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Seit einem Unfall ist Leif querschnittsgelähmt. Er hat sich damit arrangiert, auch mit der Tatsache, dass er für andere Männer quasi unsichtbar geworden ist. Bis Cornel vor seiner Haustür steht. Eigentlich hat der junge Pole nur den Auftrag, Leifs Wohnung behindertengerecht umzubauen. Doch rasch wird klar, dass da viel mehr ist. Leif bildet sich schließlich nicht ein, dass Cornel ihn anflirtet, oder? Die Zweifel sind riesig: Cornel ist zehn Jahre jünger, verflucht attraktiv und - gesund. Was zum Teufel soll er mit einem Krüppel wie Leif wollen?
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Seitenzahl: 518
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Simon Rhys Beck & Rosha Reads
© dead soft verlag, Mettingen 2018
http://www.deadsoft.de
© the authors
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Rock and Wasp – shutterstock.com
© Shooting Star Studio – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-191-8
ISBN 978-3-96089-192-5 (epub)
Seit einem Unfall ist Leif querschnittsgelähmt. Er hat sich damit arrangiert, auch mit der Tatsache, dass er für andere Männer quasi unsichtbar geworden ist.
Bis Cornel vor seiner Haustür steht. Eigentlich hat der junge Pole nur den Auftrag, Leifs Wohnung behindetengerecht umzubauen. Doch rasch wird klar, dass da viel mehr ist. Leif bildet sich schließlich nicht ein, dass Cornel ihn anflirtet, oder?
Die Zweifel sind riesig: Cornel ist zehn Jahre jünger, verflucht attraktiv und - gesund. Was zum Teufel soll er mit einem Krüppel wie Leif wollen?
Für meinen Freund Kuba …
Ich bin sicher, dass es funktioniert.
Leif
Sieben Uhr. Es klingelt an meiner Haustür – und das überrascht mich. Nicht das Klingeln an sich, ich habe ja darauf gewartet. Aber dass die Handwerker wirklich um sieben Uhr da sind. Sind sicher Polen, denke ich und grinse in mich hinein. Duric Bau … und der Mann, mit dem ich telefoniert habe, hatte eindeutig einen osteuropäischen Akzent. Also Polen ist gar nicht so weit hergeholt.
Ich stelle meine Kaffeetasse auf den Tisch und drehe den Rollstuhl, damit ich Richtung Tür fahren kann. Die Schwelle zwischen Küche und Flur stellt ein echtes Hindernis dar. Nicht das einzige in meiner neuen Wohnung. Aber diese Wohnung musste ich einfach haben – sie ist perfekt.
Nein, sie wird perfekt sein – wenn die Umbauarbeiten abgeschlossen sind. Dann ist auch die Badezimmertür so beschaffen, dass ich ohne Probleme ins Bad fahren kann. Und auch die Dusche wird dann hoffentlich befahrbar sein. Im Augenblick ist das alles … suboptimal.
Aber diese Wohnung, ebenerdig, Altbau und in der Innenstadt mit eigenem Parkplatz direkt vor der Tür, ist genau das, was ich mir gewünscht habe.
Es ist einiges Geschick notwendig, meinen wendigen Rollstuhl bis zur Haustür zu manövrieren. Aber schließlich kann ich die Tür öffnen. Davor steht … wow, davor steht ein wirklich gutaussehender junger Kerl und grinst auf mich herunter.
Er streckt mir seine kräftige Hand entgegen. „Cornel Duric, guten Morgen.“
Ah, der Juniorchef. Ziemlich „junior“, wie ich mit einem zweiten Blick feststelle. Der Bart, der seinen hübschen Mund einfasst, macht ihn nur auf den allerersten Eindruck älter.
„Leif Stevenson“, sage ich und fasse nach seiner Hand. Sie ist warm und sein Händedruck sehr fest.
„Kommen Sie rein.“ Ich lasse ihn eintreten.
„Nette Gegend hier. Eigentum?“, fragt er und wirft einen Blick in den Flur.
„Ja. Ich bin erst vor ein paar Wochen hier eingezogen.“ Ich fahre vor ihm her, Richtung Küche – und wieder haken die vorderen Rollen meines Rollstuhls an der Kante an.
Bevor ich allerdings mit meinem kleinen Manöver beginnen kann, spüre ich, wie mein Rollstuhl leicht gekippt wird, sodass ich problemlos weiterfahren kann. Ähm, ist das jetzt nett oder übergriffig?
„Nicht gerade behindertengerecht“, stellt Duric Junior hinter mir fest. Er hat eine angenehme Stimme, recht tief und ziemlich weich.
„Nein“, sage ich etwas pikiert und fahre einen Hauch zu schwungvoll weiter. Ich bin nicht gewöhnt, dass jemand mir ungefragt behilflich ist. „Dafür sind Sie ja jetzt da.“
„Jau. So ist das. – Sollen wir einmal durch die ganze Wohnung gehen? Dann kann ich mir aufschreiben, was Sie sich vorgestellt haben …“ Er macht eine kurze Pause und ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu. „Ich gehe und Sie fahren.“ Er grinst tatsächlich breit und ich schüttele unwillkürlich den Kopf. Ein Spaßvogel, großartig. Aber ein verdammt attraktiver Clown. Einer mit einem abgebrochenen Schneidezahn. Warum fällt mir das auf?
„Also, wo starten wir?“ Er zückt einen Kuli und klappt eine Art Notizbuch auf. Zumindest hat er kein Tablet dabei oder tippt auf seinem Smartphone herum, ganz bodenständig – Papier und Kuli.
Ich fahre vor ihm her durch meine Wohnung. Erkläre, was ich wie verändern möchte und er macht sich ganz eifrig Notizen. Behindertengerechtes Badezimmer, Türverbreiterung, Teppich aus dem Wohnzimmer raus, die Türschwellen und der Klotz von Einbauschrank im Flur weg …
„Am besten wir machen alles neu, was?“, fragt Duric mit einem frechen Grinsen.
„Machen Sie denn alles?“
Er schreibt irgendwas in sein Buch und sieht dann auf. Unsere Blicke treffen sich und sein Grinsen wird noch breiter. Es ist schon ziemlich ansteckend, auch wenn ich gerade nicht weiß, was in seinem Kopf vor sich geht.
„Fast alles. Ich bin ziemlich flexibel.“
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber – hallo? Flirtet der etwa mit mir? Das kann eigentlich nicht sein. Ich bin versucht, über meine Schulter zu sehen, ob dort noch jemand anders steht. Nein, das kann nicht sein. Ich bin locker zehn Jahre älter als er und sitze im Rollstuhl. Dass ich angeflirtet wurde, ist schon eine lange Zeit her.
„Kaffee?“, frage ich ein wenig irritiert.
„Au ja, gern. Hab noch nicht gefrühstückt.“
Ich fahre wieder Richtung Küche und erneut kippt er meinen Rollstuhl, um mir über die Kante zu helfen. Ich beiße mir auf die Zunge, um ihn nicht anzupflaumen. Er weiß es sicher nicht besser. Und ich will ihn nicht verschrecken, denn erst einmal möchte ich herausfinden, ob er eben tatsächlich mit mir geflirtet hat. Gott, das ist so unwahrscheinlich! Eher könnte eine Herde Kühe in meiner Küche grasen.
„Küchenhöhe passt ja schon“, murmelt er vor sich hin, als er sich breitbeinig an meinen Küchentisch setzt und seinen Blick erneut schweifen lässt. Er trägt eine schwarz-graue Arbeitshose von Strauss und knöchelhohe, schwarze Arbeitsschuhe. Offensichtlich ist er kein Schreibtischtäter.
Ich rolle zu meinem Kaffeeautomaten und sehe ihn fragend an.
„Einfach nur Kaffee“, sagt er.
Ich ziehe zwei Kaffee und sehe seinen begehrlichen Blick auf mein Frühstück, das noch auf dem Tisch steht.
„Hunger?“
„Nein, nee, auf keinen Fall“, behauptet er abwehrend.
Ich stelle die Tasse vor ihn hin.
„Hast du Zucker?“
Bei der vertraulichen Ansprache zucke ich kurz zusammen, schiebe ihm dann allerdings den Zuckertopf hin. Er schaufelt sich vier Löffel davon in seinen Kaffee, was ich nur mit Mühe unkommentiert lasse. Vielleicht hätte ich ihm einen Kakao anbieten sollen?
„Was ist mit den Steckdosen und den Schaltern – soll da noch was umgesetzt werden?“, fragt Duric Junior und lehnt sich bequem im Stuhl zurück. Er sieht mich vollkommen offen an. Das irritiert mich, denn ich bin eher andere Blicke gewöhnt: unsichere, manchmal bemitleidende Blicke. Aber wie er mich ansieht? Ich könnte fast sagen: Das ist völlig neu.
„Also?“, fragt er nach.
Steckdosen, richtig, mahne ich mich. „Nein, das passt alles … denke ich.“
„Kannst du aufstehen? Also ich meine, dich hinstellen?“, will Duric wissen.
Ich überlege immer noch, warum wir auf einmal beim „Du“ gelandet sind. Hab ich was verpasst?
Und warum zum Teufel geht ihn das irgendwas an?
Als hätte ich meine letzte Frage laut gestellt, erklärt er: „Brauchst du noch irgendwelche Haltegriffe oder Geländer oder so was …“
„Ich brauche einen vernünftigen Griff an der Toilette“, fällt mir ein. Das Teil ist nur provisorisch angebracht.
Duric – nein, wie hieß er noch mit Vornamen? Cornel? – macht sich weitere Notizen. „Bad wird dann komplett neu gefliest – oder nur der Duschbereich?“
„Nein, wenn, dann komplett.“
Er nickt. „Die Fliesen sehen ja auch scheiße aus …“
In diesem Moment knurrt sein Magen laut vernehmlich.
Kommentarlos schiebe ich ihm den Korb mit den verbliebenen zwei Brötchen hin. Dann rolle ich rückwärts, hole einen Teller und ein Messer aus dem Schrank.
„Is’ nicht nötig, danke.“ Er wirkt tatsächlich etwas verlegen.
„Wieso? Gehst du gleich frühstücken?“, frage ich und duze ihn ebenfalls. So alt bin ich ja nun auch nicht, dass ich mich an seiner lockeren Art stoßen würde. Außerdem habe ich immer wieder Zeiten in den USA verbracht – insofern ist mir die Duzerei nicht völlig fremd. Nur ungewohnt hier in Deutschland.
„Nee, ich muss arbeiten.“
„Na dann …“ Auffordernd platziere ich den Teller und das Messer direkt vor ihm auf dem Tisch und schiebe zusätzlich Käse und Marmelade zu ihm hinüber.
Und er gibt tatsächlich nach. „Danke.“
Ich sehe ihm dabei zu, wie er sich die Brötchen fertigmacht und trinke nebenbei meine zweite Tasse Kaffee. Wie bin ich noch mal dazu gekommen, jetzt mit meinem Handwerker am Tisch zu sitzen und zu frühstücken?
„Ist es okay, wenn ich gleich alles ausmesse?“, fragt er mich mit vollem Mund.
„Klar, ich hab mir extra Zeit genommen. Außerdem kann ich von zu Hause aus arbeiten.“
„Mmh, hab ich gesehen, top eingerichtetes Büro“, brummt er. „Was machst du denn so?“ Er stockt kurz und schiebt ein: „Wenn ich fragen darf“, hinterher.
Ich stelle meine leere Tasse auf den Tisch. „Ich bin Übersetzer, übersetze Romane in einem ziemlich großen Verlag.“
„Du übersetzt? Welche Sprache?“
„Aus dem Englischen ins Deutsche. Ich bin zweisprachig aufgewachsen.“
Er hat beide Brötchen in Rekordzeit in sich hineingestopft und sieht mich jetzt neugierig an. „Was bist du – Engländer? Stevenson?“
„Halb-Amerikaner. Und du?“ Ich höre keinen Akzent in seiner Stimme.
„Pole.“
„Aber hier geboren.“
„Nein.“ Er lacht. „Ich war acht, als meine Eltern nach Deutschland gezogen sind.“
„Dann sprichst du Deutsch und Polnisch?“
„Klar.“ Er steht auf. „Danke für das Frühstück. Ich mess dann jetzt mal alles genau aus, okay? Dauert ein bisschen.“
Ich nicke ihm zu und werfe einen begehrlichen Blick auf seinen Hintern, als er die Küche verlassen will. „Ach, warte mal …“
Er dreht sich um.
„Wenn du schon da bist – kannst du dir mal die Terrassentür anschauen, ob man da irgendwas machen kann?“
„Du meinst, damit du rausfahren kannst?“
„Ja, wäre super. Steht zwar nicht ganz oben auf der Liste, aber vielleicht hast du eine Idee …“
„Mmh, mach ich.“
Ich räume die Teller und Tassen in den Geschirrspüler und höre Cornel in meiner Wohnung herumlaufen. Ein seltsames Gefühl, dass er hier ist. Ab und an vernehme ich das leise Piepsen des Messgeräts.
Die zwei Tassen Kaffee machen sich bemerkbar und ich fahre Richtung Toilette. Ich bin ziemlich froh, dass ich allein zum Klo kann. Kurz aufstehen, mich hochstemmen, mich anziehen oder allein in den Rollstuhl hieven, das geht alles recht gut. Nur laufen nicht, trotz mittlerweile jahrelangem Training. Dafür hab ich Arme, die auch in meiner Zeit als Sportler nicht muskulöser gewesen waren. Ich komm allein zurecht – das ist alles, was zählt.
Die Badezimmersituation ist deutlich schlechter als in meiner letzten Wohnung. Für den Rollstuhl habe ich insgesamt zu wenig Platz vor dem Klo. Die Ablagemöglichkeiten sind zu hoch und der Griff, an dem ich mich jetzt hochziehe, damit ich wieder in den Rollstuhl komme, ist, wie schon bemerkt, nur provisorisch angebracht. Genau das wird mir zum Verhängnis.
Ich bemerke, wie sich etwas verändert, wie der Griff nachgibt, als ich mit meinem gesamten Gewicht daran hänge. Wie in Zeitlupentempo begreife ich, was passiert, kann es doch nicht verhindern und kippe zur Seite. Es gibt keine Möglichkeit, den Sturz aufzuhalten. Ich hab sogar noch Zeit, mich zu ärgern, dann pralle ich seitlich auf die Kloschüssel und gegen den Rolli. Ich reiße die Arme nach vorn, verhindere damit, dass ich mit dem Kopf irgendwo gegenschlage und schleudere gleichzeitig den nutzlosen Haltegriff quer durchs Bad. Es gibt einen mordsmäßigen Krach und der Rollstuhl scheppert gegen die Glastür der Dusche.
Die Stille danach ist genauso ohrenbetäubend.
„So eine verfluchte, verfickte Scheiße!“, fluche ich stöhnend.
Ich bleibe kurz liegen, checke, ob ich mich ernsthaft verletzt habe. Meine Schulter schmerzt heftig, mein Hüftknochen, wahrscheinlich bin ich damit auf die Kloschüssel geknallt.
In diesem ungünstigen Moment kommt Cornel ins Bad gesprintet. Schlecht für mich, dass ich nicht abgeschlossen habe. Gut, dass ich wenigstens die Hose wieder an habe.
Er starrt mich an. „Alter, was machst du denn?!“
Sofort geht er in die Hocke.
„Das gehört zu meiner Morgengymnastik“, ätze ich.
Ich atme ein Mal tief durch und erkenne in dem Augenblick, dass er vorhat, mir aufzuhelfen.
„Wenn du mich jetzt anfasst, raste ich aus!“, zische ich.
Er zuckt zurück und sieht mich skeptisch an.
„Ich meine es ernst. Fass mich nicht an.“
Beschwichtigend hebt er die Hände und wirkt etwas beleidigt. „Hallo?! Ich steh zwar auf Typen, aber ich grapsch bestimmt nicht jeden an.“
Die eigenartig freudige Erkenntnis, dass Cornel schwul ist, wird begleitet von dem fiesen Nachgeschmack seiner Aussage, „ich grapsch bestimmt nicht jeden an“. Klar, einen Behinderten zum Beispiel nicht. Ich bemerke selbst, dass ich wirres Zeug denke. Jetzt muss ich erst mal wieder hochkommen. Außerdem ist völlig unerheblich, ob dieser Kerl schwul ist oder ein Problem mit Behinderten hat oder … keine Ahnung, zum Scheißen in den Wald geht! Ich lieg hier in meinem Bad, halb unter dem Klo, mein Rollstuhl steht ungefähr eineinhalb Meter weit entfernt und ich muss mich dorthin schaffen, um mich in das Teil hineinziehen zu können.
Warum lässt du dir nicht helfen?, fragt eine kleine, beschissene Stimme in meinem Kopf. Das ist die, die immer recht hat und mit der ich ein wirklich großes Problem habe.
Denn entgegen meiner von außen sichtbaren Lebensweise bin ich innerlich ein Chaot. Aber das weiß nur ich.
Cornel steht auf, bleibt jedoch noch im Bad und beobachtet meine ersten Versuche, mich unter dem Klo hervorzuarbeiten. Dann zuckt er mit den Schultern. „Kann ich mir noch einen Kaffee machen?“
Ich bin total perplex. „Ja, ich hindere dich nicht“, pflaume ich ihn an.
Er zuckt wieder mit den Schultern und lässt mich tatsächlich allein. Ich kann das nicht glauben. Sein Verhalten erstaunt mich maßlos und ich fühle auch, wie Wut in mir hochsteigt. Das kann doch nicht angehen, dass der Typ sich jetzt in aller Seelenruhe einen Kaffee gönnt. Hallo, Leif, denk nach! Wer wollte denn, dass er verschwindet?
Ich zittere vor Zorn und Anstrengung, als ich mich zentimeterweise Richtung Rollstuhl robbe. Das ist so verdammt würdelos, aber zumindest hab ich ein Ziel vor Augen.
Da bemerke ich Cornels Anwesenheit erneut. Er lehnt wirklich mit seinem Kaffee im Türrahmen und sieht mir zu. Ich glaub, ich kotz gleich.
„Hier muss echt was optimiert werden“, sagt er jetzt auch noch.
Mittlerweile habe ich die Fußstütze meines Rollstuhls erreicht und ziehe ihn näher zu mir heran. „Meinst du wirklich?“, frage ich keuchend.
Meine linke Hüfte schmerzt und meine Schulter ebenso. Ich müsste mich eigentlich einen Moment ausruhen, aber weil Cornel mir immer noch zusieht, kämpfe ich weiter. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht …
In diesem Augenblick fasst Cornel offenbar einen Entschluss. Er stellt die Kaffeetasse auf dem Waschbeckenrand ab und kommt zu mir herüber.
„Alter, keine Ahnung auf was für ’nem Behinderten-Selbstbestimmungstrip du bist – aber ohne mich. Das muss ich mir nicht geben.“
Er geht in die Knie, rollt mich vorsichtig in Seitenlage und sortiert meine Gliedmaßen. Mir bleibt bei soviel Dreistigkeit die Spucke weg. Dann hebt er mich mit einem routinierten und erstaunlich schmerzfreien Griff hoch und setzt mich vorsichtig in den Rollstuhl. Bei nächster Gelegenheit werde ich ihm seine hübsche Fresse polieren.
„Bitte, gern geschehen“, sagt er in diesem Moment.
Cornel
Ich trete einen Schritt zurück. Der Kerl sieht so aus, als wollte er mir jeden Moment eine scheuern. Soweit kommt’s noch! Warum mich jetzt aber dieses unbändige Verlangen überfällt, ihn weiter zu reizen, weiß ich auch nicht.
„Soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“, frage ich ihn mit meiner besten Mutti-Stimme, Besorgnistonlage Stufe acht.
„Du bist so ein …“ Leif umklammert die Armlehnen seines Rollstuhls, als müsste er sich wirklich stark beherrschen, nicht komplett auszuflippen. Und es scheint ihm tatsächlich die Sprache verschlagen zu haben. Oder er kennt gar keine Kraftausdrücke. Immerhin ist er ja ein Intellektueller. Studium und so’n Kram. Was der allein im Wohnzimmer für Platz verschwendet mit den vielen Bücherregalen. Echt. Trotzdem, mit der Zornesfalte auf der Stirn sieht er irgendwie niedlich aus. Niedlich?! Habe ich das jetzt echt gedacht? Boah, der Kerl haut sich die Birne an und ich werde blöd davon, oder wie?
„Klar, weiß ich, dass ich ein total fürsorglicher, charmanter und hilfsbereiter Mensch bin, falls das die Worte waren, die du gesucht hast. Nützt aber alles nichts, ich muss das Aufmaß jetzt noch fertig machen“, lasse ich ihn wissen. Der soll sich mal schön alleine runterfahren. Da muss ich ihm nicht den Blitzableiter machen. Nach einem letzten prüfenden Blick – ein bisschen mache ich mir ja schon Sorgen um ihn – schnappe ich mir meine Kaffeetasse und marschiere aus dem Bad. Ich muss mich jetzt auch wieder ein wenig sortieren. Erst der Schreck, als es so gepoltert hatte und dann das merkwürdige Gefühl, als ich Leif in den Armen gehalten habe … das … er hat so gut gerochen … aber … Ich schüttele den Kopf.
Das Messen und Notieren beruhigt mich. An Zahlen gibt es nichts zu interpretieren. Fakten. Sehr erholsam. Für die Raumabmessungen ist der Lasermeter wirklich praktisch, aber die kleinen Maße nehme ich immer noch lieber mit dem Zollstock. Ich finde, das geht schneller. Und trotzdem, auch wenn es manche Kundschaften nervös macht, für das Aufmaß lasse ich mir Zeit. Wenn ich nämlich schlampig arbeite, kann es passieren, dass ich meine Skizzen nicht mehr richtig deuten und Ziffern nicht lesen kann oder gleich irgendwelche Maße vergessen habe. Dann muss ich noch mal zum Nachmessen kommen. Das wirkt nicht nur unprofessionell, das ist außerdem peinlich und kostet tatsächlich viel mehr Zeit, als es gleich ordentlich zu machen.
Das hier wird eine schöne Arbeit werden. Auf was man beim rollstuhlgerechten Ausbau achten muss, weiß ich durch meinen kleinen Bruder Tomasz ziemlich genau. Inzwischen ist er längst bei einem Rollstuhl in Erwachsenengröße angelangt. Meine Güte! Erwachsen, der Kleine ist tatsächlich schon 18 geworden. Auf alle Fälle ist die Baustelle hier bei Leif eine gute Ausweichmöglichkeit bei Schlechtwetter. Natürlich bin ich nicht aus Zucker, aber es macht trotzdem keinen Spaß, bis auf die Haut durchnässt irgendwo buckeln zu müssen.
Leif hat sich in sein Büro verzogen. Die Tür ist nur angelehnt, ich kann die Tastatur klappern hören. Als ich vorbeigehe, schiele ich hinein und erhasche einen Blick auf seine Rückansicht. Obwohl er recht schmal gebaut ist, sind die Proportionen sehr ansprechend, sprich die Schultern sind deutlich breiter als die Hüften. Da er viel mit den Armen leisten muss, hat er ganz ordentliche Muskeln. Für so einen Schreibtischtäter zumindest. Ansonsten ist er sehr schlank, was mir gut gefällt. Und da seine Beine nicht völlig gelähmt sind – so viel konnte ich bei seiner Rumrobberei im Bad erkennen – dürfte der Muskeltonus nicht komplett eingeschrumpft sein. Konnte ich durch die Jeans nicht wirklich gut erkennen. Wieso habe ich überhaupt darauf geachtet?! Hilfe, der Typ hat genmanipulierte Kaffeebohnen in seinem Automaten und die verpuddingisieren mir gerade mein Gehirn!
Wie auch immer, so ein Schreibtischjob wäre nichts für mich. Ich bin heilfroh, dass Mutter das Büro in unserer Firma schmeißt und ich mit dem Gedöns nichts zu tun haben muss.
Das Aufmaß im Bad habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Wollte Leif die Zeit geben, sich zu sammeln. Ist echt kacke, wenn man sich vor den Augen eines Fremden so peinlich aus der Karre kippt. Aber eigentlich fand ich nur peinlich, dass er sich nicht helfen lassen wollte. Meine Güte. Ganz schön empfindlich, der Herr.
Das Bad benötigt die massivsten Umbaumaßnahmen. Und die sind längst überfällig. Allein diese Fliesen! Die stammen aus dem Sortiment ‚Depressionsauslöser‘ und verstoßen sicher gegen irgendwelche Menschenrechtskonventionen.
Skizze zeichnen, messen, aufschreiben, fertig – ich gehe meine Aufzeichnungen noch mal durch. Ich habe an alles gedacht. Gut. In der Ecke liegt noch der treulose Haltegriff. Ich hebe ihn auf, gucke ihn mir genauer an und kann nur den Kopf schütteln. War ja klar, Dübel wie aus dem Kinderkaufladen. Das konnte ja nur schiefgehen. Die hat es einfach aus der Wand gezogen. Entschlossen marschiere ich in den Gang und klopfe an die Bürotür.
„Ja?“, kommt es mürrisch zurück.
Ich stoße die Tür auf und sehe, wie Leif seinen Rolli dreht, um mich anblicken zu können. Sein Gesicht – der Eindruck, dass ich ihn schon mal gesehen habe, war von Anfang an da und wird noch stärker. Aber woher sollte ich ihn kennen? Das hätte ich doch nicht vergessen. Na, egal. Vielleicht fällt es mir noch ein. Allerdings war das der Grund, warum ich ihn so schnell geduzt habe. Auf dem Bau ist es zwar üblich, sich mit Du anzusprechen, aber bei Kundschaft achte ich normalerweise schon auf die konventionellen Gepflogenheiten. Bei ihm ist mir das so rausgerutscht. Aber es scheint ihn nicht zu stören. Ein Glück! Wäre kein guter Start gewesen. Oder er denkt sich, die Typen vom Bau sind alle Rüpel ohne irgendwelches Benehmen.
„Ich bin mal eben am Auto und hole Werkzeug“, gebe ich Leif Bescheid.
„Äh, du hast doch eben erst das Aufmaß gemacht, willst du schon mit den Arbeiten anfangen?“
Ich kann nicht anders, ich muss lachen. Die Vorstellung ist wirklich zu drollig. „Nein, sicher nicht. Aber ich wollte dir noch den Griff im Bad montieren. Ich denke, der ist wichtig für dich.“
Wie Leif mich jetzt anguckt, geht mir durch und durch. Er sieht plötzlich so traurig aus. Ich hab doch nichts falsch gemacht!
„Danke“, sagt er, so leise, dass ich es gerade noch verstehe. Und vielleicht täusche ich mich auch, aber ich habe den Eindruck, dass er rot geworden ist.
Abrupt drehe ich mich um und flüchte regelrecht zum Auto. Sieht zwar nicht besonders cool aus, der Kastenwagen, aber für Fälle wie diesen ist er Gold wert. Gut bestückt mit allem möglichen Werkzeug und Materialien. Ein Schlagbohrer und Dübel sind quasi Grundausstattung. Und die Firmenaufschrift ist gute Werbung. Duric Bau – wenn ich ehrlich bin, da regt sich ein bisschen Stolz in mir. Wir haben einen soliden Betrieb und uns inzwischen einen guten Namen erarbeitet. Gute Arbeit zu fairen Preisen. Über einen Mangel an Aufträgen können wir zum Glück nicht klagen.
Als ich im Bad loslege und neue Löcher bohre, habe ich plötzlich das Gefühl angestarrt zu werden. Ob Leif wohl schwul ist? Warum sollte ich das überhaupt wissen wollen? Ich bin heute wirklich merkwürdig drauf. Muss wohl der Schlafmangel sein. Oder die Vibrationen der Bohrmaschine haben irgendwas durcheinandergeschüttelt in meinem Kopf.
Die Löcher sind gebohrt, ich lege die Maschine auf den Boden. Erst dann drehe ich mich um. Tatsächlich, Leif steht mit seinem Rolli vor der Tür und beobachtet mich. Ich grinse ihn an.
„Bin gleich fertig. Dann kannst du hier für Olympia trainieren, den Griff reißt du nicht mehr raus. Da muss schon die Wand mit umfallen.“ Ich ziehe die Dübel aus der Hosentasche und stopfe sie in die Löcher.
„Lernt man diese kernigen Sprüche auf der Berufsschule oder bist du ein Naturtalent?“ Den leisen Spott drückt Leif zusätzlich auch sehr gekonnt in einer hochgezogenen Augenbraue aus.
„Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin einfach schon umwerfend geboren worden.“ Mein Grinsen ist noch breiter geworden. Ich mag den Kerl einfach. Irgendwie. Ich wickele das Kabel der Bohrmaschine auf und frage ihn:
„Ist es ein Problem für dich, wenn ich Fotos mache?“
What the fuck! Ich wüsste zu gerne, was der Kerl denkt, bei der Miene, die er gerade zieht. Was hat er denn gedacht, was ich für Fotos mache?!
„Also, von der Wohnung, als Ergänzung zum Aufmaß. Ist manchmal ganz hilfreich, wenn man bei der Planung der Maßnahmen gucken kann, wie das noch mal ausgesehen hat.“ Ich kratze mich hinterm Ohr, fühle mich irgendwie verlegen, als hätte ich ihm tatsächlich gerade ein unmoralisches Angebot gemacht. Keine Ahnung, wie der Kerl es schafft, mich so zu verunsichern.
„Ja, ach so. Klar, kannst du machen.“ Leifs Miene ist jetzt wieder völlig neutral, aber er lässt mich nicht aus den Augen. Als wollte er mich durchleuchten.
Ich drehe ihm den Rücken zu und montiere den Griff.
„Ich setze mich gleich heute Abend an die Planungen, überlege mir, was ich an Material bestellen muss. Wie sieht es zeitlich bei dir aus? Gibt es Tage, an denen ich hier nicht arbeiten kann?“ Ein Angebot brauche ich nicht machen, da wir von vornherein festgelegt haben, dass das ein Auftrag in Regiearbeit sein wird und er quasi schon von Leif erteilt ist. Bei so speziellen Arbeiten kann ich mit einem Pauschalangebot nicht kalkulieren. Zu viele unbekannte Faktoren, die da mit hineinspielen.
„Grundsätzlich bin ich recht flexibel. Ich denke, am besten klären wir das immer kurzfristig ein paar Tage vorher, oder?“
„Alles klar, Chef, so machen wir das.“ Mit Klopapier, das ich etwas befeuchte, wische ich den Bohrstaub vom Boden auf. Nichts erinnert jetzt mehr an das Unglück. Zur Sicherheit rüttele ich noch ordentlich am Griff. Der sitzt bombenfest.
„Fertig.“ Ich bin zufrieden und lächele Leif an. Er guckt mich an, sagt aber nichts. Die Stille, die plötzlich zwischen uns liegt, fühlt sich merkwürdig an. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und gucke kurz auf die Uhrzeit.
„Oh, so spät schon. Ich muss gleich zu Frau Wehrlemann fahren. Und zu ihrem Bodo. Der liebt mich.“ Ich muss lachen über das dumme Gesicht, das Leif jetzt macht. Ich erbarme mich und kläre ihn auf. „Bodo ist ihr Rauhaardackel und die alte Dame ist so vernarrt in den Kerl, dass es wirklich nicht mehr feierlich ist.“
„Das klingt … interessant.“ Jetzt lächelt er doch endlich mal. Steht ihm gut, da wirkt er lockerer. Die dunklen Haare und der Kurzhaarschnitt lassen ihn nämlich etwas streng aussehen.
„Ja, so kann man das freundlich formulieren. Meine Mutter sagt immer ‚Junge, geh du zu den schwierigen Kunden, dein Vater hat seinen ganzen Charme schon aufgebraucht, als er mich damals in die Ehefalle gelockt hat‘. Und ich muss ihr eigentlich recht geben.“ Keine Ahnung, warum ich so viel quatsche. Bin ich etwa nervös?
„Und, bin ich auch einer von den schwierigen Kunden?“, fragt Leif und sieht mich dabei irgendwie lauernd an.
„Sag du es mir.“ Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen und zwinkere ihm zu.
„Dein Charme wird dir nichts nützen, wenn du keine vernünftige Arbeit machst. Ich werde genau gucken“, erklärt mir Leif und versucht dabei eine überhebliche Miene aufzusetzen. Was ihm auch ganz gut gelingt. Er hat diese spezielle Augenbrauenform, mit einem hohen Bogen, die grundsätzlich Coolness signalisiert. Ich mag das gern.
„Auf meine Arbeit oder auf mich?“ Ganz schön frech von mir, aber es macht einfach zu großen Spaß, ihm seine Coolness ein bisschen aus dem Gesicht zu wischen. Es klappt. Auch jetzt guckt er mich wieder mit so einer Mischung aus Verblüffung und Unglauben an, die mir ausgesprochen gut gefällt.
„Äh … Das mit dem Griff, schreib das mit auf die Rechnung, ja?“, sagt Leif und weicht meiner Frage aus.
„Willst du mich beleidigen? Dafür habe ich lecker Frühstück bekommen und ’nen geilen Kaffee. Bei Frau Wehrlemann krieg ich Hagebuttentee. Dafür holt sie auch extra das gute Service aus dem Schrank und damit sie nicht beleidigt ist, muss ich das Zeug auch noch trinken.“ Ich verziehe angewidert das Gesicht.
Leif lacht und meint: „Wahrscheinlich musst du schon froh sein, dass sie dich nicht in die Backe kneift, Duric Junior!“
„Hör mal, ich bin 23 und keine 8 Jahre mehr! Und selbst damals habe ich mich nicht in die Backe kneifen lassen. Ich habe schon genaue Vorstellungen davon, wer mich anfassen darf.“ In Leifs Gegenwart entwickele ich mich noch zum Dauergrinser. Passiert ganz automatisch. Und angezwinkert habe ich ihn auch schon wieder. Der muss ja bald denken, dass ich ein schlimmes Augenleiden habe!
„Das glaube ich sofort“, erwidert Leif und der fröhliche Gesichtsausdruck ist leider verschwunden.
Leicht zu durchschauen ist der Typ jedenfalls nicht. Aber er macht den Eindruck, als könnte er mich durchschauen. Das will ich ja mal gar nicht!
Weil ich nicht mehr weiß, was ich sagen soll, ziehe ich das Handy aus der Tasche und fotografiere schon mal das Bad. Leif rollt rückwärts, gibt die Badezimmertür frei, sodass ich auf den Flur treten kann. Die anderen Zimmer sind schnell geknipst, ich hole meine Bohrmaschine und stehe dann etwas unschlüssig vor Leif, der mich schweigend beobachtet hat.
„Also dann, ich melde mich, sobald ich was Genaueres weiß.“ Ich reiche ihm die Hand zum Abschied und er schüttelt sie. Einen festen Griff hat er, das gefällt mir.
Leif
Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meiner Konzentration. Ich sehe auf die Uhr an meinem Monitor. Es ist schon nach 12. Der Roman, den ich aktuell übersetze, ist spannend und sehr gut geschrieben – so macht mir meine Arbeit Spaß.
Als ich vor Jahren mit meinem Studium begonnen hatte, hätte ich niemals gedacht, dass ich mal einen Bürojob mache. Machen muss. Na ja, es hätte schlimmer kommen können. Ich übersetze gern und werde als festangestellter Übersetzer gut bezahlt. Da geht es mir besser als meinen freiberuflichen Kollegen – und natürlich ist es ein Unterschied, ob man bei einem so großen Unternehmen arbeitet wie ich oder bei einem kleinen Verlag. Ich kann mich jedenfalls nicht beschweren.
Ich nehme den Anruf entgegen ohne auf das Display zu gucken. „Stevenson?“
„Hi Leif“, meldet sich Yvonne, meine beste Freundin, die ich schon seit Jahren kenne. „Und hat alles geklappt heute Morgen?“
„Geklappt?“, frage ich etwas irritiert. Ich bin gedanklich noch in dem Roman unterwegs.
„Ich dachte, die Handwerker waren heute da“, sagt sie und ich höre die Verwirrung in ihrer Stimme.
„Ach so … das … Ja, da war jemand hier zum Aufmaß.“
Schweigen.
„Aha“, sagt Yvonne. „Ist irgendwas vorgefallen?“
Sofort erinnere ich mich an jede verdammte Einzelheit dieses wirklich ungewöhnlichen Morgenerlebnisses. An Cornels festen, sicheren Griff, an seine faszinierend hellen Augen und sein umwerfendes Grinsen. Aber vor allem erinnere ich mich an das Gefühl der Scham – noch jetzt spüre ich, wie mein Gesicht heiß wird.
Ich sehe, wie Yvonne die Stirn runzelt, als säße sie direkt vor mir.
„Hallo Leif, bist du noch dran?“
„Ja … ja klar. Ich hatte … also …“
„Leif?!“ Jetzt klingt sie sogar alarmiert! Und das alles nur, weil ich meine Gedanken gerade nicht so weit geordnet kriege, dass ein gescheiter Satz daraus entstehen könnte. Ich reiße mich zusammen und ohrfeige mich – innerlich.
„Alles gut, okay? Ich bin nur etwas konfus. Es war ein … ein Handwerker hier, der hat sich alles angesehen und ausgemessen und ich denke, der Umbau beginnt dann in den nächsten Tagen.“ Geht doch.
„Na dann …“
Mist, sie merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Zwischen uns ziehen sich Gespräche nie so hin. Wir kennen uns sehr gut und sind normalerweise ziemlich vertraut miteinander. Allerdings – was genau stimmt denn nicht? Ich hab mich blamiert, gut, das passiert den meisten Menschen dauernd. Duric Junior hat den Vorfall mit Sicherheit schon vergessen. Ich sollte mich wirklich auf Wichtigeres konzentrieren. Und meine Arbeit war genau die richtige Ablenkung. Aber jetzt fokussieren sich meine Gedanken auf ein anderes Ziel.
„Der Typ, der hier war … der Handwerker – war schwul“, platzt es aus mir heraus. Scheiße, wie blöd bin ich?
Yvonne macht ein seltsames Geräusch und dann beginnt sie zu lachen. „Oh nein! Wie konnte das passieren?“ Sie quietscht leise, nur mühsam unterdrückt, dann wird ihr Lachen ausgelassener. „Ausgerechnet dir … Und … wirst du ihn trotzdem … beschäftigen?“, presst sie schließlich keuchend hervor.
Ich hätte meine Klappe halten sollen!
„Nein, natürlich nicht“, behaupte ich missmutig. Ich finde das nämlich gar nicht witzig.
„Du bist soooo …“ Sie schnaubt, versucht offenbar, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Und – sah er wenigstens gut aus?“
„Hm.“
Nicht nur das, er hat auch noch unwahrscheinlich gut gerochen – dieser Gedanke jagt durch mein Gehirn.
„Was heißt denn ‚hm‘?“, will sie wissen und beruhigt sich langsam. „Und wieso weißt du überhaupt, dass er schwul ist?“
„Er hat es gesagt.“
„Oh.“ Ich höre, wie es in ihrem Kopf rattert. „Interessant. – Hi, ich bin Markus Meier. Ich wollte ihre Wohnung vermessen und ich bin schwul.“
„Ja ja, genauso war es. Nur, dass er nicht Markus Meier heißt, sondern Cornel Duric.“
„Leif – ich glaub, du bist verwirrt.“
Bin ich? Warum sollte ich?
„Nein, ich bin etwas verärgert, weil ich einen kleinen Unfall hatte heute Morgen. Es wird wirklich Zeit, dass die Wohnung hier umgebaut wird.“
„Ist dir was passiert?“
„Nein, alles in Ordnung. Ich hatte ja auch gleich Hilfe vor Ort“, brumme ich etwas genervt. Dass meine Schulter und meine Hüfte noch immer schmerzen, verschweige ich vorsichtshalber. Nicht, dass Yvonne sich noch Sorgen macht.
„Warum hast du angerufen?“, versuche ich sie vom Thema abzulenken.
„Ah ja … genau. Ich muss dir für heute Abend absagen. Ich kann leider nicht mit zum Schwimmen kommen.“
„Kein Problem.“ Ich werde trotzdem hinfahren. Es ist zwar einfacher, wenn jemand mitkommt, der auf zwei Beinen unterwegs ist, aber ich bin es gewöhnt, auf mich allein gestellt zu sein. Insofern ist ihre Absage tatsächlich kein allzu großes Hindernis. Das Schwimmbad ist außerdem auf Rollstuhlfahrer eingerichtet.
„Sah er gut aus?“
„Bitte?“
„Der schwule Handwerker“, sagt Yvonne und kichert wieder leise.
„Yvonne, jetzt nerv mich nicht.“
„Also?“
Ich denke, ich sollte einfach auflegen. „Er sah gut aus, ja. Zufrieden?“
Ich wische mir mit der Hand über die Augen. Wieso noch ist sie meine beste Freundin? Weil jeder schwule Mann eine beste Freundin hat? Weil sie mal einer meiner größten Fans war? Oder weil ich so furchtbar sozial bin und sie sonst niemanden hätte? Ich weiß es gerade nicht …
„Wenn du es bist … Wie alt ist er denn?“
Jetzt reicht es aber! „Zu jung für mich auf jeden Fall.“
„Alles klar. Er war nicht dein Typ.“ Sie klingt irgendwie enttäuscht. Seit Jahren versucht sie, mich zu verkuppeln. Aber das ist wirklich keine leichte Aufgabe, ich bin sozusagen nicht vermittelbar. Und vielleicht habe ich in meinem Leben auch schon ausreichend Sex gehabt, denke ich resigniert und mit ironischem Selbstmitleid. Ganz großartige Mischung. Ich mag mich sehr, wenn ich so bin.
Endlich gibt sie auf. „Ich bring dir trotzdem die Einkäufe vorbei, okay? Dann brauchst du nicht extra losfahren.“
„Ja, danke, das ist lieb.“
Cornel
„Corny, komm mal rüber!“
Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und stehe auf. Mein rechtes Knie knackt leise. Eine Erinnerung an das abrupte Ende meiner Fußballer-Karriere. „Was gibt’s?“
„Guck dir das mal an.“
Ich gehe zu Mark, unserem Polier, hinüber, der kopfschüttelnd nach oben sieht.
„Was is’ los?“
„Guck doch mal!“
Ich sehe mir die Decke an, dort wurde eine ausklappbare Treppe zum Dachboden eingebaut.
„Fällt dir nix auf?“
Oh doch – und wie mir was auffällt! Ich schlag mir mit der flachen Hand vor die Stirn und traue meinen Augen nicht. „Die ist verkehrt herum eingebaut!“
„Genau.“
„Wer war das?“
„Das wollte ich von dir wissen. Du hättest das überprüfen müssen.“ Mark sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich war aber nicht dabei“, verteidige ich mich und überlege fieberhaft, wer die Schreiner-Arbeiten auf dieser Baustelle übernommen hat. Mein Vater hat einige Leute für Holzarbeiten beschäftigt.
Mark wirft mir einen strengen Blick zu. „Das war deine Aufgabe, hier zu kontrollieren, verdammt.“
Er hat recht, fuck. „Und jetzt?“
„Feierabend wird verschoben“, bestimmt er grummelnd. „Wenn die hier noch mehr Murks auf der Baustelle haben, kriegen wir nur Ärger. Wir sind hier, um den Murks zu beseitigen – nicht um selber Scheiße zu bauen.“
Ärger schwappt in mir nach oben. Ich bin müde und kaputt – und ich habe überhaupt keine Lust, den Bockmist hier auszubügeln. Aber es nützt nichts.
Widerwillig ziehe ich die Holz-Treppe mit dem Haken nach unten. Sie endet auf der frisch gefliesten ersten Stufe der Treppe, die die beiden Stockwerke miteinander verbindet. Das geht also gar nicht. Und das kann jeder mit halbwegs Verstand sofort erkennen.
Mark marschiert los, um sein Werkzeug zu holen.
„Los“, sagt er mit einem kurzen Blick in mein Gesicht. „Heulen kannste später.“
„Arschloch“, murmele ich, leise genug, damit er es nicht hört. Mark ist ein super Polier, aber er kann auch recht grob werden, wenn man ihm querkommt. Und besser von ihm als von meinem Dad zusammengestaucht werden.
***
Es ist schon nach acht, als ich endlich zu Hause bin.
Noch im Flur ziehe ich meine Arbeitsklamotten aus und gehe nackt Richtung Badezimmer. Ich habe zwar Hunger bis unter die Arme, aber erst mal will ich duschen. Die beknackte Treppe! So ein sauschweres Teil! Morgen werde ich im Plan gucken, wer die Treppe eingebaut hat. Manchmal frage ich mich echt, ob die Leute ihren Verstand zu Hause lassen, wenn sie zur Arbeit fahren. Mein Vater hat zwar gute Leute eingestellt, auf die man sich üblicherweise auch verlassen kann. Aber einige sind wohl doch nicht so helle.
Und Mark ist gnadenlos. Wenn er irgendwo ’n Scheiß entdeckt, wird der Fehler behoben. Egal, wie spät es ist.
Ich stelle mich unter die Dusche und genieße, wie das heiße Wasser meine Schultermuskeln entspannt. Der Tag hatte doch eigentlich ganz gut anfangen …
Dieser Typ im Rollstuhl – Leif. Der geistert noch durch mein Hirn. Schwer zu durchschauen, der Mann. Aber interessant. Die Vorstellung, ihn demnächst häufiger zu sehen, gefällt mir. Ich versuche sein Alter zu schätzen. Ist bestimmt schon über dreißig, sieht aber ziemlich jung aus. Vielleicht weil er so schmal ist. Auf jeden Fall wiegt er fast nichts, ich konnte ihn problemlos hochheben. Tat mir ja echt ’n bisschen leid diese ganze Sache. Aber ich lass ihn doch nicht da herumkriechen! Stolz hin oder her. Hat ja Glück gehabt, dass er sich nichts getan hat.
Und wieder behauptet eine Stimme in meinem Kopf, dass ich ihn irgendwoher kenne. Na ja, vielleicht kiffe ich auch zu viel – höre schon Stimmen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Duric, Sie haben sich ihren Verstand schon weggekifft … Würde mich doch wohl an ihn erinnern können. So’n heißer Typ im Rollstuhl … hm …
Nach der Dusche schaffe ich es nur noch, mir eine Fertigpizza in den Ofen zu schieben und mich vor den Fernseher zu pflanzen. Klar, ich könnte auch bei meinen Eltern essen. Anbieten tun sie das jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit. Aber ich bin froh, dass ich meine eigene Wohnung habe und auf eigenen Beinen stehe. Sie haben mit der Firma und mit Tomasz schon genug zu tun. Mein kleiner Bruder wohnt nämlich noch zu Hause, er macht gerade sein Abi. Und dann parkt mein großer Bruder Łukasz ja auch noch seinen Spross häufiger mal bei Oma. Obwohl unsere Mutter mit den Arbeiten im Büro genug zu tun hat. Na ja, muss sie selbst wissen, ob sie die kleine Teppichratte auch noch betreuen will. Ist nicht so, als würde ich meinen kleinen Neffen Kilian nicht mögen, aber Mann, so ’n Kleinkind ist echt nicht ohne. Ich hab neulich mal ein Wochenende auf Kilian aufgepasst – das hat mir erst mal gereicht. Danach war ich so fertig, da hätte ich am liebsten Urlaub beantragt.
Und gerade fühle ich mich auch, als müsste ich mal dringend Urlaub machen. Das Wochenende sitzt mir noch in den Knochen. Weiß auch nicht genau, warum ich immer wieder auf Francescos Partys lande. Okay, ich weiß es – weil es geil ist. Und weil ich Spaß an Sex habe. Und weil ich anfällig dafür bin, Dinge zu tun, die mir Spaß machen.
Ich schiebe mir das letzte Stück Pizza in den Mund und schaffe es gerade noch, den Rest der Folge von „Two and a half men“ zu Ende zu gucken. Wenn ich jetzt nicht den Arsch hochkriege, schlafe ich auf dem Sofa ein. Und darauf hab ich keine Lust. Ich hab Bock auf mein Bett und vielleicht ’n geilen Traum. Mal gucken, ob mir zwei große braune Augen im Traum begegnen. Leifs Augen. Die erinnern mich irgendwie an … verfluchte Axt, ich komm noch drauf!
Noch eine kurze Runde durchs Bad – Zähne putzen, pinkeln – dann falle ich textilfrei ins Bett. Ich penne immer nackt. Ich mag das Gefühl der Freiheit, dass mich nichts einengt und das möglichst in allen Lebenslagen, nicht nur beim Schlafen.
Fuck, die Hände sind heute wieder extrem rau. Das kommt von dem Gipsspachtel, den ich bei der Wehrlemann verwendet hab – nach einer Riesentasse Hagebuttentee. Von dem Zeug krieg ich noch Albträume. Das geht ganz schnell, habe ich mir gedacht, und keine Handschuhe angezogen. Obwohl ich es längst besser wissen könnte. So gut das Zeug für die Wand ist, so schlecht ist es für die Haut, trocknet aus wie Sau. Ich wälze mich herum und krame in der Nachttischschublade. Als erstes habe ich natürlich das Gleitgel in der Hand. Ja, nee, is klar. Ich muss grinsen. Aber das brauche ich heute wirklich nicht. Die Handcreme finde ich dann auch noch. Fast leer. Ich quetsche die Tube zusammen. Zu kraftvoll, denn – sprotz! – habe ich so viel von dem Zeug in der Hand, dass ich einen ganzen Elefanten damit einschmieren könnte. Allerdings habe ich keinen Elefanten. Und warum war da überhaupt noch soviel drin?!
Dann also erst mal die Hände eincremen, die Arme, die Schultern … Ich schmier mir das Zeug auf die Brust, den Bauch und dann noch etwas tiefer. Etwas Pflege kann ja nicht schaden. Mit der rechten Hand fahre ich meinen Schwanz entlang, mit der linken massiere ich die Creme in meine Eier. Hm, ja, fühlt sich gut an. Aber … boah … mir tun die Arme weh! Scheiß schwere Treppe, würde mich nicht wundern, wenn ich morgen Muskelkater davon kriege. Das Ding sollte man nicht zu zweit rumwuchten. Außerdem bin ich sowieso viel zu müde, um mir einen runterzuholen … also, prinzipiell … aber ein bisschen massieren geht noch.
Ich schließe die Augen und denke an das vergangene Wochenende. Diese Hammer-Party. Weiß gar nicht, von was sich die Kerle dort am meisten reingepfiffen haben: Alkohol, Drogen oder Sex. Vermutlich von allem zu viel. Na ja, bin ja selbst auch nicht zu kurz gekommen. Mein Schwanz erinnert sich ebenfalls und wächst. Aber … Leifs Gesicht schiebt sich vor die Partybilder. Seine Augen … echt, die sind nicht ohne. Und die kantigen Schultern … Warum auf einen geilen Traum hoffen, wenn man auch selbst aktiv werden kann? Tut ja schließlich niemandem weh. Und muss Leif ja nicht erfahren.
Meine Bewegungen werden intensiver, die Fantasien in meinem Kopf auch. Ein tiefes Stöhnen fließt über meine Lippen. Ich mag das, laut sein beim Sex. Das finde ich auch bei meinen Bettpartnern total heiß. Auch das ist ein Tribut an die Freiheit, keine Eltern und Geschwister mehr, auf die ich Rücksicht nehmen müsste. Ich stelle mir vor, diese speziellen braunen Augen blicken auf mich, sehen mir dabei zu, wie ich mich zum Abspritzen bringe. Die Vorstellung, dass Leif davon selbst hart wird, macht mich geil. Aaaaahh, gleich … gleich … ja. Ich … ah, fuck, ich will kommen!
„Leeeeeiiiif!“, stöhne ich, als die Sahne in mehreren Schüben aus mir hinausschießt.
Mit der linken Hand taste ich nach den Taschentüchern, finde sie, rupfe ein paar aus der Spenderbox und putze mich damit ab. Scheiße, ich bin so eine Hausfrau geworden! Mir egal, ich habe aber echt kein Bock drauf, schon wieder die Bettwäsche wechseln zu müssen.
Leif
„Aaaaaahhhh!!!“ Hektisch reiße ich die Augen auf, höre noch meinen eigenen Schrei, Angst flutet durch mich hindurch. Mein ganzer Körper bebt. Es fühlt sich an, als läge ein Felsbrocken auf meiner Brust. Ich kriege keine Luft!
Ich brauche drei Anläufe, um die Lampe auf dem Nachttisch einzuschalten, so sehr zittern mir die Hände. Es war nur ein Albtraum. Ich weiß das, mein Verstand weiß das, aber die Panik hat mich trotzdem im Griff, mein Körper befindet sich voll im Fluchtmodus. Ein ziemlich schlechter Witz mit meinen nutzlosen Beinen. Und genau davon träume ich. Wie ich zum Krüppel gemacht werde. Anders als beim echten Unfall damals vor elf Jahren, sehe ich in meinen Träumen das Auto auf mich zurasen. Weiß, dass es mich erwischen wird, wenn ich nicht zur Seite springe, aber ich kann mich keinen Millimeter bewegen, kann es nicht verhindern, die Ohnmacht ist vernichtend. Manchmal wache ich kurz vor dem Zusammenstoß auf, manchmal spüre ich den Schmerz, wenn mich das Auto erfasst. Diese Träume sind so real, dass ich jedes Mal komplett verstört davon bin. Immer noch. Selbst nach so vielen Jahren. Nach dem Aufwachen haben mich die Körperreaktionen voll im Griff, die Panik ist mit dem Traum nicht vorbei. Ich keuche, fasse mir an den Hals.
Verflucht, ich will nicht ersticken, versuche tief einzuatmen, kann aber kaum Sauerstoff in meine Lungen zwingen. Ich merke, wie mir eine Träne aus dem Augenwinkel läuft, schluchze auf. Scheiße, diesmal war es besonders schlimm. Dabei hatte ich so sehr gehofft, dass ich diese furchtbaren Träume endlich losgeworden bin. Der letzte liegt schon lange zurück. Über ein Jahr.
Ich verachte mich für meine Schwäche, aber ich kann nicht anders und taste nach meinem Handy. Jederzeit, hat sie gesagt. Ich darf sie anrufen, wenn ich sie brauche und verdammt, ich brauche sie jetzt. Öffne die Kontaktliste, drücke auf wählen, presse das Smartphone an mein Ohr. Meine schweißfeuchte Wange klebt am Display, egal, ich höre das Freizeichen, es klingelt durch, einmal, zweimal … hoffentlich hört sie es, ehe die Mailbox dran geht … ich habe Glück, nach dem fünften Klingeln nimmt sie ab. Endlich! Noch ehe sie etwas sagt, sprudelt es schon aus mir heraus.
„Yve, ich bin’s, du musst mir helfen, ich krieg kaum Luft, ich hatte wieder einen Albtraum, vom Unfall, du weißt schon. Ich hab Angst, kannst du …“, stammele ich in die Leitung und breche abrupt ab, als eine Männerstimme antwortet:
„Hallo, geht’s noch? Es ist mitten in der Nacht! Wer ist denn überhaupt dran?“
Die Stimme klingt ziemlich verpennt, rau und irgendwie bekannt. Ich nehme das Handy vom Ohr und gucke auf das Display. Duric steht da. Nicht Dahlem. Die Erkenntnis fährt wie ein Blitz durch mich hindurch. Scheiße! Ich habe nicht Yvonne angerufen, sondern Cornel, bin in der Zeile verrutscht.
Oh Gott, oh Gott, oh Gott …!
Ich kann nicht sprechen, weiß nicht, was ich sagen soll, presse das Telefon sinnlos an mein Ohr.
„Leif, bist du das? Ey Alter, was’n los? Dein Sturz … brauchst du Hilfe, soll ich den Notarzt anrufen?“ Cornels Stimme klingt zunehmend wacher und irgendwie alarmiert.
„Nein! Alles gut … ich … tut mir leid … ich wollte … Entschuldige, ich habe die falsche Nummer gewählt. Ich … sorry … schlaf weiter!“ Mein Gestammel nervt mich selbst, ich möchte das Telefonat einfach nur noch beenden.
„Spinnst du jetzt komplett oder was? Du röchelst wie ein kaputter Blasebalg, redest wirres Zeug und ich soll jetzt weiterschlafen? Hallo?! Was ist los mit dir? Jetzt bin ich sowieso schon wach.“
Ich höre das Rascheln von Bettwäsche. Vielleicht hat sich Cornel aufgesetzt. Noch nicht mal 24 Stunden vorbei und ich habe mich schon das zweite Mal bei diesem Mann bis auf die Knochen blamiert. Ich merke, wie ich rot werde. Mein Gesicht brennt, als säße ich direkt vor einem Lagerfeuer, allerdings scheint die Scham die Panik zu verdrängen, denn ich kann plötzlich wieder besser atmen.
„Ich wollte Yve, meine Freundin anrufen, weil … also, sie weiß Bescheid und sie hat es mir angeboten und … mir geht es gut, ehrlich. Jetzt auf alle Fälle wieder …“
Cornel unterbricht mich: „Entweder du schaltest die Untertitel frei oder redest in verständlicher Sprache, ich kapier gar nichts. Und wenn du nicht bald um die Ecke kommst mit deiner Story, rufe ich nicht nur den Notarzt, sondern auch gleich noch die Klapsmühle an!“
Ich weiß nicht warum, aber seine Ansprache macht etwas mit meinem Gesicht – oh, es ist ein kleines Lächeln. „Also gut“, höre ich mich sagen und fühle, wie ich mich langsam entspanne. Und dann erzähle ich Cornel von meinem Unfall und den Träumen.
Ich habe keine Ahnung, warum mich ausgerechnet dieser Typ zum Reden bringt. Liegt sicher an meiner eigenen Bedürftigkeit. Ich erzähle natürlich nicht alles – das ginge an dieser Stelle zu weit. Wir kennen uns ja gar nicht. Und es gibt ein paar Details, die ich sicher nicht jedem sofort unter die Nase reibe.
„Und der Typ hat dich einfach umgenietet?“, fragt Cornel.
„Ja, ich war breit … und er hatte auch schon was getankt. Er hat mich einfach nicht gesehen.“
„Scheiße.“ Das klingt ehrlich.
„Ich hab ihn nicht kommen sehen. Der Aufprall war seltsam überraschend und der Schmerz kam dann verzögert. Eigentlich erst, als ich wieder auf dem Boden gelandet bin.“
„Lag sicher auch am Dope“, meint er ernst.
„Keine Ahnung.“ Ich ziehe mich noch ein Stück nach oben. Die Bilder des Albtraums verblassen weiter, ich kann wieder frei atmen. Der Druck auf meiner Brust ist vollkommen verschwunden.
„Was hast du jetzt?“, will Cornel wissen. Seine Stimme ist noch immer sexy rau, auch wenn er gar nicht mehr verschlafen wirkt. Eher neugierig.
„Was meinst du?“
„Eine inkomplette Querschnittslähmung oder sowas?“
„Ja, genau.“ Ich wundere mich sehr, dass er den genauen Begriff kennt. „Du, tut mir echt leid, dass ich dich angerufen habe.“ Wieder kriecht Scham an meinem Rückgrat nach oben und stellt die kleinen Härchen in meinem Nacken auf. Wie konnte mir das passieren?
Er lacht leise. Oh Mann, das Geräusch, wenn er lacht … so ein weiches Rollen. Ist mir schon bei unserem Treffen aufgefallen.
„Alles klar, Leif. Ist kein Ding. – Aber hey, dass du mal gekifft hast, kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Das beschäftigt ihn am meisten? Ein verblüfftes Lachen entkommt mir. „Ich dachte, du fragst eher nach …“ Ich stocke und schlucke den Rest des Satzes hinunter. Warum zum Teufel sollte es ihn interessieren, ob ich zum Beispiel noch Sex haben kann? Klar, das wollen die meisten Leute insgeheim wissen – was geht da noch? Aber warum sollte das Cornel interessieren? Wahrscheinlich liegt es an der Intimität der Situation. Es ist mitten in der Nacht, dunkel – wir beide liegen im Bett. Das bringt schon eine Art von Vertrautheit, die es zwischen uns gar nicht gibt.
„Ja?“
„Nichts … ich … Tja, war ja nicht die beste Idee meines Lebens, zugedröhnt an dieser Straße lang zu stolpern.“
„Nee, da hast du wohl recht. Wärst besser mit dem Arsch zu Hause geblieben.“ Er lacht wieder leise, dann höre ich etwas, das eindeutig ein Gähnen ist.
„Entschuldige, ich halte dich vom Schlafen ab. Tut mir wirklich leid. Du musst sicher früh raus.“
„Mmh, da hast du allerdings recht.“
Ich höre ein weiteres Gähnen, dieses Mal etwas lauter. „Ich … danke, dass du mir zugehört hast“, sage ich hastig. „Und sorry noch mal für die Störung.“
„Alles gut. Danke, dass du’s erzählt hast. Und mach dir kein’ Kopf. – Ich meld mich morgen oder so, wenn ich alles geplant hab. Okay?“
„Ja, klar.“ Ich lausche auf seinen Atem, wünsche mir für einen kurzen Moment, dass wir einfach noch weitertelefonieren.
„Dann schlaf mal gut“, sagt Cornel in diesem Augenblick.
„Ja, du auch.“
Er unterbricht die Verbindung und ich starre wie paralysiert auf mein Handy. Was zum Teufel war das jetzt? Fast fühlt es sich an, als seien wir beide befreundet. Mein Gott, ich habe einem völlig Fremden vom schlimmsten Erlebnis meines Lebens erzählt! Und das mitten in der Nacht! Ich muss irre sein. Wie soll ich ihm denn beim nächsten Mal in die Augen schauen können?
Cornel
Mein Smartphone weckt mich auf ziemlich zivile Art und Weise. Wenn ich eines nicht ausstehen kann, ist das penetrantes Herumgefiepe. Ich werde ja auch wach bei netten Geräuschen. Es fällt mir nicht schwer aufzustehen, nur heute bin ich alles andere als ausgeschlafen. Na ja, wenn man mitten in der Nacht geweckt wird … Das war ja echt ein verrückter Anruf letzte Nacht! Nicht, dass ich mich nicht gern mit Leif unterhalten hätte. War nur ziemlich überraschend – und zugegeben etwas verstörend. Hatte mir kurzzeitig echt Sorgen gemacht, dass ihm was passiert ist. Und ich war auch etwas verwirrt … nachdem ich mir ein paar Stunden vorher gepflegt einen auf Leif heruntergeholt hatte. Das hat mich doch ziemlich aus dem Konzept gebracht.
Ich strecke mich und … au Scheiße – meine Schultern! Die tun jetzt mal richtig weh. Ob das noch Muskelkater ist? Etwas weniger sportlich als sonst krieche ich aus dem Bett. Vielleicht hilft eine heiße Dusche, um die Muskeln zu entspannen. Zeit hab ich jedenfalls noch genug, es ist erst kurz nach fünf.
Aber ich brauch morgens etwas Zeit für mich, zum Frühstücken und für ein ordentliches Styling. Will ja nicht aussehen wie unter der Brücke hergefischt. Um sieben muss ich ins Büro zur Planung, dann kann ich auch gleich nachsehen, wer die Treppe falsch eingebaut hat. Die kauf ich mir, die Kollegen. Mal sehen, ob mein Vater den Plan für heute wieder umgeworfen hat. Eigentlich hab ich heute Nachmittag noch ’n Date im Tierasyl von meinem Kumpel Mick. Die haben dort immer noch Großbaustelle und sind froh, wenn es mal etwas vorangeht.
Und ich müsste heute meine Ideen für Leifs Wohnungsumbau aufschreiben. Ausrechnen, was ich alles brauche und wen ich für die Baustelle anfragen muss. Fliesenlegen mach ich zum Beispiel nicht – soll ja nachher schön aussehen. Und dafür hab ich kein Händchen.
Leif … Meine Gedanken kehren wieder zu ihm und unserem nächtlichen Gespräch zurück. Mann, der war ja völlig neben der Spur. Ob der nach seinem Unfall wohl bei einem Psycho-Doc war? Und ihn als Kiffer? Kann ich mir gar nicht vorstellen! Tja, stille Wasser sind ja bekanntlich tief. Wer weiß, was der Typ noch so alles an Geheimnissen hat.
Tomasz, mein kleiner Bruder, hatte auch einen Unfall. Damals war er fünf – ist auf einer ungesicherten Baustelle abgestürzt. Mein Vater hatte ihn mitgenommen. Ich glaub, das hat er sich nie verziehen. Hat meinen Dad verändert, der Unfall. Aber ich kann nicht mal sagen, dass das negativ ist. Er hat sich natürlich Vorwürfe gemacht. Das war echt ’ne harte Zeit – für uns alle. Ich war ja schon 10, hab das alles voll mitgekriegt. Aber er ist … keine Ahnung, weicher geworden dadurch. Wer weiß, ob er mein Schwulsein sonst so einfach akzeptiert hätte? Er hat mich selbst nie infrage gestellt. Ich bin sein Nachfolger in der Firma, durch welche Betten und vor allem mit wem ich mich wälze, hat ihn nie sonderlich interessiert.
Mein großer Bruder Łukasz hat eine eigene Firma für Wagenfolierungen. Der wäre im Leben nicht bei Duric Bau eingestiegen. Der ist auch mehr für filigrane Arbeiten.
Und Tomasz kommt super zurecht mit seiner Behinderung. Er hat das gleiche, was Leif hat – eine inkomplette Querschnittslähmung. Allerdings kann er mittlerweile einige Schritte ohne Rollstuhl gehen – das ist echt ’ne Wahnsinnsleistung.
Ich bin fertig im Bad und schmeiße die Kaffeemaschine an. Das war das erste teure Teil, was ich mir in meiner eigenen Wohnung geleistet habe – einen vernünftigen Kaffeeautomaten. Dann such ich alles Essbare zusammen, was ich finden kann – Toast, einen Erdbeer-Joghurt, einen Apfel und Cornflakes und stelle fest, dass ich unbedingt wieder einkaufen muss. Das bleibt meist auf der Strecke bei meinen Arbeitszeiten.
Wenn ich irgendwo Mittag esse, ist das meist an einer Imbissbude. Nicht sehr gesund und auch nicht empfehlenswert, wenn man ’n geilen Body behalten will. Zum Trainieren komm ich nämlich quasi gar nicht. Wäre schon nicht schlecht, wenn man so ’n eigenen Koch zu Hause hätte. Wobei … nein, ich will niemanden hier bei mir zu Hause haben. Freiheit geht mir echt über alles. Ich will keine Beziehung. Ich will niemanden, der in meiner Wohnung herumhängt. Ich will Sex haben wann und mit wem ich will … und ehrlich mal? Möglichst nicht immer mit demselben. Und ich brauche auch niemanden, der mich zuquatscht, wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme.
In Sekundenschnelle schlinge ich alles hinunter, was ich an Essen gefunden habe und überlege, ob ich heute noch zum Einkaufen komme. Vielleicht, bevor ich zu Mick fahre? Er hat sein Tierasyl im Vorort von Nirgendwo – da komm ich allerdings an einem Supermarkt vorbei. Nach dem Einsatz bei Mick ist es wahrscheinlich zu spät. Es gibt immer viel zu tun und dann quatschen wir üblicherweise noch was. Mick ist ein guter Kumpel, obwohl wir uns noch nicht lange kennen, und außerdem eine echte Sahneschnitte. Schade, dass er schon vergeben ist – hätte nichts dagegen, ihn mal ’ne Runde über die Matratze zu jagen. Und obwohl Mick da sicher keine moralischen Bedenken hätte, haben wir das bisher nicht gemacht. Das liegt an Leon, Micks Lover. Vor dem hab ich wirklich Respekt. Echten Respekt. Leon wäre auch genau nach meinem Geschmack – aber vor dem würde ich gern auf die Knie gehen. Und nicht nur das …
Shit, der Gedanke an Mick und Leon lässt mich tatsächlich hart werden. Oh Mann, bin ich untervögelt oder was?! Das gibt es echt nicht. Ich grinse ein wenig ungläubig über mich selbst.
Kopfschüttelnd beende ich mein Frühstück, räume das Geschirr in die Spülmaschine und ziehe mich komplett an.
Mit einem leisen Stöhnen schwinge ich mich keine halbe Stunde später in meinen Benz. Mein Baby. Ich bin so stolz auf den Wagen, könnte immer noch platzen, wenn ich ihn ansehe. Mein Bruder hat den Wagen mattschwarz foliert. Ansonsten ist es äußerlich ein ziemlich normaler C-Klasse Kombi, aber mit meinem eigenen Geld gekauft und vor allem mit ordentlich Bums unter der Haube. Und die schwarzen Alus haben ein Vermögen gekostet – aber ich musste sie haben. Mit meinem eigenen Wagen fahre ich zur Firma, von da aus bin ich dann meist mit einem der Firmenwagen unterwegs.
Obwohl ich megapünktlich da bin, sind meine Eltern schon im Büro. Kunststück, sie müssen natürlich nur über die Straße. Aber so sind sie auch – total fleißig. Meine Arbeitseinstellung hab ich sicher von ihnen. Nur so herumhängen käme für mich nicht infrage. Ich muss was zu tun haben.
„Hi, guten Morgen“, grüße ich fröhlich, als ich das Büro betrete.
Mein Vater sieht kurz auf. „Dzieńdobry, Cornel.“
Meine Mutter steht auf und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen. „Guten Morgen, Junge, hast du schon gefrühstückt?“
„Ma …“ Ich drücke sie kurz an mich. „Du weißt doch, dass ich immer ordentlich esse.“
„Gab gestern noch Probleme, hab ich gehört“, brummt mein Vater. Er klingt etwas ungnädig.
Da hat Mark wohl gestern Abend noch meinen Vater informiert. Ich berichte ihm kurz von der falsch eingebauten Treppe und gemeinsam sehen wir im Arbeitsplan nach, wer dafür verantwortlich war. Das gibt einen ordentlichen Einlauf – und zwar nicht von der guten Sorte.
„Kümmerst du dich um die Umbau bei Herrn Stevenson?“, fragt er gleich im Anschluss.
Ich nicke. „War gestern schon da, hab alles ausgemessen.“
„Und – schwieriger Kunde?“, fragt meine Mutter und kommt mit einem Becher Kaffee aus der kleinen Küche neben dem Büro.
„Ich … hm, nein, glaub nicht“, behaupte ich ein wenig unsicher. Was heißt schon schwierig?
„Er sitzt im Rollstuhl.“
„Ja, erwähnte er am Telefon“, sagt mein Vater. „Kriegst du Planung allein hin?“
Ein wenig verärgert starre ich ihn an, aber er nimmt das gar nicht zur Kenntnis. „Natürlich.“
„Du weißt ja, gibt Dinge zu beachten, wenn man will die Wohnung behindertengerecht umbauen.“
„Marek, natürlich weiß er das“, geht meine Mutter sofort dazwischen.
„No, to dawaj, bierz siędo roboty.“ (Na dann, mach dich an die Arbeit.)
Abrupt stehe ich auf und gehe zu dem freien Schreibtisch hinüber. Hier kann ich meine Ideen entwickeln und die Maße übertragen. Ich überlege, ob Leif wohl Lust hat, sich Fliesen selbst im Baumarkt auszusuchen – oder ob ich ihm was zur Auswahl mitbringen sollte. Alle anderen Materialien kann ich bereits bestellen. Mit Ausnahme der Wandfarben, die ich natürlich auch mit ihm absprechen muss.
Am späten Vormittag bin ich so weit fertig. Da könnte ich eigentlich gleich bei Leif anrufen und die Termine mit ihm durchgehen. Er hat doch gesagt, dass er überwiegend von zu Hause aus arbeitet.
Ich rufe ihn von meinem Handy aus an, da habe ich seine Nummer bereits eingespeichert.
Er meldet sich erst nach dem achten oder neunten Klingeln und ich bin schon kurz davor wieder aufzulegen.
„Stevenson?“
„Moin Leif, ich bin’s, Cornel.“
Ein Moment der Stille folgt und ich spüre seine unterschiedlichen Emotionen quasi durch das Telefon hindurch.
„Hallo Cornel“, sagt er schließlich.
„Alles klar bei dir?“, frage ich vorsichtig nach.
„Ja, natürlich. Ich habe gearbeitet und dann bin ich immer ein bisschen weggetreten.“
Ah, klar, gut, dass mir das nicht passiert. Könnte ja tödlich enden, wenn ich beim Arbeiten „wegtreten“ würde.
„Hast du gleich Zeit, dann könnte ich noch mal vorbeikommen. Hab die Pläne jetzt fertig. Wir können die Termine durchgehen und was es sonst noch so zu besprechen gibt.“
Leif brummt irgendwas Unverständliches, dann folgt ein. „Hm, ja, das geht.“
„Okay, dann bin ich in einer halben Stunde bei dir.“
„Gut, bis später.“
Als ich auflege, sieht meine Mutter mich erstaunt an. „Du duzt den Kunden?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ja, hat sich so ergeben.“