Gordons Berufung - David Brin - E-Book

Gordons Berufung E-Book

David Brin

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem Atomkrieg

Sechzehn Jahre lang hat Gordon Krantz sich alleine durch die postapokalyptische Welt geschlagen und irgendwie überlebt – bis er das Postauto findet. Ihm kommt eine irrwitzige Idee: Er zieht dem toten Postboten die Uniform aus, legt sie selbst an und macht sich daran, die Briefe zuzustellen, soweit die Adressaten noch am Leben sind. Er gibt vor, Vertreter einer nicht existierenden Übergangsregierung zu sein, der das Postwesen wieder aufbauen soll, und ermuntert die Menschen, Briefe an ihre Verwandten zu schreiben. Dadurch verschafft er sich nicht nur ein Einkommen in Form des Portos – er ermuntert damit auch Tausende zum Wiederaufbauen und bringt neue Hoffnung in eine verloren geglaubte Welt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 507

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAVID BRIN

GORDONS BERUFUNG

Roman

Das Buch

Sechzehn Jahre lang hat Gordon Krantz sich alleine durch die postapokalyptische Welt geschlagen und irgendwie überlebt – bis er das Postauto findet. Ihm kommt eine irrwitzige Idee: Er zieht dem toten Postboten die Uniform aus, legt sie selbst an und macht sich daran, die Briefe zuzustellen, soweit die Adressaten noch am Leben sind. Er gibt vor, Vertreter einer nicht existierenden Übergangsregierung zu sein, der das Postwesen wieder aufbauen soll, und ermuntert die Menschen, Briefe an ihre Verwandten zu schreiben. Dadurch verschafft er sich nicht nur ein Einkommen in Form des Portos – er ermuntert damit auch Tausende zum Wiederaufbauen und bringt neue Hoffnung in eine verloren geglaubte Welt …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

THE POSTMAN

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1985 by David Brin

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

INHALT

Vorspiel – Das dreizehnjährige Tauwetter

Erster Teil – Die Cascades

Zwischenspiel

Zweiter Teil – Cyclops

Gesetz zum Wiederaufbau der Nation

1: Curtin

2: Cottage Grove

3: Eugene

4: Harrisburg

5: Corvallis

6: Dena

7: Cyclops

8: Aufbruch

9: Buena Vista

10: Sciotown

11: Corvallis

12: Oregon

Zwischenspiel

Dritter Teil – Cincinnatus

Zwischenspiel

Vierter Teil – Auch Chaos nicht …

Für Benjamin Franklin,

das schillernde Genie

und für Lysistrate,

VORSPIEL

Das dreizehnjährige Tauwetter

Der kalte Wind wehte noch. Schnee fiel wie Staub. Aber das alte Meer hatte es nicht eilig.

Die Erde hatte sich sechstausend Mal gedreht, seit die Flammen aufgeblüht und die Städte gestorben waren. Jetzt, sechs Sonnenumläufe später, wallten keine Rußfahnen mehr aus den brennenden Wäldern und verdunkelten das Tageslicht.

Sechstausend Sonnenuntergänge waren gekommen und gegangen – grellorange hinter schwebendem Staub –, seit die gewaltigen, überheißen Lichtfinger durch die Stratosphäre gegriffen und die Luft mit winzigen Bröckchen aus aufgewirbeltem Fels und Erdreich erfüllt hatten. Die verdunkelte Atmosphäre ließ nur wenig Sonnenlicht durch – und sie kühlte ab.

Es spielte kaum noch eine Rolle, wie es passiert war – ein gigantischer Meteor, ein riesiger Vulkan oder ein Atomkrieg. Temperatur und Luftdruck waren aus dem Gleichgewicht geraten, und gewaltige Winde wehten.

Überall im Norden fiel schmutziger Schnee, den stellenweise nicht einmal der Sommer zum Schmelzen brachte.

Nur der Ozean war wichtig, der zeitlos und störrisch jeder Veränderung widerstand. Der Himmel hatte sich verdunkelt und wieder aufgehellt. Die Winde schoben ockerfarbene, grollende Schleier vor die Sonnenuntergänge. Hier und dort wuchs das Eis, und die flacheren Meere erstickten.

Aber nur die Stimme des Ozeans zählte, und er hatte sie noch nicht abgegeben.

Die Erde drehte sich. Da und dort kämpften Menschen.

ERSTER TEIL

Die Cascades

1.

Inmitten von Staub und Blut, mit dem beißenden Geruch der Angst in der Nase, stellt das Gehirn oft seltsame Verbindungen her. Nachdem er die Hälfte seines Lebens, meist im Kampf ums nackte Überleben, in der Wildnis verbracht hatte, kam es Gordon seltsam vor, dass sich während eines Kampfes auf Leben und Tod immer noch halb vergessene Erinnerungen in sein Bewusstsein schoben.

Als er keuchend unter ein knochentrockenes Dickicht kroch und verzweifelt einen Unterschlupf suchte, kam die Erinnerung, so scharf wie die staubigen Steine unter der Nase. Sie war ein Kontrast, denn die Bilder zeigten einen regnerischen Nachmittag in der warmen, behaglichen Universitätsbibliothek – eine lange verlorene Welt voller Bücher, Musik und sorgloser philosophischer Grübeleien.

Worte auf einer Buchseite.

Er schleppte sich durch den zähen, widerspenstigen Farn und konnte die Buchstaben beinahe sehen, schwarz auf weiß. An den Namen des Verfassers konnte er sich nicht erinnern, aber die Worte kamen klar und deutlich.

Abgesehen vom Tode selbst kann es so etwas wie eine ›endgültige‹ Niederlage nicht geben. Keine Niederlage ist so vernichtend, dass ein entschlossener Mensch nicht fähig wäre, aus der Asche etwas aufzubauen – indem er alles riskiert, was er noch hat …

Nichts in der Welt ist so gefährlich wie ein verzweifelter Mensch.

Gordon wünschte, der schon lange tote Autor wäre jetzt bei ihm und befände sich in der gleichen Klemme wie er. Er hätte gern gehört, wie sich der hemmungslose Optimist aus dieser Katastrophe herausgeredet hätte.

Zerrissen und zerkratzt von der wilden Flut ins dichte Gebüsch kroch er so leise wie möglich weiter. Ab und zu, wenn ihn der treibende Staub in der Nase kitzelte, hielt er inne und schloss die Augen. Er kam nur langsam weiter und hatte Schmerzen, und er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.

Vor wenigen Minuten war er so gut ausgerüstet gewesen, wie es ein einsamer Wanderer in diesen Zeiten nur sein konnte. Jetzt besaß Gordon nur noch ein zerfetztes Hemd, verblichene Jeans und Mokassins, und seine Sachen wurden von den Dornen in Stücke gerissen.

Jeder neue Kratzer auf Armen und Rücken jagte ihm einen Feuerstoß durch den Körper. Aber in diesem schrecklichen, knochentrockenen Dschungel konnte er nur weiterkriechen und beten, dass ihn sein gewundener Weg nicht zurück zu seinen Feinden führte – in die Arme jener, die ihn im Grunde bereits umgebracht hatten.

Als er schon dachte, dass das teuflische Dickicht nie mehr enden würde, sah er endlich eine Lichtung. Der Farn öffnete sich über einem Abhang voller Felstrümmer zu einem schmalen Spalt. Gordon befreite sich aus den Dornen, rollte sich auf den Rücken und starrte zum dunstigen Himmel hinauf. Er freute sich über die Luft, die nicht mehr nach heißem, trockenem Aas stank.

Willkommen in Oregon, dachte er lakonisch. Und ich dachte, Idaho wäre schlimm.

Er hob den Arm und versuchte, sich den Staub aus den Augen zu wischen.

Oder werde ich einfach zu alt für solche Abenteuer? Schließlich war er schon über dreißig und hatte damit die Lebenserwartung eines Wanderers nach dem Holocaust überschritten.

Mein Gott, ich wünschte, ich wäre daheim.

Er dachte nicht an Minneapolis. Die Prärie war heute eine Hölle, aus der er seit mehr als einem Jahrzehnt fliehen wollte. Nein, daheim bedeutete Gordon mehr als ein bestimmter Ort.

Ein Hamburger, ein heißes Bad, Musik, ein Antiseptikum …

… ein kühles Bier …

Als sich sein beschleunigter Atem beruhigt hatte, hörte er wieder andere Geräusche – die überdeutliche, lautstarke Freude der Plünderer. Die Stimmen hallten etwa dreißig Meter entfernt an der Bergflanke. Die Räuber lachten, als sie Gordons Sachen durchwühlten.

… ein paar nette Streifenpolizisten …, fügte Gordon hinzu. Er sehnte sich nach den Annehmlichkeiten einer schon lange toten Welt.

Die Banditen hatten ihn in einem unachtsamen Augenblick erwischt, als er am Spätnachmittag an seinem Lagerfeuer Holundertee trank. Vom ersten Augenblick an, als sie den Weg heraufkamen und direkt auf ihn zuhielten, war klar gewesen, dass der Mann mit dem geröteten Gesicht Gordon auf der Stelle töten wollte.

Er hatte nicht lange gezögert und dem ersten Räuber den brühend heißen Tee ins Gesicht geschüttet. Dann war er zwischen den Brombeeren verschwunden. Sie hatten zweimal geschossen, das war alles. Wahrscheinlich war den Räubern seine Leiche weniger wert als eine unersetzliche Kugel. Seine Sachen hatten sie sowieso schon.

Das dachten sie jedenfalls.

Gordon lächelte schmal und bitter, während er sich vorsichtig aufsetzte und sich rückwärts in die Felsspalte schob, bis er vom Abhang unten nicht mehr zu sehen war. Er zupfte die Zweige aus seinen Kleidern und löste die halbvolle Feldflasche vom Gürtel, um seinen brennenden Durst mit einem langen Schluck zu löschen.

Gesegnete Paranoia, dachte er. Seit dem Weltkrieg hatte er sich nie weiter als drei Schritte von seinem Gürtel entfernt. Der Gürtel war das einzige, was er vor seiner Flucht in die Brombeeren hatte schnappen können.

Das dunkelgraue Metall seines .38er Revolvers war von einer feinen Staubschicht bedeckt. Er zog ihn aus dem Halfter, blies den Staub von der stummelläufigen Waffe und überprüfte sie gründlich. Das leise Klicken sprach spröde von der Kunstfertigkeit und der tödlichen Präzision eines vergangenen Zeitalters. Auch im Töten war die alte Welt unübertroffen gewesen.

Ganz besonders in der Kunst des Jätens, erinnerte Gordon sich. Unten am Hang hallte raues Gelächter.

Normalerweise hatte er die Waffe mit vier Kugeln geladen. Jetzt zog er zwei weitere wertvolle Kugeln aus der Gürteltasche und lud die leeren Klammern vor und unter dem Hammer. ›Sicherheit im Umgang mit Feuerwaffen‹ war kein Thema mehr, vor allem, weil er ohnehin erwartete, an diesem Abend zu sterben.

Ich bin sechzehn Jahre einem Traum hinterhergejagt, dachte Gordon. Erst dieser lange, vergebliche Kampf gegen den Zusammenbruch … das Überleben im Dreijährigen Winter … und jetzt, nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt herumgezogen bin und Seuchen und Hunger überstanden habe, nachdem ich gegen die verdammten Holnisten und wilde Hundemeuten gekämpft habe, nachdem ich für mein Essen als Schauspieler aufgetreten bin und immer hoffte, den nächsten Tag noch zu erleben, nachdem ich suchte und suchte …

… einen Ort …

Gordon schüttelte den Kopf. Er kannte seine Träume genau. Es waren alberne Phantasien, für die es in dieser Welt keinen Raum gab.

… einen Ort, an dem jemand Verantwortung übernahm …

Er schob den Gedanken beiseite. Was immer er gesucht hatte, die lange Suche schien hier in den trockenen, kalten Bergen jener Gegend zu enden, die einst das östliche Oregon gewesen war.

An den Geräuschen drunten erkannte er, dass die Banditen ihre Sachen packten und sich bereitmachten, mit der Beute abzuziehen. Dichte Vorhänge aus vertrockneten Ranken versperrten Gordons Blick zu den Goldkiefern im Tal, aber bald erschien ein stämmiger Mann, der eine verblichene, karierte Jagdjacke trug, aus der Richtung seines Lagers und wandte sich auf einem Pfad in nordöstlicher Richtung bergab.

Die Kleidung des Mannes bestätigte, was Gordon in den wenigen Sekunden vor seiner Flucht undeutlich gesehen hatte. Wenigstens trugen die Angreifer nicht die Tarnfarben der Army – das Kennzeichen der Holnisten, dieser gesetzlosen, schwerbewaffneten Survivalisten.

Das sind ganz normale, handelsübliche, gottverdammte Banditen.

Und wenn dem so war, dann bestand noch eine winzige Chance, dass der Plan, der langsam Gestalt annahm, zu etwas führen würde.

Vielleicht.

Der erste Bandit hatte sich Gordons Regenjacke um die Hüfte gewickelt. In der rechten Armbeuge trug er die gedrungene Schrotflinte, die Gordon aus Montana mitgebracht hatte. »Komm schon!«, brüllte der bärtige Räuber. »Du hast deinen Spaß gehabt. Pack den Kram zusammen und setz dich in Bewegung!«

Der Anführer, dachte Gordon.

Ein zweiter Mann, kleiner und schäbiger gekleidet, kam eilig herbei. Er trug einen Kleidersack und ein altes Gewehr. »Junge, was für ein Fang! Das müssen wir feiern. Ob wir was zu Saufen kriegen, wenn wir mit dem Zeug zurückkommen, Jas?« Der kleine Räuber hüpfte wie ein aufgeregter Vogel. »Mann, Sheba und die Mädchen werden platzen, wenn sie hören, wie der Bursche im Gebüsch verschwunden ist. Wie ein Kaninchen, Mann. Ich hab noch nie jemand so schnell rennen gesehen!« Er kicherte.

Gordon runzelte die Stirn, als zu seinen Blessuren eine Beleidigung hinzugefügt wurde. So war es fast überall – diese postatomare Gefühllosigkeit, an die er sich trotz der langen Zeit noch nicht gewöhnt hatte. Er lugte mit einem Auge durch das kurze Gras auf dem Rand der Spalte, holte tief Luft und brüllte hinunter:

»Ich würde an deiner Stelle nicht damit rechnen, dass es was zu Saufen gibt, du Mickymaus!« Das Adrenalin ließ seine Stimme schriller klingen, als ihm lieb war, aber dagegen konnte er nichts tun.

Der große Mann ging unbeholfen zu Boden und kroch hinter einen Baum in Deckung. Der kleine Räuber blickte den Hügel hinauf.

»Was … Wer ist da oben?«

Gordon war etwas erleichtert. Ihr Verhalten verriet, dass die Hundesöhne keine Survivalisten waren, und ganz bestimmt keine Holnisten. Wären sie es gewesen, dann wäre er jetzt wahrscheinlich schon tot.

Die anderen Banditen – Gordon zählte insgesamt fünf – eilten mit ihrer Beute über den Pfad. »Runter!«, befahl der Anführer aus seinem Versteck. Der Kleine schien zu bemerken, wie ungeschützt er war, und gesellte sich hastig zu seinen Kameraden im Unterholz.

Alle Räuber bis auf einen – ein hohlwangiger Typ mit angegrauten Koteletten, der einen Bergsteigerhut trug. Statt sich zu verstecken, ging er ein Stück weiter, kaute an einer Kiefernnadel und musterte gelassen das Dickicht.

»Warum die Angst?«, fragte er ruhig. »Der arme Kerl hatte kaum mehr als seine Unterhosen an, als wir ihn erwischten. Wir haben sein Gewehr. Lasst uns sehen, was er will.«

Gordon hielt den Kopf unten. Aber die gedehnte, gekünstelte Sprechweise des Mannes entging ihm nicht. Er war der einzige, der glatt rasiert war, und trotz der Hindernisse konnte Gordon erkennen, dass seine Kleidung sauber und gepflegt war.

Auf ein leises Knurren seines Anführers hin zuckte der lässige Bandit die Achseln und schlenderte hinter eine gegabelte Kiefer. Aus seinem dürftigen Versteck rief er den Hügel hinauf: »Bist du da, Angsthase? Warum hast du uns nicht zum Tee eingeladen? Aber andererseits, wenn ich sehe, wie Jas und Little Wally Besucher meistens behandeln, kann ich dir nicht vorwerfen, dass du abgehauen bist.«

Unglaublich, aber er ließ sich mit diesem Idioten auf einen Wortwechsel ein. »Das dachte ich mir schon«, rief er hinunter. »Danke, dass du meinen Mangel an Gastfreundschaft verstehst. Übrigens, mit wem habe ich die Ehre?«

Der große Typ lächelte breit. »Mit wem …? Ah, ein gebildeter Mensch. Welche Freude. Es ist lange her, dass ich zum letzten Mal die Stimme eines kultivierten Menschen hören durfte.« Er nahm den Bergsteigerhut ab und verneigte sich. »Ich bin Roger Everett Septien, ehemaliges Mitglied der Pacific Stock Exchange, und im Augenblick ein Räuber. Was meine Kollegen angeht …«

Die Büsche raschelten. Septien lauschte und zuckte schließlich die Achseln. »Leider«, rief er zu Gordon hinauf. »Normalerweise würde ich mir die Gelegenheit zu einer angenehmen Unterhaltung nicht entgehen lassen. Du hast das sicher genauso vermisst wie ich. Unglücklicherweise besteht aber der Anführer unserer kleinen Gemeinschaft von Halsabschneidern darauf, dass ich herausfinde, was du willst, damit wir endlich weiterkommen. Also sprich, Angsthase! Wir sind ganz Löffel.«

Gordon schüttelte den Kopf. Der Typ hielt sich offenbar für klug, aber sein Humor war viertklassig, selbst nach den Maßstäben dieser Zeit. »Wie ich bemerke, habt ihr nicht alle meine Sachen mitgenommen. Habt ihr euch entschlossen, nur das zu nehmen, was ihr braucht, und mir genug zum Überleben zurückzulassen?«

In den Büschen kicherte jemand, dann fielen die anderen heiser ein. Roger Septien sah nach links und rechts und hob die Hände. Sein übertriebener Seufzer schien zu bedeuten, dass er zumindest die Ironie in Gordons Frage zu schätzen wusste.

»Leider«, sagte er noch einmal. »Ich erinnere mich, diese Möglichkeit meinen Gefährten gegenüber erwähnt zu haben. So könnten unsere Frauen vielleicht die Zeltpfähle und das Packgeschirr aus Aluminium gebrauchen, während wir, wie ich vorschlug, den Rucksack und das Zelt zurücklassen könnten, die für uns nutzlos sind. Nun, in gewisser Weise haben wir das auch getan. Allerdings befürchte ich, dass Wallys … ah … Veränderungen nicht deine Zustimmung finden werden.«

Wieder kicherte es im Gebüsch. Gordon sank in sich zusammen.

»Was ist mit meinen Stiefeln? Ihr seid alle gut bekleidet. Passen sie überhaupt einem von euch? Könnt ihr sie nicht zurücklassen? Und meine Jacke und die Handschuhe?«

Septien hüstelte. »Ah, ja. Das sind wichtige Dinge, nicht wahr? Das Gewehr steht natürlich nicht zur Debatte.«

Gordon spuckte. Natürlich nicht, du Idiot. Das hättest du Knallkopf mir nicht extra sagen müssen.

Wieder war die durch das Blattwerk gedämpfte Stimme des Anführers zu hören. Wieder kicherte jemand. Der ehemalige Börsenmakler seufzte schmerzerfüllt. »Mein Anführer fragt, was du im Austausch anzubieten hast. Natürlich weiß ich, dass du nichts hast. Aber ich muss trotzdem fragen.«

Doch Gordon besaß einige Dinge, die sie vielleicht haben wollten – zum Beispiel den Kompass am Gürtel und das Schweizer Offiziersmesser.

Aber wie standen seine Chancen, einen solchen Austausch zu überleben? Man musste kein Telepath sein, um zu erkennen, dass diese Hunde nur mit ihrem Opfer spielten.

Gordon kochte vor Wut, besonders, als er Septiens falsches Mitgefühl sah. Er hatte in den Jahren nach dem Zusammenbruch diese Mischung aus grausamer Verachtung und zivilisiertem Benehmen schon bei vielen ehemals gebildeten Menschen gesehen. Für ihn waren solche Leute verabscheuungswürdiger als jene, die einfach ins Barbarentum zurückgefallen waren.

»Hör mal!«, rief er. »Ihr braucht die Stiefel doch gar nicht! Und meine Jacke und meine Zahnbürste und das Notizbuch braucht ihr auch nicht. Die Gegend hier ist sauber, was wollt ihr also mit meinem Geigerzähler? Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich mein Gewehr zurückbekomme, aber ohne diese anderen Sachen muss ich sterben, verdammt noch mal!«

Das Echo seines Fluches schien sich wie eine Flüssigkeit über den langen Berghang zu ergießen und hinterließ ein lastendes Schweigen. Dann raschelten die Büsche, und der große Banditenführer stand auf. Er spuckte verächtlich den Hang hinauf und schnippte mit den Fingern. »Jetzt weiß ich, dass er keine Kanone hat«, erklärte er seinen Kumpanen. Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen und winkte in Gordons Richtung.

»Lauf weg, kleiner Angsthase. Lauf weg, sonst ziehen wir dir das Fell ab und schmeißen dich in den Topf!« Er hob Gordons Gewehr, drehte sich um und schlenderte den Pfad hinunter. Die anderen folgten ihm lachend.

Roger Septien zuckte ironisch die Achseln und lächelte in Gordons Richtung. Dann nahm er seinen Anteil an der Beute und folgte seinen Gefährten. Sie verschwanden hinter einer Wegbiegung im Wald, aber Gordon hörte noch einige Minuten lang das allmählich leiser werdende Pfeifen eines zufriedenen Menschen.

Du Volltrottel! So gering seine Chancen auch gewesen waren, er hatte sie völlig vertan, als er an ihre Vernunft und ihr Mitgefühl appellierte. Hier wurde bis aufs Messer gekämpft, und außer aus Ohnmacht gab niemand nach. Die Unsicherheit der Banditen hatte sich in Luft aufgelöst, als er so dumm war, um Fairness zu bitten.

Natürlich hätte er mit seinem .38er schießen und eine wertvolle Kugel verschwenden können, um zu beweisen, dass er doch nicht ganz wehrlos war. Das hätte sie gezwungen, ihn ernst zu nehmen.

Warum habe ich es dann nicht getan? Aus Angst?

Wahrscheinlich, gab er zu. Wahrscheinlich werde ich heute Nacht in der Kälte sterben, aber ich habe noch einige Stunden Zeit, und die Kälte ist eine viel abstraktere und weniger erschreckende und drohende Gefahr als fünf rücksichtslose, bewaffnete Männer.

Er schlug die rechte Faust in die linke Handfläche.

Vergiss es, Gordon! Du kannst dich heute Abend noch analysieren, während du erfrierst. Es läuft doch nur darauf hinaus, dass du ein ausgemachter Idiot bist, und das war's dann wohl.

Er stand steifbeinig auf und arbeitete sich vorsichtig den Hang hinunter. Obwohl er noch nicht ganz bereit war, es sich einzugestehen, dämmerte ihm langsam die Gewissheit, dass es nur eine Lösung gab, nur einen halbwegs vernünftigen Ausweg aus dieser Katastrophe.

Als Gordon das Gebüsch überwunden hatte, humpelte er zum wasserarmen Bach, um sich das Gesicht und die schlimmsten Risse zu waschen. Er wischte sich schweißfeuchte braune Haarsträhnen aus den Augen. Die Kratzer schmerzten teuflisch, aber sie schienen harmlos, so dass er die kostbare Jodsalbe in der Gürteltasche lassen konnte.

Er füllte seine Feldflasche auf und dachte nach.

Außer seiner Pistole und halb den zerfetzten Kleidern, einem Taschenmesser und einem Kompass enthielt sein Gürtel eine Miniaturangel, die sich als nützlich erweisen würde, wenn er erst über die Berge war und einen ordentlichen Wasserlauf erreicht hatte.

Und natürlich zehn Patronen für seinen .38er, kleine, kostbare Relikte der industriellen Zivilisation.

Damals am Anfang, während der Aufstände und des großen Hungers, hatte es so geschienen, als wäre der Munitionsvorrat unerschöpflich. Wenn das Amerika der Jahrhundertwende nur halb so gut Lebensmittel gelagert und verteilt hätte, wie seine Bürger Berge von Munition gehortet hatten …

Die rauen Steine stachen in seinen pochenden linken Fuß, als er vorsichtig zu seinem ehemaligen Lager huschte. Mit diesen halb zerfetzten Mokassins würde er nicht weit kommen. Seine Kleidung war in den kalten Nächten im Gebirge ungefähr genauso hilfreich wie seine Appelle an die Fairness der Banditen.

Die kleine Lichtung, auf der er vor knapp einer Stunde sein Lager aufgeschlagen hatte, war inzwischen verlassen, aber die Verwüstungen, die er dort sah, übertrafen seine schlimmsten Befürchtungen.

Die Banditen hatten sein Zelt in einen Haufen Plastikfetzen verwandelt, und sein Schlafsack war ein wilder Haufen aus Gänsedaunen. Die einzig nützlichen Dinge, die er noch fand, waren der schlanke Langbogen, den er aus einem jungen Baum geschnitten hatte, und die Darmsehne, mit der er experimentiert hatte.

Wahrscheinlich haben sie ihn für einen Gehstock gehalten. Sechzehn Jahre, nachdem die letzte Fabrik ausgebrannt war, hatten Gordons Räuber den potentiellen Wert eines Bogens und einer Sehne völlig übersehen; irgendwann würde es überhaupt keine Munition mehr geben.

Er stocherte mit dem Bogen in den Trümmern herum und forschte, ob noch etwas zu retten war.

Unglaublich. Die haben mein Tagebuch mitgenommen! Dieser Hund von Septien freut sich wahrscheinlich schon, dass er jetzt im Winter was zu lesen hat und kichert über meine Abenteuer und meine Naivität, während Pumas und Bussarde meine Knochen abpicken.

Die Vorräte waren natürlich weg: das getrocknete Fleisch, die angekeimten Körner, die er in einem kleinen Dorf in Idaho im Austausch für ein paar Lieder und Geschichten bekommen hatte; der winzige Vorrat an harten Bonbons, die er in den Eingeweiden eines geplünderten Automaten gefunden hatte.

Das mit den Bonbons geht in Ordnung, dachte Gordon, während er seine zertrampelte, ruinierte Zahnbürste aufhob.

Warum haben die das gemacht?

Gegen Ende des Dreijährigen Winters – während die Reste seiner Militärabteilung für eine Regierung, von der man seit Monaten nichts mehr gehört hatte, die Sojasilos von Wayne, Minnesota bewachte – waren fünf seiner Kameraden an schlimmen Mundinfektionen gestorben. Es waren schreckliche, unrühmliche Todesfälle, und man konnte nicht sicher sein, ob es biologische Kampfstoffe, die Kälte und der Hunger oder das völlige Fehlen moderner Hygiene gewesen war. Gordon wusste nur, dass die Aussicht, dass ihm die Zähne im Mund verfaulten, seine ganz persönliche Phobie war.

Hunde, dachte er, während er die kleine Bürste wegwarf. Er gab dem Müllhaufen einen Tritt. Da war nichts mehr, was ihn umstimmen konnte.

Du trödelst. Mach schon! Tu's!

Gordon fühlte sich steif, aber bald bewegte er sich so schnell und leise, wie er konnte, den Pfad hinab und huschte durch den knochentrockenen Wald.

Der stämmige Anführer der Banditen hatte ihm angedroht, ihn in den Kochtopf zu stecken. Kannibalismus war in der Anfangszeit recht verbreitet gewesen, und dieses Bergvolk mochte an Menschenfleisch durchaus Geschmack gefunden haben. Dennoch musste er ihnen klarmachen, dass ein Mann, der nichts zu verlieren hatte, gefährlich war.

Nach einer halben Meile waren ihm die Spuren vertraut: zwei Fährten mit den weichen Umrissen von Hirschleder, drei von Gummisohlen aus der Zeit vor dem Krieg. Sie ließen sich Zeit, und es würde ihm nicht schwerfallen, seine Feinde einzuholen.

Das war aber nicht seine Absicht. Gordon versuchte sich an den Morgen zu erinnern, als er den Weg heraufgekommen war.

Der Pfad verläuft nach Norden und verliert dabei an Höhe. Er umrundet die Ostflanke des Berges, bevor er nach Südosten in das Wüstental unten abschwenkt.

Aber was ist, wenn ich ihnen über dem Hauptpfad den Weg abschneide und den Berghang weiter oben überquere? Dann könnte ich zu ihnen hinabstoßen, solange es noch hell ist … solange sie sich noch hämisch freuen und mit nichts Bösem rechnen.

Wenn ich nur eine Abkürzung finde …

Der Pfad schlängelte sich allmählich nach Nordosten bergab, in Richtung der länger werdenden Schatten, in Richtung der Wüsten des östlichen Oregon und Idaho. Gordon war am vorigen Tag oder an diesem Morgen wahrscheinlich unterhalb der Wachtposten der Räuber vorbeigekommen, und sie hatten ihn in aller Ruhe verfolgt, bis er sein Lager aufschlug. Dann musste ihr Räubernest also irgendwo in der Nähe dieses Pfades liegen.

Obwohl er humpelte, konnte Gordon sich leise und rasch bewegen; das war der einzige Vorteil von Mokassins gegenüber Stiefeln. Bald hörte er vor sich und etwas unterhalb leise Geräusche.

Die Räuber. Die Männer lachten und rissen Witze. Es klang schrecklich in seinen Ohren.

Es war nicht so sehr, weil sie über ihn lachten. Rohe Grausamkeit gehörte in diesen Zeiten zum Leben, und wenn Gordon sich auch nicht darauf einstellen konnte, so erkannte er immerhin doch, dass in dieser Barbarenwelt er der Anachronismus aus dem zwanzigsten Jahrhundert war.

Nein, die Geräusche erinnerten ihn an ein anderes Gelächter, an die rauen Scherze von Männern, die zusammen in Gefahr gewesen waren.

Drew Simms – der sommersprossige Assistenzarzt mit dem lässigen Grinsen, ein heimtückischer Schach- und Pokerspieler – die Holnisten haben ihn erwischt, als sie Wayne einnahmen und die Silos niederbrannten …

Tiny Kielre – er hat mir zweimal das Leben gerettet, und alles, was er am Totenbett von mir verlangte, während ihn der Mumps auffraß, war, dass ich ihm Geschichten vorlas …

Dann war da noch Lieutenant Van gewesen – ihr halb vietnamesischer Zugführer. Gordon hatte erst, als es schon zu spät war, bemerkt, dass der Lieutenant an seinen eigenen Rationen sparte, damit die Männer mehr bekamen. Als er starb, bat er darum, in eine amerikanische Flagge gehüllt begraben zu werden.

Gordon war schon lange allein. Er vermisste die Gesellschaft solcher Männer fast genauso wie die Freundschaft einer Frau.

Er hatte das Gebüsch zur Linken beobachtet und bemerkte eine Lücke, in der ein abschüssiger Nebenweg – vielleicht eine Abkürzung nach Norden – quer über die Bergflanke zu beginnen schien. Das staubtrockene Gebüsch krachte, als er den Pfad verließ und sich einen Weg bahnte. Gordon glaubte sich an einen guten Platz für einen Hinterhalt zu erinnern, wo sich der Weg hufeisenförmig unter einem hohen Felsüberhang hindurchwand. Dort konnte ein Schütze ein Stück weit oben im Überhang eine Schussposition finden und hatte alles, was um die Kurve kam, auf dem Präsentierteller.

Wenn ich nur vor ihnen da bin …

Vielleicht konnte er sie überraschen und zwingen, mit ihm zu verhandeln. Das war der Vorteil, wenn man nichts zu verlieren hatte. Jeder vernünftige Bandit würde lieber weiterleben und am nächsten Tag weiterrauben. Gordon musste davon ausgehen, dass sie lieber auf die Stiefel, eine Jacke und etwas Essen verzichteten, als einen oder zwei Männer zu verlieren.

Gordon hoffte, dass er niemand töten musste.

Mensch, werd endlich erwachsen! Während der nächsten Stunden konnten seine altmodischen Skrupel zu seinem größten Feind werden. Sei wenigstens dieses eine Mal knallhart!

Die Stimmen auf dem Weg wurden wieder leiser, während er sich über den Berghang bewegte. Einige Male musste er gezackte Spalten oder dornige Brombeergebüsche umgehen. Gordon konzentrierte sich darauf, den kürzesten Weg zu seinem Hinterhalt im Fels zu finden.

Bin ich jetzt weit genug?

Er arbeitete sich grimmig weiter. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, musste der Hinterhalt, an den er dachte, nach einer langen Nordkurve an der Ostwand des Berges auftauchen.

Er fand einen schmalen Wildwechsel, auf dem er durch den dichten Kiefernwald rasch vorankam. Er blieb mehrmals stehen, um den Kompass abzulesen. Es war eine schwierige Entscheidung. Um gegen seine Feinde eine Chance zu haben, musste er über ihnen bleiben. Wenn er zu hoch war, würde er andererseits sein Ziel verfehlen, ohne es zu bemerken.

Und bald kam die Dämmerung.

Ein Schwarm wilder Tauben flog auf, als er über eine kleine Lichtung trottete. Natürlich hatte die rapide Abnahme der menschlichen Bevölkerung dazu geführt, dass sich die Wildtiere stärker ausbreiteten, aber die Vögel waren eher ein Anzeichen dafür, dass er sich einem Landstrich näherte, der besser bewässert war als das trockene Idaho. Vielleicht würde sich sein Bogen noch als sehr nützlich erweisen – wenn er lange genug lebte, um den Umgang mit ihm zu lernen.

Er wandte sich bergab; er wurde langsam unruhig. Wenn der Hauptpfad nicht abgeschwenkt war, musste Gordon ein ganzes Stück oberhalb von ihm sein. Vielleicht war er schon zu weit nach Norden abgekommen.

Endlich bemerkte Gordon, dass sich der Wildwechsel eindeutig nach Westen wandte. Er schien auch wieder anzusteigen und lief auf einen Spalt in den Bergen zu, der im Spätnachmittagsdunst nur undeutlich zu sehen war.

Er blieb für einen Augenblick stehen, um zu Atem zu kommen und sich zu orientieren. Vielleicht war es nur ein Pass durch die kalte, halbtrockene Cascade Range, der zum Willamette River Valley und schließlich zum Pazifik führte. Seine Karte war weg, aber er wusste, dass er nach ein paar Wochen Marsch in jene Richtung Wasser, Schutz, Bäche mit Fischen und Wild zum Jagen finden würde, und vielleicht …

Und vielleicht sogar ein paar Leute, die versuchten, die Welt wiederaufzubauen. Die Sonne schien wie ein strahlender Heiligenschein durch die hohen Wolken; das Licht ähnelte dem fast vergessenen Leuchten über einer Stadt. Eine Verheißung, die ihn bewogen hatte, den Mittelwesten zu verlassen und sich auf die Suche zu begeben. Der Traum – so hoffnungslos er auch war – ließ ihm keine Ruhe.

Gordon schüttelte den Kopf. Im Gebirgszug gab es Schnee, Pumas und Hungersnot. Er durfte nicht von seinem Plan abweichen. Jedenfalls nicht, wenn er überleben wollte.

Er suchte nach einem Weg bergab, aber die schmalen Wildwechsel zwangen ihn nach Norden und Westen. Die Wegbiegung musste inzwischen schon hinter ihm liegen. Aber das dichte, trockene Unterholz trieb ihn dem Pass entgegen.

In seiner Verärgerung hätte Gordon fast das Geräusch überhört. Aber dann blieb er plötzlich stehen und lauschte.

Waren das Stimmen?

Vor ihm spaltete eine tiefe Kluft den Wald. Er eilte darauf zu, bis er die Umrisse der Berge sehen konnte, die in dichtem Nebel lagen; auf der Westseite bernsteinfarben und tief purpurn, wo die Sonne nicht mehr schien.

Die Stimmen kamen von unten, von Osten. Und, ja, es waren Stimmen. Gordon sah sich um und entdeckte einen gewundenen Weg an der Bergflanke. Weit entfernt sah er einen Farbfleck, der langsam durch den Wald heraufkam.

Die Banditen! Aber warum kamen sie bergauf? Das war ausgeschlossen, es sei denn …

Es sei denn, Gordon war schon viel zu weit nördlich des Pfades, den er gestern benutzt hatte. Anscheinend hatte er den Überhang verpasst und war oberhalb eines Nebenweges herausgekommen. Die Banditen nahmen eine Abzweigung, die er gestern übersehen hatte und die zu diesem Pass hinaufführte, statt zu dem, in dem sie ihn überrascht hatten.

Es musste der Weg zu ihrem Unterschlupf sein!

Gordon blickte den Berg hinauf. Ja, er konnte im Westen, auf einem Bergrücken in der Nähe des weniger benutzten Passes, einen schmalen Spalt sehen. Leicht zu verteidigen und kaum durch Zufall zu entdecken.

Gordon lächelte grimmig und wandte sich ebenfalls nach Westen. Den Hinterhalt konnte er vergessen, aber wenn er sich beeilte, war er vor den Banditen im Unterschlupf und konnte vielleicht stehlen, was er brauchte – Essen, Kleidung und etwas, um die Vorräte zu tragen.

Aber wenn das Versteck bewacht war?

Nun, vielleicht konnte er eine Frau als Geisel nehmen und verhandeln.

Ja, das ist viel besser. Genau wie eine Zeitbombe besser ist als Nitroglyzerin in der Hand.

Aber im Grunde hasste er beide Alternativen.

Er rannte los, duckte sich unter Ästen hindurch und wich verwitterten Baumstümpfen aus, während er über den schmalen Wildwechsel hastete. Bald fühlte Gordon einen seltsamen Überschwang. Er hatte sich festgelegt, und seine gewohnten Selbstzweifel konnten ihm jetzt nicht mehr in die Quere kommen. Der Adrenalinschub vor dem Kampf brachte ihn fast auf einen Trip. Seine Schritte wurden länger, und die Büsche flogen förmlich vorbei. Er streckte sich, um über einen umgestürzten, vermoderten Baumstamm zu springen, löste sich vom Boden …

Als er landete, schoss der Schmerz wie eine Lanze sein linkes Bein hinauf. Etwas Spitzes hatte den dünnen Mokassin durchbohrt. Gordon knallte mit dem Gesicht voraus in den Kies eines trockenen Bachbetts.

Er rollte sich herum und presste die Hand auf die schmerzende Stelle. Durch feuchte, schmerzverzerrte Augen sah er, dass er über die Schlinge eines dicken, verrosteten Stahlkabels gestolpert war. Zweifellos die Überbleibsel eines Holzfällerlagers aus der Zeit vor dem Krieg. Doch während sein Bein schmerzhaft pochte, waren seine Gedanken absurd rational.

Achtzehn Jahre ist meine letzte Tetanusimpfung her. Na fein.

Aber nein, er hatte sich nicht am Seil geschnitten, er war nur hängengeblieben.

Aber das war schon schlimm genug. Er hielt seinen Schenkel und biss die Zähne zusammen und versuchte, den bösen Krampf loszuwerden.

Endlich ließen die Schmerzen nach. Er schleppte sich zum umgestürzten Baum und setzte sich vorsichtig. Er zischte durch zusammengebissene Zähne, während der Schmerz langsam verebbte.

Unterdessen hörte er die Banditen nicht weit unterhalb vorbeilaufen. Der Vorsprung, der sein einziger Vorteil gewesen war, schrumpfte mit jeder Sekunde.

Soviel zu meinem großartigen Plan, den Unterschlupf vor ihnen zu erreichen. Er lauschte, bis ihre Stimmen auf dem Weg verklungen waren.

Endlich stemmte Gordon seinen Bogen wie einen Wanderstab auf den Boden und richtete sich auf. Er belastete vorsichtig sein linkes Bein. Es trug ihn, wenn es auch noch leicht zitterte.

Wenn ich vor zehn fahren so gestürzt wäre, dann wäre ich sofort wieder aufgestanden und weitergerannt, ohne mir Gedanken zu machen. Sieh es ein! Du bist alt, Gordon! Ausgelaugt! Wenn man in diesen Zeiten vierunddreißig und allein ist, dann ist man alt und so gut wie tot.

Es würde keinen Hinterhalt geben. Er konnte den Banditen nicht einmal zur Spalte im Berg folgen. Es war sinnlos, sie in einer mondlosen Nacht zu verfolgen.

Er machte ein paar Schritte, und der pochende Schmerz ließ langsam nach. Bald konnte er wieder laufen, ohne sich schwer auf seine behelfsmäßige Krücke zu stützen.

Fein, aber wohin? Vielleicht sollte er das letzte Tageslicht nutzen, um eine Höhle zu suchen oder einen Haufen Kiefernnadeln, damit er die Nacht überlebte.

In der zunehmenden Kälte sah Gordon zu, wie die Schatten im Wüstental höherkrochen und die Flanken der nahen Berge verdunkelten und miteinander verschmelzen ließen. Die tiefrote Sonne sandte ihre letzten Strahlen durch die Zacken der schneebedeckten Berge zur Linken.

Er blickte nach Norden und war noch unschlüssig, ob er weitergehen sollte, als er einen Lichtblitz bemerkte, ein grelles Funkeln im dichten Wald auf der anderen Seite der schmalen Schlucht. Er setzte den linken Fuß vorsichtig auf und machte ein paar Schritte. Er runzelte die Stirn.

Die Waldbrände, die einen großen Teil der trockenen Cascades verwüstet hatten, hatten diesen Teil des Berges verschont. Ja, dort drüben auf der anderen Seite war etwas wie ein Spiegel. Er vermutete, dass der Reflex wegen der Hügel nur von diesem Punkt aus und nur am Spätnachmittag zu sehen war.

Also hatte er sich geirrt. Der Unterschlupf der Banditen war nicht dort oben im Pass, sondern viel näher. Er hatte ihn nur durch einen Glückszufall bemerkt.

Also bekomme ich jetzt Tipps? Ausgerechnet jetzt?, klagte er die Welt an. Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte. Und jetzt bekomme ich noch Strohhalme, an die ich mich klammern soll.

Die Hoffnung war wie eine Sucht. Sie hatte ihn sein halbes Leben lang nach Westen getrieben. Nachdem er schon fast hatte aufgeben wollen, erkannte Gordon jetzt die Umrisse eines neuen Plans.

Konnte er versuchen, eine Hütte voller bewaffneter Männer zu überfallen? Er sah sich selbst, wie er die Tür eintrat und ihnen die Pistole mit einer Hand vor die erstaunten Gesichter hielt, während er sie mit der anderen fesselte.

Warum nicht? Vielleicht waren sie betrunken, und er war verzweifelt genug, um es zu versuchen. Ob er eine Geisel nehmen konnte? Mensch, sogar eine Ziege, die Milch gab, war für sie wertvoller als seine Stiefel. Und eine gefangene Frau mochte noch mehr einbringen.

Die Idee schmeckte ihm nicht. Es hing zum Beispiel alles davon ab, ob der Banditenanführer vernünftig war. Ob er die geheimen Kräfte eines verzweifelten Mannes erkannte und ihn mit dem gehen lassen würde, was er brauchte?

Gordon hatte oft gesehen, wie Männer aus Stolz Dummheiten machten. Sehr oft. Wenn die mich jagen, bin ich im Eimer. In diesem Zustand könnte ich nicht mal einen Dachs einholen.

Er betrachtete den Reflex auf der anderen Seite des Passes und entschied, dass ihm kaum etwas anderes übrigblieb.

Er kam nur langsam voran. Sein Bein schmerzte, und er musste alle paar Meter stehenbleiben, um die kreuzenden Wildwechsel nach den Spuren seiner Feinde abzusuchen. Außerdem musste er sich zwingen, nicht in jedem Schatten einen Hinterhalt zu vermuten. Diese Männer waren keine Holnisten. Sie waren sogar ziemlich träge. Gordon vermutete, dass ihre Posten in der Nähe des Lagers waren. Falls sie überhaupt welche aufgestellt hatten.

Als das Licht verblasste, verloren sich die Fußabdrücke im sandigen Boden. Aber Gordon wusste die Richtung. Der funkelnde Reflex war nicht mehr zu sehen, doch die Schlucht auf der anderen Seite des Bergsattels, ein dunkler, V-förmiger, baumbestandener Einschnitt, wies ihm die Richtung. Er suchte sich den besten Weg und beeilte sich.

Es wurde rasch dunkler, und ein steifer Wind wehte feuchtkalt von den nebligen Anhöhen herunter. Gordon humpelte einen ausgetrockneten Bach hinauf und stützte sich auf seinen Stab, als er einige Felsen überwinden musste. Als er schätzte, dass er sich seinem Ziel bis auf eine Viertelmeile genähert hatte, verlor sich der Pfad plötzlich. Gordon hob die Unterarme, um sein Gesicht zu schützen, während er versuchte, möglichst leise durch das trockene Unterholz zu laufen. Der treibende Staub kitzelte in der Nase, und er kämpfte verzweifelt gegen den Niesreiz.

Der kalte, nächtliche Nebel rollte die Bergflanken herab. Bald würde sich glitzernder Raureif auf dem Boden sammeln. Gordon zitterte; nicht vor Kälte, sondern vor Erregung. Er wusste, dass es nicht mehr weit war. Auf die eine oder andere Weise stand ihm eine Begegnung mit dem Tod bevor.

In seiner Jugend hatte er über historische und fiktive Helden gelesen. Wenn der Augenblick des Handelns kam, konnten fast alle ihre persönlichen Probleme, ihre Sorgen, ihre Verwirrung und Angst wenigstens so lange beiseite schieben, wie es nötig war. Aber Gordons Verstand schien anders zu funktionieren. Er sah überall nur Schwierigkeiten und verhedderte sich in Zweifeln.

Es waren keine Zweifel über das, was er tun musste. Nach den Maßstäben dieser Welt verhielt er sich genau richtig. Sein Überlebenswille verlangte es. Und wenn er schon sterben musste, dann konnte er wenigstens dafür sorgen, dass die Berge für den nächsten Wanderer etwas sicherer waren, indem er ein paar Banditen mit in den Tod nahm.

Dennoch, je näher die Konfrontation kam, desto mehr erkannte er, dass er sich nicht mit diesem Karma belasten wollte. Im Grunde wollte er keinen dieser Männer töten.

So war es auch damals schon gewesen, als er in Lieutenant Vans kleiner Truppe für die Erhaltung des Friedens in einem Teil des Landes gekämpft hatte und fast selbst gestorben wäre.

Und danach hatte er sich für das Leben eines Barden entschieden. Er war Wanderschauspieler und -arbeiter – unter anderem, um in Bewegung zu bleiben und irgendwo ein Licht zu finden.

Es war bekannt, dass einige der wenigen Gemeinschaften, die nach dem Kriege noch existierten, Fremde als Mitglieder aufnahmen. Frauen waren natürlich immer willkommen, aber einige akzeptierten auch neue Männer. Doch es gab Bedingungen. Gewöhnlich musste sich der Bewerber zum Duell stellen, wenn er am Gemeinschaftstisch sitzen wollte, oder er musste dem Angehörigen eines verfeindeten Stammes den Skalp abziehen, um seinen Mut zu beweisen. Es gab in den Plains und in den Rockies nicht mehr viele richtige Holnisten, aber viele der noch bestehenden Vorposten hatten Rituale entwickelt, mit denen Gordon nichts zu tun haben wollte.

Und nun zählte er seine Kugeln, und ein Teil in ihm bemerkte ungerührt, dass sie wahrscheinlich für die Banditen ausreichten.

Wieder einmal versperrte ihm ein dichtes Brombeergebüsch den Weg. Den Mangel an Früchten machten die Büsche durch Dornen wett. Diesmal schlich Gordon am Saum entlang und suchte sich in der dichter werdenden Dunkelheit vorsichtig einen Weg. Sein Richtungssinn – der nach vierzehn Jahren Wanderschaft geschärft war – funktionierte unbewusst. Er bewegte sich leise und vorsichtig, ohne den Mahlstrom seiner Gedanken zu unterbrechen.

Alles in allem war es schon erstaunlich, dass ein Mann wie er so lange überlebt hatte. Alle, die er als Junge gekannt oder bewundert hatte, waren gestorben, und mit ihnen alle Hoffnungen, die sie verkörpert hatten. Die weiche Welt für Träumer wie ihn war zerbrochen, als er achtzehn war. Inzwischen hatte er erkannt, dass sein unverbesserlicher Optimismus eine Art hysterische Störung sein musste.

Verdammt, heutzutage ist doch jeder verrückt!

Ja, antwortete er sich selbst. Aber Paranoia und Depressionen passen in diese Zeit. Idealismus ist eine Dummheit.

Gordon blieb vor einem kleinen Farbfleck stehen. Er lugte in die Brombeeren und sah, etwa einen Meter im Innern, einen dicken Flecken Blaubeeren, den der zuständige Schwarzbär wahrscheinlich übersehen hatte. Der Nebel schärfte Gordons Geruchssinn; er konnte den dumpfen Herbstgeruch der Beeren deutlich ausmachen.

Er ignorierte die spitzen Dornen, langte ins Gebüsch und zog eine klebrige Handvoll Beeren heraus. Die scharfe Süße schmeckte wild wie das Leben selbst.

Die Dämmerung war fast verblasst, und die ersten Sterne blinkten im dunklen, bewölkten Himmel. Der kalte Wind zerrte an seinem zerrissenen Hemd und erinnerte ihn daran, dass er etwas zu erledigen hatte, bevor seine Hände zu kalt waren, um eine Waffe abzufeuern.

ENDE DER LESEPROBE