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Es geht um die Zukunft unserer Welt
Wir schreiben das Jahr 2038: Um die Erde steht es nicht zum Besten. Der fortgeschrittene Treibhauseffekt und der Raubbau des Menschen an der Natur haben gravierende Auswirkungen auf unsere Umwelt. Ein mikroskopisch kleines Schwarzes Loch, von Menschen erzeugt, ist in den glutflüssigen Erdkern eingedrungen und droht nun, unseren Planeten – und damit auch uns – in den nächsten zwei Jahren zu zerstören. Die Wissenschaftler sind in zwei Lager gespalten: Während die einen fieberhaft versuchen, die drohende Katastrophe im letzten Moment abzuwenden, argumentiert die andere Seite, dass dem Universum am besten geholfen wäre, wenn die Menschheit verschwinden würde, damit die Evolution eine zweite, bessere Chance bekäme …
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Seitenzahl: 1236
DAVID BRIN
ERDE
Roman
Wir schreiben das Jahr 2038: Um die Erde steht es nicht zum Besten. Der fortgeschrittene Treibhauseffekt und der Raubbau des Menschen an der Natur haben gravierende Auswirkungen auf unsere Umwelt. Ein mikroskopisch kleines Schwarzes Loch, von Menschen erzeugt, ist in den glutflüssigen Erdkern eingedrungen und droht nun, unseren Planeten – und damit auch uns – in den nächsten zwei Jahren zu zerstören. Die Wissenschaftler sind in zwei Lager gespalten: Während die einen fieberhaft versuchen, die drohende Katastrophe im letzten Moment abzuwenden, argumentiert die andere Seite, dass dem Universum am besten geholfen wäre, wenn die Menschheit verschwinden würde, damit die Evolution eine zweite, bessere Chance bekäme …
Titel der Originalausgabe
EARTH
Aus dem Amerikanischen von Winfried Petri
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1990 by David Brin
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Das Illustrat
Wie Schriftsteller so sind, glaube ich, als eine Art Optimist zu gelten. Daher scheint es nur natürlich, daß dieser Roman eine Zukunft entwirft, in der es etwas mehr Weisheit gibt als Torheit … Vielleicht etwas mehr Hoffnung als Verzweiflung.
Tatsächlich ist er wohl das ermutigendste Zukunftsbild, das ich mir gerade jetzt vorstellen kann.
Welch ernüchternder Gedanke!
TEIL I
PLANET
Zuerst kam eine Supernova, die das Universum in einer kurzen üppigen Glorie blendete, ehe sie in vielen Spektralfarben zu verschlungenen Wolken neu geschmiedeter Atome abebbte. Brausende Strudel liefen in Spiralen, ehe einer davon zündete – als neugeborener Stern.
Die jungfräuliche Sonne trug wirbelnde Röcke aus Staub und Elektrizität. Gase, Steine und Stückchen von diesem und jenem fielen in deren Falten und sammelten sich zu trüben Klumpen … Planeten …
Eine kleine winzige Welt kreiste in mittlerer Distanz. Sie besaß eine bescheidene Gruppe von Eigenschaften:
Masse – kaum genug, um einen oder zwei vorbei laufende Asteroiden an sich zu ziehen;
Monde – einen, das Überbleibsel einer heftigen Kollision, aber groß genug, um tiefe Gezeiten zu bewirken;
Drall – um Winde durch eine dampfende Atmosphäre quirlen zu lassen;
Dichte – ein Gebräu, das sich mischte und trennte und dabei wenig versprechende Schlacke an der Oberfläche bildete;
Temperatur – Wärme, die die einzige Stimme des Planeten war, und noch dazu eine schwache, die von der glühenden Sonne überwältigt wurde. Und was kann ein Planet dem Universum überhaupt mitteilen, in einem piepsigen Schrei von Infrarot?
»Dies existiert«, wird ständig wiederholt. Dies ist ein kondensierter Stein, der mit ungefähr dreihundert Grad strahlt, unbedeutend in stellarem Maßstabe.
»Dieser Fleck, ein Stäubchen, existiert.«
Eine schlichte Feststellung gegenüber einem gleichgültigen Kosmos – die Signatur einer Gesteinswelt, getönt durch salzige, von Rauch verwehte Pfützen.
Aber dann rührte sich etwas Neues in diesen Pfützen. Es war eine Trivialität – eine bloße Entfärbung hier und da. Aber in diesem Augenblick veränderte sich die Stimme. Sie wechselte sanft die Tonhöhe; immer noch schwach und undeutlich, schien sie dennoch jetzt zu sagen:
»Ich … bin …«
KERN
Eine grollende Gottheit blickte funkelnd auf Alex. Schräge Sonnenstrahlen warfen Schatten über die eingekerbten Wangen und die ausgestreckte Zunge des großen Tu, des Kriegsgottes der Maori.
Ein mürrisches Idol, dachte Alex beim Betrachten der geschnitzten Figur. Ich würde mich genau so fühlen, wenn ich da angebracht wäre, um die Wand vom Büro eines Milliardärs zu schmücken.
Alex kam es so vor, als ob die hölzerne Nase des Großen Tu dem Gnomon einer Sonnenuhr ähnelte. Sein Schatten gab die Zeit an und kroch zu dem gemäßigten Ticken einer großväterlichen Uhr des zwanzigsten Jahrhunderts in der Ecke voran. Die Silhouette streckte sich allmählich liebevoll einem Geoden aus funkelndem Amethyst entgegen – einem der vielen geologischen Schätze von George Hutton. Alex wettete mit sich selbst, daß der Schatten sein Ziel nicht erreichen würde, ehe die sinkende Sonne durch die Berge im Westen abgedeckt wäre.
Und das träfe wohl auch auf George Hutton zu. Wo, zum Teufel, ist der Mann? Warum hat er dieser Zusammenkunft zugestimmt, wenn er blöderweise nicht aufkreuzen wollte?
Alex blickte wieder auf seine Uhr, obwohl er wußte, wie spät es war. Er ertappte sich dabei, daß er mit einem Schuh nervös gegen das Tischbein in der Nähe klopfte, und hörte damit auf.
Was haben Jen und Stan dir immer gesagt? »Alex, lerne Geduld!«
Die gehörte nicht zu seinen herausragenden Tugenden. Aber in den letzten paar Monaten hatte er eine Menge gelernt. Es war bemerkenswert, wie es den Geist auf ein Ziel konzentrierte, wenn man ein Geheimnis hütete, welches den Weltuntergang bedeuten könnte.
Er blickte auf Stan Goldman, seinen Freund und früheren Mentor, der diesen Termin mit dem Vorsitzenden von Tangoparu Ltd. ausgemacht hatte. Anscheinend unberührt durch die Verspätung seines Chefs, war der hagere ältliche Theoretiker in die letzte Ausgabe der Physical Review vertieft.
Keine Hoffnung auf Zerstreuung hier. Alex seufzte und ließ den Blick noch einmal durch George Huttons Büro schweifen in der Hoffnung, von dem Mann eine Vorstellung zu bekommen.
Natürlich war der Konferenztisch mit den besten und neuesten elektronischen Tafeln ausgerüstet, um an das Weltdatennetz heranzukommen. Eine ganze Wand wurde von einem Bildschirm für aktive Ereignisse ausgefüllt, einer Montage von Echtzeitbildern aus verschiedensten Stellen der Erde – Zeppelinfahrten über Wuhan … Sonnenaufgang in einem nordafrikanischen Dorf … den Lichtern irgendeiner Stadt der Welt.
Echte holographische Skulpturen mythischer Tiere schimmerten am Eingang der Suite; aber dem Pult am nächsten waren Huttons teuerste Schätze – Mineralien und Erze, gesammelt während eines Menschenlebens durch Schürfen in der Kruste des Planeten, einschließlich eines riesigen Blutzirkons, der auf einem Sockel genau unter der Maori-Maske glitzerte. Alex war betroffen, weil beide Objekte Produkte feuriger Tiegel waren – der eine mineralisch und der andere sozial. Jeder bezeichnete erfolgreichen Widerstand unter Druck. Vielleicht sagte das auch etwas über die Persönlichkeit von George Hutton aus.
Aber vielleicht hatte es auch gar nichts zu bedeuten. Alex hatte nie besondere kritische Menschenkenntnis gehabt. Das bezeugten die Ereignisse des letzten Jahres.
Mit einem plötzlichen Klicken und Summen öffneten sich die Türen der Eingangshalle, und es erschien ein großer brauner Mann, der schwer atmete und von Schweiß bedeckt war.
»Ah! Sie haben es sich bequem gemacht. Gut! Tut mir leid, Sie haben warten zu lassen, Stan. Dr. Lustig. Entschuldigen Sie mich, bitte! Es wird nur einen Moment dauern.« Er zog sich eine verschwitzte Strickjacke von den Schultern und ging an einem Fenster vorbei, das einen Blick auf die Segelschiffe des Hafens von Auckland bot.
George Hutton nehme ich an, dachte Alex, als er seine ausgestreckte Hand senkte und sich wieder hinsetzte. Nicht sehr für Formalitäten. Ich denke, das macht auch nichts.
Von der offenen Tür zum Bad rief Hutton: »Unser Spiel hatte immer wieder Verzögerungen durch Verletzungen erlitten! Zum Glück geringfügiges Zeug. Aber ich bin sicher, Sie verstehen, daß ich das Tangoparu-Team nicht hängen lassen wollte, wenn ich gebraucht wurde. Nicht während der Endspiele gegen Nippon Electric!«
Normalerweise konnte es seltsam scheinen, daß ein Geschäftsmann in den Fünfzigern Termine wegen eines Rugbyspiels vernachlässigte. Aber der dunkle Riese, der sich da bei der Begrüßung abtrocknete, schien völlig unbekümmert vor Siegesfreude zu strahlen. Alex blickte auf seinen früheren Lehrer, der jetzt hier in Neuseeland für Hutton arbeitete. Stan zuckte nur die Achseln, als ob er sagen wollte, Milliardäre machen ihre eigenen Regeln.
Hutton tauchte wieder auf in einem Morgenrock und trocknete sich das Haar mit einem Frottiertuch. »Dr. Lustig, kann ich Ihnen etwas anbieten? Wie ist es mit Ihnen, Stan?«
»Nichts, danke!«, sagte Alex. Stan nahm weniger schweigsam ein Glas Glenfiddich mit Quellwasser. Dann ließ Hutton sich in einem Plüschdrehsessel nieder und streckte seine langen Beine neben dem Tisch aus Kauriholz aus.
Alex wußte: Was immer geschieht – dies ist meine letzte Hoffnung.
Der Maori-Ingenieur und Geschäftsmann betrachtete ihn mit stechenden braunen Augen. »Man hat mir gesagt, Sie möchten über den Iquitos-Vorfall diskutieren, Dr. Lustig. Und über das schwarze Mini-Loch, das Ihnen dort aus den Händen geschlüpft ist. Offen gestanden, müßte Ihnen inzwischen wegen dieses Vorfalls ganz schlecht sein vor Verlegenheit. Wie haben einige Schreiberlinge der Presse ihn damals genannt? Ein mögliches China-Syndrom?«
Stan mischte sich ein: »Einige Sensationswütige haben eine Fünfminutenpanik im Weltnetz ausgelöst, bis die wissenschaftliche Öffentlichkeit jedermann bewies, daß winzige Irregularitäten wie die von Alex sich harmlos auflösen. Sie sind zu klein, um von sich aus lange zu dauern.«
Hutton hob eine dunkle Augenbraue: »Stimmt das, Dr. Lustig?«
Alex war mit dieser Frage seit Iquitos schon oft konfrontiert worden. Inzwischen hatte er zahllose Antworten parat – von Fünf-Sekunden-Ton-Spots für die Videokameras bis hin zu zehnminütigen Schlummerliedern für Untersucher des Senats … und zu Stunden abstruser Mathematik zur Besänftigung seiner Physikerkollegen. Er sollte sich inzwischen wirklich daran gewöhnt haben. Aber die Frage war immer noch brennend wie beim ersten Male.
»Sprechen Sie zu mir!«, hatte der Reporter Pedro Manella an jenem grauen Nachmittag in Peru gefragt, als sie zusahen, wie randalierende Studenten die Arbeitsstätte von Alex anzündeten. »Sagen Sie mir, ob das Ding, das Sie gemacht haben, sich nicht bis nach China hin durchfressen wird!«
Seit damals war Lügen ein so gewöhnlicher Reflex geworden, daß es einige Mühe kostete, heute diese Gewohnheit zu durchbrechen. »Hm, was hat Stan Ihnen gesagt?«, fragte er George Hutton, dessen breites Gesicht immer noch unter einem Hauch von Schweiß schimmerte.
»Nur, daß Sie behaupten, ein Geheimnis zu besitzen. Etwas, das Sie vor Reportern und Tribunalen zurückgehalten haben … sogar vor den Sicherheitsagenten eines Dutzend Nationen. Heutzutage und in diesem Zeitalter ist das alleine schon eindrucksvoll.«
Hutton fuhr fort: »Aber wir Maori auf Neuseeland haben ein Sprichwort. Danach muß ein Mensch, der Häuptlinge und sogar Götter täuschen kann, immer noch den Ungeheuern entgegentreten, die er selbst geschaffen hat.
Dr. Lustig, haben Sie ein Monstrum geschaffen?«
Das war eine direkte Frage. Alex erkannte, weshalb Hutton ihn an Pedro Manella an jenem feuchten Abend in Peru erinnerte, als Tränengas jene von Trümmern übersäten Straßen und Kanäle hinabströmte. Die beiden großen Männer hatten Stimmen wie Gottheiten von Hollywood gehabt. Beide waren es gewohnt, Antworten zu bekommen.
Manella war Alex bis zu dem klapprigen Hotelbalkon gefolgt, um einen guten Blick auf das brennende Kraftwerk zu bekommen. Der Reporter schwenkte seine Kamera, als das Hauptgebäude unter Wolken von Zementstaub zusammenstürzte. Jubelnde Studenten boten Manella eine lebendige Szene für Life-Eingabe in das Netz.
Während der Aufnahmen fragte der hartnäckige Journalist: »Als der Mob die Stromkabel kappte, Lustig, wurde Ihr Schwarzes Loch aus seinem magnetischen Käfig freigesetzt. Es ist dann in die Erde gefallen oder nicht? Was geschieht jetzt? Wird es wieder auftauchen und irgendeinen unglücklichen Ort halb um die Welt herum in Feuer und Asche legen?
Lustig, was haben Sie hier gemacht? Eine Bestie, die uns alle verschlingen wird?«
Schon damals erkannte Alex die zwischen den Worten verborgene Botschaft. Der angesehene Frager hatte nicht die Wahrheit gesucht. Er verlangte Bestätigung.
»Nein, natürlich habe ich nicht …«, erinnerte sich Alex, Manella an jenem Tage gesagt zu haben, und jedem anderen danach. Jetzt verzichtete er erleichtert auf diese Lüge.
»Jawohl, Mr. Hutton, ich glaube, den leibhaftigen Teufel hergestellt zu haben.«
Stan Huttons Kopf zuckte hoch. Alex hatte bis zu diesem Augenblick nicht einmal seinem alten Mentor vertraut. Tut mir leid, Stan, dachte er.
Das Schweigen zog sich hin, während Hutton ihn anstarrte. »Sie sagen … die Singularität hat sich nicht zerstreut, wie die Experten erklärt haben? Daß sie immer noch da unten sein kann und Materie aus dem Erdkern absorbiert?«
Alex verstand die Ungläubigkeit des Mannes. Der menschliche Verstand war nicht dafür geschaffen, sich etwas vorzustellen, das kleiner war als ein Atom und doch Megatonnen wog. Etwas klein genug, um durch den dichtesten Felsen zu fallen, aber genötigt, in einem Spiralreigen der Schwerkraft um das Zentrum des Planeten zu kreisen. Etwas Unaussprechliches, das aber unersättlich hungrig war und um so hungriger wurde, je mehr es fraß …
»Die Generäle haben mir ihr Kraftwerk gezeigt … mir einen Blankoscheck angeboten, seinen Kern zu konstruieren. Also habe ich ihrem Wort vertraut, daß sie bald die Genehmigung bekommen würden. Jetzt jeden Tag, haben sie mir immer erzählt.« Alex zuckte die Achseln über seine frühere Leichtgläubigkeit. Eine alte und bittere Geschichte.
»Wie jeder andere war ich sicher, daß das physikalische Standard-Modell korrekt wäre – daß kein Schwarzes Loch leichter als die Erde selbst stabil sein könnte. Noch dazu eines, das so winzig war wie das, welches wir in Iquitos herstellten. Man erwartete, daß es schließlich in kontrolliertem Maße verdampfen würde. Seine Wärme würde drei Provinzen mit Energie versorgen. Die meisten meiner Kollegen meinen, daß solche Einrichtungen binnen eines Jahrzehnts für den Einsatz bereit stehen werden.
Aber die Generäle wollten das Moratorium überspringen …«
»Idioten!«, unterbrach Hutton kopfschüttelnd. »Die haben sich tatsächlich eingebildet, sie könnten so ein Ding geheimhalten? In diesen Tagen?«
Zum erstenmal, seit Alex die Bombe hatte platzen lassen, mischte sich Stan Goldman mit einer Bemerkung ein. »Nun, George, sie müssen geglaubt haben, die Anlage wäre im Amazonasgebiet gut isoliert.«
Hutton brummte zweifelnd, und Alex stimmte nachträglich zu. Das war eine unbesonnene Idee. Er wäre so naiv gewesen, die Versicherungen der Generäle hinsichtlich eines ruhigen Arbeitsmilieus zu akzeptieren, das sich als ebenso unzuverlässig erwies wie die Standardmodelle der Physik.
»Tatsächlich«, fuhr Goldman fort, »wurde infolge einer undichten Stelle in einer Geheimregistratur jener Typ Manella auf die Spur von Alex angesetzt. Andernfalls würde Alex vielleicht noch immer die Singularität hüten, sicher in ihrem Containmentfeld. Ist es nicht so, Alex?«
Der gute alte Stan, dachte Alex liebevoll. Entschuldigt sich noch für seinen Lieblingsschüler, wie er es einst in Cambridge zu tun pflegte.
»Nein, das ist es nicht. Sehen Sie, vor den Unruhen war ich schon mit Vorbereitungen beschäftigt, die Fabrik selber zu sabotieren.«
Während dies Goldman zu überraschen schien, neigte Hutton nur leicht den Kopf. »Sie hatten an Ihrem Schwarzen Loch etwas Ungewöhnliches entdeckt.«
Alex nickte. »Vor 2020 hat sich niemand vorgestellt, daß man solche Dinge überhaupt im Labor würde herstellen können. Als man entdeckte, daß es tatsächlich möglich war, Raum in einem Behältnis zusammenzufalten und eine Singularität herzustellen … Dieser Schock hätte uns Bescheidenheit lehren sollen. Aber Erfolg machte uns statt dessen überheblich. Bald glaubten wir, die verdammten Dinge zu verstehen. Aber es gibt … Feinheiten, die uns niemals eingefallen wären.«
Er breitete die Hände aus. »Ich wurde zuerst mißtrauisch, weil die Dinge zu verflucht gut liefen! Sehen Sie, das Kraftwerk war höchst leistungsfähig. Wir brauchten nicht viel Materie einzuspeisen, um es an der Auflösung zu hindern. Die Generäle waren natürlich entzückt. Aber mich bedrückte der Gedanke: Sollte ich zufällig einen neuen Typ von Loch im Raum geschaffen haben? Einen, der stabil war? Imstande, bloßes Gestein zu verschlingen?«
Stan schnappte nach Luft. Auch Alex war von dieser ersten Realisierung betäubt worden und hatte sich dann wochenlang abgequält, um die Dinge in die eigenen Hände zu bekommen, seine Arbeitgeber herauszufordern und das kleine gefräßige Biest zu entschärfen, das zu schaffen er geholfen hatte.
Aber Pedro Manella war zuerst gekommen – mit einem Sturm von Beschuldigungen; und plötzlich war es zu spät. Um Alex brach seine Welt zusammen, ehe er agieren oder sogar genau herausfinden konnte, was er angerichtet hatte.
»Es ist also ein Monster … ein taniwha«, flüsterte George Hutton. Das Maoriwort klang furchterregend. Der große Mann trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Sehen wir einmal, ob ich das richtig mitgekriegt habe! Wir haben ein angeblich stabiles Schwarzes Loch, von dem Sie annehmen, daß es Tausende von Meilen unter unseren Füßen kreisen kann und möglicherweise instabil wird, noch während wir hier sprechen. Korrekt? Ich nehme an, Sie wollen, daß ich ihnen helfe herauszufinden, was Sie so sorglos falsch gemacht haben?«
Alex war durch Huttons Schnelligkeit fast ebenso beeindruckt, wie durch seine Haltung verärgert. Er unterdrückte eine scharfe Antwort und sagte tonlos: »Ich könnte das wohl so ausdrücken.«
»Nun wohl. Wäre es zu viel verlangt zu fragen, wie Sie nach einem derart schwer faßbaren Gegner suchen wollen? Es ist etwas hart, da unten im Erdkern herumzubuddeln.«
Hutton glaubte offenbar ironisch zu sein. Aber Alex erteilte ihm eine direkte Antwort. »Ihre Gesellschaft stellt schon viel von dem Gerät her, das ich brauchen würde … wie jene supraleitenden Gravitationssonden, die sie für Erzmutungen benutzen.« Alex griff nach seiner Tasche. »Ich habe Modifikationen konzipiert …«
Hutton hob die Hand. Aus seinen Augen war jede Spur von Zynismus verschwunden. »Vorerst genügt mir Ihr Wort. Es wird natürlich kostspielig sein? Macht nichts. Wenn wir nichts finden, werde ich die Kosten aus Ihrer pakeha-Haut bestreiten. Ich werde Ihnen das Fell abziehen und das blasse Ding in einem Touristenladen verhökern. Einverstanden?«
Alex schluckte. Er konnte nicht glauben, daß das so einfach sein konnte. »Einverstanden. Und wenn wir es finden?«
Hutton runzelte die Stirn. »Nun … dann wäre ich sowieso ehrenhaft verpflichtet, Ihre Haut zu nehmen, tohunga. Weil Sie einen solchen Teufel geschaffen haben, unsere Erde zu verschlingen, sollte ich …«
Plötzlich hielt der große Mann inne. Er stand auf und schüttelte den Kopf. Am Fenster schaute er hinab auf die Stadt Auckland, deren Abendlichter anfingen, sich wie pulverisierte Edelsteine über die Hügel hin auszubreiten. Hinter der Metropole lagen bewaldete Hänge, die sich zur Manukau-Bay absenkten. Vom Dämmerungslicht gefärbte Wolken zogen regenschwer langsam von der Tasmanischen See heran.
Die Szene erinnerte Alex daran, wie ihn als Kind seine Großmutter nach Wales mitgenommen hatte, um zu sehen, wie sich die herbstlichen Blätter drehten. Damals wie jetzt hatte es ihn jäh berührt, wie vergänglich alles schien … das Laub, die ziehenden Wolken, die geduldigen Berge … die Welt.
George Hutton sagte leise, während er immer noch den friedlichen Anblick draußen betrachtete: »Sie wissen, damals, als die Imperien der Amerikaner und Russen einander lange an der Schwelle eines nuklearen Krieges gegenüber standen, träumten Menschen in der nördlichen Hemisphäre davon, hierher zu fliehen. Haben Sie das gemerkt, Lustig? Jedesmal, wenn es eine Krise gab, waren die Fluglinien plötzlich überbucht mit ›Urlaubsreisen‹ nach Neuseeland. Die Leute müssen das für den idealen Platz gehalten haben, um einen Holocaust zu überdauern.
Und das hat sich mit den Verträgen von Rio nicht geändert, oder doch? Mit einem Großen Krieg war es aus; aber dann kamen Krebsseuche, Treibhaushitze, Ausdehnung der Wüsten … und natürlich eine Menge kleiner Kriege – wegen einer Oase hier, eines Flusses dort.
Während dieser Zeit haben wir Kiwis uns immer noch glücklich gefühlt. Unser Regen hat uns nicht verlassen. Unsere Fischfangerträge fielen nicht aus.
Jetzt sind alle Illusionen entschwunden. Es gibt keinen sicheren Platz mehr.«
Der große Mann wandte sich um und blickte Alex an. Trotz seiner Worte lag in den Augen des Ingenieurs und Industriemagnaten kein Widerwillen. Nicht einmal Schärfe. Nur etwas, das Alex als schwere Resignation ansah.
»Lustig, ich möchte Sie hassen; aber Sie haben diesen Job offenbar recht geschickt selbst im Untervertrag übernommen. Und so berauben Sie mich auch der Rache.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Alex aufrichtig.
Hutton nickte. Er schloß die Augen und holte tief Luft.
»Nun gut also, gehen wir an die Arbeit! Wenn Tane, der Vater der Maoris, in die Eingeweide der Erde hinabsteigen konnte, um gegen Ungeheuer zu kämpfen, wie könnten wir uns da verweigern?«
□ Seit mehr als zwei Dekaden haben wir bei der Mutter unsere berühmte Liste von ›Reserven für die Ruhe der Natur‹ durchgehalten, von seltenen Stellen auf der Erde, wo man stundenlang dasitzen und keine Geräusche außer denen der Wildnis hören konnte.
Unsere dreißig Millionen Abonnenten in der Welt haben eine führende Rolle gespielt, um diese Reserven aufmerksam zu schützen. Es genügt ein einziger gedankenloser Akt, beispielsweise durch Planer von Luftverkehr, um ein kostbares Schutzgebiet in einen weiteren geräuschvollen und ungesunden Ort zu verwandeln, ruiniert durch das rauhe Gekrächze über Humanität.
Unglücklicherweise scheinen selbst sogenannte ›erhaltungsinteressierte‹ Beamte immer noch besessen zu sein von archaischen Vorstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts bezüglich Erhaltung. Sie denken, es genüge, ein paar Waldflächen hier und da freizuhalten von Entwicklung, von chemischen Lecks oder saurem Regen. Aber selbst wenn sie Erfolg haben, feiern sie das durch Eröffnung von Wanderpfaden und Ermunterung immer größerer Mengen an Schaulustigen, die, wie vorauszusehen ist, Abfall hinterlassen, Wurzelsysteme niedertrampeln, Erosion bewirken und – was am schlimmsten ist – alle aus Leibeskräften in überströmender Begeisterung über ›Einssein mit der Natur‹ plappern.
Es ist erstaunlich, daß die wenigen noch vorhandenen Tiere einander in diesem Tollhaus noch finden können, um sich fortzupflanzen.
Mit Ausnahme von Grönland und der Antarktis wurden in unserer letzten Übersicht siebenundneunzig Ruhereservate gemeldet. Wir bedauern jetzt melden zu müssen, daß zwei in dem diesjährigen Test gefehlt haben. Bei diesem Tempo wird es bald überhaupt keine Ruhezonen auf der Erde mehr geben.
Und unsere Korrespondenten aus Ozeanien melden, daß die Dinge dort noch schlimmer werden. Zu viele Landratten scheinen von den offiziellen Schiffahrtsrouten abzuweichen – Urlauber, die die Heiterkeit der Natur suchen, aber auf diese Weise zu stillen Orten die Seuche ihrer eigenen Stimmen bringen.
(Und dann gibt es noch diesen katastrophalen Ozeanstaat, den wir hier besser gar nicht erwähnen, um keine totale Verzweiflung aufkommen zu lassen!)
Selbst der südliche Indische Ozean, die letzte Grenze von Einsamkeit auf Erden, zittert unter der Kakophonie unserer verfluchten zehn Milliarden und deren Maschinen. Es würde den Autor wahrhaftig nicht überraschen, wenn Gaia endlich genug hätte, aus ihrem wechselvollen Schlummer erwachen und auf unseren Lärm mit einem Beben antworten würde, wie es dieser Planet noch nie erlebt hat.
– Aus Heft März 2038 von Die Mutter.
[□ Direkter Zugriff PI-63-AA-1-888-66-7767.]
HOLOSPHÄRE
Es gibt viele Möglichkeiten der Fortpflanzung. (Ein so hübsches Wort!) So spät in ihrem langen Leben glaubte Jen Wolling ziemlich alles darüber zu wissen.
Der Ausdruck paßte besonders auf die Biologie – auf alle die verschiedenartigen Mittel, die das Leben benutzte, um seinen großen Feind, die Zeit, zu überwinden. Dieser Wege gab es so viele, daß Jen manchmal darüber rätselte, warum alle Leute über die eine traditionelle Weise, den Sex, soviel Aufhebens machte.
Gewiß hatte Sex manches für sich. Es half, die Veränderlichkeit in einer Spezies zu sichern – ein Glücksspiel, bei dem sich die Gene des einen mit denen des anderen Partners mischten mit der Chance, daß wohltätige Zufälle die unvermeidlichen Fehler überwiegen könnten. Tatsächlich hatte Sex den meisten höheren Lebensformen gut und lange genug gedient, um durch viele angenehme neurale und hormonale Reaktionen verstärkt zu werden.
In früheren Tagen hatte Jen solche Wege am lebenden Objekt und mit viel Eifer ausgelotet. Sie hatte sie auch genauer kartiert in primitiven, aber immer noch hingebungsvollen mathematischen Darstellungen. Von ihr stammten die ersten Computermodelle, die theoretische Grundlagen für Empfindungen, logische Erklärungen für Ekstase und sogar Theoreme für die mysteriöse Kunst der Mutterschaft aufzeigten.
Zwei Gatten, drei Kinder, acht Enkelkinder und einen Nobelpreis später kannte Jen Mutterschaft aus jedem Gesichtswinkel, obwohl ihre wilden Hormonströme jetzt nur noch der Erinnerung angehörten. Na schön! Es gibt noch andere Typen der Fortpflanzung. Andere Wege, auf denen selbst eine alte Frau der Geschichte einen Stempel aufprägen könnte.
»Nein, Baby!«, schimpfte sie und zog einen hellroten Apfel von den Stangen zurück, die das geräumige Labor teilten. Zwischen den Stahlstäben wedelte ein grauer Tentakel, um die Frucht zu ergreifen.
»Nein! Nicht, bis du höflich darum bittest.«
An ihrem Pult in der Nähe seufzte eine schwarze junge Frau. »Jen, würdest du aufhören, die arme Kreatur zu reizen?« Pauline Cockerel schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß Baby dich nicht verstehen wird, sofern du die Worte nicht durch Zeichen begleitest.«
»Unsinn! Sie versteht genau. Paß auf!«
Das Tier stieß enttäuscht einen quäkenden Trompetenstoß aus. Dann beruhigte es sich und rollte den Rüssel um ein Gestrüpp aus verfilztem Haar, das ihm tief unter die Augen hing.
»Das ist ein braves Mädchen«, sagte Jen und warf ihr den Apfel zu. Baby fing ihn geschickt auf und zerkaute ihn glücklich.
Die jüngere Frau schnaufte: »Reine Aktionskonditionierung. Hat nichts mit Intelligenz oder Erkenntnisvermögen zu tun.«
Jen entgegnete: »Erkenntnisvermögen ist nicht alles. Zum Beispiel muß Höflichkeit in einem tieferen Niveau verankert werden. Es ist gut, daß ich hierhergekommen bin. Sie würde sonst verdorben werden.«
»Hm – wenn du mich fragst, so bist du gerade dabei, eine neue Runde von PNS auszuhecken.«
»PNS?«
»Post-Nobel-Syndrom«, erklärte Pauline.
»Immer noch?«, fauchte Jen. »Nach all diesen Jahren?«
»Warum nicht? Wer sagt, daß man sich davon je erholt?«
»Du hörst dich an, als sei es eine Krankheit.«
»Das ist es auch. Schau auf die Geschichte der Wissenschaften! Die meisten Preisträger werden entweder zu sturen Verfechtern des Status quo – wie Hayes und Kalumba – oder zu Bilderstürmern wie du, die unbedingt Steine auf heilige Kühe werfen wollen …«
»Eine gemischte Metapher«, erklärte Jen.
»… und über Details meckern und sich selbst zur Last fallen.«
»Bin ich mir schon einmal lästig gefallen?«, fragte Jen arglos.
Pauline richtete die Augen gen Himmel. »Du meinst, außer daß du willkürlich unangemeldet hierherkommst und dich in Babys Training einmischst?«
»Ja. Das auch.«
Seufzend zog Pauline eine Datentafel aus einem Haufen breiter, oblatendünner Lesegeräte. Diese war auf die letzte Nummer von Nature eingestellt … eine Seite im Korrespondenzteil.
»Ach das«, bemerkte Jen. Sie war in die hermetische, klimatisierte Pyramide der Arche London gekommen, um der Flut von telephonischen und Netzanrufen zu entgehen, die sich in ihrem Labor aufhäuften. Unvermeidlicherweise wäre einer davon vom Direktor von St. Thomas mit einer Einladung zu einem behaglichen Frühstück mit Blick auf den Fluß, wo er wieder einmal andeuten würde, daß eine emeritierte Professorin in den Neunzigern wirklich mehr Zeit auf dem Lande verbringen und zusehen sollte, wie die ultravioletten Strahlen den Rhododendren drollige Purpurtöne verliehen, anstatt sich rund um den Globus herumzutreiben und die Nase in die Angelegenheiten anderer Forscher zu stecken und sich über Dinge zu äußern, die sie gar nichts angingen.
Hätte jemand anders gesprochen als sie bei der Weltozonkonferenz letzte Woche in Patagonien, wären sie heimgekehrt zu mehr Briefen und Anrufen. Bei dem heutigen politischen Klima wäre die sanfteste Folge eine erzwungene Pensionierung gewesen. Ade, Labor in der City! Ade, großzügige Gutachten und Reisebewilligungen!
Diese kleine schwedische Medaille hatte gewiß auch ihre angenehmen Seiten. Als Laureat(in) wurde man gleichsam etwas wie jener sagenhafte Neunhundertpfundgorilla, der überall schlief, wo er Lust hatte. Jen fand den Vergleich entzückend, als sie ihr hageres, drahtiges Spiegelbild im Laborfenster betrachtete.
Sie erklärte: »Ich habe nur darauf hingewiesen, was jeder Narr sehen sollte. Daß nichts dadurch erreicht wird, wenn man Milliarden ausgibt, um künstliches Ozon in die Stratosphäre zu blasen. Jetzt, da gierige Idioten aufgehört haben, Chlorverbindungen in die Luft zu spucken, wird sich die Lage bald von selbst korrigieren.«
»Bald?« Pauline war ungläubig. »Dekaden sollen bald die Ozonschicht wieder herstellen? Erzähle das den Farmern, die ihr Vieh mit Augenschützern gesundhalten müssen!«
»Sie sollten überhaupt kein Fleisch essen«, brummte Jen.
»Die UN liefern Hüte und Sonnenbrillen an jedermann. Außerdem beseitigt eine Creme, die nur wenige Pfennige kostet, krebsbegünstigende …«
»Und was ist mit wilden Tieren? Paviane der Savanne hatten es gut. Ihr Habitat wurde gerade vor zehn Jahren als sicher erklärt. Jetzt erblinden viele, und sie müssen schließlich in den Archen gesammelt werden. Wie meinst du, werden wir hier damit zurechtkommen?« Pauline deutete in das weite Atrium der Arche London mit ihren sich auftürmenden Rängen abgeschlossener künstlicher Habitate. Das riesige Gebäude hängender Gärten und peinlich geregelter Milieus war weit entfernt von seinen Ursprüngen in dem alten Regent-Park-Zoo. Und dabei war es nur eine von fast hundert solchen Strukturen, die in der ganzen Welt verstreut waren.
Jen antwortete: »Du wirst so weitermachen wie bisher, indem du günstige Gelegenheiten ausnützt, Überstunden einlegst, dich anschickst …«
»Für jetzt! Aber was ist mit morgen? Der nächsten Katastrophe? Jen, ich kann nicht glauben, was ich da höre. Du hast doch den Kampf für die Archen von Anfang an geführt!«
»So? Bin ich dann eine Verräterin, wenn ich sage, daß dieser Teil des Jobs erfolgreich gewesen ist? Nun, auf manchen Gebieten haben wir sogar den Genpool erweitert – wie hier bei Baby.« Sie deutete mit einem Nicken auf den behaarten Dickhäuter in dem großen Käfig. »Pauline, du solltest Vertrauen in deine Arbeit haben. Die Restaurierung von Habitaten wird eines Tages von den Reißbrettern verschwinden. Die meisten dieser Spezies sollten schon in wenigen Jahrhunderten wieder im Freien sein …«
»Jahrhunderten!«
»Ja, gewiß. Was sind ein paar hundert Jahre, verglichen mit dem Alter dieses Planeten?«
Pauline rümpfte zweifelnd die Nase. Aber dann fuhr Jen mit einem leichten Cockney-Akzent fort: »Cor, warum nimmste das alles so persönlich, Süße? Halt mal kurz die Luft an! Was is das Schlimmste, was passieren kann?«
»Wir könnten jede ungeschützte terrestrische Spezies über zehn Kilo verlieren!«, entgegnete die junge Frau wütend.
»Wirklich? Um ein richtiges Maß zu gewinnen, wollen wir den Inhalt all dieser Archen – die geschützten Arten – und jedes menschliche Lebewesen annehmen. Alle unsere zehn Milliarden. Das wäre bestimmt eine Art Holocaust.
Aber wieviel Unterschied würde das für die Erde ausmachen, Pauline? Sagen wir – in zehn Jahrmillionen von jetzt an? Nicht viel, möchte ich wetten. Die alte Erde wird uns überdauern, wie sie es schon früher getan hat.«
Pauline ließ mit verblüffter Miene das Kinn hängen. Jen fragte sich für einen Moment, ob sie diesmal wirklich zu weit gegangen wäre.
Ihre junge Freundin blinzelte. Dann erschien ein argwöhnisches Lächeln. »Du bist schrecklich! Eine Minute lang habe ich dich tatsächlich ernstnehmen wollen.«
Jen grinste. »Nun … du kennst mich doch besser.«
»Ich weiß, daß du eine hoffnungslose Miesmacherin bist. Es macht dir Spaß, die Leute auf die Palme zu bringen; und eines Tages werden deine gegenteiligen Manieren dein Ruin sein.«
»Hmm. Was denkst du eigentlich, wie ich so lange am Leben interessiert gewesen bin? Wege zu finden, um mich ständig zu amüsieren … das ist mein Rezept für Langlebigkeit.«
Pauline warf die Lesetafel wieder auf das unordentliche Pult. »Ist es das, weshalb du im nächsten Monat nach Südafrika gehst? Weil du auf beiden Seiten alle Leute empören wirst?«
»Die Ndebele wünschen, daß ich ihre Archen aus makrobiologischer Sicht inspiziere. Wie immer auch ihre politischen und Rassenprobleme sein mögen, sie sind immer noch vitale Mitglieder des Rettungsprojekts.«
»Aber …«
Jen klatschte in die Hände. »Genug davon! Das hat nichts mit unserem kleinen erbbiologischen Projekt hier zu tun. Mammut americanum. Wollen wir einen Blick in die Akte von Baby werfen? Ich mag im Ruhestand leben, wette aber, daß ich immer noch einen besseren neuralen Gradientenfaktor empfehlen kann als der, den ihr benutzt.«
»Du bist dran. Sie ist im Zimmer nebenan. Ich werde gleich zurück sein.«
Mit jugendlicher Anmut, die Jen liebevoll verfolgte, eilte Pauline aus dem Labor und ließ Jen allein, um über die mysteriösen Möglichkeiten sprachlicher Mehrdeutigkeit nachzugrübeln.
Es war wirklich eine üble Angewohnheit, die Leute auf den Arm zu nehmen. Aber im Verlauf der Jahre wurde es leichter. Sie alle verziehen so, als ob sie direkt darauf gewartet und es von ihr verlangt hätten. Und weil sie jedermann testete und gegenteilige Meinungen vorurteilslos aufnahm, schienen immer weniger Leute zu glauben, sie meinte überhaupt etwas, das sie sagte!
Vielleicht – das mußte Jen anstandshalber einräumen – wäre das die langfristige Rache der Welt an ihr. Alles, was sie sagte, als Witz aufzufassen. Das wäre für die sogenannte ›Mutter des modernen Gaia-Paradigmas‹ irgendwie schicksalhaft.
Jen streichelte Babys Rüssel und kratzte die gewölbte Stirn, wo eine induzierte Neotenie dem Mischling von Elefant und Mammut einen vergrößerten Cortex verschafft hatte. Der Pelz an den Brauen von Baby war lang und ölig und hatte einen scharfen, aber doch irgendwie angenehmen Geruch. Das weltweite Netzwerk genetischer Archen hatte einen Überfluß an Dickhäutern, selbst dieser neuen Züchtung – ›Mammnontelephas‹ –, wovon die Hälfte der Gene aus einem zwanzigtausend Jahre alten Kadaver geborgen worden waren, den die sich zurückziehende kanadische Tundra freigegeben hatte. So viele davon gediehen wirklich, daß man einige für Experimente über verlängerte Kindheit bei Säugetieren erübrigen konnte. Natürlich unter strenger Aufsicht durch die Wissenschaftstribunale und Komitees für die Rechte der Tiere.
Gewiß schien die Kreatur recht glücklich zu sein. »Wie steht es damit, Baby?«, flüsterte Jen. »Freust du dich darüber, daß du klüger bist als ein durchschnittlicher Elefant? Oder möchtest du lieber draußen in der Prärie sein, dich im Schlamm wälzen, Bäume entwurzeln, dich über Zecken beklagen und trächtig werden, ehe du zehn bist?«
Der Rüssel mit rosiger Spitze kringelte sich um ihre Hand. Sie streichelte ihn zart. »Du bist für dich selbst doch schrecklich wichtig, nicht wahr? Und du bist auch ein Teil des Ganzen.
Aber bist du wirklich wichtig, Baby? Bin ich es?«
Tatsächlich war es ihr mit jedem Wort, das sie zu Pauline gesagt hatte, ernst gewesen – darüber, wie sogar massenhafte Ausrottungen auf lange Sicht im Grunde bedeutungslos sein würden. Eine ganze Lebenszeit, verbracht mit der Errichtung der theoretischen Fundamente der Biologie, hatte sie davon überzeugt. Die Homöostase des Planeten – Gaias – war stark genug, sogar große Kataklysmen zu überleben.
Oftmals hatten jähe Todeswellen Arten, Zweige und sogar ganze Ordnungen ausgerottet. Die Dinosaurier waren nur die spektakulärsten Opfer einer Episode. Und dennoch entzogen immer noch während jeder mörderischen Katastrophe Pflanzen weiterhin der Luft Kohlendioxid. Tiere und Vulkane schickten das wieder zurück – plusminus einige wenige Prozentpunkte.
Sogar der sogenannte Treibhauseffekt, der jedermann beunruhigt hatte – durch Abschmelzen von Eiskappen, Ausbreitung von Wüstenflächen und Vertreibung von Millionen vor den ansteigenden Meeren – selbst dieses katastrophale Ergebnis menschlichen Exzesses würde nie den großen Überschwemmungen vergleichbar sein, die dem Perm-Zeitalter gefolgt sind.
Jen billigte durchaus die Art, wie in diesen Tagen ein jeder loszog und Briefe schrieb, Gesetze einbrachte und technische Verfahren zur ›Rettung der Erde‹ vor Fehlern des zwanzigsten Jahrhunderts entwarf. Schließlich pflegten doch nur wahnsinnige Kreaturen ihre eigenen Nester zu beschmutzen, und die Menschheit konnte es sich nicht leisten, viel mehr Wahnsinn zu dulden. Aber Jen hatte ihre eigene, zugegeben exzentrische Meinung, gegründet auf einer persönlichen, verschrobenen und nie ausgesprochenen Identifikation mit der Welt des Lebens.
Draußen im Atrium hallte ein dumpfes Gerumpel von den Wänden der Glaskaverne wider. Sie erkannte das tiefe Knurren eines Tigers, ihres Totemtiers laut einem Schamanen, mit dem sie einen Sommer verbracht hatte, ehe das vorige Jahrhundert zu Ende ging. Er hatte gesagt, ihres wäre »der Geist einer großen Mutterkatze …«
Was für ein Unsinn! Aber – was für ein hübscher Bursche er doch gewesen war! Sie erinnerte sich an sein Aroma von Kräutern, Holzrauch und männlichem Moschus, obwohl sie sich jetzt nur schwer genau seinen Namen ins Gedächtnis rufen konnte.
Macht nichts! Er war weg. Eines Tages könnten allen Bemühungen von Leuten wie Pauline zum Trotz auch die Tiger verschwunden sein.
Aber manche Dinge dauerten an. Jen lachte, als sie Babys Rüssel streichelte.
Wenn wir Menschen uns selbst umbringen, sind die Gene der Säugetiere reich genug, uns binnen einiger Millionen Jahre durch eine andere, vielleicht weisere Rasse zu ersetzen. Vielleicht Abkömmlinge von Koyoten oder Waschbären, Kreaturen, die so anpassungsfähig sind, daß sie nie in Archen Zuflucht nehmen müssen. Zu zäh, um durch irgendeine Kalamität ausgelöscht zu werden, die unseresgleichen erzeugt.
Oh, Babys zarte Spezies könnte uns vielleicht nicht überleben, aber Wanderratten werden es sicher. Ich möchte wissen, was für Hüter des Planeten ihre Nachkommen sein werden.
Baby wimmerte leise. Die Kreuzung von Elefant und Mammut sah Jen mit sanften Augen an, die besorgt wirkten, als ob die Kreatur irgendwie Jens beunruhigenden Gedankengang spürte. Jen lachte und tätschelte das nackte graue Fleisch. »O Baby, Oma meint nicht die Hälfte von dem ernst, was sie sagt … oder denkt! Ich tue es nur zu meinem persönlichen Vergnügen.
Keine Sorge! Ich werde nicht zulassen, daß schlimme Dinge passieren. Ich werde immer über dich wachen.
Ich werde hier sein. Immer.«
□ Weltnetznachrichten: Kanal 2651 Allgemeines Interesse/Level 9+ (Kopie)
»Drei Millionen Bürger der Republik Bangladesh haben mit angesehen, wie ihre Felder und Dörfer weggespült wurden, als frühe Monsune ihre von Hand erbauten Dämme sprengten und Reste des verstümmelten Grundbesitzes in sumpfige Untiefen verwandelten, welche von der ansteigenden Bucht von Bengalen bedeckt wurden …«
[□ Für Details siehe STORM 23.]
[Bild tränenüberströmter brauner Gesichter, die in dumpfer Verzweiflung auf die geblähten Körper von Tieren und umgekippte überschwemmte Ruinen von Bauernhäusern blicken.]
»Es gibt Dickköpfe, welche alle früheren Angebote der Wiederansiedlung abgelehnt haben. Aber jetzt stehen sie vor einer bitteren Wahl. Wenn sie den vollen Flüchtlingsstatus annehmen und sich ihren Brüdern in sibirischem oder australischem Neuland zugesellen, würde das auch Annahme aller damit verbundenen Bedingungen bedeuten. Insbesondere müssen sie Eide zur Bevölkerungseinschränkung leisten …«
[□ Für die spezifischen Eide, siehe REFUGE 43.]
[□ Für die spezifischen medizinischen Prozeduren, siehe VASECT 7.]
[Bild einer schwangeren Frau mit vier schreienden Kindern, die ihren entsetzten Gatten zu hellhäutigen Ärzten zerrt. Zoom auf das Schulterabzeichen eines Doktors mit Sichel und Hammer … das Ahornblatt einer kanadischen Schwester. Die Mitglieder des Untersuchungsteams lächeln freundlich. Zu nervös, um Unmut zu zeigen, unterschreibt der junge Bengali ein vorgehaltenes Blatt und verschwindet unter der Zeltklappe.]
»Nach Erreichen ihrer Erträglichkeitsschwelle haben viele den Bedingungen der Gastnationen zugestimmt. Man erwartet aber, daß manche selbst diese letzte Chance ablehnen und statt dessen das rauhe, aber nicht reglementierte Leben als Bürger des Ozean-Staates wählen werden, dessen primitive Schiffe schon auf den Marschen und Untiefen fahren, wo sich einst große Juteländer ausgedehnt haben …«
[□ Allgemeiner Hintergrund, siehe SEASTATE 1.]
[□ Daten über spezifische Flottille, siehe SEA BANGLA 5.]
[Ansichten von Lastkähnen und geborgenen Schiffen aller Formen und Größen, die sich unter prasselndem Regen zusammendrängen. Grobe Bagger untersuchen Skelette eines früheren Dorfes. Sie hieven Holzstücke, Möbel und Krimskrams empor für späteren Gebrauch oder Verkauf als Schrott. Andere, schnellere Schiffe sieht man Schulen silbriger Anchovis durch neu überschwemmte Untiefen verfolgen.]
[□ Echtzeitbild 2376539.365x2370.398, DISPAR XVII Satellit. $ 1.45/Minute.]
»Sprecher für den Ozean-Staat erklären schon Souveränität über die neuen Fischfanggebiete, kraft Reklamation …«
[□ Ref. UN-Dokument 43589.5768/UNORRS 87623ba]
[Diplomaten in Marmorsälen, füllen Papiere aus.]
[Vermessungsleute kartieren Ozeanflächen.]
[□ Zeitlich verzögerte Bilder APW72150/09, Associated Press 2038.6683.]
»Erwartungsgemäß hat die Republik Bangladesh einen Protest durch ihre UN-Delegation vorgebracht. Aber jetzt, wo deren Kapital unter Wasser ist, fangen die Beschwerden an, wie die eines tragischen Geistes zu klingen …«
MESOSPHÄRE
Für Stan Goldman war es eine Offenbarung zu sehen, wie Alex Lustig unter der gewölbten Felsdecke von einem Arbeitsplatz zum anderen eilte. Er dachte bei sich: Du kannst nie etwas über jemanden sagen, bis du ihn in einer Krise siehst.
Da war Alexens aufgeschossene, nach vorn geneigte Figur. Die wirkte hier nicht mehr schlapp oder lethargisch, ein halbes Kilometer unter dem Boden. Vielmehr schien sich der Kerl vorwärts zu beugen, um mehr Hebelkraft zu haben, wenn er sich bewegte, um hier einen langsamen Traktor anzuschieben oder eine widerspenstige Bohrspitze, oder bloß die Arbeiter anzutreiben. Vielleicht war es nur Luftwiderstand, was ihn bremsen konnte.
Stan war nicht der einzige, der seinen früheren Schüler beobachtete, der sich jetzt zu einem schlaksigen braunhaarigen katalytischen Antreiber gewandelt hatte. Manchmal blickten ihm die in diesem tiefen Stollen arbeitenden Männer und Frauen nach, fasziniert durch solche Intensität. Eine Gruppe hatte Schwierigkeiten, Datenverbindungen für den großen Analysator herzustellen. Sofort war Lustig da, kniete sich auf den verklebten alten Guanoboden und improvisierte eine Lösung. Ein anderes Team, das durch eine durchgebrannte Stromleitung in Verzug geraten war, bekam binnen Minuten ein neues Teil von Alex. Er riß es einfach aus dem Aufzug.
»Ich nehme an, daß Mr. Hutton merken wird, wenn niemand zum Essen nach oben kommt«, hörte Stan einen Techniker achselzuckend sagen. »Vielleicht wird er ein Seil benutzen, um uns ein Ersatzteil herunter zu lassen.«
»Nee«, antwortete ein anderer. »George wird das Dinner selbst herunterschicken. Sofern Dr. Lustig uns nicht alle mit intravenösen Injektionsstöpseln versieht, damit wir nicht einmal zum Essen innehalten müssen.«
Diese Bemerkungen waren in guter Stimmung gemacht. Sie können merken, daß dies nicht wieder ein gewöhnlicher Eilauftrag ist, sondern etwas wirklich Dringendes. Indessen war Stan froh, daß er gezwungen war, bei seinem Computer zu bleiben. Sonst hätte – ungeachtet von Alter und früherer Stellung – Alex ihn jetzt rekrutiert, um beim Legen von Kabeln über die Kalksteinwände zu helfen.
Zug um Zug gewann unter der Gebirgskette der Nordinsel von Neuseeland ein Laboratorium Gestalt.
Nur sie drei – Stan, George und Alex – wußten von der verlorenen Singularität, dem schwarzen Loch von Iquitos, das jetzt dabei sein könnte, das Innere des Planeten zu verschlingen. Den Technikern hatte man gesagt, sie suchten eine ›gravitative Anomalie‹ – viel tiefer als jede bisherige Schürfung nach Erzen oder verborgenem Methan gedrungen war. Aber die meisten der Leute erkannten eine Tarngeschichte, wenn sie eine hörten. Das – mit leichtem Grinsen – am meisten verbreitete Gerücht war, daß der Boss eine Karte für die unterirdische Verlorene Welt von Jules Verne und Rice Burroughs und Filmen des zwanzigsten Jahrhunderts gefunden hätte.
Stan dachte: Man wird es ihnen bald sagen. Alex und ich, wir können alle Sichtungen nicht selber bearbeiten. Millionen Kubikkilometer hochbeanspruchter Mineralien und flüssigen Metalls nach einem Objekt abzusuchen, das kleiner ist als ein Molekül, wäre wie die Suche nach einer wirbelnden Nadel in endlosen Feldern von Heuhaufen.
Als ob sie überhaupt etwas damit anfangen könnten, wenn sie wirklich das taniwha da unten fänden. Sogar Stan, der von Alexens neuen Gleichungen am meisten verstand, konnte sich immer nur ein paar Sekunden lang zwingen, an die schrecklichen Resultate zu glauben.
Ich habe vier Enkelkinder, einen Garten, aufgeweckte Studenten, die all ihre kreative Zeit noch vor sich haben, eine Frau, die mich zu einer Persönlichkeit gemacht hat, indem sie seit Jahrzehnten das Leben mit mir teilt … Da sind Bücher, die ich aufgehoben habe, um sie ›später‹ zu lesen. Sonnenuntergänge. Meine Gemälde. Grundbesitz …
Ein solcher Reichtum, obschon von bescheidenem Geldwert, ließ dennoch die Milliarden John Huttons im Vergleich nicht besonders üppig erscheinen. Es war hart und sogar bitter, so spät gezwungen zu sein, hiervon Inventur zu machen und das zu realisieren.
Ich bin ein reicher Mann. Ich will nicht die Erde verlieren.
Stans Ranzencomputer klingelte und unterbrach damit seine trüben Gedanken. In einem kleinen Raum über der offenen Aktentasche gewann ein Bild Gestalt. Es zeigte einen funkelnden Zylinder, dessen Oberflächenglanz weder ganz metallisch, noch aus Kunststoff, noch keramisch war. Er schimmerte eher glitschig wie eine Flüssigkeit, die in einem röhrenartigen Kraftfeld gefangen ist.
Er sah sich die Figuren an und dachte mürrisch: Gut! Das hat lange genug gedauert. Die Hauptantenne kann mit der heutigen Technologie gebaut werden. Nichts Kompliziertes, nur einfache Mikrokonstrukteure. Aber das Programmieren der kleinen Wanzen wird Kopfschmerzen bereiten. Man kann sich keine Gitterfehler leisten, sonst würden sich die davon ausgestrahlten Gravitationswellen über den ganzen Bereich verbreiten.
Stan hatte schon länger, als er sich entsinnen konnte, wilde Vorhersagen gehört, wie Nanomaschinen die Welt verändern würden, Reichtum aus Müll herstellen, neue Städte erbauen und die Zivilisation vor der schrecklichen Perspektive ständig schwindender Hilfsquellen retten sollten. Sie würden auch die Arterien der Menschen wiederherstellen, der Gehirnsubstanz jugendliche Frische verleihen und vielleicht sogar faulen Atem kurieren. Tatsächlich waren ihre Anwendungen begrenzt. Die mikroskopischen Roboter waren Energiefresser und verlangten äußerst wohlgeordnete Arbeitsbedingungen. Schon der Entwurf einer gleichförmigen kristallinen Antenne, Molekül um Molekül in einer chemischen Nährlösung, forderte im voraus Beachtung eines jeden Details.
Stan benutzte sorgsam Alexens Gleichungen, um die Konstruktion richtig hinzukriegen. Er zwang den Zylinder in die genau richtige Form, um kleine Strahlungssonden durch die feurigen Kreise der Hölle in die Tiefe zu schicken auf der Suche nach einem schwer faßbaren Monstrum. Es war eine vergnüglich ablenkende Arbeit.
Als die Explosion erfolgte, riß die erste Schallmauer Stan fast von seinem Hocker. Dröhnende Echos hallten durch die Gesteinsstollen. Es folgte ein Kreischen und ein zischendes Gebrüll.
Männer und Frauen ließen ihr Werkzeug fallen und rannten zu einer Biegung in der Höhle, wo sie in offenem Entsetzen auf etwas starrten. Alex drängte sich durch die Menge zur Störung. Stan stand blinzelnd auf. »Was …?« Aber keiner der laufenden Techniker blieb stehen, um seine Frage zu beantworten.
»Holt eine Leiter!«, schrie jemand.
»Keine Zeit!«, brüllte ein anderer.
Stan arbeitete sich durch einen Verhau aus Rohren und Drähten auf dem Boden und an einer Schar glotzender Gaffer vorbei, um zu sehen, was passiert war. Zunächst schien ein Rohr gebrochen zu sein, aus dem heißer Dampf gegen eine Wand mit Gitterwerk zischte. Aber der Wind, der ihn plötzlich traf, war nicht glühend heiß. Er warf ihn mit einem Schwall bitterer Kälte zurück.
Ist das wohl der flüssige Stickstoff?, befürchtete Stan und beugte sich in die kalte Strömung. Oder ist auch die Heliumleitung gebrochen? Der erste Fall würde einen Rückschlag bedeuten, der zweite wäre eine Katastrophe.
Es gelang ihm, eine Schar von Technikern zu erreichen, die hinter einem Bottich für chemische Synthese Deckung gefunden hatten. Andere hielten ihre flatternden Arbeitsmäntel fest und starrten auf das zerstörte Gerüst, wo ein gebrochenes Rohr jetzt schneidende Kälte ausspie. Meter weit hinter dieser unpassierbaren Schranke hockten zwei Gestalten auf einem schwankenden Laufsteg. Die bibbernden Arbeiter waren isoliert, ohne einen erkennbaren Fluchtweg oder Zugriff zu dem Absperrventil über den hochragenden Kryogentanks.
Jemand wies weiter nach oben zu der gewölbten Decke, und Stan keuchte. Dort hing Alex, an einem Haufen Stalaktiten baumelnd! Er hatte einen Arm um eine Lücke zwischen zwei hängenden Tropfsteinen gelegt, genau über der Stelle, wo sie zusammenliefen. Es sah aus wie ein schrecklich gewagter Perche-Akt.
»Wie ist er da hinaufgekommen?«
Stan mußte diese Frage über dem Gebrüll kalten, unter Druck stehenden Gases zweimal wiederholen. Dann zeigte eine Frau in einem braunen Kittel dahin, wo eine metallene Leiter lag, die in der anbrausenden Kälte kristallisiert und zertrümmert war. »Er hat versucht, an dem Strahl vorbei zum Absperrventil zu gelangen … aber die Leiter hat sich verzogen. Er ist jetzt gefangen!«
Aus seiner gefährlichen Position machte der junge Physiker Zeichen und brüllte. Ein Techniker, ein Vollblutmaori aus George Huttons eigenem iwi, fing an, nach Materialbrocken zu wühlen. Bald wirbelte er ein schweres Objekt am Ende eines Kabels herum und schleuderte es in einem Bogen hoch. Alex verfehlte das Stück, wickelte aber das Kabel um seinen linken Arm. Bröcklige Kalksteinstücke regneten von seinem wackligen Sitzplatz herunter, als er mit den Zähnen und einer Hand mittels eines schon dort befindlichen Meißels einen Bohrer hineinzudrehen suchte.
Wie kann er den Hebelarm finden, um …
Verblüfft beobachtete Stan, wie Alex seine Beine um die Halbsäule schlang. Er klammerte sich an den Stalaktiten und setzte den Bohrer an der stärksten Stelle an, genau über seinem Kopf. Der hängende Fels erbebte. Es erschienen Risse, die sich auf dem Pfeiler an der Stelle von Alexens Zwerchfell kreuzten. Falls er fiele, würde er von einem Teil des zerbrochenen Gerüstes abprallen und direkt in den extrem kalten Gasstrahl geschleudert werden.
Stan hielt den Atem an, als Alex den Meißel hineintrieb, ihn prüfte und rasch eine Kabelschlinge durch die Öse zog. Als er sie eben mit seinem Gewicht belastete, gab der größere Teil des Stalaktiten nach und fiel mit lautem Getöse auf die Trümmer hinunter. Die Menge brüllte. Alex baumelte frei in der Luft und bemühte sich um einen besseren Griff, während unten alle Leute sahen, was der fallende Stein der Innenseite seiner Schenkel angetan hatte. Rinnsale von Blut drangen durch die Reste seiner zerrissenen Hose und trafen sich mit Schweißbächen, als er sich bemühte, eine Seilschlaufe zu knüpfen. Wenn die Blutstropfen auf das brausende Gas trafen, explodierten sie zu einem rötlichen Schneegestöber.
Stan holte wieder Luft, als Alex die Schultern durch die Schlaufe gleiten ließ und das Kabel mit seinem Gewicht belastete. Noch japsend wandte sich der junge Mann um und schrie über den Lärm hinweg: »Nachlassen! – Pumpen!«
Zwei Techniker, die das Kabel hielten, machten ein erstauntes Gesicht. Stan wäre fast hingerannt, um es ihnen zu erklären, aber der Maori-Ingenieur kapierte. Er machte den anderen Zeichen und fing an, mehr Leine auszugeben, und zog dann das meiste davon zurück, eben bevor Alexens Füße sich dem eisigen Strahl näherten. Der Prozeß wurde wiederholt: Nachlassen, Zurückziehen. Das war eine einfache Übung in harmonischer Resonanz, wie mit einer Kinderschaukel. Nur war das Gewicht hier ein Mensch. Und der würde nicht in einem Sandkasten landen.
Der Bogen von Alex wuchs in dem Maße, wie sich die Leine verlängerte. Bei jedem Durchgang kam er näher an den superkalten Schleier flüssiger Luft heran. Hinter ihm gab es einen Wirbel funkelnder Schneeflocken. Er rief den Männern an dem Kabel zu: »Vierter Schwung … Loslassen!«
Dann, beim nächsten Durchgang: »Drei!«
Dann: »Zwei!«
Seine Stimme klang jedesmal heiserer. Stan stieß beinahe einen Schrei aus, als er sah, wie sich der Bogen entwickelte. Sie würden zu früh nachlassen! Aber ehe er etwas tun konnte, ließen die Männer mit einem lauten Ruf los. Alex segelte knapp über den Strahl, an den zwei gestrandeten Überlebenden vorbei, um mit dem verhedderten Gitterwerk über der Mitte des Kryogentanks zusammenzustoßen. Sofort strampelte er nach einem Halt auf der vereisten Fläche. Die Frau unmittelbar neben Stan packte seinen Arm und zischte heftig, als Alex gefährlich ins Rutschen kam …
… und gerade rechtzeitig anhielt – mit einem Arm um ein knarrendes Rohr geschlungen.
Ein scharfes knisterndes Geräusch ließ Stan zurückspringen, als ein Tank für chemische Synthese sich wegen der Kälte nach innen zusammenfaltete. Faserdünne Kontrolleitungen peitschten wie verwundete Schlangen hin und her, bis sie auf den Heliumtank trafen und sofort in glasige Scherben zersprangen.
»Sie haben den Strom oben abgestellt«, meldete jemand.
Stan überlegte, ob der Partialdruck des Heliums schon hoch genug wäre, um Schallübertragung zu beeinflussen. Oder war die Stimme des Burschen vor Angst so schrill?
Ein anderer sagte: »Aber es ist schon zu viel in diesen Tanks. Wenn er es nicht anhalten kann, werden wir die Hälfte der Ausrüstung in der Kaverne verlieren. Das wird uns um Wochen zurückwerfen!«
Stan dachte: Es stehen auch drei Menschenleben auf dem Spiel. Aber die Leute hatten ihre eigenen Prioritäten. Wieder packten Hände seinen Ärmel … diesmal organisierten einige Oberingenieure eine geordnete Evakuierung. Stan schüttelte den Kopf und lehnte es ab, zu gehen. Niemand bestand darauf. Er paßte auf, wie Alex sich zu dem Absperrventil vorarbeitete, indem er sich Hand über Hand vorwärtshangelte. Die Rohre blieben hinter ihm farblos zurück. Flecke gefrorener Haut, mit Blut vermischt, erkannte Stan mit Schaudern.
Zentimeter um Zentimeter näherte Alex sich dem zusammengebrochenen Gehsteig. Eine in Kalkstein eingelassene Wandkrampe war an Ort und Stelle geblieben. Kaum imstande, die zu sehen, mußte Alex sie erwischen, wobei sein Fuß öfters den Halt verlor.
Stan rief: »Nach links, Alex! Jetzt hoch!«
Mit weit offenem Mund eine Drachenspucke aus kristallisiertem Nebel ausstoßend, fand Alex die Leiste und schwang sein Gewicht hinauf. Ohne Pause stürzte er sich von dort aus auf das Ventil. Nach all seinen Anstrengungen, dorthin zu gelangen, war es umgekehrt leicht, das Ventil zu drehen. Wenigstens dieser Teil des Kühlsystems war gut gebaut. Das heulende Gekreisch klang zusammen mit dem eisigen Druck ab. Stan stolperte vorwärts.
Hinter ihm rannten Rettungsmannschaften mit Leitern und Tragen. Es dauerte nur Augenblicke, die beiden verletzten Arbeiter herunterzuziehen und eilends fortzuschaffen. Aber Alex wollte sich nicht tragen lassen. Er kam aus eigener Kraft wacklig herunter. In Decken gehüllt und die Arme festgehalten von denen, die ihn führten, sah er für Stan aus wie ein sagenhafter Yeti. Sein blutleeres Gesicht war blaß und funkelte unter Eiskristallen. Er ließ seine Eskorte nahe Stan anhalten und schaffte es, mit klappernden Zähnen ein paar Worte zu äußern.
»M-mein Fehler. Die Dinge überstürzen …« Die Worte gingen in Kälteschauern unter.
Stan packte seinen jungen Freund an der Schulter, »Sei kein Esel! Du warst großartig. Keine Sorge, Alex! George und ich werden alles in Ordnung gebracht haben, bis du wieder da bist.«
Der junge Physiker nickte ruckartig. Stan sah zu, wie die Ärzte ihn forttrugen.
Nun gut, dachte er und wunderte sich, was sich binnen weniger Minuten ereignet hatte. Hatte es diese Seite von Alex Lustig schon immer in ihm verborgen gegeben? Oder würde es jeden Mann, der wie offenbar dieser arme Junge von der Vorsehung dazu berufen war, überkommen, mit Dämonen um das Schicksal der Welt zu kämpfen?
□ Vor langer Zeit, noch ehe Tiere auf festem Land erschienen, entwickelten Pflanzen einen chemischen Stoff, Lignin, der es ihnen ermöglichte, lange Stämme wachsen zu lassen und ihre Konkurrenten hoch zu überragen. Das war einer jener Durchbrüche, die die Dinge für immer veränderten.
Aber was geschieht, nachdem ein Baum gestorben ist? Seine Proteine, Zellulose und Kohlenhydrate können wiederverwertet werden; aber nur dann, wenn zuerst das Lignin verarbeitet wird. Nur dann kann der Wald dem Tod die Substanz des Lebens entreißen.
Eine Antwort auf dieses Dilemma wurde von Ameisen entdeckt. Einhundert Billionen von ihnen sonderten Ameisensäure ab und halfen damit, einen Stau zu verhindern, der sonst die Welt unter einer Schicht undurchdringlichen, nicht verrottenden Holzes erstickt haben würde. Das tun sie natürlich zu ihrem eigenen Vorteil, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie gut es für das Ganze ist. Und dennoch wird das Ganze gepflegt, gesäubert und erneuert.
War es ein Zufall, daß Ameisen diese Methode entwickelten und damit die Welt retteten?
Natürlich war es so. Ebenso wie die zahllosen anderen zufälligen Mirakel, die zusammen dieses Wunder in Gang halten. Ich sage Ihnen, manche Zufälle sind stärker und weiser als jeder Plan. Und wenn man mich deshalb einen Ketzer nennt, so sei es drum!
– Jen Wolling, aus Die Melancholie der Mutter Erde, Globe Books, 2032.
[□ Hyper-Zugriffscode 7-tEAt-687-56-1237-65p.]
EXOSPHÄRE
Plejaden senkte den Bug, und Teresa Tikhana grüßte wieder freudig die Sterne. Hallo, Orion! Hallo, Sieben Schwestern!, bewillkommnete sie ihre Freunde. Habt ihr mich vermißt?