschien ein weiteres Bild auf dem Monitor, diesmal von einem jungen Mann Anfang zwanzig. Sein Gesicht war markant und hager, die scharfen Konturen wurden durch violette Augen – vermutlich Kontaktlinsen – noch betont.

»Sylvester Wilde.« Lia ließ einen Fuß lautstark auf den Boden fallen. »Der Houdini der Jetztzeit, Illusionist, Hypnotiseur und Alleskönner.« Sie hielt inne und übersetzte für den Rest von uns. »Er ist ein Bühnenmagier – und wie die meisten seiner Art ein ausgezeichneter Lügner.«

Für Lia war das ein Kompliment.

»Er hatte eine Abendshow«, fügte Briggs hinzu, »im Wonderland.«

»Ein weiteres Casino«, bemerkte Dean nachdenklich.

»Ein weiteres Casino«, bestätigte Agent Mullins. »Mr Wilde war mitten in seiner Abendvorstellung am zweiten Januar, als er sich – allem Anschein nach – versehentlich selbst in Brand steckte.«

»Ein weiterer Unfall.« Dean neigte den Kopf leicht zur Seite, die Haare fielen ihm ins Gesicht. Er konzentrierte sich so stark, dass ich es an der Haltung seiner Schultern und seines Rückens erkennen konnte.

»Zumindest dachten das die Ermittler«, sagte Agent Briggs. »Bis …«

Ein letztes Foto, ein letztes Opfer.

»Eugene Lockhart. Achtundsiebzig. Er war Stammgast im Desert Rose Casino. Er kam einmal in der Woche mit einer kleinen Gruppe aus einem örtlichen Altersheim.« Briggs erwähnte nicht, wie Eugene gestorben war.

Das war auch nicht nötig.

Ein Pfeil ragte aus der Brust des alten Mannes.

Kapitel 6 

Warum inszenierte ein Killer zunächst Unfälle, um dann am helllichten Tag jemanden mit einem Pfeil zu erschießen?

Während der Jet in Las Vegas landete, ging mir diese Frage immer wieder durch den Kopf. Unser Briefing war mit dem Bild Eugene Lockharts, dem ein Pfeil ins Herz geschossen worden war, noch nicht beendet gewesen, aber es war der Moment, in dem sich alle meine bisherigen Annahmen über diesen Killer zu ändern begannen.

Ich spürte, wie Dean neben mir ebenfalls über das Gehörte und Gesehene nachgrübelte. Als Naturtalente können wir die Teile unseres Gehirns, die anders funktionieren als die anderer Menschen, nicht einfach abschalten. Lia konnte nicht aufhören, Lügen zu erkennen. Sloane sah überall Zahlen. Michael konnte nicht anders, als die kleinste Regung im Gesicht eines Menschen zu registrieren.

Und Dean und ich setzten zwanghaft Menschen wie Puzzles zusammen.

Ich hätte nicht damit aufhören können, selbst wenn ich es gewollt hätte – und da mir klar war, auf was sich mein Gehirn stürzen würde, sobald ich mich nicht mehr mit diesem Fall beschäftigte, kämpfte ich auch nicht dagegen an.

Verhalten. Persönlichkeit. Umgebung. Das Verhalten selbst der monströsesten Mörder hatte einen Sinn und einen Zweck. Um ihre Motive zu entschlüsseln, musste man versuchen, sich in das UNSUB hineinzuversetzen und die Welt so zu betrachten, wie er oder sie es tat.

Du wolltest, dass die Polizei weiß, dass Eugene Lockhart ermordet wurde, dachte ich und begann mit dem Offensichtlichen. Menschen werden nicht mitten in einem belebten Casino »versehentlich« mit Jagdpfeilen erschossen. Im Vergleich zu den vorherigen Morden war das ein echter Hingucker. Du wolltest, dass die Polizei aufmerksam wird. Du wolltest, dass sie genauer hinschauen. Sehen, was du getan hast. Dich sehen.

Bist du es gewohnt, unbemerkt zu bleiben?

Bist du es leid?

Ich ging noch einmal durch, was uns gesagt worden war. Neben der vierstelligen Zahl, die mit Filzstift auf das Handgelenk des alten Mannes geschrieben worden war, hatte die Forensik auch eine Botschaft auf dem tödlichen Pfeil gefunden.

Tertium.

Ein lateinisches Wort, das so viel wie »zum dritten Mal« bedeutete.

Also untersuchte die Polizei alle Todesfälle der letzten Zeit und entdeckte die Zahlen, die auf das Handgelenk von Alexandra Ruiz tätowiert und auf das von Sylvester Wilde eingebrannt waren.

Warum Latein? Diese Frage ließ mich nicht los. Hältst du dich für einen Intellektuellen? Oder hat der Gebrauch der lateinischen Sprache eine rituelle Bedeutung? Angesichts dieser Möglichkeit lief mir ein leichter Schauer über den Rücken. Rituell in welcher Hinsicht?

Ohne es zu wollen, lehnte ich mich an Dean. Seine braunen Augen begegneten meinen, und ich fragte mich, was er wohl dachte. Ob es ihn auch schaudern ließ, wenn er sich in die Gedanken dieses Mörders vertiefte.

Dean legte eine Hand auf meinen Arm, sein Daumen fuhr über die Rückseite meines Handgelenks.

Lia, die uns gegenübersaß, betrachtete unsere Hände und führte dann ihre eigene mit einer melodramatischen Bewegung an ihre Stirn. »Ich bin ein düsterer und ängstlicher Profiler«, sagte sie. »Nein«, widersprach sie im Falsettton und hob die andere Hand, »ich bin eine düstere und ängstliche Profilerin. Unsere Liebe steht unter einem ungünstigen Stern.«

Im vorderen Teil des Flugzeugs hörte ich Judd husten. Vermutlich unterdrückte er ein Lachen.

»Sie haben uns nie verraten, warum die örtlichen Behörden so schnell das FBI eingeschaltet haben«, sagte ich zu Agent Briggs, löste mich von Dean und versuchte, Lia abzulenken, bevor sie unsere ganze Beziehung nachspielen konnte.

Das Flugzeug landete. Lia stand auf, streckte sich und bog ihren Rücken durch, bevor sie den Köder schluckte. »Und?«, fragte sie die Agenten. »Möchten Sie der Klasse etwas mitteilen?«

Briggs fasste sich kurz. »Drei Morde in drei verschiedenen Casinos in drei Tagen. Die Kasinobesitzer sind natürlich beunruhigt.«

Lia griff nach ihrer Tasche und hängte sie sich ordentlich über eine Schulter. »Ich schätze mal«, sagte sie, »die Casinobesitzer fürchten, dass die Morde schlecht fürs Geschäft sind. Deshalb haben sie ihren beträchtlichen politischen Einfluss geltend gemacht, damit die örtlichen Behörden die Experten einschalten.« Ein langsames, gefährliches Lächeln breitete sich auf Lias Lippen aus. »Hoffentlich bedeutet das, dass dieselben Casinobesitzer auch dafür sorgen werden, dass wir die Vegas-VIP-Behandlung kriegen?«

Ich sah förmlich die Fantasien von Nachtclubs und VIP-Lounges in Lias Kopf.

Briggs dachte vermutlich etwas Ähnliches, denn er machte ein grimmiges Gesicht. »Das ist kein Spiel, Lia. Wir sind nicht zum Vergnügen hier.«

»Und«, fügte Agent Mullins streng hinzu, »du bist minderjährig.«

»Zu jung, um zu feiern, aber alt genug, um dem FBI bei einem Serienmordfall zu helfen.« Lia seufzte tief. »Das ist die Tragödie meines Lebens.«

»Lia.« Dean warf ihr seine eigene Version von Briggs’ Blick zu.

»Ich weiß, ich weiß, ich soll die netten FBI-Agenten nicht ärgern«, spottete Lia, schaltete aber einen Gang zurück. »Bekommen wir wenigstens unsere Zimmer bezahlt?«, fragte sie.

Briggs und Mullins sahen sich kurz an.

»Das FBI bekommt eine kostenlose Suite im Desert Rose gestellt«, antwortete Judd für sie. »Für uns habe ich zwei Zimmer in einem einfachen Hotel in der Nähe des Strip gebucht.«

Mit anderen Worten: Judd wollte eine gewisse Distanz zwischen uns und der Operationsbasis des FBI wahren. Da ich in den letzten sechs Monaten nicht nur von einem, sondern gleich von zwei UNSUBs gefangen gehalten worden war, hatte ich nichts dagegen, wenn wir so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregten.

»Sloane«, sagte Dean plötzlich und lenkte meine Aufmerksamkeit in ihre Richtung. »Geht es dir gut?«

Sloane fletschte die Zähne zu dem wahrscheinlich größten und falschesten Lächeln, das ich je gesehen hatte. Sie erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht. »Ich trainiere mein Lächeln nicht«, sagte sie schnell. »Manchmal machen Gesichter von Leuten das einfach.«

Ihre Bemerkung wurde von allen im Flugzeug mit Schweigen quittiert.

Sloane wechselte schnell das Thema. »Wusstet ihr, dass es in New Hampshire mehr Hamster pro Kopf gibt als in jedem anderen Bundesstaat?«

Ich war es gewohnt, dass Sloane wahllos Statistiken ausspuckte, aber da wir gerade in Las Vegas gelandet waren, hätte ich etwas thematisch Passenderes erwartet. Doch dann wurde es mir klar – Vegas.

Sloane war in Vegas geboren und aufgewachsen.

Wir hatten alle keine normale Kindheit, sonst wären wir keine Naturtalente. Ich wusste nicht viel über Sloanes Vorgeschichte, hatte nur hier und da etwas aufgeschnappt. Sloane war zu Weihnachten nicht nach Hause gefahren. Ebenso wie Lia und Dean hatte sie kein Zuhause, wo sie hinkonnte.

»Geht es dir gut?«, fragte ich sie leise.

»Ja«, piepste Sloane. »Mir geht’s gut.«

»Dir geht’s nicht gut«, sagte Lia unverblümt. Dann langte sie hinüber und zog Sloane hoch. »Aber überlass mir in den nächsten Tagen die Verantwortung für deine Lebensentscheidungen und es wird dir bald besser gehen.« Lia unterstrich ihre Worte mit einem strahlenden Lächeln.

»Deine statistische Bilanz in Sachen Entscheidungsfindung ist etwas beunruhigend«, erwiderte Sloane ernst. »Aber ich bin bereit, das zu überdenken.«

Briggs legte eine Hand an die Schläfe. Mullins öffnete den Mund – wahrscheinlich, um Lia klarzumachen, dass sie für niemanden Entscheidungen bezüglich Las Vegas treffen würde, nicht mal für sich selbst –, aber Judd sah der Agentin in die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Er hatte eine Schwäche für Sloane, und jeder in diesem Flugzeug wusste, dass sie nicht glücklich darüber war, wieder hier zu sein.

»Zuhause ist kein Ort, Cassie.« Die Erinnerungen krochen in mir hoch. »Zuhause, das sind die Menschen, die dich am meisten lieben, die dich immer lieben werden, für immer und ewig, egal, was passiert.«

Ich stand auf und kämpfte gegen die Erinnerung an. Ich durfte nicht an meine Mutter denken. Wir waren nicht grundlos in Vegas. Es gab etwas zu tun.

Die Tür des Jets öffnete sich. Agent Briggs drehte sich zu Agent Mullins um. »Nach dir.«

DU

Drei ist die Zahl. Die Seitenzahl eines Dreiecks. Eine Primzahl. Eine heilige Zahl.

Drei.

Dreimal drei.

Dreimal drei mal drei.

Du lässt die Fingerspitzen über die Kante einer Pfeilspitze gleiten. Du bist ein guter Schütze. Das wusstest du schon immer. Aber das Töten des alten Mannes hat dir keine Freude bereitet. Du ziehst das lange Spiel vor, die sorgfältige Planung, das Aufstellen von Dominosteinen in Schleifen und Reihen, bis du nur noch einen einzigen umstoßen musst ...

Das Mädchen im Pool.

Die Flammen, die die Haut von Nummer zwei verbrennen.

Perfekt. Elegant. Viel besser, als den alten Mann zu durchbohren. Aber die Dinge haben ihre Ordnung. Es gibt Regeln. Und so musste es sein. Der dritte Januar. Der Pfeil. Ein alter Mann zur falschen Zeit am falschen Ort.

Hast du ihre Aufmerksamkeit erregt?

Du steckst die Pfeilspitze ein. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt würden drei reichen. Du könntest mit drei zufrieden sein.

Drei ist eine gute Zahl.

Aber in diesem Leben, in dieser Welt, reichen drei nicht aus. Du kannst nicht aufhören. Das wirst du auch nicht.

Wenn du ihre Aufmerksamkeit noch nicht hast, wirst du sie bald haben.

Kapitel 7 

Den größten Teil meiner Kindheit hatte ich in billigen Motels und Apartmenthäusern gewohnt, in denen die Miete wochenweise bezahlt wurde. Im Vergleich zu den Unterkünften, in denen meine Mutter und ich gehaust hatten, sah das Hotel, das Judd für uns gebucht hatte, ganz passabel aus – wenn auch ein bisschen heruntergekommen.