4,99 €
VERFÜHRUNG AUF ITALIENISCH von CRAVEN, SARA Clare hat sich unsterblich verliebt! Doch sie darf ihre Gefühle nicht zeigen, denn der faszinierende Marchese Guido Bartaldi wird in Kürze eine andere heiraten. Traurig beschließt sie, Italien sofort zu verlassen … MIT EINEM SCHUSS EROTIK von SHALVIS, JILL Heiße Flirts vor der Kamera - das ist das Rezept, mit dem Mitch ihre Kochshow retten will. Dimi weiß: Als TV-Profi sollte sie dabei cool bleiben - doch ihr Verlangen erreicht den Siedepunkt … ICH WILL EINEN COWBOY ALS MANN von THACKER, CATHY GILLEN Wenn Maggie heiratet, muss es ein Cowboy sein. Der millionenschwere James MacIntyre entspricht haargenau dem Mann ihrer Träume. Leider ist der umwerfend männliche Rancher nur an einer heißen Affäre mit ihr interessiert … ICH KANN MALLORCA NICHT VERGESSEN von MCCALLUM, KRISTY Beim Windsurfen auf Mallorca sieht Jane ihn wieder: Miguel de Tarrago! Der vermögende spanische Playboy hat schon einmal ihr Herz im Sturm erobert. Doch diesmal hat die hübsche Engländerin sich geschworen, ihm zu widerstehen …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 761
Sara Craven, Jill Shalvis, Cathy Gillen Thacker, Kristy McCallum
CORA COLLECTION BAND 21
IMPRESSUM
CORA COLLECTION erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
Neuauflage in der Reihe CORA COLLECTIONBand 21 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 1999 by Sara Craven Originaltitel: „Bartaldi’s Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: SAS Deutsche Erstausgabe 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 178
© 2001 by Jill Shalvis Originaltitel: „Eat Your Heart Out“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Ruth Victoria Glenewinkel Deutsche Erstausgabe 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe COLLECTION BACCARA, Band 310
© 1997 by Cathy Gillen Thacker Originaltitel: „One Hot Cowboy“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Cecilia Scheller Deutsche Erstausgabe 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1086
© 1992 by Kristy McCallum Originaltitel: „Something Worth Fighting For“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Lydia Roeder Deutsche Erstausgabe 1994 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 992
Abbildungen: puhhha, MKCinamatography, AlexVolot / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733734923
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY
In Rom war es unerträglich heiß gewesen, mit flirrender Luft und gleißendem Sonnenschein, aber als Clare jetzt weiter Richtung Norden fuhr, konnte sie dunkle Wolken über dem Apennin hängen sehen, und in der Ferne hörte sie rollenden Donner.
Von einem Gewitter ins nächste, dachte sie mit galligem Humor und griff das Steuer des gemieteten Fiats fester, als sie eine enge Kurve nehmen musste.
Das erste Gewitter war allerdings menschlicher Machart gewesen und hatte ihren Drei-Monats-Vertrag als Englischlehrerin bei einer reichen italienischen Familie mit einer vorzeitigen, nämlich fristlosen Kündigung beendet.
Und das alles nur, weil der Hausherr seine Finger nicht hatte bei sich behalten können.
„Sie trifft keine Schuld“, hatte Signora Dorelli, eine makellose Erscheinung in grauer Seide und Perlenkette, mit stahlharten Augen gesagt. „Ich laste Ihnen das Verhalten meines Mannes nicht an. Sie haben sich sehr anständig benommen. Ihr eigenes Verhalten gab zu keinerlei Beanstandung Anlass. Aber ich hätte es besser wissen müssen, anstatt eine junge, attraktive Frau ins Haus zu bringen. Immerhin haben Sie ihm gezeigt, dass er nicht der unwiderstehliche Adonis ist, für den er sich hält. Trotzdem werden Sie unser Haus verlassen müssen. Und der nächste Englischtutor wird mit Sicherheit männlichen Geschlechts sein.“
Also hatte Clare umgehend ihre Koffer gepackt, sich von den Kindern verabschiedet, die sie bereits ins Herz geschlossen hatten, und wortlos ihr Honorar für die gesamte Dauer der drei Monate zusammen mit einem ansehnlichen Bonus von einem sehr schweigsamen Signore Dorelli entgegengenommen.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, dachte Clare, hätte er mich ohne eine Lira vor die Tür gesetzt. Glücklicherweise hatte seine Frau in dieser Angelegenheit andere Vorstellungen gehabt. Und nach Signora Dorellis Miene zu urteilen, würde der elegante Signore Dorelli auch noch auf andere Art und Weise für seinen Fauxpas zu zahlen haben.
Er hat es verdient, sagte sich Clare. Die letzten zehn Tage waren unerträglich gewesen. Ständig hatte sie seine Annäherungsversuche abwehren müssen, immer musste sie darauf bedacht sein, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber selbst in der weitläufigen Villa war das nicht immer möglich gewesen, und mit Schaudern dachte sie daran, wie er sie immer wieder aufs Neue bedrängt hatte, wenn sie ihm zufällig allein begegnet war. Weder ihre abwehrende Haltung noch die schrill vorgetragenen Anschuldigungen seiner Frau hatten ihn davon abbringen können, ihr nachzustellen und ihr in der versammelten Peinlichkeit seiner alternden Leidenschaft seine Empfindungen und Gelüste zu unterbreiten.
Heute Morgen war er dann endgültig zu weit gegangen. Er hatte sie allein im Frühstückszimmer überrascht und nicht nur versucht, sie zu küssen, sondern hatte seine Hand auch unter ihre Kleidung gleiten lassen. Und da hatte Clare ihm den heißen Inhalt ihrer Kaffeetasse ins Gesicht geschüttet, genau in dem Moment, als die Signora ins Zimmer trat.
Das war also der Grund, weshalb sie sich jetzt, frei wie ein Vogel, auf dem Weg nach Umbrien befand.
Ihre Vernunft hatte dafür plädiert, nach England zurückzukehren, sich umgehend bei ihrer Agentur zu melden und einen neuen Posten anzunehmen. Das würde sie auch tun, allerdings erst nach ihrem Besuch bei Violetta.
Bei dem Gedanken an ihre Patentante lächelte Clare. Sie war ihr immer als die Verkörperung der weiblichen Eleganz erschienen, mit grazilen Gesten, teurer Garderobe und unauffälligem Schmuck, der allerdings ein Vermögen kostete. Eine reiche Witwe, die nie wieder in Versuchung gekommen war, ein zweites Mal zu heiraten.
„Warum sollte man sich täglich mit dem gleichen Essen zufrieden geben, cara, wenn man das ganze Büfett probieren kann?“ hatte sie einmal charmant lächelnd gesagt.
Violetta liebte das Leben und wurde vom Leben geliebt. Während der heißen Jahreszeit zog sie sich in ihren bezaubernden Sommerwohnsitz am Fuße der Berge in der Nähe von Urbino zurück, um sich von den anstrengenden gesellschaftlichen Verpflichtungen zu erholen, die sie das ganze Jahr über genoss.
Und ständig drängte sie Clare, sie doch zu besuchen.
„Du bist mir jederzeit willkommen“, hatte Violetta ihr versichert und sich mit einem Spitzentaschentuch eine echte Träne aus dem Augenwinkel getupft. „Ich würde dich so gern wieder sehen. Du bist das ganze Ebenbild deiner Mutter Laura, meiner Cousine und lieben Freundin. Sie fehlt mir so. Ich werde nie verstehen, wie dein Vater diese schreckliche Frau ihren Platz an seiner Seite einnehmen lassen konnte.“
Doch auf solche Bemerkungen reagierte Clare grundsätzlich nicht.
Laura Marriot war nun seit fünf Jahren tot, und wie immer Clares Meinung über ihre Stiefmutter sein mochte und welche mit Sicherheit bestehenden Schwierigkeiten es zwischen ihnen auch gab, Bernice machte ihren Vater glücklich. Und das war schließlich der wichtigste Grund für eine, für diese Ehe. Zumindest sagte sich Clare das immer wieder.
Aber durch John Marriots zweite Heirat hatten sich Clares Zukunftspläne radikal verändert. Der Traum, in die erfolgreiche Sprachenschule ihres Vaters in Cambridge als Partner einzusteigen, hatte sich damit zerschlagen. Bernice hatte dafür gesorgt, dass es diese Option für sie nicht mehr gab. Vielleicht lag es auch daran, dass Bernices besitzergreifender Charakter kein Verständnis dafür aufbrachte, dass John und Clare nicht nur Vater und Tochter, sondern auch wirkliche Freunde und Partner waren. Es mochte allerdings ebenso daran liegen, dass Clare das Ebenbild ihrer Mutter war und Bernice es nicht ertragen konnte, ständig die lebendige Erinnerung an diese schöne Frau in Gestalt einer erwachsenen Tochter vor Augen zu haben.
Jedes Mal, wenn Bernice Clare anschaute, sah sie den hellen, makellosen Teint, den Clare von ihrer Mutter geerbt hatte, das silbrig blonde Haar, die dunklen Augen mit den golden sprühenden Pünktchen und die vollen, fein geschwungenen Lippen, die sich jederzeit zu einem warmen Lächeln verziehen konnten oder aus denen ein hell klingendes Lachen drang.
Es war schwer gewesen, aber Clare hatte ihren Schmerz und ihre Enttäuschung schließlich hinuntergeschluckt und sich als freiberufliche Englischlehrerin beworben. Glücklicherweise hatte sie sofort die renommierte Agentur gefunden, für die sie jetzt arbeitete, und von Anfang an gut dotierte Aufträge erhalten.
Mittlerweile hatte sie sich einen sehr guten Ruf erarbeitet; mit Können, Enthusiasmus und absoluter Vertrauenswürdigkeit war sie fast an die Grenze der Erschöpfung geraten. Ein Engagement hatte das andere abgelöst, und sie hatte bereits die schönsten Gegenden Europas kennen gelernt – aus der Perspektive ihrer Herrenhäuser.
Sie seufzte leise. Die Dorellis waren ihr erster Fehlschlag gewesen. Deshalb hatte sie jetzt auch endlich eine kleine Pause verdient, bevor sie den nächsten Auftrag annahm. Und im Hause ihrer Patentante würde sie sicher verwöhnt und verhätschelt werden. Ein Ferienaufenthalt würde ihr ganz gut tun.
Ein Donnergrollen über den Bergen ließ sie aus dem Wagenfenster nach oben blicken. Sie hatte noch ein ganzes Stück bis nach Cenacchio, wo Violetta lebte, vor sich. Sie würde genau in das Unwetter hineinfahren.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als auch schon die ersten dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe prasselten. Sekunden später goss es in Strömen, so dass die Scheibenwischer des kleinen Fiats die Wassermassen kaum noch bewältigen konnten.
Das waren nicht gerade die besten Bedingungen, um mit einem winzigen Auto auf einer unbekannten, kurvenreichen Strecke unterwegs zu sein. Also beschloss Clare, an den Straßenrand zu fahren. So ein Sommergewitter dauerte nie lange, sie würde es einfach aussitzen.
Sie griff nach hinten auf den Rücksitz, holte den Fruchtsaft und das Sandwich hervor, die sie unterwegs an einer Tankstelle gekauft hatte, und machte es sich gemütlich. Da draußen bot sich ihr ein überwältigendes Schauspiel der Naturgewalten, mit Blitz und Donner und einer schier undurchdringlichen Regenwand, und sie saß sicher und trocken in ihrem Auto.
Sie griff ins Handschuhfach, um eine Serviette herauszuholen – und stutzte.
Da vorn, am Straßenrand, war das etwa ein Mensch? Unmöglich, bei diesem Wetter konnte niemand in dieser Einöde zu Fuß unterwegs sein.
Und doch, als sie genauer hinsah, erkannte sie eine menschliche Gestalt, die die Straße entlang lief. Ein junges Mädchen mit einem großen Koffer in der Hand. Und es humpelte.
Clare kurbelte das Seitenfenster herunter. Als das Mädchen mit dem Wagen auf einer Höhe war, fragte Clare auf Italienisch:
„Brauchen Sie Hilfe? Kann ich etwas für Sie tun?“
Das Mädchen zögerte und blieb stehen. Sie war noch ein Teenager und interessanten hübsch, selbst in diesem ramponierten, tropfnassen Zustand. Vor allem aber sah sie trotzig aus, was einen bemerkenswerten Kontrast zu ihrer restlichen Erscheinung bildete „Ich danke sehr, Signora, aber das ist nicht nötig. Ich komme allein zurecht.“
„Das sieht mir aber nicht danach aus.“ Clare sah hinunter auf die Füße des Mädchens. „Haben Sie sich den Knöchel verstaucht?“
„Nein.“ Die Miene des Mädchens wurde noch trotziger, falls das überhaupt möglich war. „Das ist nur dieser dumme Schuh. Sehen Sie? Der Absatz ist abgebrochen.“
Clare blieb todernst. „Wenn Sie Ihren Spaziergang fortzusetzen gedenken, schlage ich vor, dass Sie den anderen Absatz auch abbrechen. Das bringt die Dinge mehr ins Gleichgewicht.“
„Ich gehe nicht spazieren“, erwiderte das Mädchen von oben herab. „Ich bin mit dem Auto gefahren, bis es stehen blieb. Mir ist das Benzin ausgegangen.“
Jetzt erlaubte sich Clare doch eine Regung und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sind Sie denn schon alt genug, um Auto zu fahren?“
Die kurze Stille, die entstand, verriet alles. „Natürlich bin ich alt genug“, log das Mädchen, dann verzog es das Gesicht. „Aber dieses Auto hat ja nie viel Benzin im Tank, für den Fall, dass ich durchbrennen will.“
Clare sah auf den schweren Koffer in der Hand des jungen Dings. „Und genau das tun Sie wohl im Moment, nicht wahr?“
Das Mädchen straffte sich und versuchte würdevoll auszusehen, was nicht so recht gelang. „Das, Signora, geht Sie überhaupt nichts an.“
„Wahrscheinlich haben Sie sogar Recht“, entgegnete Clare und lehnte sich zur Beifahrerseite, um die die Wagentür zu öffnen. „Aber Sie können sich wenigstens so lange zu mir in den Wagen setzen, bis dieser Regenguss aufhört. Sie holen sich ja den Tod.“
Der Teenager protestierte entrüstet „Ich kenne Sie doch überhaupt nicht! Vielleicht sind Sie ja auch … und wollen nur …“
Clare lächelte freundlich. „Ich versichere Ihnen, ich bin es nicht und ich will es auch nicht. Ich will nichts außer Sie aus diesem Regen herausholen. Hier im Auto sind Sie sicherer als da draußen auf der Straße.“
Nun riss das Mädchen die Augen auf. „Glauben Sie denn, ich könnte vom Blitz getroffen werden?“
„Und das wäre noch das kleinste Übel“, erwiderte Clare ruhig. „Jetzt kommen Sie schon, legen Sie Ihren Koffer auf den Rücksitz, und steigen endlich ein, bevor Sie weggeschwemmt werden.“
Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und als es auf den Beifahrersitz schlüpfte, bemerkte Clare, dass es vor Kälte zitterte. Das zartrosa Kleid, zweifelsfrei eine Kreation mit einem großen Designernamen auf dem Etikett, klebte an ihrem Körper, und den Riemchensandaletten, farblich passend zum Kleid, war nichts mehr von ihrer einstigen Eleganz geblieben.
„Sie müssen aus den nassen Sachen heraus, sonst bekommen Sie eine Lungenentzündung.“
Clare griff nach hinten und zog ihren Regenmantel hervor. „Hier. Ziehen Sie das stattdessen über. Wenn Sie den Mantel zuknöpfen und den Gürtel festziehen, merkt keiner, dass Sie darunter nichts anhaben.“ Sie betrachtete das junge Mädchen. „Ich würde Ihnen gerne etwas Heißes zu trinken anbieten, aber im Moment kann ich nur mit Fruchtsaft dienen.“
Das junge Mädchen schwieg kurz, dann besann es sich. „Danke, Sie sind wirklich sehr nett.“
Clare lächelte und kramte nach dem Saft. Die unwilligen leisen Flüche, die an ihr Ohr drangen, als das Mädchen sich in dem engen Wagenfond umzog, ignorierte sie.
„Das Kleid ist völlig hin.“ Das Mädchen schob das nasse, rosafarbene Leinenbündel achtlos in den Fußraum. „Das werde ich wohl nur noch wegwerfen können. Ein Jammer darum. Es ist zwei Tage alt.“
„Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“ Clare reichte dem Mädchen den Saft. „Was ist mit Ihrem Auto? Wo haben Sie es stehen lassen?“
Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Irgendwo da hinten. So genau weiß ich das nicht mehr. Es muss mindestens eine halbe Stunde Fußweg zurück stehen. Das finden wir nie wieder.“
„Das ist schade“, meinte Clare trocken. „Aber vielleicht sollten wir uns erst mal miteinander bekannt machen. Ich bin Clare Marriot.“
Das Mädchen starrte sie verblüfft an. „Sie sind Engländerin? Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ihr Italienisch ist so gut, ich hätte nie gedacht, dass Sie keine Italienerin sind. Haben Sie italienische Eltern?“
Clare lächelte und unterbrach das Geplapper, das zweifellos als Kompliment gemeint war und klang, als befänden sich beide unter ihresgleichen auf dem Schulhof.
„Meine Mutter war Italienerin. Außerdem ist Italienisch eine von den Sprachen, die ich unterrichte.“
„Wirklich? Wie viele Sprachen unterrichten Sie denn?“
„Oh, Französisch, Spanisch, Italienisch – und Englisch natürlich.“
„Sind Sie deshalb hier? Um Englisch zu unterrichten?“
Clare schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment mache ich Urlaub.“ Sie sah in das hübsche Gesicht. „Und wie heißen Sie?“
„Ich heiße Paola … Morisone.“
Auch wenn das Zögern kaum merklich gewesen war, Clare war es nicht entgangen. Aber sie beließ es dabei. „Sieht aus, als ob das Gewitter sich bald verzieht.“ Sie wandte sich wieder ihrem Gast zu. „Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen, bringe ich Sie nach Hause.“
„Nein!“ stieß Paola heftig aus. „Ich gehe nie wieder nach Hause!“
Innerlich stöhnte Clare auf, äußerlich blieb sie ruhig. „Seien Sie doch vernünftig. Sie sind bis auf die Haut durchnässt, Ihre Schuhe sind hin, und Ihre Familie macht sich mittlerweile bestimmt Sorgen.“
Paola warf den Kopf zurück. „Sollen sie doch. Von mir aus. Und wenn Guido denkt, dass ich tot bin – umso besser. Dann brauche ich wenigstens seine Überredungsversuche, ihn zu heiraten, nicht mehr zu ertragen.“
Clare forschte in dem jungen Gesicht, dessen Augen jetzt düster dreinblickten, und langsam begriff sie den Sinn der Worte. „Guido?“ hakte sie vorsichtig nach.
„Mein Bruder. Er ist ein Mistkerl.“
Clare schaute sich das Mädchen genauer an. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Konnte es sein, dass sie nicht nur Unsinn redete? War sie aus einem Elternhaus fortgelaufen? Aber wie hätte sie anderswo mit dem Koffer entkommen können? Sie musste herausfinden, was mit dem Mädchen war. Schon, um sich selbst zu schützen.
„Ihr Bruder, sagten Sie? Aber das ist doch Unsinn. Sie können doch unmöglich Ihren Bruder …“
„Oh, er ist nicht mein leiblicher Bruder.“ Paola rümpfte abfällig die Nase. „Mein Vater und er waren Geschäftspartner, und dann ist mein Vater gestorben. Zio Carlo hat gesagt, dass ich bei ihm leben muss, obwohl ich nicht wollte. Ich wollte bei meiner matrigna bleiben, und sie wollte das auch. Aber die Anwälte haben das nicht erlaubt.“
Zumindest hat die kleine Paola mit ihrer Stiefmutter mehr Glück gehabt als ich, dachte Clare. Die liebe Bernice hat es nicht erwarten können, mich endlich aus dem Haus zu haben. Laut sagte sie: „Und Zio Carlo möchte, dass Sie diesen Guido heiraten?“
„Dio, no! Zio Carlo ist auch tot.“ Paola seufzte schwer. „Aber in seinem Testament hat er bestimmt, dass Guido bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr mein Vormund sein soll, bis ich mit fünfundzwanzig dann auch über mein Erbe verfügen kann. Es sei denn, ich heirate vorher. Und das habe ich auch vor. Allerdings nicht Guido.“
Das war ja eine dramatische Geschichte! Clare atmete erst mal tief durch. „Sind Sie nicht ein bisschen sehr jung, um schon an Heirat zu denken?“, fragte sie vorsichtig.
„Ich bin achtzehn. Nun, also, fast“, fügte Paola schnell hinzu. „Außerdem ist das nicht wichtig. Meine Mutter war in demselben Alter, als sie meinen Vater traf und sich in ihn verliebte.“ Paolas Blick wurde träumerisch. „Das Alter spielt keine Rolle, wenn man den Mann seines Lebens gefunden hat.“
„Ah, jetzt verstehe ich“, meinte Clare trocken. „Und? Jetzt haben Sie diesen Mann gefunden und sind bereit für die Ehe. Und Guido teilt ihre Auffassung nicht ganz …“
„Oh ja! Fabio.“ Paolas Augen begannen zu glänzen. „Er ist wunderbar. Er wird mich vor Guido beschützen.“
Was ist das alles nur für haarsträubender Unsinn, dachte Clare halb amüsiert, halb entsetzt. Es war an der Zeit, dem Ganzen wieder ein bisschen Realismus beizumischen und das Kind zur Raison zu bringen. „Paola, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Man zwingt Menschen schon seit langer Zeit nicht mehr zu einer Ehe. In den meisten europäischen Ländern sind Zwangsverheiratungen verboten. Wenn Sie Guido sagen, wie Sie wirklich fühlen, dann …“
„Das interessiert ihn nicht. Es geht hier um Geld, um viel Geld. Ich habe die Geschäftsanteile meines Vaters geerbt. Guido wird es nicht zulassen, dass ich einen anderen Mann heirate, denn dann sind die Anteile für ihn verloren. Seit drei Jahren schon hält er mich wie eine Gefangene.“
Das wurde ja immer wilder. „Eine Gefangene? Wie meinen Sie das? Erzählen Sie doch, wo …“
Paola schürzte schmollend die Lippen. „Er hat mich auf diese Schule geschickt. Die Nonnen waren die reinsten Gefängniswärter. Er hat das nur getan, damit ich nicht ausgehen und jemanden treffen kann.“
In Clare kam der Gedanke herauf, dass dieser Guido vielleicht gar nicht so Unrecht haben könnte. Paola schien den Realitätssinn eines unbeschwerten schönen Schmetterlings zu haben und Ansprüche auf Selbstverwirklichung, die sie vielleicht aus Illustrierten oder dem Nachmittagsfernsehen hatte. Allerdings war das keinesfalls eine Rechtfertigung, dieses Mädchen nur wegen seines Geldes zu heiraten. Wenn dem denn überhaupt so war.
„Vielleicht meint er es ja wirklich gut mit Ihnen, Paola“, meinte sie sanft.
Paola schnaubte abfällig. „Der? Der denkt doch nur daran, dass er die Kontrolle über meine Aktien verlieren könnte.“
„Aha.“ Clare schwieg einen Moment. „Und der Mann, mit dem Sie glücklich werden wollen? Fabio, nicht? Wo haben Sie ihn kennen gelernt?“
Wieder nahm Paolas Gesicht einen verträumten Ausdruck an. „Ich war im Urlaub. Mit meiner Freundin Carlotta und ihren Eltern. Guido hat mich nur mitfahren lassen, weil Carlottas Mutter mindestens genauso streng ist wie die Nonnen.“ Paola kicherte. „Aber Carlotta und ich sind nachts aus dem Fenster gestiegen und in die Stadt gegangen. Einmal waren wir in einer Disco, und ein paar Kerle haben uns belästigt. Fabio und sein Freund kamen dazu und haben uns geholfen.“ Sie seufzte laut. „Ach, ich habe ihn nur einmal angesehen, und wusste es sofort. Und für ihn war es genauso.“
„Wie romantisch.“ Clare bemühte sich, nicht ironisch zu klingen. „Und Sie haben noch Kontakt zueinander?“
Paola nickte. „Wir schreiben uns, und ich tue immer so, als wären die Briefe von Carlotta.“
„Haben Sie Guido denn von diesem Jungen erzählt? Wenn Sie ihn heiraten wollen, sollte Ihr Vormund ihn doch kennen lernen.“
„Sind Sie verrückt?“ Paola rollte mit den Augen. „Er würde mich sofort auf die nächste Schule schicken, wahrscheinlich in die Schweiz, und da müsste ich dann kochen und Blumen stecken und lernen, wie man eine perfekte Gastgeberin wird. Seine perfekte Gastgeberin“, fügte sie düster hinzu. „Außerdem“, fuhr sie fort, „ist Fabio kein Junge. Er ist ein Mann. Natürlich nicht so alt wie Guido, aber dafür viel, viel hübscher.“ Paola rollte schwärmerisch mit den Augen. „Ah, bello!“
So wie Paola von diesem Guido sprach, erstand vor Clare das Bild eines alternden Lüstlings, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte. Natürlich musste ihr Fabio da wie der Ritter in goldener Rüstung erscheinen. „Und was haben Sie jetzt vor? Wollen Sie zu Fabio?“
„Si.“ Paola nickte stürmisch. „Wir werden heiraten.“
Misch dich da nicht ein, das geht dich nichts an, hörte Clare in sich die Stimme der Vernunft. Bring sie zur nächsten Tankstelle, und dann sieh zu, dass du weiterkommst. Laut fragte sie: „Und wo soll die Hochzeit stattfinden?“
Paola zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Fabio wird sich um alles kümmern.“
Clare betrachtete das Mädchen nachdenklich. Die Kleine war fast noch ein Kind, und mit ihren Heiratsplänen kam sie vom Regen in die Traufe. Dieser Guido schien kein sonderlich sympathischer Charakter zu sein, aber Fabio … für Fabio hatte Clare noch weniger Sympathien übrig. Wie konnte er ein junges, naives Ding zu einem so unvernünftigen Plan überreden? Vor allem, wenn dieses junge, naive Ding auch noch eine reiche Erbin war. „Wo wollen Sie sich treffen?“
„In Barezzo, am Bahnhof.“ Paola blickte auf ihre sündhaft teure Armbanduhr und stöhnte auf. „Ich werde zu spät kommen. Er wird böse auf mich sein.“
„Wollten Sie einen bestimmten Zug erreichen?“
„Nein, aber der Bahnhof ist immer ein guter Treffpunkt. Da sind so viele Leute, dass wir gar nicht auffallen werden.“
Je mehr Clare über diesen Plan hörte, desto weniger gefiel er ihr. „Ihr Fabio ist aber ein sehr umsichtiger Mann. Er scheint ja wirklich an alles gedacht zu haben.“
Der ironische Unterton war bei Paola völlig verschwendet. „Natürlich. In seinem Brief hat er mir genau geschrieben, was ich tun muss.“ Paola kramte in ihrer Handtasche und murmelte: „Irgendwo muss ich ihn doch haben …“ Dann sah sie auf. „Wenn ich zu spät komme, ist alles aus.“ Ihre Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an. „Es sei denn, Signorina, Sie würden mich vielleicht …“
Clare wappnete sich gegen das schmeichelnde Lächeln und gegen die Einflüsterungen des Schicksals, das junge Ding vor seinen nächsten Fehlern bewahren zu sollen. „Tut mir Leid, aber Barezzo liegt nicht in meiner Richtung.“
Paola legte eine Hand auf Clares Arm. „Es ist doch nicht weit, und Sie würden mir sooo damit helfen. Außerdem muss ich in Barezzo sein, bevor sie merkt, dass ich verschwunden bin.“
„Sie?“ Clare kam nicht mit. Wer war „sie“?
„Die Signora. Die Frau, die Guido holt, um mich zu bewachen, wenn er nicht da ist.“
„Ist er denn öfter nicht da?“
„Si. Jetzt ist er auch wieder unterwegs. Und ich muss bei ihr bleiben. Sie ist eine Hexe!“ stieß Paola inbrünstig hervor.
Eine besonders fähige Hexe kann das nicht sein, dachte Clare, sonst hätte sie die Kleine längst wieder zurückgezaubert. Aber vielleicht hatte sie ja für das knappe Benzin gesorgt. Immerhin ein Anfang. Sie verkniff sich ein Schmunzeln.
„Aber Guido kommt bald wieder zurück, vielleicht schon morgen, und dann wird er wieder alles versuchen, damit ich ihn heirate.“ Paola erschauerte theatralisch. „Das ist meine letzte Chance, ihm zu entkommen. Danach bin ich verloren. Helfen Sie mir doch!“ Sie rang die Hände, und plötzlich tauchte das Bild des aufdringlichen Signor Dorelli vor Clare auf, und sie presste die Lippen zusammen. „Was … was versucht er denn?“
„Sie meinen, ob er mit mir schläft?“ Paola warf Clare einen Blick zu, den sie ganz bestimmt nicht von den Nonnen gelernt hatte, und schüttelte den Kopf. „Nein, dafür bin ich ihm zu jung. Außerdem hat er ja eine Freundin. Sie wohnt in Siena.“
Das wird ja immer schlimmer, dachte Clare mit gerunzelter Stirn. „Trotzdem“, sie holte tief Luft, „ich denke, Sie sollten sich erst einmal überlegen, was Sie tun wollen, bevor Sie sich so einfach auf eine andere Heirat einlassen. Sie kennen Fabio doch kaum, und so ein Urlaubsflirt überlebt nur selten …“
„Sie wollen, dass ich wieder nach Hause gehe! In dieses Gefängnis!“ Paola schaute Clare vorwurfsvoll an. „Na schön, wenn Sie mich nicht nach Barezzo fahren, dann laufe ich eben.“ Sie beugte sich vor und griff nach ihrem nassen Kleid.
„Nein, das werden Sie nicht“, erwiderte Clare. „Ich fahre Sie.“
Vielleicht konnte sie das Mädchen ja während der Fahrt zur Vernunft bringen. Oder sie zumindest vor jungen Männern warnen, die an den Urlaubsorten des Jet-Set herumlungerten, um eine reiche Erbin zu erobern. Dieser Fabio musste wohl wissen, dass er das große Los gezogen hatte. Immerhin war Paola nicht nur reich, sondern auch ausgesprochen hübsch.
Während Clare den Wagen anließ und langsam anfuhr, dachte sie darüber nach, wie sie das Thema am taktvollsten anschneiden könnte. Aber als sie nach ein paar Minuten einen Blick auf Paola warf, musste sie feststellen, dass die Kleine friedlich eingenickt war.
Als sie eine halbe Stunde später in Barezzo ankamen, schien die Sonne wieder. Clare parkte direkt vor dem Bahnhof und wandte sich Paola zu. Vielleicht war es sogar gut, dass sie eingeschlafen war. Ich werde mir diesen Fabio erst einmal ansehen, dachte Clare. Ihm ein paar Fragen stellen. Ihn wissen lassen, dass ich seinen Plan durchschaut habe.
Sie hatte wirklich keine Ahnung, warum sie sich überhaupt einmischte. Schließlich war Paola eine Fremde für sie, und sie war eine Fremde für Paola. Aber das Mädchen brauchte einen Freund, und im Moment war sie, Clare, der einzige Mensch, der etwas von einem Freund hatte.
Im Gegensatz zu Paolas Vermutung und Fabios Instruktion, dass der Bahnhof vor Menschen wimmeln würde, war der Bahnsteig völlig menschenleer. Nur ein einzelner Mann stand da, lässig an einen Betonpfeiler gelehnt.
Er wirkte wie jemand, der schon einige Zeit dort wartete, und er sah auch aus, als würde er noch tagelang dort warten wollen. Das musste dann also wohl Fabio sein.
Die Absätze ihrer Sommersandaletten klapperten auf dem Steinboden, als Clare auf den Mann zuging. Als sie näher kam, richtete er sich zu seiner vollen imposanten Größe auf. Und ihre Nerven begannen zu flattern. Er wirkte wie ein Raubtier, das zum Sprung auf die Beute ansetzt.
Sie musterte ihn, als sie ein paar Schritte entfernt von ihm Halt machte. Himmel, dachte sie, die Verkörperung der puren Erotik!
Die langen Beine steckten in maßgeschneiderten Hosen, das blaue Hemd stand am Hals offen, und das Jackett, das lässig über die breiten Schultern geworfen war, stammte eindeutig von einem Top-Designer.
Klar, dass dieser Mann eine reiche Frau brauchte! Wahrscheinlich würde Paola jede Lira ihres Erbes darauf verwenden müssen, seinen Lebensstil zu finanzieren.
Er muss ungefähr Mitte dreißig sein, schätzte Clare. Das glänzende schwarze Haar fiel in lässiger Eleganz bis auf den Hemdkragen. Aber er war ganz bestimmt nicht „hübsch“, das Wort, das Paola benutzt hatte, auch wenn seine markanten Züge und die sinnlichen Lippen jede Frau dahinschmelzen lassen würden. Außerdem umgab ihn eine ungenierte Selbstsicherheit – Macht war das einzige Wort, das Clare dazu einfiel. Eine Macht, die ihr körperliches Unbehagen bereitete, aber auch das ultimative Aphrodisiakum war.
Kein Wunder, dass Paola so hingerissen war. Solche Männer sollten gesetzlich verpflichtet werden, ein Warnschild zu tragen!
„Sie warten auf Paola, Signore?“, fragte Clare den Mann in Italienisch.
„Si, signorina.“ Seine Stimme war tief und warm, als er höflich antwortete. Aber Clare hörte noch etwas anderes heraus – etwas Lauerndes.
Zwischen ihnen gab es immer noch genügend Abstand, es war also unsinnig – aber trotzdem fühlte Clare eine Bedrohung von diesem Mann ausgehen. Dieser Mann war gefährlich, und genau deshalb brauchte Paola ihre Hilfe.
Der Blick aus den dunklen Augen des Mannes lag unverwandt auf ihr. „Wissen Sie, wo sie ist?“
„Ja, ich weiß, wo sie ist, aber zuerst will ich mit Ihnen reden.“
„Aha, und Sie sind …?“
„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte sie schnell.
„Oh, ich denke schon.“ Er musterte sie durchdringend von Kopf bis Fuß, und seine Lippen umspielte ein kleines Lächeln.
Seltsamerweise ärgerte Clare dieses Lächeln. Was konnte er an ihr zum Lächeln finden, sie in ihrem Kleid von der Stange und den Sandaletten aus dem Kaufhaus? Sie riss sich zusammen. Sie musste für ihren Lebensunterhalt arbeiten, sie war keines von diesen reichen, verwöhnten Mädchen, die er ausnehmen wollte. Also, warum ärgerte sie sich dann?
„Sie sind nicht so, wie ich erwartet hatte“, hörte sie ihn jetzt sagen.
Sie hob angriffslustig das Kinn. „Sie aber auch nicht.“
Er neigte den Kopf zur Seite. „Das glaube ich gern“, murmelte er. „Also, wo ist Paola?“
„Ihr geht es gut.“
„Ich bin erleichtert, das zu hören.“ Sein Blick schien sie zu durchbohren. „Kann ich sie sehen?“
„Natürlich.“ Clare war irgendwie verwirrt. „Aber vorher möchte ich mit Ihnen reden.“
Jetzt lächelte er sie an. „Oh ja, Sie werden reden, signorina. Aber nicht mit mir.“
Er machte eine knappe Geste mit der Hand, und im gleichen Augenblick wurde Clare gewahr, dass sie von Männern umringt war. Männern in Uniform und mit angelegten Gewehren in der Hand!
Ihre Arme wurden mit eisernem Griff umklammert und ihr auf den Rücken gedreht, dann hörte sie das metallene Klicken von Handschellen an ihren Gelenken. Sie wollte protestierend aufschreien, aber vor Entsetzen kam kein Ton aus ihrer Kehle.
Fassungslos starrte sie ihr Gegenüber an. Und endlich, nachdem sich der Tumult ein wenig gelegt hatte, fand sie ihre Stimme wieder.
„Wer sind Sie?“, fragte sie heiser.
„Ich bin Guido Bartaldi, signorina. Und Sie sind eine von den Personen, die mein Mündel entführt haben.“ Seine Worte trafen sie wie Peitschenhiebe. „Und jetzt sagen Sie mir, was Sie mit Paola gemacht haben.“
„Entführt?“ Clares Stimme überschlug sich. „Sind Sie noch zu retten? Sie müssen völlig verrückt geworden sein! Was bilden Sie sich ein? Lassen Sie mich sofort frei!“
Die plötzlich einsetzende Stille und das jähe Erstaunen auf Guido Bartaldis Gesicht sagten ihr, dass sie die Worte in Englisch hervorgestoßen hatte.
„Sie sind hier die Verrückte“, erwiderte Guido Bartaldi nun auch in Englisch, „wenn Sie und Ihre Komplizen sich eingebildet haben, Sie kämen damit durch.“
„Ich habe keine Komplizen.“ Langsam sickerte es in Clares Bewusstsein, was hier vor sich ging. „Ich habe Paola auf der Straße im Regen getroffen, und ich habe sie nur hierher gefahren.“
„Marchese!“ Ein Polizist kam auf die Gruppe zugerannt. „Das Mädchen sitzt in einem Wagen, draußen vor dem Eingang. Sie ist bewusstlos, offensichtlich betäubt. Aber sie lebt.“
„Das ist doch bodenloser Unfug“, protestierte Clare, während das Wort „Marchese“ in ihrem Kopf widerhallte, „sie ist eingeschlafen, nicht betäubt.“ Bei allem, was Paola ihr so freizügig erzählt hatte, hatte sie doch vergessen zu erwähnen, dass der ungeliebte Bräutigam ein Marchese war.
„Sie soll sofort in die Klinik gebracht werden“, ordnete der Marchese jetzt mit knapper Stimme an. „Und was diese Dame hier anbelangt“, er wandte glühende Augen auf Clare, „bringt sie weg. Sofort. Ich will sie nicht mehr sehen.“
Sie wurde in einen kleinen Raum gebracht, mit einem vergitterten Fenster, einem Tisch und einem Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Plastikflasche mit Mineralwasser und ein Pappbecher.
Wahrscheinlich, damit ich nicht auf die Idee komme, mir mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufzuschneiden, dachte Clare zerknirscht.
Aber zumindest hatte man sie nicht in eine Gefängniszelle gesteckt. Noch nicht. Und die Handschellen hatte man ihr auch wieder abgenommen.
Zwei Männer in Zivil hatten ihr einige Fragen gestellt. Sie hatte Name, Alter, Beruf und den Grund ihres Aufenthaltes angeben müssen. Danach hatte man sie allein gelassen.
Fabio war mit keinem Wort erwähnt worden, obwohl sie sicher war, dass der Marchese ihn für den fraglichen Komplizen hielt. Aber was konnte der Junge denn überhaupt getan haben? Dass zwei Jugendliche durchbrannten, war schließlich kein Verbrechen.
Obwohl – mit der zukünftigen Frau des Marchese Bartaldi durchzubrennen ist hier zu Lande sicherlich ein Kapitalverbrechen, dachte Clare mit einem schiefen Grinsen. Sie hatte gesehen, welche Ehrerbietung ihm entgegengebracht wurde.
Guido Bartaldi – irgendwie kam der Name ihr bekannt vor. Woher nur? Aber ihr Hirn war zu ausgelaugt vor Angst und weigerte sich, mit der Information herauszurücken.
Nur eines wusste sie sicher: Sie hatte Guido Bartaldi nie zuvor im Leben gesehen. Eine solche Begegnung hätte sie nie vergessen. Dieses schmale, wachsame Gesicht ließ sie an einen Falken denken, diese Augen, die einen zu durchbohren schienen. Paola hatte diesen Mann kalt genannt, aber in Wirklichkeit war er noch viel schlimmer. Er war wie Eis, wie Marmor, wie kalter Stahl.
Aber was nützte es schon, hier zu sitzen und ihn zu verwünschen?
Denk nach, ermahnte sie sich und straffte die Schultern. Ich muss das britische Konsulat anrufen. Und Violetta. Meinen Vater werde ich erst informieren, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden lässt.
Aber so weit würde es doch nicht kommen, oder? Sicherlich war Paola inzwischen aufgewacht und hatte das Missverständnis geklärt.
Oder auch nicht. Vielleicht hatte Paola zu viel Angst davor, die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht würde sie lieber diese Fremde der italienischen Polizei opfern, anstatt zugeben zu müssen, dass sie versucht hatte wegzulaufen.
Clare spürte einen faden Geschmack im Mund. Ja, das war sehr viel wahrscheinlicher.
Sie wünschte sich, sie wüsste besser über das italienische Rechtssystem Bescheid. Brauchte sie einen Anwalt? Violetta kannte bestimmt einen guten. Natürlich würde sie Hilfe bekommen. Aber wann? In Fernsehsendungen durfte man nicht länger als einen Tag ohne Anwalt festgehalten werden. Aber in Italien war das bestimmt alles anders. Und wie sollte Violetta von ihr erfahren, wenn man sie nicht telefonieren ließ?
Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kleid klebte an ihrem Körper. Es war schwierig, vernünftig nachzudenken, wenn man sich nervlich und körperlich so am Ende fühlte.
In diesem Moment wurde der Schlüssel in der Tür gedreht. Zu ihrem Erstaunen trat der Marchese Bartaldi ein. Er schaute sie stumm an, mit schmalen Augen und zusammengekniffenen Lippen.
Clare stieg ein unaufdringlicher Duft in die Nase, ein Gemisch aus teurem After Shave und gepflegter Haut. Ein Duft, der sofort das ganze Zimmer erfüllte. Ärgerlich über sich selbst, weil dieser Duft sie so betörte, war sie fest entschlossen, sich unbeeindruckt zu geben. Sie schob den Stuhl zurück und erhob sich mit geradem Rücken. Dabei fiel ihr auf, dass der Marchese ihre Handtasche in der Hand hielt, die er jetzt achtlos auf den Tisch warf. Autoschlüssel, Brieftasche und ihr Pass fielen heraus auf das blank gescheuerte Holz, und Wut regte sich in Clare. Er war kein Polizist, was also hatte er mit ihren Sachen zu schaffen?
Aber er ist reich und mächtig, dachte sie wütend. Wahrscheinlich hat er die ganze Polizei im Umkreis geschmiert.
„Setzen Sie sich bitte“, sagte er in Englisch.
Clare verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Ich ziehe es vor zu stehen.“
„Wie Sie wünschen.“ Er schwieg und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß.
Sogar ein wenig anerkennend, wie ihr schien. Trotzig hob sie das Kinn und hielt seinem Blick stand.
„Signorina, könnten Sie mir bitte genau berichten, wie und wo mein Mündel und Sie sich getroffen haben?“ hob er an.
„Das werde ich dem britischen Konsul erzählen“, erwiderte sie eisig. „Außerdem verlange ich, meine Patin anzurufen, um einen Anwalt gestellt zu bekommen.“
Er seufzte. „Eins nach dem anderen, Miss Marriot. Zuerst möchte ich wissen, wieso Paola in Ihrem Auto saß.“
„Wie oft soll ich das denn noch sagen?“, fauchte sie. „Ich war auf dem Weg zu meiner Patin, nach Cenacchio, und wurde von einem Unwetter überrascht.“
„Und wer ist Ihre Patin?“
„Signora Andreati in der Villa Rosa.“
Er nickte. „Ich habe von ihr gehört.“
„Ich bin sicher, sie wird entzückt sein.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
Sein Mund wurde schmal. „Signorina, ich rate Ihnen, Ihre Zunge im Zaum zu halten.“
„Oh, ich bin untröstlich. Zeige ich nicht genügend Unterwürfigkeit, Marchese? Das muss für Sie ja eine ganz neue Erfahrung sein.“
„Die ganze Situation ist eine neue Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte“, meinte er scharf. „Aber bitte, erzählen Sie.“
Mit einem Seufzer erklärte Clare zum wiederholten Mal, wie sie Paola im strömenden Regen auf der Straße angetroffen hatte. „Da sie auf dem Weg hierher eingeschlafen war, dachte ich, ich würde mir diesen Fabio genauer ansehen. Und ihn verscheuchen, falls möglich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hielt Sie für Fabio.“
„Dieser Irrtum ist nicht gerade schmeichelhaft für mich.“
„Oh, entschuldigen Sie, wenn ich Sie beleidigt habe“, meinte sie ironisch, „immerhin habe ich ja einen wunderbaren Nachmittag verbringen dürfen.“ Ihr Ton wurde beißend. „Als Entführerin beschuldigt, umzingelt von bewaffneten Polizisten, verhört und in dieses Zimmer gesteckt, in dem es heißer ist als in einem Backofen.“
„Vielleicht wird Sie das lehren, sich in Zukunft nicht in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen“, erwiderte er kalt. „Aber es wird Sie sicherlich freuen zu hören, dass Paola Ihre Version des Hergangs bestätigt.“
„Wirklich?“ Clare vergaß alle Absichten und hob ungläubig eine Augenbraue. „Das überrascht mich aber. Paola schien mir nämlich mit der Wahrheit ein wenig auf Kriegsfuß zu stehen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie sich alles Mögliche einfallen lassen würde, um sich selbst möglichst unbeschadet aus der Affäre zu ziehen.“
Der Marchese runzelte verärgert die Stirn, und in Erwartung eines Wutanfalls senkte Clare vorsichtigerweise schon mal den Kopf. Sekundenlang war es erschreckend still, und dann – dann lachte der Marchese leise!
„Sie scheinen sich ausgezeichnet mit Menschen auszukennen, signorina.“
Ziemlich verwirrt schaute sie ihn an. „Man braucht kein Psychologiestudium, um zu erkennen, dass Paola unberechenbar ist. Vor allem, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt oder sich langweilt. Sie ist noch sehr jung.“ Sie erlaubte sich ein kleines hämisches Grinsen. „Sicherlich haben Sie alle Hände voll mit ihr zu tun.“
„Ich danke Ihnen für Ihre präzise Einschätzung der Situation.“ Hörte sie da etwa einen Anflug von Ärger in seiner Stimme? „Aber glauben Sie mir, ich bin durchaus in der Lage, die entsprechenden Maßnahmen in Bezug auf mein Mündel zu treffen.“
„Deshalb wollte sie ja auch mit einem halbseidenen Schönling durchbrennen.“ Clare hielt inne. „Apropos Fabio – was ist aus ihm geworden? Sitzt er in der Zelle nebenan?“
Guido Bartaldi schüttelte den Kopf. „Nein, er wurde nicht festgenommen.“
„Aha“, meinte Clare trocken, „dieses Privileg war also allein für mich reserviert.“
„Sie wurden verhaftet, signorina“, gab er kühl zurück, „weil die Polizei der Meinung war, dass Fabio nicht allein arbeitete. Sie waren unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Clare schnappte nach Luft. „Sie wollen mir weismachen, ich wäre noch gut weggekommen, nicht wahr? Haben Sie eigentlich keine Befürchtungen, dass ich Sie wegen dieser Verhaftung in rechtliche Schwierigkeiten bringen könnte? Ist Ihr Ansehen so fraglos, dass Ihnen dergleichen nicht schaden kann?“
„Als Sie auf den Bahnsteig kamen, konnte ich nicht wissen, in welcher Eigenschaft Sie dort auftauchten und was Sie zu tun beabsichtigten. Ich hatte einzig und allein die Sicherheit meines Mündels im Auge, daher durfte ich kein Risiko eingehen. Es ging schließlich um Paola.“
„Na ja, das ist ja schon was“, konnte Clare sich nicht verkneifen. Sie musste an Paolas Schilderung von der Frau in Siena denken. Vielleicht hatte dieser Zwischenfall ihm ja klar gemacht, dass er mehr für Paola empfand, als er glaubte. Sie runzelte die Stirn. „Also, wo ist dieser Fabio nun?“
Der Marchese zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon? Er besaß die Unverschämtheit, mich anzurufen und zu fragen, wie viel ich ihm dafür zahlen würde, dass er Paola nicht heiratet.“
„Die arme Paola“, meinte Clare mitfühlend.
„Er nahm an, ich wüsste nicht, wo Paola zu finden sei, und meinte deshalb Forderungen stellen zu können. Allerdings ist die liebe Paola noch nicht sonderlich erfahren, was Verschwörungen anbelangt. Sie hat den Brief, in dem Fabio ihr seinen Plan erklärte, auf ihrem Bett liegen lassen. So kannte ich jede Einzelheit und wusste, wo ich sie finden konnte. Als Fabio das bemerkte, hat er das Gespräch sehr abrupt beendet. Ich kam, um Paola abzuholen – und habe Sie gefunden.“
„Ja, allerdings.“ Clare starrte ihn aufsässig an. „Aber, trotz alledem, auch wenn Sie das als unzulässige Einmischung empfinden … Ich bin jetzt doch froh, dass ich sie nicht allein gelassen habe.“
„Könnten Sie sich vorstellen, dass es mir ebenso geht? Ja, dass ich sogar dankbar bin?“
„Oh, bitte, brechen Sie sich ja keinen Zacken aus der Krone“, entschlüpfte es Clare. Sie zögerte kurz. „Was passiert jetzt mit Fabio? Werden Sie ihn anzeigen?“
Der Marchese schüttelte den Kopf. „Er ist nur ein kleiner Geschäftemacher, äußerst unangenehm zwar, aber kein Kidnapper. Ich nehme an, es ist nicht das erste Mal, dass man ihn bezahlt, damit er verschwindet.“
„Allerdings hat er dieses Mal seinen Gegenpart unterschätzt, nicht wahr?“
„Stimmt.“
„Meinen Glückwunsch, signore“, sagte sie ironisch. „Ich kann nur hoffen, dass Sie beim nächsten Mal keine so schweren Geschütze auffahren müssen.“
„Es wird kein nächstes Mal geben“, erwiderte er knapp. „Ich glaubte, ausreichend für ihren Schutz gesorgt zu haben. Offensichtlich hatte ich mich geirrt. Das heißt, es werden andere Maßnahmen ergriffen werden müssen.“
„Aber bestimmt nicht das Internat in der Schweiz, oder?“
Seine dunklen Augen musterten sie forschend. „Paola scheint Sie wirklich sehr ins Vertrauen gezogen zu haben.“
Clare hielt dem Blick stand. „Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen. Jemandem, den man nie wieder sehen wird.“ Sie hielt kurz inne. „Da wir gerade davon sprechen … Ich nehme an, dass ich jetzt gehen kann?“
„Natürlich. Ich bedauere aufrichtig, dass Ihr Urlaub eine so unangenehme Unterbrechung erfahren musste. Werden Sie nun weiter nach Cenacchio fahren?“
„Ich habe noch keine genauen Pläne gemacht“, wich Clare aus. Wie auch immer ihre Pläne aussehen mochten, diesem Mann würde sie sie ganz bestimmt nicht mitteilen – diesem italienischen Aristokraten, für den andere Menschen nur Marionetten waren, mit denen er beliebig verfahren konnte und sein eigenes Spiel spielte.
Er nahm ihre Handtasche auf und schob die Sachen, die auf den Tisch heraus gerutscht waren, wieder hinein. Nur ihren Pass hielt er für einen Moment in der Hand und betrachtete das Bild. Dann wandte er ihr seinen Blick zu, und um seine Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns. „Dieses Foto wird Ihnen nicht gerecht, Chiara.“
Es war lange her, seit jemand die italienische Form ihres Namens benutzt hatte. Seit ihre Mutter … Clare biss sich auf die Unterlippe und starrte angestrengt auf den Tisch. Etwas Seltsames hatte in seinem Ton mitgeschwungen, etwas Unerklärliches, ja, Sinnliches, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte und ihre Nerven zum Flattern brachte.
„Möchten Sie Paola sehen?“, fragte er jetzt. „Sicherlich möchte sie sich bei Ihnen bedanken.“
Plötzlich schien der Raum zu klein zu werden. Clare kannte sich nicht wieder. Neurotische Anwandlungen gestand sie einer anderen Art Frauen zu; sich selbst nicht. Guidos Nähe machte sie nervös. Sie hatte das Gefühl, sich in einer Gefahr zu befinden, deren Ausmaß ihr völlig unabsehbar vorkam, und viel mehr noch als vorhin auf dem Bahnsteig beunruhigte sie die Nähe dieses Mannes. Sie musste hier weg, und zwar sofort.
„Nein, besser nicht.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Sagen Sie ihr bitte Auf Wiedersehen von mir. Und ich wünsche ihr alles Glück dieser Welt. Sie wird es brauchen.“ Sie deutete auf ihre Tasche. „Kann ich die jetzt bitte haben?“
Einen kurzen Moment lang fürchtete sie, sie müsste ihm die Tasche aus der Hand nehmen und könnte ihn dabei vielleicht berühren, aber er schob ihr die Tasche kommentarlos über den Tisch zu. Dabei fielen ihr seine Hände auf. Schmale, kraftvolle Hände mit schlanken, gepflegten Fingern. Wie es wohl sein musste, von diesen Händen liebkost zu …
Abrupt brach sie den Gedanken ab. Sie konnte es sich nicht leisten, sich in solchen Spekulationen zu ergehen. Das war gefährlich. Guido Bartaldi war gefährlich. Sie überprüfte den Tascheninhalt und stellte fest, dass alles vorhanden war. Und dann fühlte sie …
„Moment mal!“ Sie zog einen dicken Umschlag hervor. „Das gehört nicht mir.“
„Öffnen Sie ihn.“
In dem Umschlag steckten Banknoten in großen Scheinen, mehrere tausend Euro. Sie spürte einen gähnenden Abgrund in sich. Vor sich. Dieser Mann kam ihr nicht nur gefährlich vor, er war es. Und er zeigte keine Bedenken, ihr dies zu demonstrieren.
Sie hob den Blick. „Was soll das? Wollen Sie mir noch eine Falle stellen?“
„Aber nein. Nennen wir es einfach einen Ausdruck meines Bedauerns für die Unannehmlichkeiten, die Sie erleiden mussten.“
„Ja, natürlich“, meinte sie ätzend, „das ist immer die einfachste Lösung für reiche Leute. Geld. Tut mir leid, signore. Sie mögen die hiesige Polizei gekauft haben, aber meine Hilfsbereitschaft ist nicht käuflich. Meine Zeit ist so nicht zu bezahlen, und Unrecht schaffen Sie so nicht aus der Welt.“
Die Scheine waren ganz leicht zu zerreißen. Clare riss sie erst quer, dann längs und noch einmal quer durch, während Guido Bartaldi sie schweigend dabei beobachtete. Dann warf sie die Schnipsel in die Luft – sicherlich das teuerste Konfetti der Welt, und in einem rauschhaften Moment fühlte sie sich, als flöge sie mit dem leichten Geld davon.
„Betrachten Sie die Schulden als annulliert, Marchese“, und damit wandte sie sich zur Tür und ging würdevoll aus dem Raum.
Halb erwartete sie, dass er sie gewaltsam zurückhalten würde. Wartete auf seinen Wutausbruch. Aber nichts geschah. Sie spürte nur diese absolute Stille in ihrem Rücken und musste sich zusammennehmen, um nicht loszurennen. Noch eine Tür, noch ein Büroraum, ein stolzes Nicken für die Polizeibeamten – und dann stand sie endlich draußen, geblendet im hellen Sonnenschein, in einer Welt, in der das Geschehene unwirklich erschien, wie ein körniges schwarz-weißes Standfoto aus einem alten Film.
Der kleine Fiat wartete auf sie auf dem Parkplatz neben der Polizeistation, und sie ließ sich wie betäubt auf den Fahrersitz gleiten. Für einen Moment starrte sie mit leeren Augen vor sich hin, dann legte sie den Kopf auf das Lenkrad und ließ den Tränen, die sich während der letzten Stunden vor Angst und Schock in ihr aufgestaut hatten, freien Lauf.
Als der Strom endlich versiegt war, schnäuzte sie sich ausgiebig und wenig damenhaft, zog ihren Lippenstift nach und startete den Motor.
Es war Zeit, dass sie wieder mit ihrem Leben fortfuhr.
„Mia cara!“ Violettas Stimme klang so weich, so mitfühlend. „Was für ein schrecklicher Albtraum! Aber jetzt erzähl mir erst einmal alles. Man hat dich tatsächlich ins Gefängnis gesteckt?“
Sie saßen zusammen im salone. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, um die glühende Nachmittagssonne auszuschließen. Die Spannung fiel von Clare sichtlich ab. Die Frauen tranken Espresso, stark und süß, den Violetta zu jeder Tages- und Nachtzeit in rauen Mengen konsumierte, und knabberten Mandelgebäck.
„Nun, nicht in eine Zelle“, stellte Clare richtig. Die überschwängliche Wärme, mit der ihre Patin und Angelina, die Haushälterin, sie empfangen hatten, war Balsam auf ihre Wunden. Und während sie in diesem wunderbaren, beruhigenden Raum saß und für die schreckliche Geschichte, die sie hatte durchmachen müssen, offene Ohren fand, merkte sie, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel und sie nach und nach wieder zu sich fand.
„Aber das Gefühl war bestimmt das gleiche.“ Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. „Ich wusste nicht ein noch aus. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt verstehe ich, wie man Leute zu einem Geständnis bringen kann, obwohl sie nichts verbrochen haben.“ Eine tiefe Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Und dann dieser widerliche Guido Bartaldi.“
„Nun“, Violetta wedelte graziös mit einer Hand, „er ist ein sehr wichtiger Mann in dieser Region. Seine Familie ist schon seit dem quattrocento dort ansässig.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Du weißt natürlich, wer er ist?“
„Er ist ein Marquis. Das hat man immer wieder betont.“
„Nicht nur das.“ Violetta streckte die Hände vor und spreizte ihre Finger. „Selbst du, carissima, die an solchen Dingen kaum Interesse hat, müsstest schon von dem Juwelierhaus Bartaldi gehört haben.“
Langsam dämmerte es Clare. „Jetzt weiß ich auch, warum mir der Name so bekannt vorkam. Allerdings wäre ich nie darauf gekommen, dass sich ein Aristokrat dazu herablässt, als simpler Geschäftsmann zu arbeiten.“
„Cara, das ist doch nicht nur ein einfaches Geschäft!“ Violetta war über so viel Unwissenheit ehrlich entsetzt. „Bei den Bartaldis ist die Goldschmiederei zu einer Kunstform geworden, schon seit dem sechzehnten Jahrhundert. Das Haus Bartaldi ist einer der exklusivsten Juweliere der Welt. Und Guido Bartaldi hat das Geschäft auf weitere Bereiche ausgedehnt: Boutiquen mit den elegantesten Lederaccessoires und auch herrliche Düfte und Parfüms, für die man sterben möchte.“ Sie seufzte verträumt. „Sein Tentazione ist einfach himmlisch.“
Natürlich musste ein Mann wie Guido einen Namen wie „Versuchung“ wählen! „Der Preis ist bestimmt ebenso sphärisch hoch“, gab Clare abfällig zurück. „Jetzt erinnere ich mich … In Rom wurde gerade eine neue Boutique von ihm eröffnet. Die Damen haben den Laden ja regelrecht gestürmt.“
Violetta lächelte mokant. „Natürlich. In der Hoffnung, ihm persönlich zu begegnen. Er ist attraktiv wie il diavolo, der Teufel. Und noch Junggeselle.“
„Nicht mehr lange. Er wird sein Mündel heiraten.“ Clare nahm sich noch ein Stück Gebäck. „Das arme kleine Ding.“
„Sie tut dir leid?“ Violetta schüttelte den Kopf. „Nur wenige Frauen würden sich deiner Meinung anschließen.“
Clare sah ihre Tante an. „Sie will ihn nicht.“
„Die Kleine muss verrückt sein!“ Violetta goss Kaffee nach. „Dass ein Mann erfolgreich und wohlhabend ist, das würde ja schon fast ausreichen, aber wenn er auch noch Sex-Appeal hat – eine so wunderbare attrazione del sesso –, dann ist er doch unwiderstehlich.“ Sie wedelte mit der Hand. „Die kleine Paola wird ihm auch nicht lange widerstehen. Wenn er sie erst einmal in seinem Bett gehabt hat …“
Der Kuchen schmeckte Clare plötzlich nicht mehr. Sie stellte den Teller ab und erhob sich. „Violetta, Liebes, ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich mich vor dem Abendessen noch ein wenig hinlege. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Der Schock, die Aufregung …“
„Meine arme Kleine!“ Violettas Mitgefühl war echt. „Und ich plappere und plappere, ohne Rücksicht auf dich zu nehmen. Geh nur, mia cara. Ich werde Angelina sagen, sie soll dir meine Tropfen bringen. Das wird die Kopfschmerzen im Nu vertreiben.“
Die Kopfschmerzen vielleicht, dachte Clare, als sie die geschwungene Marmortreppe hinaufstieg. Aber was war mit diesem seltsamen, ja schmerzhaften Gefühl der Leere, das so urplötzlich über sie gekommen war?
Und als sie auf ihrem Bett lag und mit leerem Blick auf den sich drehenden Ventilator an der Decke starrte, sah sie die schwarzen, glühenden Augen Guido Bartaldis vor sich. Sie schienen sich einen Weg direkt in ihren Kopf zu brennen.
Dann hörte sie seine Stimme, wie er ihren Namen ausgesprochen hatte – Chiara –, und es war wie eine Liebkosung.
Und das war viel, viel schlimmer als alle Kopfschmerzen der Welt.
Die Tropfen halfen bald, und Clare konnte tatsächlich ein paar Stunden schlafen. Nach einem heißen Bad mit wohlduftenden Essenzen regten sich ihre Lebensgeister wieder. Mit weiblicher Neugier machte sie sich daran, die Töpfe, Tiegel, Flaschen und Flakons zu untersuchen, die Violetta zuhauf im Gästebad für Clare arrangiert hatte.
Sie schraubte Deckel ab, strich Cremeproben auf ihre Haut und schnüffelte prüfend an Parfümflakons.
Normalerweise bevorzugte sie leichte, frische Düfte, aber dieser hier war anders. Exotisch, mit einem intensiven Duft nach Lilien und Jasmin. Obwohl es schwer war, gefiel es ihr. Warum nicht, dachte sie und tupfte sich ein paar Tropfen auf Handgelenk und Nacken.
Während sie sich anzog, überlegte Clare, wie der Abend wohl verlaufen würde. Da heute keine Gäste eingeladen waren, würden sie und Violetta auf der Terrasse einen Aperitif zu sich nehmen, bevor sie sich zu einem von Angelina delikat zubereiteten Dinner niedersetzten. Danach würden sie im salone Musik hören und sich unterhalten. Clare freute sich auf den ruhigen Abend.
Da ihre Patentante ihre Abende auch ohne Gäste gern in eleganter Atmosphäre verbrachte, wählte Clare ein Kleid aus ihrer Garderobe, das sie erst kürzlich erstanden hatte. Es war aus seidigem Krepp, gerade geschnitten, knöchellang, mit einem großzügigen V-Ausschnitt auf Rücken und Brust. Das tiefe, warme Rot ließ ihr hellblondes Haar strahlen und verlieh ihrer Haut einen sanften Schimmer.
Sie schminkte sich dezent und drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Einer meiner besten Käufe, dachte sie zufrieden und machte sich auf den Weg nach unten zum salone.
Als sie den salone betrat, hörte sie von der Terrasse Violettas charmantes Lachen durch die großen Flügeltüren zu ihr dringen.
Oh, hat sie also doch Gäste eingeladen, dachte Clare. Das hat sie mir gar nicht gesagt.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trat sie ins Freie. Der freundliche Gruß, den sie auf den Lippen hatte, blieb ihr in der Kehle stecken.
Sie sah hin, sah noch einmal genauer hin – und erstarrte. Violettas Gast, der neben ihr unter dem großen Sonnenschirm saß, war niemand anderes als Guido Bartaldi!
Jetzt erhob er sich und deutete eine leichte Verbeugung an. Doch diese formelle Geste wurde durch das belustigte diabolische Funkeln in seinen schwarzen Augen Lügen gestraft. Er amüsierte sich königlich über ihre schockierte Miene!
Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen. Und was soll ich jetzt machen? dachte sie stumm. Vielleicht einen Hofknicks?
Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Welche Angelegenheit führt Sie denn jetzt hierher?“, stieß sie nicht gerade freundlich hervor.
„Clare, mia cara“, mischte sich Violetta mit leicht tadelndem Ton ein, „der Marchese macht uns seine Aufwartung, um herauszufinden, ob du auch wohlbehalten angekommen bist. Das ist so liebenswürdig von ihm.“ Sie lächelte ihren Besucher einnehmend an.
Violetta trug Chiffon, hellgrau, und dezente Diamanten an Hals und Ohren. Als habe der Marchese es gewusst, hatte auch er seine legere Kleidung gegen einen perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Anzug aus leichter Sommerwolle, ein blütenweißes Hemd und eine elegante Seidenkrawatte getauscht. Und Violetta taxierte Guido mit einem Blick, als wolle sie ihn jeden Moment anfallen.
Nicht dass man es ihr verübeln kann, dachte Clare gallig. Selbst heute Mittag, als sie vor Angst halb verrückt geworden war, hatte sie sie bemerkt: die enorme sexuelle Anziehungskraft dieses Mannes. Und heute Abend, aus welchem Grund auch immer, schien er es darauf angelegt haben zu …
„Ich habe Signora Andreati um Verzeihung gebeten, dass ich einfach so unangemeldet hier auftauche“, drang Guido Bartaldis dunkle Stimme in Clares Gedanken, „und jetzt bitte ich um Ihre Nachsicht. Aber ich musste einfach mit eigenen Augen sehen, dass es Ihnen gut geht. Sie machten einen sehr aufgewühlten Eindruck, als wir uns heute trennten.“
„So?“, fragte Clare eisig. „Ich fand eigentlich, ich sei noch sehr beherrscht gewesen, wenn man die Umstände in Betracht zieht.“
„Ihre Patin berichtete mir, dass Sie unter Kopfschmerzen litten und sich deshalb zurückgezogen hätten. Ich hoffe, Sie haben sich wieder erholt?“
„Meinem Kopf geht es wieder gut, ja“, antwortete sie nur. Was man von ihren Nerven nicht behaupten konnte.
„Liebes, klingle doch bitte nach Angelina.“ Violetta hatte die Spannung gespürt und versuchte abzulenken. „Sie möchte bitte noch einen Campari Soda für den Marchese und mich bringen. Und für dich natürlich auch.“
Am liebsten hätte Clare giftig geantwortet, dass sie weder Lust auf einen Drink noch auf das Abendessen hatte, solange dieser Mann anwesend war. Aber das konnte sie der Gastgeberin nicht antun. Selbst Violetta, so erfahren und bewandert sie in der Schicht war, die man „die bessere Gesellschaft“ nannte, war offensichtlich von ihrem unerwarteten Gast beeindruckt.
Auch Angelina strahlte und zeigte sich von ihrer besten Seite, als sie die Drinks und eine Schale mit winzigen crostini brachte.
Also würde Clare wohl in den sauren Apfel beißen und das Beste aus der Situation machen müssen. Ganz bewusst ließ sie sich auf dem am weitesten von Guido Bartaldi entfernten Sessel nieder und ignorierte sein rasend machendes sanftes Lächeln.
„Außerdem wollte ich auch sichergehen“, hob er an, „dass Sie Ihren Regenmantel wiederbekommen, sobald er gereinigt worden ist.“
Clare nippte an ihrem Campari. „Danke.“
„Ich bitte Sie, das ist doch das Mindeste.“ Er machte eine kurze Pause. „Paola bedauert es sehr, dass sie Ihnen nicht mehr persönlich für Ihre Hilfe danken konnte.“
„Das ist schon in Ordnung so.“ Clare hatte nicht die geringste Lust, diese Konversation weiterzuführen, aber wenn sie Violetta nicht verprellen wollte, musste sie zumindest höflich bleiben. Sie räusperte sich. „Wie geht es ihr denn?“
Er zuckte mit den Schultern. „Natürlich ist sie nicht gerade glücklich, aber das ist verständlich.“
„Völlig verständlich“, stimmte Clare mit Inbrunst zu.
Er überhörte die Anspielung. „Aber sie ist noch sehr jung. Sie wird darüber hinwegkommen. Um genau zu sein, ich werde alles mir Mögliche tun, damit sie darüber hinwegkommt.“
„Paola kann sich glücklich schätzen.“ Clare musste sich wirklich Mühe geben, ihren Ton neutral zu halten.
„Leider ist sie da ganz anderer Meinung. Ich verstehe das vollkommen, denn schließlich hat sie hier nur wenig Abwechslung und kaum Kontakt, vor allem, da ich häufig geschäftlich unterwegs bin. Und dies ist ein weiterer Grund meines Besuches, wie ich bereits zu Signora Andreati sagte. Ich würde Sie beide morgen Abend gerne als meine Gäste in der Villa Minerva begrüßen dürfen.“
„Natürlich habe ich dem Marchese gesagt, dass wir die Einladung sehr gern annehmen, ist es nicht so, mia cara?“
Clare legte ihren Appetithappen unberührt wieder ab. Nein, dachte sie wütend, es ist keineswegs so. Und Guido Bartaldi wusste genau, dass sie sehr viel lieber in einen Fluss voller Krokodile springen würde, als in seinem Haus zu Abend zu essen.
Ich werde eine andere Verabredung vorschützen. Oder Kopfschmerzen. Oder am besten einen Hirntumor! Laut sagte sie jedoch: „Vielen Dank.“
„Sie erweisen mir eine Ehre“, sagte er höflich, dann wandte er seine gesamte Aufmerksamkeit Violetta zu, die diese in vollen Zügen auskostete.
Clare saß steif in ihrem Stuhl und klammerte sich an ihr Longdrink-Glas, als sei es der Seidenfaden, an dem ihr Leben hing. Denn plötzlich kroch ihr wieder die Angst über den Rücken. Dass er sich um ihr Wohlergehen kümmerte, war nur ein Vorwand. Auch ihr Regenmantel war ihm völlig gleichgültig. Heute in Barezzo hatte sie die Macht dieses Mannes zu spüren bekommen, und sie hatte es gewagt, sich gegen ihn und seine Macht aufzulehnen. Gemessen an seinem Gesamtvermögen konnten die Geldscheine in diesem Umschlag nicht mehr als die wöchentliche Portokasse gewesen sein; das bedeutete allerdings nicht, dass er es amüsant gefunden hatte zu beobachten, wie es ihm in kleinen Schnipseln ins Gesicht geworfen wurde.
Heute Vormittag war ihr das wie eine großartige Vorstellung vorgekommen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie diese Tat noch bereuen werde. Er war nicht der Mann, der sich so etwas gefallen ließ – schon gar nicht von einer Frau.
Etwas sagte ihr, dass sich unter diesem sanften Lächeln und der erlesenen Eleganz eiskalter Stahl verbarg. Und unter diesem Stahl lag höchstwahrscheinlich ungezügelte Wildheit.
Sie konnte nur hoffen, dass sie es nur mit dem Stahl zu tun bekommen würde.
Angelina erschien kurz auf der Terrasse. „Signora, ein Anruf für Sie. Signore Caprani.“
„Ich komme sofort.“ Violetta erhob sich, doch als Guido Bartaldi ebenfalls aufstehen wollte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Nein, bleiben Sie nur, es wird bestimmt nicht lange dauern. Clare wird Ihnen gern solange Gesellschaft leisten.“
Trotzdem stand er auf. „Leider habe ich auch Verpflichtungen.“ Sein Bedauern klang nahezu echt. „Mein Onkel aus Venedig wird heute Abend bei uns erwartet, ich muss zurück. Aber wir sehen uns ja morgen“, er drehte sich zu Clare, „in meiner eigenen kleinen Welt. Arrivederci.“ Er küsste Violetta die Hand. „Bis morgen also.“
Während Violetta ins Haus hinein schwebte, starrte Clare den Marchese feindselig an.
„Per Dio.“ Seine Lippen verzogen sich. „Wenn ich zum Dinner bleiben sollte, würde ich einen Vorkoster für mein Essen verlangen.“
„Was soll das alles?“, fragte sie rau. „Was wollen Sie eigentlich?“
„Seien Sie versichert, sobald ich es selbst weiß, werden Sie die Erste sein, die es erfährt. Und jetzt sollten Sie mir eine gute Nacht wünschen.“
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie aus dem Sessel hochgezogen. Er neigte den Kopf und ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern, bis er schließlich auf ihren Lippen haften blieb.
„Nein“, hauchte sie.
Er lachte leise. Mit den Fingern strich er ihr sanft über die Wange, dann zeichnete er die Konturen ihrer Lippen nach. Atemlos ließ Clare es geschehen. Die Berührung schien sie zu verbrennen.