Copy - David Brin - E-Book

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David Brin

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Beschreibung

Doppelgänger mit Verfallsdatum

Stellen Sie sich vor, Sie könnten eine Kopie Ihres Körpers anfertigen lassen – eine Kopie, die genauso aussieht, genauso handelt und genauso denkt wie Sie. Eine Kopie jedoch, deren Lebenszeit auf wenige Stunden begrenzt ist. Was würden Sie mit dieser Kopie tun? Oder anders gefragt: Was würde diese Kopie mit Ihnen tun?
Albert Morris ist Privatdetektiv. Unangenehme oder gefährliche Recherchen überlässt er den Ditos, seinen Kopien, die zwar über seine Erinnerungen verfügen, aber nur 24 Stunden lang überleben. Als Yosil Maharal, einer der Mitbegründer des Konzerns, der die Rohlinge für die Ditos herstellt, erst spurlos verschwindet und dann tot aufgefunden wird, beauftragt dessen Tochter Ritu Morris mit den Ermittlungen. Sie ist davon überzeugt, dass ihr Vater ermordet wurde. Als Morris‘ Ditos anfangen, sich eigenartig zu benehmen, ahnt er, dass weit mehr hinter der Geschichte steckt als nur ein Mord …

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DAVID BRIN

COPY

Roman

Das Buch

Stellen Sie sich vor, Sie könnten eine Kopie Ihres Körpers anfertigen lassen – eine Kopie, die genauso aussieht, genauso handelt und genauso denkt wie Sie. Eine Kopie jedoch, deren Lebenszeit auf wenige Stunden begrenzt ist. Was würden Sie mit dieser Kopie tun? Oder anders gefragt: Was würde diese Kopie mit Ihnen tun?

Albert Morris ist Privatdetektiv. Unangenehme oder gefährliche Recherchen überlässt er den Ditos, seinen Kopien, die zwar über seine Erinnerungen verfügen, aber nur 24 Stunden lang überleben. Als Yosil Maharal, einer der Mitbegründer des Konzerns, der die Rohlinge für die Ditos herstellt, erst spurlos verschwindet und dann tot aufgefunden wird, beauftragt dessen Tochter Ritu Morris mit den Ermittlungen. Sie ist davon überzeugt, dass ihr Vater ermordet wurde. Als Morris' Ditos anfangen, sich eigenartig zu benehmen, ahnt er, dass weit mehr hinter der Geschichte steckt als nur ein Mord …

Der Autor

David Brin, 1950 im amerikanischen Glendale geboren, studierte Astronomie und Physik und arbeitete lange als Wissenschaftler und Dozent, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mittlerweile gehört er zu den bedeutendsten amerikanischen Science-Fiction-Autoren der Gegenwart und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten. Besonders mit seinem Roman »Existenz« ist ihm eine der eindrucksvollsten Zukunftsvisionen der Science Fiction gelungen. David Brin lebt in Südkalifornien.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

KILN PEOPLE

Aus dem Amerikanischen von Andreas Brandhorst

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 2002 by David Brin

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Für Poul Anderson, der für uns alle forschte und die Zukunft zu einem Spaß machte … und Greg Bear, der es mit jedem Schatten aufnimmt, mit Elan … und Gregory Benford, der sachliche Schönheit im dunklen Ozean der Nacht ergründet … sie alle sind Schamanen am Lagerfeuer.

ERSTER TEIL

ADIEU! ICHMUSSNOCHMALSINS STREITGEBRÜLL, VERDAMMNISUNDERREGTEN STAUBDARIN DURCHRASEN, KOSTENMUSSERNEUTMEIN SINN …

DOCH, WENNICHGANZDEM FEUERUNTERLIEGE, AUF PHÖNIXSCHWINGENGENMEIN SEHNENFLIEGE.

JOHN KEATS: »AUFDAS SICH-HINSETZEN, UMNOCHMALS ›KÖNIG LEAR‹ ZULESEN«

1

EINGUTER KOPFFÜR WEIN

… ODERWIE MONTAGSGRÜNER DITOLIEBE ERINNERUNGENVOM FLUSSBRINGT …

Es ist schwer, freundlich zu bleiben, während man um sein Leben kämpft, auch wenn das Leben nicht viel bedeutet. Auch wenn man nur ein Klumpen Ton ist.

EIN GESCHOSS – EIN STEIN, glaube ich – klatschte nur wenige Zentimeter entfernt an die Wand, und stechende Splitter spritzten mir ins Gesicht. Es gab nichts, wohinter ich mich ducken konnte, nur eine überfüllte Mülltonne. Ich nahm den Deckel ab und schwang ihn herum.

Gerade noch rechtzeitig. Ein zweites Geschoss prallte gegen den Deckel und verbeulte Plastik statt meiner Brust.

Jemand wollte mich erledigen.

Noch vor wenigen Momenten hatte ich geglaubt, mich in der Gasse verstecken und dort Luft schnappen zu können, doch jetzt verriet mich ihre kalte Dunkelheit. Selbst ein Dito gibt ein wenig Körperwärme ab. Beta und seine Gang trugen keine Waffen in diesem Teil der Stadt – das würden sie nicht wagen –, aber ihre Schleudern waren mit Infrarotvisieren ausgestattet.

Ich musste der verräterischen Dunkelheit entkommen. Während der Schütze nachlud, hob ich meinen improvisierten Schild und eilte den hellen Lichtern des Odeon-Distrikts entgegen.

Das war riskant. Dort wimmelte es von Archis, die in Cafés saßen oder in der Nähe von noblen Theatern herumliefen. Pärchen schlenderten Arm in Arm am Kai und genossen die Brise vom Fluss. Nur einige wenige Bunte wie ich waren zu sehen, hauptsächlich Kellner, die die Höheren mit der farblosen Haut an den überdachten Tischen bedienten.

Ich war bestimmt nicht willkommen in dieser Zone, wo Eigentümer zusammenströmten, um sich an ihrem langen, sinnlichen Leben zu erfreuen. Aber wenn ich in den Seitenstraßen blieb, würden mich meine eigenen Artgenossen zu Fischfutter zerhacken. Deshalb beschloss ich, ein Risiko einzugehen.

Verdammt, hier ist es voll, dachte ich, als ich mir einen Weg über den Platz suchte und zu vermeiden hoffte, gegen einen der bummelnden Archis zu stoßen. Mein Gesichtsausdruck war ernst – als hätte ich einen legitimen Grund, hier zu sein –, aber bestimmt fiel ich so sehr auf wie eine Ente unter Schwänen, und nicht nur wegen der Hautfarbe. Meine zerrissene Papierkleidung erregte Aufmerksamkeit. Außerdem ist es schwer, unauffällig zu bleiben, während man seine lebenswichtigen Organe mit einem zerbeulten Mülltonnendeckel schützt.

Wieder schlug etwas gegen das Plastik. Ich sah zurück und beobachtete, wie eine gelbe Gestalt ihre Schleuder sinken ließ, um sie erneut zu laden. Hinter ihr spähten weitere Gestalten aus den Schatten und sprachen vermutlich darüber, wie sie mich erwischen konnten.

Ich stürzte mich in die Menge. Würden sie weiter schießen und riskieren, eine echte Person zu treffen?

Der uralte Instinkt – von jenem in meinen tönernen Körper gebrannt, der mich geschaffen hatte – verlangte zu laufen. Doch ich bekam es jetzt mit anderen Gefahren zu tun; sie gingen von den Archetyp-Menschen um mich herum aus. Ich versuchte, alle Höflichkeitsregeln zu beachten, verbeugte mich und trat zur Seite, wenn Pärchen nur wegen eines Ditos nicht ausweichen oder langsamer gehen wollten.

Ein oder zwei Minuten lang gab ich mich falschen Hoffnungen hin. Frauen sahen meistens an mir vorbei, als existierte ich überhaupt nicht. Die Männer waren eher verwirrt als feindselig. Ein überraschter Bursche machte sogar für mich Platz, als wäre ich real. Ich lächelte. Eines Tages erweise ich deinem Dito den gleichen Gefallen, Kumpel.

Doch der nächste Mann gab sich nicht damit zufrieden, dass ich für ihn beiseite trat. Sein Ellenbogen versetzte mir einen kurzen Stoß, en passant, und helle Augen glitzerten, forderten mich zu einer Beschwerde heraus.

Ich verbeugte mich, rang mir ein schmeichlerisches entschuldigendes Lächeln ab, wich für den Archi zur Seite und versuchte, mich auf eine angenehme Erinnerung zu konzentrieren. Denk ans Frühstück, Albert. An den angenehmen Geruch von Kaffee und frisch gebackenen Muffins. Einfache Freuden, die ich vielleicht wieder genießen konnte, wenn ich die Nacht überstand.

»Ich« werde sie ganz bestimmt wieder genießen, sagte eine innere Stimme. Selbst wenn dieser Körper es nicht schafft.

Ja, kam die Antwort. Aber das werde nicht ich sein. Nicht genau.

Ich schüttelte das alte existenzielle Dilemma ab. Eine billige Gebrauchskop wie ich kann ohnehin nichts riechen. Derzeit fiel es mir schwer genug, das Konzept zu begreifen.

Der blauäugige Bursche zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Doch im nächsten Augenblick traf etwas dicht neben meinem linken Fuß aufs Pflaster, prallte ab und raste über den Platz.

Beta musste verzweifelt sein, wenn er mit Steinen auf mich schoss, obwohl ich von realen Bürgern umgeben war! Die Leute sahen sich um. Einige finstere Blicke richteten sich auf mich.

Und wenn ich daran denke, dass der Morgen so gut begonnen hat.

Ich versuchte mich zu beeilen und schaffte einige weitere Meter über den Platz, bevor ein Trio aus jungen Männern mich anhielt. Es waren gut gekleidete junge Archis, und sie versperrten mir den Weg.

»Seht euch diesen Mistkerl an«, sagte einer von ihnen. Ein anderer, mit modisch durchsichtiger Haut und roten Augen, richtete den Ziegefinger auf mich. »He, Dito! Warum so hastig? Du kannst dir trotzdem kein Leben danach erhoffen! Wer will dich so abgerissen zurück?«

Ich wusste, wie ich aussah. Betas Gang hatte mich ganz schön in die Mangel genommen, bevor mir die Flucht geglückt war. Außerdem trennten mich nur noch ein oder zwei Stunden vom Ablauf, und mein rissiges Pseudofleisch zeigte klare Anzeichen von Enzymzerfall. Der Albino lachte über den Mülleimerdeckel, den ich als Schild benutzte. Er schniefte laut und rümpfte die Nase.

»Stinkt auch noch. Wie Müll. Verdirbt mir den Appetit. He! Vielleicht gibt uns das Grund zu einer Zivilklage, was meint ihr?«

»Ja, wie wär's damit, Golem?«, spottete der Große. »Gib uns den Code deines Eigentümers. Soll er uns für die entgangene Mahlzeit entschädigen!«

Ich hob beschwichtigend die Hand. »Ich bitte euch, Jungs. Mein Original hat mich mit einer dringenden Sache beauftragt, und ich muss jetzt wirklich nach Hause. Ihr habt es sicher nicht gern, wenn eure Ditos aufgehalten werden.«

Hinter dem Trio sah ich die laute Geschäftigkeit der Upasstraße. Wenn ich es doch nur bis zum Taxistand oder gar zum Polizeikiosk in der Verteidigungsavenue schaffen konnte. Für eine kleine Gebühr würde man mir gekühlte Zuflucht gewähren, bis mein Eigentümer kam.

»Dringend, wie?«, fragte der Große. »Wenn dein Rig dich selbst in diesem Zustand will, so lässt er bestimmt was springen, um dich wiederzubekommen, nicht wahr?«

Der dritte junge Mann, ein untersetzter Bursche mit dunkelbrauner Haut und kurzem Haar, zeigte mehr Anteilnahme als seine Begleiter.

»Ach, lasst den armen Grüni in Ruhe. Ihr seht doch, wie sehr er nach Hause zurück möchte, um dort auszupacken. Wenn wir ihn aufhalten, verklagt der Eigentümer vielleicht uns.«

Eine verlockende Drohung. Selbst der Albino zögerte und schien bereit zu sein, es dabei bewenden zu lassen.

Dann schoss Betas Schütze in der Gasse erneut und traf mich am Oberschenkel, dicht unter dem Mülldeckel.

Jedem, der schon einmal gedoppelt und einen Inload durchgeführt hat, ist bekannt, dass Pseudofleisch Schmerz empfinden kann. Feurige Pein ließ mich gegen einen der Jugendlichen prallen. Er stieß mich fort und schrie.

»Weg mit dir, du stinkendes Ding! Habt ihr das gesehen? Es hat mich berührt!«

»Dafür wirst du bezahlen, du Stück Ton«, fügte der Große hinzu. »Zeig mir dein Etikett.«

Ich zitterte noch immer und drehte mich, sodass er zwischen mir und der Gasse stand. Meine Verfolger würden jetzt bestimmt nicht schießen und riskieren, einen Archi zu treffen.

»Narr«, sagte ich. »Siehst du nicht, dass man auf mich geschossen hat?«

»Und wenn schon«, schnaufte der Albino abfällig. »Meine Dits werden immer wieder bei Org-Kriegen zerfetzt, aber ich jammere nicht darüber. Und ich bringe auch keinen Kampf in den Odeon, ausgerechnet hierher! Zeig uns jetzt dein Etikett.«

Er streckte die Hand aus, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu der Stelle unter meiner Stirn zu tasten, wo sich das ID-Implantat befand. Ein Golem-Duplikat muss sein Etikett einer Realperson zeigen, wenn sie es verlangt. Dieser Zwischenfall würde mich einiges kosten … Besser gesagt, er würde meinen Schöpfer einiges kosten – vorausgesetzt, ich würde es in der nächsten Stunde nach Hause schaffen.

»Na schön, ruf einen Polizisten oder einen Arbiter«, sagte ich und fummelte an dem Lappen aus Pseudohaut. »Dann werden wir sehen, wer eine Strafe zahlen muss, Blödmann. Ich spiele keine Simkampf-Spiele. Du behinderst das Duplikat eines … Detektivs. Die Leute, die auf mich schießen, sind echte Kriminelle …«

Ich sah, wie Gestalten aus der Gasse kamen. Gelbhäutige Mitglieder von Betas Gang … Sie strichen Papierkleidung glatt und versuchten, in der Menge aus dahinschlendernden Archis harmlos auszusehen. Immer wieder verneigten sie sich und wichen beiseite, wie respektvolle Botenjungen, die es nicht verdienten, beachtet zu werden. Aber sie beeilten sich.

Verdammt. Ich hatte Beta noch nie so verzweifelt erlebt.

»… und mein Gehirn enthält Informationen, die dazu beitragen können, einen wichtigen Fall zu lösen. Möchtest du dafür verantwortlich sein, das zu verhindern?«

Zwei der drei Jugendlichen wichen verunsichert zurück. Ich fügte noch etwas mehr Druck hinzu. »Wenn ihr mir nicht gestattet, den Angelegenheiten meines Eigentümers nachzugehen, wird er euch wegen Behinderung bei legalen Geschäften verklagen!«

Andere Leute wurden aufmerksam und näherten sich. Dadurch kam Betas Gruppe vielleicht langsamer voran, aber die Zeit war nicht auf meiner Seite.

Der dritte Idiot – der Bursche mit der künstlichen transparenten Haut – ließ sich leider nicht einschüchtern. Er klopfte auf seinen Armschirm.

»Giga. Ich habe genug Kohle für eine hohe Strafe auf der Bank. Wenn wir den Eigentümer dieses Dits bezahlen müssen, so sollten wir uns wenigstens den Spaß gönnen, ihn richtig aufzuhalten.«

Er schloss die Hand um meinen Arm und drückte mit der Kraft gut entwickelter Muskeln zu. Und es waren richtige Muskeln, nicht meine anämischen Imitationen. Der Griff tat weh, aber noch schlimmer war die Erkenntnis, dass ich es übertrieben hatte. Wenn ich still geblieben wäre, hätten sie mich vielleicht gehen lassen. Jetzt bestand die Gefahr, dass die Daten in diesem Gehirn verloren gingen und Beta gewann.

Der junge Mann holte mit der Faust aus und zog für die Menge eine Schau ab. Er wollte mir mit einem Schlag das Genick brechen.

»Lass das arme Ding gehen«, brummte jemand, aber lautere Stimmen feuerten den Jugendlichen an.

Genau in diesem Augenblick hallte ein Klirren über den Platz. Stimmen fluchten laut. Die Zuschauer drehten sich um und sahen zu einem nahen Restaurant, wo Gäste von einem Durcheinander aus verschütteten Getränken und zerbrochenem Glas fortsprangen. Ein Hilfskellner mit grüner Haut ließ sein Tablett fallen, murmelte Entschuldigungen und wischte mit einem Lappen Glassplitter von den aufgebrachten Gästen. Dann rutschte er aus und riss einen Gast mit sich zu Boden, als er auf spektakuläre Weise fiel. Gelächter erklang aus der Menge, als der Oberkellner nach draußen kam, mit dem Grüni schimpfte und die nassen Gäste zu beruhigen versuchte.

Für einen Augenblick beobachtete mich niemand, abgesehen vom Albino, den es offenbar ärgerte, dass er sein Publikum verloren hatte.

Der Hilfskellner trug dick auf, als er fortfuhr, verärgerte Archis mit seinem nassen Tuch zu betupfen. Er sah kurz in meine Richtung, und ich registrierte sein knappes Nicken.

Nutze die Gelegenheit und verschwinde von hier.

Ich reagierte sofort, griff mit der freien Hand in die Tasche und holte eine dünne Karte hervor, allem Anschein nach eine gewöhnliche Kreditscheibe. Als ich sie drückte, erschien an der Kante ein silbriges Licht, begleitet von einem scharfen Summen.

Der Albino riss die rötlichen Augen auf. Ditos sollen eigentlich keine Waffen tragen, vor allem keine illegalen. Doch der Anblick schreckte ihn nicht ab. Er griff noch fester zu, und mir wurde klar, dass ich es mit einem Sportler zu tun hatte, einem Spieler, der bereit war, Realfleisch zu riskieren, wenn es ihm etwas Neues brachte. Eine Erfahrung.

Immer fester wurde der Griff. Du traust dich nicht, sagte sein gehässiger Blick.

Ich tat ihm den Gefallen und machte den Schnitt. Die zischende Klinge drang tief ins Fleisch.

Für einen Augenblick schienen Schmerz und Zorn den Raum zwischen uns zu füllen. Sein Schmerz oder meiner? Sein Zorn und seine Überraschung, so viel stand fest – und doch gab es einen Sekundenbruchteil der Empathie, der mich mit diesem zähen jungen Burschen vereinte, eine Brücke baute zur Angst in ihm, zu seinem verletzten, überheblichen Stolz. Zur Agonie, eine isolierte Seele inmitten einsamer Milliarden zu sein.

Das Zögern wäre mich vielleicht teuer zu stehen gekommen, wenn es länger als einen Herzschlag gedauert hätte. Doch während der Albino noch den Mund zu einem Schrei öffnete, wirbelte ich herum und lief los. Ich duckte mich durch die wogende Menge, als der junge Mann hinter mir zornig fluchte und einen blutigen Armstumpf hob.

Meinen blutigen Stumpf. Meine abgetrennte Hand öffnete und schloss sich mehrmals vor dem Gesicht des Albinos, bis er das zuckende Ding voller Abscheu fortwarf.

Bei jenem Blick zurück bemerkte ich auch zwei von Betas Gelben, die zwischen verwirrten Archis hin und her sprangen und sogar so dreist waren, einige von ihnen beiseite zu schieben. Sie luden ihre kleinen Handkatapulte erneut mit Steinen, um auf mich zu schießen. In all dem Durcheinander machten sie sich überhaupt keine Gedanken über Zeugen oder Geldstrafen wegen zivilen Dit-Ungehorsams. Es ging ihnen allein darum, mich aufzuhalten.

Sie mussten mich daran hindern, die Informationen in meinem sich langsam zersetzenden Gehirn zu überbringen.

Bestimmt bot ich einen interessanten Anblick, als ich mit zerrissener Kleidung und abgeschnittenem Arm über den Platz lief, wie ein Irrer brüllte und verblüffte Archis aufforderte, mir aus dem Weg zu gehen. In jenem Moment war ich nicht sicher, ob ich es schaffen konnte. Vielleicht machte sich bereits die Ablaufsenilität bemerkbar, und durch Pseudoschock und Organermüdung wurde alles noch schlimmer.

Vom Aufruhr alarmiert kam aus der Vierten Straße ein Polizist auf den Platz. Er stapfte schwerfällig in einem Körperpanzer, während seine blauhäutigen Ditos agil und ungeschützt ausschwärmten. Sie brauchten keine Befehle, denn jeder von ihnen kannte die Wünsche des Protos besser als eine bestens ausgebildete Infanteriegruppe. Ihre einzige Waffe – Nadeln mit Betäubungsöl an den Fingerspitzen – würden jeden Golem oder Menschen außer Gefecht setzen.

Ich hielt mich von ihnen fern und dachte über die Situation nach.

Ich hatte niemanden verletzt, doch allmählich wurde es heikel. Reale Leute waren gestört und sogar belästigt worden. Angenommen, ich konnte Betas gelben Schlägern entkommen und es bis zu einem Polizeikühler schaffen … Vielleicht blühten meinem Original so viele einfache Zivilklagen, dass von der Belohnung dafür, Beta ausfindig gemacht zu haben, überhaupt nichts mehr übrig blieb. Möglicherweise versäumte es die Polizei sogar, mich rechtzeitig auf Eis zu legen. Das geschieht in letzter Zeit immer häufiger.

Bestimmt hatten mich mehrere private und öffentliche Kameras im Bild. Aber genügte das für eine eindeutige Identifizierung? Mein Gesicht war schlicht, und außerdem hatten die Fäuste von Betas Gang Spuren darin hinterlassen – es ließ sich nicht ohne weiteres erkennen. Damit blieb nur eines übrig. Ich musste diesen Kadaver dorthin bringen, wo ihn niemand bergen und identifizieren konnte. Sollten sie raten, wer diesen Tumult verursacht hatte.

Ich taumelte in Richtung Fluss, schrie und winkte, damit die Leute beiseite traten.

Als ich mich dem Ufer näherte, hörte ich eine verstärkte Stimme: »Halt!« Polizistengolems tragen dort Lautsprecher, wo sich bei den meisten von uns künstliche Geschlechtsorgane befinden – so was weckt Aufmerksamkeit.

Von links hörte ich mehrere schwirrende Geräusche. Ein Stein traf mein faulendes Fleisch, ein zweiter prallte vom Pflaster ab, surrte in Richtung des Realpolizisten. Vielleicht würden sich die Blauen nun Betas Gelben zuwenden. Cool.

Dann hatte ich keine Zeit mehr, an etwas zu denken, als der Boden unter meinen Füßen verschwand. Sie bewegten sich weiter und strampelten in leerer Luft, vermutlich aus reiner Angewohnheit … bis ich ins dunkle Wasser platschte.

ICHGLAUBE, es gibt ein großes Problem dabei, dass ich diese Geschichte in der Ichform erzähle – der Zuhörer weiß, dass ich es in einem Stück zurück geschafft habe. Oder zumindest in einem Zustand, der es mir erlaubte, meine Informationen weiterzugeben. Wo bleibt die Spannung?

Na schön, es endete also nicht mit meinem Sturz in den Fluss, obwohl ein solches Ende vielleicht besser gewesen wäre. Manche Golems sind für den Kampf bestimmt, zum Beispiel solche, die Hobbyisten auf Gladiatorenschlachtfelder schicken. Oder die geheimen Modelle, die es bei den Sonderstreitkräften geben soll. Andere, für Hedonismus bestimmte Ditos opfern ein wenig Élan vital für hyperaktive Vergnügungszellen und Hi-Fi-Erinnerungsinload. Teurere Modelle haben zusätzliche Gliedmaßen, Ultrasinne … oder können schwimmen.

Ich kann mir kein spezielles Zubehör leisten. Aber ein Merkmal, auf das ich immer Wert lege, ist Hyperoxygenation – meine Ditos können lange die Luft anhalten. Das ist praktisch, wenn man bei seiner Arbeit damit rechnen muss, dass einen jemand mit Gas erledigen, in den versiegelten Kofferraum eines Wagens werfen oder lebendig begraben will. Ich habe Erinnerungen von allen diesen Dingen aufgenommen. Erinnerungen, die mir heute fehlen würden, wenn das Dito-Gehirn zu früh gestorben wäre.

Welch ein Glück.

Der Fluss, kalt wie Mondeis, strömte wie ein vergeudetes Leben an mir vorbei. Eine leise Stimme erklang, als ich tiefer ins trübe Wasser sank – eine Stimme, die ich schon bei anderen Gelegenheiten gehört hatte.

Gib auf. Ruhe. Dies ist kein Tod. Dein reales Selbst bleibt am Leben. Er wird deine Träume weitertragen.

Die wenigen, die dir geblieben sind.

Das stimmte so weit. Rein philosophisch betrachtet war ich mit meinem Original identisch. Unsere Erinnerungen unterschieden sich nur um einen schrecklichen Tag. Einen Tag, den er barfuß verbrachte, in Boxershorts, bei Büroarbeiten daheim, während ich mich durch die Stellvertreter-Unterwelt der Stadt wühlte, wo das Leben billiger ist als in einem Dumas-Roman. Mein gegenwärtiger Fortbestand fiel im großen Rahmen der Dinge kaum ins Gewicht.

Ich gab der leisen Stimme meine übliche Antwort.

Zum Teufel mit dem Existenzialismus.

Jedes Mal, wenn ich den Kopierer benutze, nimmt mein neuer Dito eine Milliarde Jahre alte Überlebensinstinkte auf.

Ich möchte mein Leben danach.

Als meine Füße den schlammigen Grund berührten, war ich entschlossen, es zumindest zu versuchen. Natürlich hatte ich fast keine Chance, aber vielleicht war das Glück bereit, mir neue Karten zu geben. Und es gab noch etwas anderes, das mich antrieb.

Lass die Bösen nicht gewinnen. Lass sie nie damit durchkommen.

Ich brauchte nicht zu atmen, aber Bewegung erwies sich als problematisch. Ich versuchte, mit den Füßen einigermaßen festen Halt zu finden und durch den Schlamm voranzukommen, doch alles war schlüpfrig und glatt. Selbst mit einem intakten Körper wäre das Gehen auf dem Grund des Flusses schwer gewesen, aber für meinen lief allmählich die Zeit ab.

Sichtweite? Fast gleich null. Ich ließ mich vom Gedächtnis und meinem Tastsinn leiten. Einige Sekunden lang dachte ich daran, stromaufwärts zu gehen, zum Fährendock, doch dann fiel mir ein, dass Claras Hausboot stromabwärts vertäut war, nur einen Kilometer vom Odeonplatz entfernt. Ich stemmte mich nicht mehr der Strömung entgegen, sondern ließ mich von ihr mittragen und konzentrierte meine Bemühungen darauf, in der Nähe des Ufers zu bleiben.

Die Ausstattung mit regulierbaren Schmerzsensoren wäre vielleicht hilfreich gewesen. Darauf musste ich leider verzichten – ich verfluchte meine eigene Billigkeit –, und so schnitt ich eine schmerzerfüllte Grimasse, während ich im klebrigen Schlamm einen Fuß vor den anderen setzte. Die Anstrengungen gaben mir Zeit, über die phänomenologische Angst nachzudenken, mit der es Geschöpfe meiner Art zu tun bekamen.

Ich bin ich. So wenig Leben mir auch bleibt, es fühlt sich kostbar an. Und doch habe ich mit dem Sprung in den Fluss aufgegeben, was übrig ist, um einem anderen Gelegenheit zu geben, einige Credits zu sparen.

Jenem Burschen, der mit meiner Freundin ins Bett steigt und von meinen Leistungen profitiert.

Dem Burschen, der alle meine Erinnerungen teilt, bis zu dem Moment, als er (oder ich) gestern Abend auf dem Kopierer lag. Er blieb im Originalkörper zu Hause, und ich brach auf, um seine schmutzige Arbeit für ihn zu erledigen.

Und vielleicht erfährt jener Bursche nie, was für einen grässlichen Tag ich hatte.

Es ist jedes Mal wie beim Wurf einer Münze, wenn man einen Kopierer-und-Kiln benutzt. Wer wird man sein, Rig – das Original, die Realperson – oder Kop, Golem, Malocher, Dito-für-einen-Tag?

Oft spielt es keine Rolle, wenn man wie vorgesehen die Erinnerungen aufnimmt, bevor die Kopie abläuft. Dann sind es einfach zwei Selbstteile, die wieder eins werden. Doch wenn der Dito beschädigt war oder Schlimmes erlebt hatte, was dann?

Es fiel mir schwer, meine Gedanken zusammenzuhalten. Immerhin war dieser grüne Körper nicht auf Intelligenz angelegt. Ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe, blieb in Bewegung und stapfte durch den Schlamm.

Es gibt Orte, an denen man jeden Tag vorbeikommt und über die man kaum nachdenkt, weil man nicht erwartet, sich einmal mittendrin zu bewegen. Wie dieser. Alle wissen, dass der Gorta voller Unrat steckt. Immer wieder stieß ich auf Dinge, die den Säuberungsnetzen entgangen waren: ein verrostetes Fahrrad, alte Klimaanlagen und mehrere Computermonitore, die mich wie Zombie-Augen anstarrten. Als ich ein Kind war, haben sie ganze Autos aus dem Fluss geholt, manchmal mit Leuten drin. Mit Realpersonen ohne Ersatzkopien, die das ruinierte Leben fortsetzen konnten.

Jene Zeiten hatten gewisse Vorteile. Damals hatte der verdreckte Gorta gestunken, und Öko-Gesetze sanierten den Fluss wieder. Heute standen Leute am Kai und angelten. Und Fische fanden sich überall dort ein, wo die Stadt etwas Essbares in den Fluss warf.

Diese Beschreibung galt auch für mich.

Realfleisch ist geschmeidig. Es wird nicht nach vierundzwanzig Stunden flockig. Protoplasma ist so zäh und strapazierfähig, dass selbst eine Leiche im Fluss tagelang der Verwesung widersteht.

Doch meine Haut hatte schon vor dem Sprung ins Wasser begonnen, sich abzulösen. Man kann den Ablauf durch Willenskraft ein wenig hinauszögern, aber inzwischen kam es in den organischen Ketten dieses Duplikats immer schneller zu Strukturverlusten. Der Geruch des Verfalls dehnte sich im Wasser aus und lockte Opportunisten an, die von allen Seiten herangesaust kamen und nach halb abgefallenen Brocken schnappten. Zuerst schlug ich mit der verbliebenen Hand nach ihnen, doch das ließ die Aasfresser nur etwas langsamer werden, ohne sie zu verscheuchen. Schließlich gab ich es auf, stapfte weiter und verzog immer dann das Gesicht, wenn gierige Fischmäuler in einen Schmerzrezeptor bissen.

Als es einige von ihnen auf meine Augen abgesehen hatten, wurde es mir zu viel. Ich brauchte mein Sehvermögen noch für eine Weile.

An einer Stelle kam plötzlich warmes Wasser von links, eine starke Strömung, die mich zur Seite drängte. Sie vertrieb die hungrigen Fische für eine Weile und erlaubte mir, mich wieder zu konzentrieren …

Das muss der Hahnstraßenkanal sein.

Mal sehen. Claras Boot ist bei Kleinvenedig festgemacht. Das müsste die zweite Öffnung nach dieser sein … Oder schon die nächste?

Ich musste mich sehr bemühen, um an dem Kanal vorbeizugelangen, ohne ins tiefe Wasser gespült zu werden, und dahinter schaffte ich es irgendwie, die steinerne Eindämmung zu erreichen. Leider kehrten an dieser Stelle die hungrigen Schwärme zurück – Fische von oben, Krabben von unten –, angelockt von den blutenden Wunden, und machten sich über meine verfaulende Haut her.

Was die nächsten Dinge betrifft, erinnere ich mich nicht an Einzelheiten. Ich weiß nur noch, dass ich alle meine Kräfte zusammennahm, als ich mich durch Schlamm, Müll und Wolken aus beißenden Peinigern mühte.

Es heißt, dass bei der Herstellung eines Ditos immer mindestens eine Charaktereigenschaft des Originals auf ihn übergeht. Ganz gleich, was sich sonst verändert, ein Aspekt des grundlegenden Wesens zeigt sich in allen Kopien. Eine Realperson, die ehrlich, pessimistisch oder redselig ist, ergibt einen Golem mit ähnlichen Eigenschaften.

Nach Claras Ansicht besteht mein beharrliches Attribut aus sturem Eigensinn.

Zum Teufel mit allen, die meinen, ich könnte dies nicht schaffen.

Dieser Satz ging mir wieder und immer wieder durchs verrottende Gehirn, tausendmal. Eine Million Mal. Er heulte bei jedem Schritt und immer dann, wenn ein Fisch einen weiteren Bissen nahm. Und er wuchs über die Worte hinaus, aus denen er bestand, wurde zu einer Beschwörung. Zu einem Fokus. Zu einem Mantra aus konzentrierter Hartnäckigkeit, das mich weitermarschieren ließ, einen quälenden Schritt nach dem anderen … bis ich mich schließlich einem schmalen Hindernis gegenübersah.

Eine Zeit lang starrte ich darauf: eine moosbedeckte Kette, straff gespannt und fast vertikal. Sie reichte von einem Anker im Grund zu einem flachen Objekt aus hölzernen Planken.

Ein Schwimmdock.

Und daran vertäut ein Schiff, sein breiter Rumpf von Entenmuscheln bedeckt. Ich wusste nicht, wessen Boot es war, aber ich begriff, dass mir keine Zeit mehr blieb. Der Fluss würde mich erledigen, wenn ich noch länger im Wasser blieb.

Mit der einen, inzwischen zerfleischten Hand ergriff ich die Kette und zog mich hoch. Der Schlamm gab meine Füße nur widerwillig frei. Ruckweise kam ich nach oben, strebte einem glitzernden Licht entgegen.

Die Fische schienen zu ahnen, dass sie nur noch eine Chance hatten. Sie schwammen näher und schnappten nach allen Haut- und Fleischfetzen, die sie erreichen konnten, selbst als mein Kopf bereits die Wasseroberfläche durchstieß. Ich legte den Arm übers Dock und suchte in meinem Gedächtnis danach, was es jetzt zu tun galt.

Atme. Das ist es. Du brauchst Luft.

Atme!

Die zitternde Inhalation hatte nichts von einem nach Luft schnappenden Menschen. Es klang eher wie ein Stück Fleisch, das man auf ein Schneidbrett wirft und dann aufschneidet, wobei darin enthaltene Luft entweicht. Etwas Sauerstoff ersetzte das aus meinem lippenlosen Mund strömende Wasser und gab mir gerade genug Kraft, ein Bein auf die Planken zu heben.

Mit einer letzten Anstrengung zog ich mich aus dem Fluss aufs Dock und machte den hungrigen Fischen einen Strich durch die Rechnung.

Mein Golemkörper zitterte und zuckte. Etwas, ein Teil von mir, löste sich, fiel ab und verschwand im Fluss. Die Fische freuten sich und machten sich darüber her.

Mir schwanden immer mehr die Sinne. Vage wurde mir klar, dass ich ein Auge ganz verloren hatte, und das andere hing halb aus der Höhle. Ich drückte es vorsichtig zurück und versuchte aufzustehen.

Alles fühlte sich schief an, aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich schleppte mich eine kurze Treppe hinauf, die zum Hausboot führte. Lichter wurden heller, und ich bemerkte eine pochende Vibration.

Irgendwo erklang Musik.

Als mein Kopf über die Reling kam, zeigte sich mir ein verschwommenes Bild: flackernde Flammen auf dünnen weißen Säulen, spitz zulaufende Kerzen – ihr Licht spiegelte sich auf Silberbesteck und kristallenen Kelchgläsern wider. Und etwas weiter entfernt bewegten sich schlanke Gestalten an der Steuerbordreling.

Reale Personen. Elegant gekleidet für eine Dinnerparty. Sie blickten über den Fluss.

Ich öffnete den Mund, um mich höflich für die Störung zu entschuldigen … und wäre vielleicht jemand so nett, meinen Eigentümer zu benachrichtigen, damit er rechtzeitig kam, bevor dieses Gehirn zu Brei wurde?

Aber ich brachte nur ein sabberndes Stöhnen hervor.

Eine Frau drehte sich um und sah, wie ich aus der Dunkelheit getorkelt kam. Sie schrie auf, als wäre ich ein Monstrum, das aus den Tiefen des Flusses kam. Gar nicht so verkehrt.

Ich hob die Hand und stöhnte.

»Oh, liebe Mutter Gaia«, kam es von den Lippen der Frau, und dann veränderte sich ihre Stimme, als sie verstand. »Jameson! Bitte rufen Sie Clara Gonzalez drüben auf der Catalina Baby an. Sagen Sie, dass ihr gottverdammter Freund schon wieder einen seiner Ditos verlegt hat … Er sollte ihn besser holen kommen!«

Ich versuchte, zu lächeln und ihr zu danken, aber der Ablauf ließ sich nicht länger hinauszögern. Meine Pseudoligamente wählten diesen Moment, um sich aufzulösen, alle gleichzeitig.

Ich fiel auseinander.

Ich erinnere mich nicht an die Dinge, die danach geschahen, aber man hat mir erzählt, dass mein Kopf zum Eiskasten rollte, der Champagner kühlte. Ein Gast der Dinnerparty war so aufmerksam, ihn hineinzulegen, neben eine sehr gute Flasche Dom Pèrignon Jahrgang '38.

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DITO-MEISTER

… ODERWIE REALALBERTMITEINEMSCHWEREN TAGFERTIGWIRD …

Na schön, der Grüni schaffte es also nicht in einem Stück nach Hause. Als ich eintraf, war nur noch der gekühlte Schädel übrig … und eine Brühe aus verdunstendem Pseudofleisch, die Flecken bildete auf dem Deck von Madame Frenkels Hausboot.

(Notiz für mich: Madame ein hübsches Geschenk kaufen, denn sonst lässt mich Clara hierfür bezahlen.)

Natürlich bekam ich das Gehirn rechtzeitig – andernfalls hätte ich nicht das zweifelhafte Vergnügen gehabt, noch einmal einen ausgesprochen miserablen Tag zu erleben, den »ich« damit verbrachte, durch die Unterwelt der Dito-Stadt zu schleichen und durch Abwasserkanäle zu kriechen, um Betas Versteck zu finden, was dazu führte, dass mich seine gelben Schlägerditos erwischten und verprügelten, worauf Flucht, eine Verfolgungsjagd und der schreckliche Marsch durch den Fluss folgten.

Noch bevor ich den feuchten Schädel mit dem Perzeptron verband, war mir klar, dass mich wohl kaum angenehme Erinnerungen erwarteten.

Seien wir aufrichtig dankbar für das, was wir empfangen.

Die meisten Leute lehnen einen Inload ab, wenn es um unangenehme Erfahrungen geht. Ein Rig kann entscheiden, ob er sich an die von der Kop erlebten Dinge erinnern möchte oder nicht. Das war ein weiterer praktischer Aspekt der modernen Duplikationstechnik – man konnte einen schlechten Tag einfach verschwinden lassen.

Aber ich finde: Wenn man ein Wesen erschafft, ist man dafür verantwortlich. Jener Dito wollte eine Rolle spielen. Er versuchte mit ganzer Kraft, am Leben zu bleiben. Und jetzt ist er Teil von mir, wie mehrere hundert andere, die es für den Inload nach Hause schafften, seit ich mit sechzehn zum ersten Mal einen Kiln benutzt habe.

Ich brauchte das Wissen in jenem Gehirn, denn sonst hätte ich nichts gehabt, das ich meiner Klientin zeigen konnte, einer Person, die nicht unbedingt für ihre Geduld bekannt war.

Ich konnte in all den üblen Dingen sogar etwas Positives erkennen. Beta sah, wie meine grünhäutige Kopie in den Fluss fiel. Alle würden annehmen, dass sie ertrank, ins Meer gespült oder von den Fischen gefressen wurde. Wenn Beta sicher war, verzichtete er vielleicht darauf, sich ein neues Versteck zu suchen. Dies mochte eine gute Gelegenheit sein, ihn und seine Komplizen zu überraschen.

Ich verließ den gepolsterten Tisch und kämpfte gegen Wellen von Sinnesverwirrung an. Meine realen Beine fühlten sich seltsam an – fleischig und fest, aber auch ein wenig fern –, denn erst vor wenigen Momenten schien ich auf Stümpfen getaumelt zu sein. Das Bild eines kräftigen, dunkelhaarigen Mannes im nahen Spiegel wirkte sonderbar. Zu gesund, um real zu sein.

Das Original des Montagsditos, dachte ich und betrachtete die Falten, die sich nach und nach in den realen Augenwinkeln bilden. Selbst ein ereignisloser Inload führt zu Desorientierung, während die frischen Erinnerungen eines Tages im Bewusstsein hin und her schwappen und inmitten von neunzig Milliarden Neuronen nach einem Platz suchen – den sie meistens innerhalb von einigen Minuten finden.

Im Vergleich dazu ist der Outload harmlos. Der Kopierer geht behutsam das organische Gehirn durch und überträgt die Stehende Welle auf eine frische Schablone, die aus speziellem Ton besteht und im Kiln reift. Kurze Zeit später bricht ein neuer Dito auf, um Dinge zu erledigen, während man frühstückt. Es ist nicht einmal nötig, ihm zu sagen, was er machen soll.

Er weiß es bereits.

Er ist du.

Schade, dass mir keine Zeit blieb, einen neuen herzustellen. Dringende Angelegenheiten erforderten meine Aufmerksamkeit.

»Fon!«, sagte ich, presste die Finger an die Schläfen und schob die unangenehmen Erinnerungen an den Marsch über den Grund des Flusses beiseite. Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was mein Ditektiv über Betas Versteck herausgefunden hatte.

»Name oder Nummer«, kam eine sanfte Altstimme von der nächsten Wand.

»Ich möchte Inspektor Blane von der LSA sprechen. Verschlüsselte Verbindung mit seiner Wohnung. Dringend-Hinweis, wenn er blockiert ist.«

Das gefiel meinem Hauscomputer Nell nicht.

»Es ist drei Uhr morgens«, sagte sie. »Inspektor Blane hat dienstfrei und keine Dito-Faksimiles mit aktivem Status. Soll ich die Aufzeichnung vom letzten Mal aktivieren, als du ihn mit einem Dringlichkeitsanruf geweckt hast? Er hat uns wegen Verletzung der Privatsphäre verklagt und als Schadenersatz fünfhundert …«

»Später hat er sich beruhigt und die Klage zurückgezogen. Stell die Verbindung her, in Ordnung? Ich habe rasende Kopfschmerzen.«

Der Arzneischrank wusste bereits Bescheid. Organosynthese blubberte in ihm, und er präsentierte ein Glas mit sprudelnder Flüssigkeit, das ich sofort leerte, während Nell die Sache mit dem Anruf erledigte. Ich hörte, wie sie leise mit Blanes widerspenstigem Hauscomputer über Prioritäten sprach. Jene Maschine wollte natürlich eine Nachricht aufzeichnen, anstatt ihren Boss zu wecken.

Ich zog mich bereits um und streifte einen dicken, kugelsicheren Overall über, als sich der Inspektor von der Labor Subcontractors Association meldete. Er klang ziemlich verärgert. Ich sagte ihm, er solle die Klappe halten und in zwanzig Minuten zum alten Teller-Gebäude kommen. Falls er den Fall Wammaker endlich zu den Akten legen wollte.

»Und ich rate Ihnen, eine erstklassige Einsatzgruppe mitzubringen«, fügte ich hinzu. »Eine große, wenn es nicht zu einer längeren Auseinandersetzung kommen soll, bei der alles drunter und drüber geht. Denken Sie daran, wie viele Pendler beim letzten Mal Belästigungsklagen einreichten.«

Blane fluchte erneut, lange und hingebungsvoll, aber ich hatte seine Aufmerksamkeit. Ein lautes Summen war im Hintergrund zu hören – Blanes Kiln, der fast industrielle Kapazität hatte, lief warm und bereitete sich darauf vor, drei Ditos der Primitiv-Klasse gleichzeitig herzustellen. Der Inspektor war ein Drecksack, aber er handelte schnell, wenn es darauf ankam.

Ich verlor ebenfalls keine Zeit. Die Eingangstür öffnete sich bereitwillig vor mir, und Blanes Stimme kam aus der mobilen Einheit an meinem Gürtel, dann aus dem Gerät im Wagen. Als er sich weit genug abgekühlt hatte, um die Verbindung zu unterbrechen, fuhr ich schon durch den nächtlichen Dunst in Richtung Innenstadt.

Ich schloss den Kragen meines Trenchcoats und zog den Filzhut tiefer. Clara hatte mein Privatdetektiv-Outfit per Hand für mich genäht und dabei Hightech-Gewebe aus den Beständen ihrer Reservisteneinheit verwendet. Großartiges Zeug. Doch die schützenden Schichten vermittelten kaum ein Gefühl der Sicherheit. Viele moderne Waffen konnten Textilpanzerung durchdringen. Das Vernünftigste wäre wie immer gewesen, eine Kopie zu schicken. Aber ich wohne zu weit vom Teller-Gebäude entfernt, und mein kleiner Heim-Kiln konnte einen Dito nicht schnell genug herstellen, damit dieser den Einsatzort rechtzeitig erreichte.

Ich fühle mich immer sehr verwundbar, wenn ich selbst zu einer Rettungsaktion oder einer Verhaftung aufbreche. Man sollte kein Realfleisch riskieren. Aber diesmal blieb mir keine Wahl.

ESWOHNENNOCHIMMER REALPERSONENin einigen der höchsten Gebäude, da organische Augen das prächtige Panorama zu schätzen wissen. Aber der Rest der Alten Stadt ist zu einem Land der Geister und Golems geworden, die jeden Morgen die Kilns ihrer Eigentümer verlassen und zur Arbeit gehen. Es ist ein zugleich schmuckloser und pittoresker Bereich, wenn kopierte Arbeiter aus Transportern, Wagen und Bussen kommen, ihre bunten Körper in ebenso bunte und ebenso leicht zu ersetzende Papierkleidung gehüllt.

Unsere Aktion musste beendet sein, bevor es zu jenem morgendlichen Zustrom aus Tonleuten kam, und deshalb teilte Blane zwei Straßen vom Teller-Gebäude entfernt hastig die angeheuerten Truppen ein, während sein schwarzer Anwalt-Golem mit einer schwer gepanzerten Polizistin feilschte. Sie hatte ihr Visier gehoben, während sie über den privaten Einsatz verhandelte.

Ich hatte nichts anderes zu tun, als an den Fingernägeln zu knabbern und zu beobachten, wie das erste Licht der Morgendämmerung durch den Dunst kroch. Es zeigten sich bereits die Umrisse von Riesen, die durch die Schluchten der Stadt schlurften – albtraumhafte Gestalten, die unsere urbanen Vorfahren entsetzt hätten. Eine von ihnen kam an einer fernen Straßenlaterne vorbei, deren Schein mehrere Stockwerke hohe schlangenartige Schatten projizierte. Dumpfes Grollen erreichte uns, und meine Füße spürten die Vibrationen.

Wir sollten unsere Angelegenheiten besser erledigt haben, bevor jener Koloss eintraf.

Ich bemerkte Bonbonpapier auf dem Gehsteig – eine seltsame Sache an diesem Ort. Ich hob es auf und steckte es ein. Normalerweise sind die Straßen in Dito-Stadt vollkommen sauber, da die meisten Golems nie essen oder ausspucken. Allerdings sieht man heute mehr im Rinnstein schwelende Leichen als während meiner Kindheit.

Die Hauptsorge der Polizistin: Sie wollte sicherstellen, dass keine der heutigen Leichen eine Realperson war. Blanes pechschwarze Kopie versuchte vergeblich, eine vollständige Verzichterklärung zu bekommen, zuckte dann mit den Schultern und akzeptierte die Bedingungen der Stadt. Unsere Leute waren bereit. Zwei Dutzend violette Golems, geschmeidig und geschlechtslos, einige von ihnen getarnt, rückten vor.

Ich blickte noch einmal den Alameda-Boulevard hinunter. Die riesige Silhouette war verschwunden. Aber es würden andere kommen. Wenn wir uns nicht beeilten, liefen wir Gefahr, in die Rushhour zu geraten.

ZURGROSSEN FREUDEvon Blane gelang es seinen Söldnern, Beta zu überraschen.

Unsere Leute stahlen sich in Lieferwagen an den äußeren Detektoren vorbei, getarnt als Wartungs- und Kurier-Dits. Sie schafften es fast bis zum vorderen Eingang, bevor die verborgenen Waffen einen Alarm auslösten.

Zehn oder mehr von Betas Gelben kamen heraus und schossen. Es folgte ein regelrechtes Gefecht, als sich tönerne Humanoiden gegenseitig unter Beschuss nahmen. Kugeln zerfetzten Gliedmaßen, und es kam zu Explosionen, als Schwärme aus Brandnadeln Pseudofleisch trafen und die Wasserstoffkatalysezellen entzündeten.

Als die Schießerei begann, setzten sich die gepanzerte Polizistin und ihre blauhäutigen Duplikate in Bewegung, bliesen Schnellbarrikaden auf und notierten von beiden Seiten begangene Gesetzesverstöße – alles, was eine saftige Geldstrafe nach sich ziehen konnte. Die Kämpfenden schenkten der Polizeipräsenz keine Beachtung. Dies war eine gewerbliche Angelegenheit und nicht die Sache des Staates, solange keine Realpersonen zu Schaden kamen.

Ich hoffte, dass es dabei blieb, als ich hinter einem geparkten Wagen in Deckung ging, während RealBlane und seine Primitiv-Duplikate hin und her eilten und die Violetten antrieben. Seine schnell produzierten Ditos waren keine geistigen Riesen, hatten es aber ebenso eilig wie er. Wir mussten so schnell wie möglich ins Versteck gelangen und die gestohlene Schablone retten, bevor Beta alle Hinweise auf seine illegalen Geschäfte beseitigen konnte.

»Was ist mit der Kanalisation?«, fragte ich und dachte daran, dass mein Grüni am vergangenen Tag durch einen Abwasserkanal gekrochen war – eine ebenso unangenehme Erinnerung wie die an den Marsch im Fluss.

Blane verzog das Gesicht hinter dem halb transparenten Visier, das ihm blinkende Symbole und Kartenausschnitte zeigte. (Er ist zu altmodisch für Retinaimplantate. Oder vielleicht gefällt ihm das bunte Leuchten.) »Ich habe einen Roboter da drin«, brummte er.

»Roboter können gehackt werden.«

»Nur wenn sie schlau genug sind, auf neuen Input zu achten. In diesem Fall handelt es sich um eine Kabel legende Drohne vom Amt für Stadtreinigung. Geht unbeirrbar ihrer Arbeit nach und ist dumm wie ein Stein. Sie versucht, ein Breitbandkabel durch Abwasserrohre in den Keller zu bringen, und dabei hält sie stur auf Betas Toilette zu. Es kommt niemand an ihr vorbei, das garantiere ich.«

Ich brummte skeptisch. Unser größtes Problem bestand auch gar nicht in einer möglichen Flucht – wir mussten ins Versteck hinein, bevor unser Beweis schmolz.

Ein ungewöhnlicher Anblick hielt mich von weiteren Kommentaren ab. Die Polizistin schickte eine ihrer blauen Kopien mitten in den Kampf! Ihr Dito achtete überhaupt nicht auf die Schießerei, stieß am Boden liegende Gestalten an und vergewisserte sich, dass sie außer Gefecht gesetzt waren, bevor er den Kopf abtrennte und für eine spätere Vernehmung in einen Konservierungsbeutel steckte.

Es würde sich kaum etwas ergeben. Beta war bekannt für seine Vorsicht bei den Dits; er verwendete gefälschte ID-Pellets und programmierte die Gehirne auf Selbstzerstörung, wenn sie gefangen wurden. Enorm viel Glück war nötig, um heute seinen wahren Namen herauszufinden. Was mich betraf … Ich hätte mich mit einer erfolgreichen Rettung zufrieden gegeben, und damit, diesen besonderen Laden zu schließen.

Explosionen dröhnten über den Alameda-Boulevard, und dichte Rauchschwaden entstanden vor allen Eingängen des Teller-Gebäudes, dehnten sich bis zu dem Wagen aus, hinter dem Blane und ich hockten. Etwas riss mir den Filzhut vom Kopf und zerrte ruckartig an meinem Hals. Ich duckte mich noch tiefer und schnappte nach Luft, bevor ich in die Tasche griff und das Faserskop hervorholte – eine viel sicherere Methode, Ausschau zu halten. Am Ende eines fast unsichtbaren Stiels kroch es über die Motorhaube des Wagens, drehte sich, richtete winzige Gel-Linsen auf das Kampfgeschehen und übertrug dem Implantat in meinem linken Auge zitternde Bilder.

(Notiz für mich: Das Implantat ist fünf Jahre alt und veraltet. Zeit für ein Upgrade? Oder bist du nach dem letzten Mal noch immer zimperlich?)

Der blaue Polizisten-Dit war nach wie vor dort draußen, überprüfte Leichen und bewertete den Schaden, selbst dann noch, als unsere Violetten mit der Tollkühnheit von fanatischen Stoßtruppen vorstürmten und durch alle Öffnungen ins Gebäude eindrangen. Während ich die Ereignisse noch beobachtete, trafen mehrere Querschläger den Polizisten-Golem, rissen ihn herum und ließen dicke Fleischklumpen an die nahe Wand klatschen. Der Dito wankte, krümmte sich und zitterte – die Schmerzrezeptoren funktionierten ganz offensichtlich. Violette Söldner agieren ohne Berührungszellen und achten nicht auf Wunden, während sie mit Waffen in beiden Händen schießen. Doch die Aufgabe eines Blauen besteht darin, die Sinne eines realen Polizisten zu erweitern. Er fühlt.

Autsch, dachte er. Das hat wehgetan.

Wer das verstümmelte Ding leiden sah, rechnete damit, dass es sich selbst auflöste. Stattdessen richtete der Golem sich auf und setzte seine Arbeit fort. Vor einem Jahrhundert hätte das sehr heldenhaft gewirkt, aber wir alle wissen, welche Persönlichkeitstypen heutzutage für die Polizeitruppe rekrutiert werden. Die echte Polizistin würde vermutlich die Erinnerungen des Ditos inloaden … und sie genießen.

Mein Fon klingelte in einem Rhythmus, der auf hohe Priorität hinwies – Nell wollte also, dass ich das Gespräch annahm. Ich klopfte dreimal an den oberen rechten Eckzahn, was ja bedeutete.

Ein Gesicht erschien und füllte das Blickfeld meines linken Auges. Eine Frau mit hellbraunem Gesicht und goldenem Haar, auf dem ganzen Kontinent bekannt.

»Mr. Morris, ich sehe mir gerade den Bericht über eine Schießerei in Dito-Stadt an … und wie ich hörte, hat die LSA eine Einsatzbefugnis zu Protokoll gegeben. Ist das Ihre Arbeit? Haben Sie mein gestohlenes Eigentum gefunden?«

Bericht?

Ich sah auf und bemerkte mehrere Flugkameras, die über dem Kampfgebiet schwebten und die Logos eifriger Schnüffeldienste aufwiesen. Die Geier hatten sich nicht viel Zeit gelassen.

Ich verbiss mir einen scharfen Kommentar. Man muss zu seinen Klienten freundlich sein und ihnen antworten, selbst wenn sie stören. »Äh … noch nicht, Maestra. Wir haben die Diebe vielleicht überrascht, aber …«

Blane ergriff meinen Arm. Ich lauschte.

Keine Explosionen mehr. Das Geräusch von Schüssen klang gedämpft und kam aus dem Innern des Gebäudes.

Noch immer angespannt hob ich den Kopf. Die gepanzerte Polizistin stapfte an uns vorbei, begleitet von ihren nackten blauen Duplikaten.

»Mr. Morris? Sie wollten etwas sagen?« Das schöne Gesicht runzelte ein wenig gereizt die Stirn. Es füllte mein linkes Auge; blinzeln nützte nichts. »Ich erwarte von Ihnen, auf dem Laufenden gehalten zu werden …«

Eine Gruppe Putzer kam, grün und rosarot gestreifte Modelle, ausgerüstet mit Besen und Flüssigkeitssaugern. Ob entbehrlich oder nicht, Putzer-Dits ließen sich nicht an einem Ort blicken, an dem gekämpft wurde.

»Mr. Morris!«

»Tut mir Leid, Maestra. Ich kann jetzt nicht reden. Ich rufe Sie an, wenn ich mehr weiß.« Bevor sie Einwände erheben konnte, biss ich auf einen Backenzahn und unterbrach die Verbindung. Das Bild verschwand aus dem linken Auge.

»Nun?«, fragte ich Blane.

Farben wogten über sein Visier, und wenn ich ein Cyber-Dit gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht interpretiert. Als rein Organischer wartete ich.

»Wir sind drin.«

»Und die Schablone?«

Blane lächelte.

»Wir haben sie! Sie bringen sie jetzt nach draußen.«

Zum ersten Mal wagte ich zu hoffen. Trotzdem, ich blieb geduckt, als ich übers Pflaster eilte, den Filzhut holte und meinen Kopf wieder mit seiner elastischen Panzerung schützte. Clara wäre mir sicher böse gewesen, wenn ich ihn verloren hätte.

Wir eilten an den Putzern vorbei und die zwanzig Stufen zum Haupteingang hoch. Zerfetzte Leichen und Brocken aus Pseudofleisch lösten sich in einem bunten Dunst auf, was dem Kampfgebiet etwas gespenstisch Unwirkliches gab. Die Toten würden bald verschwunden sein; zurück blieben Geschossspuren an den Mauern und schnell heilende Fenster. Und die Splitter einer großen Tür, die die Violetten aufgesprengt hatten, um ins Gebäude vorstoßen zu können.

Nachrichtendrohnen kamen vom Himmel herab und nervten uns mit Fragen. Bei meiner Arbeit kann Publicity sehr nützlich sein, aber nur, wenn es Gutes zu vermelden gibt. Deshalb blieb ich still, bis zwei von Blanes LSA-Dits aus dem Keller kamen und eine viel kleinere Gestalt stützten.

Schleimige Konservierungsflüssigkeit tropfte von nackter Haut, die wie Schnee glitzerte und vollkommen weiß war, abgesehen von einigen Flecken am kahlen Kopf. Das Gesicht des Ditos war unverkennbar. Ich hatte gerade mit dem Original gesprochen. Die Eisprinzessin. Die Maestra von Studio Neo, Gineen Wammaker.

Blane wies seine Violetten an, die Schablone zu einem Konservierungstank zu bringen, damit sie vor dem Ablauf aussagen konnte. Doch als die weiße Gestalt mich sah, blieb sie stehen. Ihre Stimme klang trocken und müde, aber es war der berühmte erotische Alt.

»M-mister Morris … ich stelle fest, dass Sie mit Ihrem Spesenkonto recht verschwenderisch umgehen.« Sie sah zu den Fenstern – viele von ihnen waren über die Selbstreparatur hinaus beschädigt – und zu den Resten der Tür. »Muss ich für all dies aufkommen?«

Die Bemerkung der Elfenbeingestalt teilte mir mehrere Dinge mit. Zuerst einmal: Sie musste entführt worden sein, nachdem Gineen Wammaker mich engagiert hatte, denn sonst hätte mich der Dito nicht erkennen können.

Hinzu kam: Trotz eines mehrtätigen und alles andere als angenehmen Aufenthalts in WD-90-Lösung behielt Gineen ihre arrogante Sinnlichkeit, die sie auf jedes Duplikat übertrug. Haarlos, misshandelt und nass – und doch hatte dieser Golem das Gebaren einer Göttin. Und selbst die Rettung vor Betas Peinigern lehrte sie keine Dankbarkeit.

Was hast du erwartet?, dachte ich. Wammakers Kunden sind krank. Kein Wunder, dass so viele von ihnen Betas billige illegale Kopien kauften.

Blane antwortete, als wäre das Wammaker-Replikat real. So überwältigend war ihre Präsenz.

»Die Labor Subcontractors Association erwartet natürlich eine gewisse Entschädigung. Für diese Rettung haben wir erhebliche Ressourcen eingesetzt …«

»Es ist keine Rettung«, widersprach die Elfenbeingestalt. »Für mich gibt es keine Kontinuität. Sie glauben doch nicht, dass mich mein Original nach diesen Erfahrungen inloaded? Sie haben ihr gestohlenes Eigentum sichergestellt, das ist alles.«

»Beta hat Ihre Ditos von der Straße entführt und sie als Schablonen verwendet, um Raubkopien herzustellen …«

»Womit er gegen mein Copyright verstieß. Dem haben Sie ein Ende gesetzt. Gut. Dafür bezahle ich meine LSA-Gebühren. Damit gegen Lizenzverstöße vorgegangen wird. Was Sie betrifft, Mr. Morris … Sie werden ein gutes Honorar bekommen. Tun Sie nur nicht so, als hätten Sie etwas Heldenhaftes geleistet.«

Der schlanke Leib erzitterte. In der Haut bildeten sich Haarrisse, die schnell tiefer und länger wurden. Gineen wandte sich an die Violetten. »Nun? Bringt ihr mich zum Tank, oder sollen wir warten, bis ich schmelze?«

Ich staunte. Dieser Dito wusste, dass er nicht mit einem Inload in Gineens schönen Kopf zurückkehren würde. Sein Leben – soweit es existierte – würde ein schmerzhaftes Ende finden, während man das Gehirn nach eventuellen Hinweisen abtastete. Doch das Duplikat zeigte weiterhin die für Wammaker typische Würde. Und ihre Arroganz.

Die Violetten führten die kleine weiße Gestalt an gestreiften Putzern, blauen Polizisten und verdampfenden Resten von Körpern vorbei, die noch vor wenigen Minuten erbittert gekämpft hatten. So wie Blane Wammakers Elfenbein-Dito hinterhersah … Ich fragte mich, ob er zu ihren Fans zählte. War er vielleicht ein heimlicher Mieter?

Aber nein. Er brummte voller Abscheu.

»Es ist es nicht wert. All dieser Aufwand und die Gefahr, nur weil eine Primadonna sich nicht darum schert, ihre Dits zu schützen. Wir brauchten nicht einzugreifen, wenn sie ihre Ditos mit Selbstzerstörung ausstatten würde.«

Ich schwieg. Blane gehört zu den Leuten, die ganz sachlich über die Kiln-Technik reden. Seine eigenen Ditos behandelt er wie nützliche Werkzeuge, und damit hat es sich. Aber ich verstand, warum Gineen Wammaker in ihren Kopien keine Bomben implantiert, die sich aus der Ferne zünden lassen.

Wenn ich ein Dito bin, tue ich gern so, als wäre ich unsterblich. Das hilft mir dabei, einen langweiligen Tag zu überstehen.

DIE ABSPERRUNGENDER POLIZEIwurden gerade rechtzeitig für die Rushhour entfernt. Große Dinobusse und spindeldürre Schwungradwagen gaben ihre Fracht frei: graue Büro-Golems, billigere grüne und orangefarbene Fabrikarbeiter, Schwärme aus gestreiften Entbehrlichen und einige andere Arten. Jene, die auf den Teller-Platz kamen, glotzen auf die beschädigten Wände. Graue setzten sich mit ihren Nachrichtendiensten in Verbindung und riefen Zusammenfassungen der Schießerei ab. Mehrere von ihnen deuteten auf Blane und mich und speicherten einige ungewöhnliche Erinnerungen, die sie am Ende dieses Tages ihren Archis bringen würden.

Die gepanzerte Polizistin trat zu Blane und übergab ihm die vorläufige Schätzung von Kosten und Geldstrafen. Wammaker hatte Recht in Bezug auf Gebühren und Verantwortung. Die LSA musste den größten Teil der Rechnung begleichen … bis wir Beta erwischen und mit ihm abrechnen würden. Wenn das geschieht, kann Blane nur hoffen, dass Beta irgendwo Geld hat. Genug, um es der LSA zu gestatten, verschärften Schadenersatz einzuklagen.

Blane lud mich ein, ihn in den Keller zu begleiten, um dort einen Blick auf die Kopieranlage zu werfen. Aber ich kannte jenen Ort bereits. Erst vor einigen Stunden war »ich« dort gewesen und von einigen Terrakotta-Soldaten Betas verprügelt worden. Außerdem hatte die LSA ein Dutzend oder mehr schwarze Tatort-Analytiker unter Vertrag, die für genaue Untersuchungen weitaus besser ausgerüstet waren. Sie verfügten sogar über spezielle Sinne, um in allen Ecken und Winkeln herumzuschnüffeln, in der Hoffnung, Betas echten Namen und den Aufenthaltsort seiner Realperson herauszufinden.

Sie werden keinen Erfolg haben, dachte ich und trat nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Beta ist ein verdammt gerissener Bursche. Ich jage ihn schon seit Jahren, und er entwischt jedes Mal.

Die Polizei half natürlich nicht viel. Dit-Entführung und Verstöße gegen das Copyright sind seit der Großen Deregulierung zivilrechtliche Delikte. Es blieb eine rein gewerbliche Angelegenheit, solange es Beta vermied, Realpersonen zu verletzen. Was sein Verhalten in der vergangenen Nacht noch rätselhafter machte. Meinen Grüni auf den Odeonplatz zu verfolgen, Schleudern einzusetzen und zu riskieren, umherschlendernde Archis zu treffen … Darin kam so etwas wie Verzweiflung zum Ausdruck.

Ich schritt durch ein Gewimmel aus kommenden und gehenden Leuten. Es waren alles Ditos, was einem Archi wie mir das Vorfahrtsrecht gab. Es lagen noch immer einige dampfende Reste von Golemkörpern herum, die einen unangenehmen Geruch verströmten, und ich ging schneller, runzelte dabei nachdenklich die Stirn.

Beta scheint in der vergangenen Nacht sehr aufgebracht gewesen zu sein. Er hat mich nicht zum ersten Mal in die Hände bekommen, mich aber noch nie so grob behandelt!

Normalerweise tötet er mich einfach, ohne Bosheit oder Zorn. Zumindest soweit ich weiß. Von jenen Gelegenheiten, bei denen ich die Erinnerungen aufnehmen konnte.

Die gleiche Sorge, die Betas Gelbe veranlasst hatte, meinen Grüni zu foltern, hatte sie auch unvorsichtig werden lassen. Erst war ich von ihnen mit den Fäusten bearbeitet und dann allein im Keller zurückgelassen worden, gefesselt zwischen zwei Autokilns, die billige Wammaker-Kopien herstellten, wobei sie den entführten kleinen Elfenbein-Dito als Schablone benutzten. Die Gelben hatten nicht einmal nachgesehen, welche Werkzeuge ich unter meinem Pseudofleisch bei mir trug! Die Flucht war viel einfacher gewesen als der Weg hinein ins Versteck – (zu einfach?) –, doch Beta kam bald dahinter und nahm die Verfolgung auf.

Jetzt hatte ich einen Sieg errungen, nicht wahr? Dass dieser Laden aufgeflogen war … Es musste ein harter Schlag für Betas Raubkopie-Geschäfte sein. Warum also hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlte?

Ich schlenderte fort von den Geräuschen des Verkehrs – eine Kakophonie aus Signalhörnern und brüllenden Dinos – und bemerkte an einer Seitenstraße Flackerbänder, extra dafür bestimmt, das menschliche Auge zu reizen.

»Gefahr!«, warnten die Bänder. »Strukturelle Schäden! Nicht weitergehen!«

Solche nur für Realpersonen sichtbaren Warnungen werden immer häufiger, aufgrund der Vernachlässigung vieler Gebäude in der Stadt. Warum sich um Wartung und Instandhaltung Gedanken machen, wenn die einzigen Bewohner Tonleute sind, die jeden Tag billig ersetzt werden können? Oh, es ist ein erstaunlicher Slum. Mit Sauberkeit kombinierter Verfall. Eine weitere der vielen Deregulierungsironien, die Dito-Städten ihren besonderen Charme geben.

Ich wandte den Blick ab und schritt durch die glitzernde Warnung. Niemand sagt mir, wohin ich gehen darf und wohin nicht! Außerdem sollte mich der Hut vor herabfallenden Dingen schützen.

Große Recyclingbehälter standen am Straßenrand, verbunden mit dicken, ziehharmonikaartigen Schläuchen, die Pseudofleischabfälle von beiden Seiten aufnahmen. Nicht alle Ditos kehren am Ende eines vierundzwanzig Stunden langen Arbeitstages für einen Erinnerungsinload nach Hause zurück. Die für langweilige, sich wiederholende Arbeiten geschaffenen Dits machen einfach weiter, mit einer speziellen Zufriedenheitsprogrammierung, bis sie jenen besonderen Ruf hören, der sie zur letzten Ruhe in einen der Behälter lockt.

Was mich lockte, war mein Bett. Nach einem langen Tag und einem weiteren halben dazu – der sich noch länger anfühlte – dachte ich daran, die Kopien für den heutigen Tag herzustellen und anschließend unter die Decke zu kriechen.

Mal sehen, überlegte ich. Welche Körper soll ich einsetzen? Abgesehen von der Beta-Sache muss ich mich noch um ein halbes Dutzend kleinere Fälle kümmern. Die meisten von ihnen erfordern nur einfallsreiche Web-Recherche. Das kann ich von zu Hause aus erledigen, als Schwarzer. Ein bisschen teuer, aber effizient.

Ein Grüner ist auf jeden Fall nötig. Ich habe das eine oder andere hinausgeschoben. Lebensmittel müssen besorgt, Wäsche gewaschen werden. Die immer wieder verstopfte Toilette … Und der Rasen hätte längst gemäht werden sollen.

Die restliche Gartenarbeit – hier und dort ein wenig Beschneiden und Umpflanzen – fiel in die Kategorie Vergnügen/ Hobby. Darum wollte ich mich selbst kümmern, vielleicht morgen.

Genügen zwei Ditos? Graue brauche ich nur dann, wenn sich etwas ergibt.

Hinter den Recyclingbehältern gab es eine Lücke zwischen den Gebäuden: Eine schmale Seitenstraße führte dort nach Süden, vorbei an den Auffahrten eines alten Parkhauses. Über der Straße spannten sich Kabel und Wäscheleinen, an denen billige Kleidung im Morgenwind flatterte. Laute Stimmen und noch lautere Musik wehten die wackligen Feuerleitern herab.

Heutzutage braucht jeder ein Hobby. Für manche Leute ist es ein zweites Leben – sie schicken einen Dito für einen Tag hierher nach Golemstadt, gesellen sich simulierten Familien hinzu, nehmen an Pseudo-Geschäften, -Dramen und auch -Fehden mit den Nachbarn teil. Ich glaube, man spricht in diesem Zusammenhang von Tonopern. Ganze verfallene Stadtviertel sind übernommen worden, um dort das Italien während der Renaissance oder London während der Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs zu simulieren. Als ich in der Gasse stand, unter den Wäscheleinen und von lauter Musik berieselt, konnte ich mir leicht vorstellen, in einem der Mietskasernenghettos zu sein, wie sie vor über hundert Jahren existierten.

Die romantische Attraktion eines solchen Szenarios blieb mir ein Rätsel. Realpersonen leben nicht mehr auf diese Weise. Andererseits stand es mir nicht zu, darüber zu befinden, wie andere Menschen ihre freie Zeit verbringen. Hinter der Existenz eines Golems steckt immer eine bewusste Entscheidung.

Fast immer.

Deshalb setzte ich die Arbeit am Fall Beta fort, trotz des Ärgers und der Prügel, die ich einstecken musste – und obwohl ich manchmal auf Nimmerwiedersehen verschwand. Betas Art des industriellen Diebstahls hatte viel mit der einstigen Sklaverei gemeinsam. Seinen kriminellen Geschäften liegt eine beunruhigende Psychopathologie zugrunde. Der Bursche brauchte Hilfe.

Na schön, in Dito-Stadt gibt es also viele exzentrische Ecken, von Dickens-Fabriken über märchenhafte Vergnügungszentren bis hin zu Kriegsgebieten. Konnten mir die besonderen Merkmale dieser Seitenstraße bei meinem Fall helfen? Schon vor dem Einsatz heute Morgen war dieser Bereich von Flugaugen der LSA untersucht worden. Doch menschliche Augen sehen manchmal mehr als Kameras. Zum Beispiel Kugelspuren an den Wänden. Die noch nicht sehr alt waren. Abgesplitterter Mörtel fühlte sich frisch an zwischen meinen Fingerspitzen.

Und? Das ist wohl kaum ungewöhnlich in Dito-Stadt. Ich mag keine Zufälle, aber derzeit ging es mir vor allem darum, mit Blane alles zu klären und dann nach Hause zu gehen.

Ich kehrte um, erreichte wieder die Straße zwischen den großen Recyclingbehältern und verharrte, als ich ein leises Zischen hörte.

Es kam von oben und klang nach meinem Namen.

Ich trat rasch zur Seite, griff unter meine Jacke und sah empor.

Ein zweites leises Zischen lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen der Ziehharmonikaschläuche, der von den oberen Stockwerken des Teller-Gebäudes zu einem Behälter führte. In seinem halb durchsichtigen Innern zeichnete sich eine Silhouette ab, wand sich hin und her und zog an einem kleinen Riss im Schlauch. Die Gestalt hatte die Beine gespreizt, um nicht die letzten beiden Meter in den Recyclingbehälter zu fallen.

Ihre Bemühungen waren natürlich vergeblich. Ätzende Dämpfe würden den Rest des Pseudolebens, das noch in dem armen Burschen steckte, schnell verschlingen. Und wenn nicht … Der nächste Dito, der in den Schlauch sprang, landete sicher mit genug Wucht auf diesem Duplikat, um es in die Recyclingsuppe zu stoßen.

Nun, so etwas geschieht gelegentlich, insbesondere bei Jugendlichen, die sich noch nicht an den neuen sekundären Zyklus des Lebens aus beiläufigem Tod und trivialer Wiedergeburt gewöhnt haben. Manchmal geraten sie in Panik, wenn das Recycling ansteht. Das ist natürlich. Wenn man Erinnerungen prägt und seine Seele in eine Tonpuppe kopiert, so nimmt man viel mehr mit als nur eine Liste der an diesem Tag zu erledigenden Dinge. Kopiert werden auch Überlebensinstinkte, die aus der langen Ära stammen, als Menschen nur einen Tod kannten – den endgültigen.

Es läuft alles auf Persönlichkeit hinaus. In der Schule wird darauf hingewiesen: Man stelle nur dann Ditos her, wenn man loslassen kann.

Ich hob meine Waffe.

»He, Kumpel, möchtest du, dass ich dich von deinem Leid er …«

Ich unterbrach mich, als ich es erneut hörte. Ein einzelnes geflüstertes Wort.

»Mo-o-r-r-r-isssss!«

Ich blinzelte mehrmals und spürte, wie es mir kalt über den Rücken lief. Ein solches Gefühl kann man in seinem ganzen Ausmaß nur im realen Körper mit der ursprünglichen Seele haben, mit dem gleichen Nervensystem, das auf Schemen in der Dunkelheit reagierte wie ein Sechsjähriger.

»Äh … kenne ich dich?«, fragte ich.

»Sie kennen mich nicht so gut wie … ich Sie …«

Ich steckte die Waffe ein, lief los, sprang, griff nach der oberen Kante des Recyclingtanks und zog mich hoch. Kein Schweiß. Eine unserer wichtigsten täglichen Aufgaben – wenn man feststellt, dass man die Realperson ist – besteht darin, den alten Körper in Form zu halten.

Ich stand auf dem Deckel und war den Dämpfen dadurch ein ganzes Stück näher – ihr Duft erscheint attraktiv, wenn man ein Golem in seiner letzten Stunde ist. Als organisches Individuum fand ich ihn ekelhaft. Durch zerrissenes Plastik sah ich ein Gesicht, das infolge von Peptidermüdung und Zerfall zusammensackte. Wangen und Stirn gaben nach, und ihr helles Bananengelb bekam etwas Fahles. Trotzdem erkannte ich eine der Tarnungen, die Beta bevorzugt verwendete.