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Bei einem Autounfall verliert Julian seine Mutter. Verletzt und zutiefst verwirrt beschließt er, seinen Vater zu suchen. Doch der weiß nicht, dass sein Erzeuger der unsterbliche Geliebte des Vampirs Alexander de Dahomey ist. Erst zu spät wird ihm bewusst, in welche Gefahr er sich begeben hat. Teil 2 der Vampirtrilogie um Alexander de Dahomey
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Seitenzahl: 298
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© by dead soft verlag, Mettingen 2001
http://www.deadsoft.de
© by the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© aleshin – fotolia.com
© Punto Studio – fotolia.com
5. Auflage 2015
ISBN 978-3-934442-02-3
For Michael
and
… if only I could share with you
the things that I can see.
Bei einem Autounfall verliert Julian seine Mutter. Verletzt und zutiefst verwirrt beschließt er, nach seinem Vater zu suchen. Doch er weiß nicht, dass sein Erzeuger der unsterbliche Geliebte des Vampirs Alexander de Dahomey ist. Erst zu spät wird ihm bewusst, in welche Gefahr er sich begeben hat.
The cemetery is an open space among the ruins,
covered in winter with violets and daisies. It
might make one in love with death, to think that
one should be buried in so sweet a place.
Percy Bysshe Shelley
Von Anfang an
Anne Steinwart
Schweigend starrte er auf den Boden. Er hatte schon lange nicht mehr gesprochen. Sein Gaumen fühlte sich an, als wenn er nie wieder sprechen könnte. Er starrte auf seine zertrümmerte Hand. Er spürte sie unter dem dicken Gipsverband. Ein gutes Zeichen, hatten die Ärzte gesagt. Er fühlte ein dumpfes Pochen in seinem Kopf. In seinen Schläfen. Die dicke, wulstige Naht links über seinem Auge war heiß. Müde schloss er die Augen. Warum war das alles passiert? So gern hätte er jetzt geweint, aber seine Augen waren trocken. Er hatte keine Tränen mehr. Er öffnete die Augen wieder und starrte Monica an, die ihm gegenübersaß. Sah sie an, ihre langen schwarzen Haare, ihr zartes Puppengesicht, als sähe er sie zum ersten Mal.
Dann räusperte er sich. »Lass mich bitte allein.« Seine Stimme klang rau, leise.
Doch Monica schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du mit zu mir kommst. Pack ein paar Sachen, und wir fahren zu mir.«
Zornig sah Julian sie an. »Nein, ich bleibe hier. Ich möchte hier allein sein.«
Monica zuckte mit den Schultern, blieb jedoch sitzen. Sie betrachtete das Zimmer mit roten, verschwommenen Augen. Sie sah, wie Julian sich humpelnd erhob.
»Geh jetzt bitte. Ich rufe dich an, wenn ich wieder jemanden sehen will.«
»Du kannst hier nicht allein bleiben, Julian«, sagte Monica sanft. Sie betrachtete seine zierliche Gestalt, den dicken Gipsverband und das blau angeschwollene Gesicht. »Du kannst dich nicht einmal selbst versorgen.«
Wütend starrte er sie an. Und plötzlich schrie er: »Raus hier, verdammt noch mal! Ich will allein sein!« Seine grünen Augen funkelten sie an.
Erschrocken stand Monica auf. »Beruhig dich erstmal«, sagte sie und machte einen Schritt auf ihn zu.
Doch er wich zurück. »Wenn du nicht sofort verschwindest, flippe ich aus.« Er sagte es leise, zischend. Er duldete keinen Widerspruch mehr.
Seufzend drehte Monica sich um und ging zur Wohnungstür. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst, Julian.« Und dann sah sie ihn noch einmal prüfend an. »Und mach nichts Unüberlegtes.«
Julian schwieg. Keine Miene seines Gesichts verriet seine Gedanken. Leise schloss er die Tür hinter Monica und ließ sich dagegen fallen. Was war nur passiert? Was – um alles in der Welt – war nur passiert? Mühsam humpelte er zu seinem Sessel zurück. Er sah sie dort liegen, im Bett auf der Intensivstation des Krankenhauses. Ihr langes Haar lag aufgefächert auf dem weißen Kopfkissen. Sie hätten es fast abrasiert, für die Operation, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Wie entspannt sie aussah, wie friedlich. Wären da nicht die Schläuche und Kabel gewesen und die entsetzlichen Geräusche der medizinischen Geräte. Er hatte an ihrem Bett gesessen, bis zum Schluss. Sie konnten ihn nicht daran hindern. Er war sofort zu ihr gegangen, als die Nachwirkungen seiner eigenen Narkose es zuließen. Ja, natürlich war es ihm gleichgültig, dass er eine Gehirnerschütterung hatte, dass er im Bett bleiben sollte. Er hatte geweint an ihrem Bett, bis seine Tränen versiegt waren, denn er wusste es schon vorher. Er hatte es gewusst, als er sie gesehen hatte. Sie würden sie nicht mehr operieren müssen.
Und er hatte bei ihr gesessen. Zum Glück hatte er bei ihr gesessen, als sie das letzte Mal die Augen aufschlug und ihn erkannte.
»Julian, mein Baby«, hatte sie gesagt. »Du siehst aus wie dein Vater.« Und er hatte Tränen in ihren Augenwinkeln gesehen. Denn auch sie wusste es.
»Sei stark, Julian. Ich liebe dich.« Und sie hatte die Augen geschlossen und nicht wieder geöffnet. Julian hörte nicht mehr, wie die Geräte alarmiert aufheulten. Sah nicht mehr, wie die Ärzte in das Zimmer stürzten, um doch nur noch ihren Tod feststellen zu können. Er war einen Teil des Weges mit ihr gegangen. Jetzt war er allein. Und er hatte geschwiegen. Hatte nichts mehr gesagt. Nicht die Tage, die er noch selbst im Krankenhaus verbrachte, nicht an dem Tag, als sie ihn entließen. Nicht auf ihrer Beerdigung. Bis eben. Er hatte Monica rausgeschmissen, die sich die ganze Zeit um ihn gekümmert hatte. Aber er musste allein sein. Endlich allein.
Er quälte sich wieder aus seinem Sessel, um die Katzen zu füttern. Er würde sie hüten wie seine Augäpfel, die Katzen seiner Mutter. Dann kehrte er humpelnd in das Wohnzimmer zurück und öffnete die kleine, verborgene Schreibtischschublade. Das schmale rote Büchlein lag schwer in seiner Hand. Er hatte das Gefühl, es nicht halten zu können. Doch er nahm es mit sich, setzte sich wieder in den Sessel und schlug das Buch auf. Tat er etwas Verbotenes? Aber er musste es einfach wissen. Musste wissen, wer sein Vater war. Musste in Erfahrung bringen, warum er ihn nicht kennenlernen durfte.
Langsam begann er zu lesen.
13.11.96
Ich beginne wieder mit dem Schreiben, da mir merkwürdige Dinge widerfahren sind, in der letzten Zeit. Ach, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist jetzt vielleicht ein halbes Jahr her, dass ich mich von Thomas getrennt habe. Gott, was bin ich froh darüber, endlich diesen Schritt gewagt zu haben. Ich kann wieder atmen. Zunächst dachte ich, die Einsamkeit halte ich nicht aus, doch mittlerweile ist es sehr angenehm.
Und nun beginnt eigentlich der unglaubwürdige Teil der Geschichte. Ich habe jemanden kennengelernt, Alexander ist sein Name. Er ist – ach, ich kann ihn nicht beschreiben. Verführerisch, dunkel, sanft und schön. Und er ist kein Mensch, auch wenn er so aussieht. Eines Nachts stand er in meinem Zimmer. Ich war so erschrocken – ich dachte: das ist mein Ende. Ich dachte wirklich, er bringt mich um. Doch als er mich das erste Mal in seinen starken Armen hielt und ich seinen unverwechselbaren Geruch einsog, da war es um mich geschehen. Und jetzt sitze ich hier und erwarte ihn. Erwarte ihn in freudiger Erregung. Jeden Abend wünsche ich ihn herbei. Ein Kribbeln überzieht meinen Körper, wenn ich an ihn denke. Ich – ich wünschte, er käme in mein Bett. Wenn ich doch nur seine kühlen Hände auf meinem Körper spüren könnte.
Julian spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Wie merkwürdig es war, solche Gedanken seiner Mutter zu erfahren. Niemals hatten sie über dieses Thema gesprochen. Nur an dem Tag, als Virginia den feuchten Fleck in seinem Bettlaken gesehen hatte. Er hatte sich unglaublich geschämt, doch sie hatte ihm alles ruhig und sachlich erklärt. Hatte ihm gesagt, wie das passieren konnte und dass es nicht Schmutziges war. Und bei der Gelegenheit hatte sie ihm auch erklärt, wo die Babys herkamen. Er hatte ihr still gegenübergesessen, mit puterrotem Kopf.
18.11.96
Ich glaube, ich habe Monica ganz schön vor den Kopf gestoßen. Denn als sie neulich anrief, habe ich sie einfach abgewürgt. Ach, ich hatte keine andere Wahl, Alex war plötzlich in meiner Wohnung aufgetaucht. Ich hoffe, sie ist nicht allzu gekränkt. Ich habe ihr gesagt, dass ich jemanden kennengelernt habe. Vielleicht verzeiht sie meinen Geisteszustand. Ich bin so aufgekratzt, weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Alex besucht mich abends, doch es ist noch nichts passiert. Ich sehne mich nach seinem Körper. Wenn wir uns nah sind, wenn er ES tut, fühle ich die Stärke, die Festigkeit seines schlanken Körpers. Dann vergehe ich fast vor Lust. So etwas habe ich noch nie gespürt, nicht einmal, wenn ich mit Thomas geschlafen habe.
Julian hielt verwundert inne. Was bedeutete ES? Sie hatte geschrieben, dass sie nicht mit diesem Alex im Bett gewesen war. Was um alles in der Welt bedeutete dann ES?
Er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch und wischte sich mit der gesunden Hand über die Augen. Dann stand er auf und holte sich eine Dose Cola aus dem Kühlschrank. Asrael, der große getigerte Kater, folgte ihm und ließ sich auf Julians Schoß nieder, als dieser sich setzte. Als Julian das weiche Fell des Katers spürte, rollte eine Erinnnerungswelle über ihn hinweg. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem Innern und schluckte krampfhaft. Die Cola reizte seinen rauen Hals, und er hustete nach dem ersten Schluck erschöpft.
Dann nahm er das rote Buch wieder zur Hand. War es noch schwerer geworden, seit er es das letzte Mal aus der Hand gelegt hatte?
Ich bin völlig durcheinander, weiß nicht einmal genau, was ich schreiben soll. In ein paar Stunden sehe ich ihn wieder. Ich bin verwirrt – werde ich verrückt?
Ich befürchtete schon, in einer Traumwelt zu leben. In einer Welt, die ich mir selbst ausgedacht habe. Natürlich ist die Trennung von Thomas nicht spurlos an mir vorübergegangen.
Was läge da näher, als sich einen Traummann zusammenzufantasieren? Einen, der mich fasziniert, der mein Leben erfüllt? Doch – der Traum macht mich müde, lässt mich blass aussehen. Mit fiebriger Erwartung sitze ich nun hier, zähle fast die Minuten, bis ich ihn wiedersehe. Oh Gott, ich weiß, dass er kein Mensch ist. Ich weiß es – sehe es in seinen Augen. Habe ich mich auf den Teufel eingelassen? Ach, was rede ich.
Ich brenne vor Sehnsucht nach ihm. Jeden Abend warte ich, jede Nacht hoffe ich, dass er mich in meinem Traum besucht. Kommt er nicht, ist die Enttäuschung schmerzhaft. Was ist bloß los mit mir? Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Ich ... begehre ihn. Seine Stärke, seine Arroganz – all das wirkt unwiderstehlich. Noch niemals habe ich etwas Ähnliches gefühlt.
Alles ist so anders – es ist so spannend, ihn zu kennen. Nicht einmal Monica habe ich ihn vorgestellt. Ich möchte ihn nicht teilen. – ? – Spiele ich mit dem Feuer? Unterschätze ich die Gefahr?
Wieder fuhr Julian sich über die Augen. Er war unglaublich müde, hatte er doch seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr schlafen können. Sie hatten ihn ruhigstellen müssen über Nacht, damit sein Körper sich wenigstens ein bisschen erholen konnte. Und damit er nicht ständig durch die kalten Flure des Krankenhauses wanderte. Ruhelos und schweigend. Einen Moment überkam ihn eine erdrückende Angst. Wie sollte das alles weitergehen? Er war noch nicht volljährig, durfte noch nicht allein wohnen. Monica würde ihn bei sich aufnehmen, denn er kannte keine Verwandten. Nicht einmal seinen Vater. Alle Fragen bezüglich seines Vaters hatte seine Mutter abgeblockt. Nur seinen Vornamen hatte er ihr entlocken können: Brian.
Such niemals nach ihm, hatte sie einmal gesagt. Das ist sehr gefährlich. Doch erläutern wollte sie es nicht. Und was meinte sie bloß damit, dass dieser Alex kein Mensch ist? Hatte er etwas mit seinem Vater zu tun? Fragen über Fragen entstanden in seinem Gehirn, ließen ihm keine Ruhe.
Was passiert nur mit mir? Worauf habe ich mich eingelassen? Ich habe mich einem Fremden hingegeben, vor den Augen des Mannes, den ich ... ja, was eigentlich? Ich liebe Alex nicht. Ich vergöttere ihn. Jede Faser meines Körpers verlangt nach ihm, doch mein Herz sagt Nein. Anders ist es bei Brian. Er ist so sanft, so weich. Bei ihm fühle ich mich geborgen, keine Gefahr. Ich habe Angst, mich zu verlieben. Aber wäre es denn so falsch? Habe ich nicht die Chance, ein normales Leben mit Brian zu führen? Ich kann es mir doch zumindest erträumen, oder? Bleibt für mich noch die Frage, warum Brian jemanden wie Alex kennt; was zwischen ihnen ist. Brian ist anders als andere Männer. Ich weiß nicht, aber ich glaube, dass ich seine erste Frau war.
Ich fühle, wie sich ein Ring um meine Brust schließt und das Atmen mir schwerfällt. Ich würde am liebsten schreien, um alles hinauszulassen, aber das würde ja auch nichts bringen. So gern würde ich dieses Geheimnis mit jemandem teilen, aber daran ist gar nicht zu denken.
Selbst mit Monica kann ich nicht so offen sprechen.
Aber vielleicht kann ich ihr eines Tages Brian vorstellen – als den Mann, den ich kennenlernte, als ich mich so merkwürdig verhalten habe.
Mit brennender Intensität flogen Julians Augen über die handgeschriebenen Zeilen. Sie machten seine Mutter für den Augenblick lebendiger, als er sie in Erinnerung hatte. Hatte er sie jemals richtig gekannt? Oder hatte er einfach nur die »Mutter« Virginia kennengelernt, die ihre ungezügelte Seite stets verborgen hielt? Seine Augen begannen zu tränen. Er war müde, erschöpft. Seine Sinne waren erfüllt von den Gedanken seiner Mutter und doch leer. Die Zeilen verschwammen vor seinen Augen.
Plötzlich schlaff, legte Julian das schmale Büchlein auf den dunklen Wohnzimmertisch. Mit der gesunden Hand rieb er wieder über seine Augen und quälte sich langsam aus dem Sessel. Draußen war es bereits dunkel geworden. Das Licht der Straßenlaterne schien trübe durch die Fenster ins Wohnzimmer. Eine ungewohnte Angst beschlich Julian. Jetzt war er allein.
Erschrocken über diese plötzliche Erkenntnis, humpelte er zum nächsten Lichtschalter. Das helle Licht, das die Wohnung durchflutete, beruhigte ihn etwas. Er sah auf seine Uhr, es war bereits halb elf. Doch er musste Monica noch anrufen, denn er hatte jetzt eine wichtige Aufgabe. Eine Aufgabe, die ihn drängte. Die er unbedingt erfüllen musste. Für sich selbst. Gewissermaßen für sein Seelenheil. Denn was er jetzt – vor allem anderen – brauchte, war, dass er sein inneres Gleichgewicht wiederfand. Und das war – bis auf Weiteres – völlig aus dem Lot geraten.
Müde, mit brennenden Augen, wählte Julian Monicas Nummer.
»Ja?« Ihre Stimme klang rau.
»Hallo, hier ist Julian.«
»Ah, Julian. Soll ich dich noch abholen?« fragte sie sofort besorgt.
»Nein. Ich dank’ dir aber für deine Hilfe«, erwiderte Julian höflich. »Aber ich möchte dich um etwas anderes bitten.«
Monica horchte auf. »Um was, Julian? Du hast doch was ausgeheckt, oder?«
Julian zog eine Grimasse. Sie kannte ihn wirklich sehr gut. Sie hatte ihn schließlich aufwachsen sehen. Ihn quasi mit Virginia zusammen erzogen. Denn damals hatte Monica eine Aufgabe gebraucht. Nähe und Liebe. Damals, als sie erfahren hatte, dass ihr Freund in London getötet worden war. Sein Tod war niemals aufgeklärt worden.
Julian zögerte, dann: »Ich muss dich bitten, alles was den Anwalt betrifft, zu regeln. Es geht ja auch um die Vormundschaft ...«
»Ich werde die Vormundschaft übernehmen, wenn du nichts dagegen hast, Julian. Aber was willst du machen? Warum kannst du nicht dabei sein, wenn es um die rechtlichen Dinge geht? Wo bist du dann?«
»Monica, bitte. Wirst du das für mich tun?« Julians Stimme war fast flehend.
»Julian, was hast du vor?«, fragte Monica sanft.
»Ich werde ihn suchen. Brian.« Julian flüsterte fast.
»Deinen Vater?«
»Ja. Ich muss ihn einfach finden.«
»Woher weißt du von ihm? Hat deine Mutter dir von ihm erzählt? Er hat sie einfach sitzen lassen.« Monicas Stimme klang empört.
»Sie hat mir nicht viel gesagt, aber ...« Er zögerte. »Ich lese gerade ihr Tagebuch.« Julian spürte, wie er errötete bei diesem Geständnis.
»Und wenn du ihn tatsächlich findest und er nichts von dir wissen will?«, fragte Monica besorgt. »Also mir gefällt das nicht. Willst du einen Detektiv anheuern oder allein losziehen, um ihn ausfindig zu machen? Oder hat Virginia in ihrem Tagebuch seine Adresse hinterlassen?«
Zu viele Fragen. Julian war müde. Er seufzte. »Ich habe noch nicht alles gelesen. Aber ich wollte es schon im Voraus mit dir klären. Ich werde mich nicht mit dir streiten, aber ich fahre auf jeden Fall zu ihm. Sobald ich seine Adresse habe.«
»Wir sollten uns morgen noch einmal treffen, um alles zu besprechen.« Pause.
»Soll ich dich nicht doch lieber abholen?«
»Nein. Aber du kannst ja morgen vorbeikommen. Vielleicht weiß ich dann schon mehr.«
»Ja. Gute Nacht, Julian. Bis morgen.«
»Gute Nacht, Monica.«
Julian legte auf. Selbst dieses Gespräch hatte ihn unendlich viel Kraft gekostet. Er warf einen Blick in das hell erleuchtete Wohnzimmer und spürte ein merkwürdiges Kribbeln in seinem Körper. Es war fremd, als würde er beobachtet. Uh, wie unangenehm. Er sollte zu Bett gehen. Seinem Körper endlich ein wenig Ruhe gönnen. Er hatte einen schalen Geschmack in seinem Mund. Langsam humpelte er zum Badezimmer und putzte seine Zähne. Warum hatte er das Angebot von Monica nicht angenommen? Dann wäre jetzt wenigstens jemand da, der sich um ihn kümmerte. Ihm eine Schlaftablette in den Mund schob, ihm einen grünen Tee machte und an seinem Bett wachte, bis er eingeschlafen war.
Erschöpft zog er sich aus, nahm Shorts und ein T-Shirt aus dem Schrank und machte sich fertig, um ins Bett zu gehen. Doch er fürchtete sich vor dem Schlaf, der auf ihn wartete. Er hatte Angst vor den Erinnerungen, vor dem Gefühl des Verlassenseins, der Trauer, den Schmerzen. Er wühlte in dem kleinen Medikamenten-Schränkchen, doch er fand keine Schlaftabletten. Nur einige Baldrianperlen. Na gut, die taten’s vielleicht auch. Er schüttelte eine ganze Handvoll aus der Packung und spülte sie mit Leitungswasser hinunter. Sie mussten ihm einfach den ersehnten Schlaf schenken. Oder vielleicht die ersehnte Bewusstlosigkeit.
Da klingelte es an der Tür. Julian glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Es war elf Uhr. Wer mochte das bloß sein? War Monica doch noch gekommen? Er schlich zur Gegensprechanlage.
»Ja?« Seine Stimme klang lächerlich dünn.
»Julian? Lässt du mich bitte zu dir rauf? Ich habe Informationen, die dich sicher interessieren.« Die Stimme war sanft, männlich und irgendwie vertrauenserweckend.
»Wer sind Sie?«, fragte Julian und bemühte sich, ruhig zu klingen.
»Mein Name ist Daniel McNamara. Ich kenne deinen Vater.«
Julian war wie erstarrt. Hatte er das richtig verstanden? Fast automatisch drückte er auf den Knopf neben der Gegensprechanlage. Jetzt war der Fremde im Haus, und bald würde er hier vor der Tür stehen. War er wahnsinnig geworden? Einen Fremden mitten in der Nacht ins Haus zu lassen? Seine Mutter hatte immer gesagt, es sei gefährlich, mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen. Was erwartete ihn jetzt? Doch irgendwie erschien es ihm jetzt gleichgültig. Und wenn der Fremde eine Waffe ziehen und ihn erschießen würde – dann war es letztendlich auch nur gut. Mutig öffnete er die Tür und erschrak. Der Mann stand bereits davor. Wie hatte er so schnell nach oben kommen können?
»Kommen Sie rein«, sagte Julian – trotz seines Schreckens – leise.
Der Mann nickte. Elegant öffnete er die Tür ein Stück weiter und trat ein. Er war eine auffallende Erscheinung. Nicht besonders groß, aber sehr schlank. Sein hellblondes Haar war streichholzkurz, seine Augen strahlten in einem hellen Braun. Er trug einen eigenartigen Umhang, der sanft knisterte, als er an Julian vorbei in die Wohnung trat. Und Julian spürte wieder dieses merkwürdige Kribbeln. Stumm bedeutete er ihm, sich zu setzen.
McNamara beobachtete ihn. »Es tut mir leid«, sagte er dann. »Der Tod deiner Mutter ist tragisch. Ich habe lange überlegt, ob ich dich wirklich ansprechen soll, Julian.« Er betonte seinen Namen auf eine fremde Weise, französisch vielleicht.
»Woher wissen Sie, wer ich bin? Und woher kennen Sie meinen Vater?« Julian schien wieder hellwach. Aufmerksam betrachtete er den Mann, der sich ihm als Daniel McNamara vorgestellt hatte.
»Ah, eine lange Geschichte, fürwahr. Es ist nicht an mir, sie dir zu erzählen. Ich habe nur ein Angebot zu machen: Du fliegst zu ihm, nach London. Und vielleicht wird er dir seine Geschichte erzählen.« McNamara lächelte leicht. Er war sehr attraktiv, wie Julian feststellte.
»Ja, ich fliege auf jeden Fall«, sagte Julian sofort. »Aber wird er mich sehen wollen?«
Wieder lächelte der Mann. »Ja, ich denke. Ich muss ihm schließlich immer von dir berichten, wenn ich ihn sehe oder ihm schreibe. Ich werde ihm mitteilen, dass du kommst.«
»Sie berichten über mich? Heißt das, dass Sie mich beobachten?« Julian klang jetzt zornig.
McNamara lachte kurz auf. »Ich weiß immer, was du tust. Dafür brauche ich nicht zu beobachten.«
»Sind Sie von der Mafia oder was? Ist mein Vater vielleicht ein Krimineller?« Julian war immer noch wütend. Seine grünen Augen blitzten.
»Nein, das kann man so nicht sagen.« Daniel McNamara sah ihn unverwandt an. Wie sein Vater, dachte er.
»Wenn er ein so großes Interesse an mir hat, warum ist er dann niemals hier gewesen? Warum hat er sich nie bei mir gemeldet?« fragte Julian und versuchte McNamara zu fixieren. Doch plötzlich schlug die Müdigkeit wie ein Hammer zu. Er konnte sich nicht mehr auf sein Gegenüber konzentrieren. Der verflixte Baldrian.
»Das alles wird er dir am besten erklären können, Julian. Jetzt schlaf. Du kannst die Augen ja kaum noch offen halten.« McNamara kam zu ihm herüber. Sanft nahm er Julian am Arm und schlang seinen Arm um die magere Hüfte des Jungen. Julian ließ es geschehen. Ließ sich von dem fremden Mann mit der sanften Stimme ins Bett bringen.
»Morgen Abend bringe ich dir dein Flugticket. Bis dahin habe ich alles andere geregelt.« Die Stimme McNamaras klang weit entfernt. Unwirklich.
»Danke«, flüsterte Julian und schlief ein.
In dieser Nacht traf ein Fax in London ein mit folgender Nachricht:
Lieber Brian,
eine traurige Mitteilung und eine – na, sagen wir – spannende Botschaft. Die traurige, wenn es Dich überhaupt noch berührt: Virginia M. ist tot. Sie kam vor etwas mehr als einer Woche bei einem Autounfall ums Leben. Ich hab’s ja immer gesagt, diese verfluchten Blechkisten sind grauenvoll. Ihr Sohn, Dein Sohn, Julian, wurde auch verletzt, ist aber schon aus dem Krankenhaus. Er ist wirklich wundervoll, ich könnte mich in ihn verlieben. Ah, er liest zurzeit das Tagebuch seiner Mutter (ich hoffe, das verdirbt ihn nicht allzu sehr). Denn er hat einen großen Wunsch: seinen Vater kennenzulernen. Und genau das werde ich ihm ermöglichen. Ich hoffe, es ist in Deinem Interesse. Wenn nicht, wird es auf jeden Fall ein Spaß werden. Lasst ihn bitte am Dienstag um 17.50 Uhr in Heathrow abholen. Ihr werdet ihn erkennen.
Gruß an Alex und Gabriel,
untertänigst,
Euer Daniel.
Erstaunt zog Brian das Blatt aus dem Fax-Gerät. Virginia tot. Das musste er erst einmal schlucken. So gern hätte er sich noch einmal mit ihr getroffen. Noch einmal ihre Stimme gehört. Jetzt war sie tot, bereits begraben. Aber trauerte er um sie? Er spürte es nicht. Vielleicht war dieses dumpfe Pochen in seinem Innern Trauer? Er wusste es nicht. Nein, wahrscheinlich trauerte er nicht. Er war nur enttäuscht, dass er sich nicht von ihr hatte verabschieden können. Und so stand er eine ganze Weile grübelnd an dem Gerät mit dem Blatt in der Hand. Starrte auf die handgeschriebenen Zeilen. Bis ihm der zweite Teil der Botschaft bewusst wurde. Julian würde nach London kommen? Er kam, um ihn kennenzulernen? Erschrocken hielt er den Atem an. Schwankte zwischen Freude und Panik. War es wirklich gut für Julian, wenn er hierher kam? Nein, eigentlich nicht. Eigentlich war es eine Katastrophe, auch wenn er ihn sehr gern, wirklich unglaublich gern sehen würde.
Er war so in Gedanken versunken, dass er Alex’ heimliche Schritte nicht wahrnahm. Dieser schlang die Arme um ihn.
»Was hast du für eine erschütternde Nachricht erhalten, mein lieber Brian?« Alex’ Stimme war wie ein Windhauch an seinem Ohr und ließ ihn wohlig erschaudern.
Brian hielt Alex das Blatt vor die Nase. Dieser überflog es. »Ah, eine wirklich interessante Neuigkeit. Dann wird es in der nächsten Zeit ja wieder sehr spannend werden in diesem Haus.« Er lachte leise, ein wenig boshaft.
»Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn der Junge kommt«, sagte Brian und befreite sich aus Alex’ Umarmung.
»Du meinst, weil es gefährlich ist?«, fragte Alex grinsend. »Oder weil er verdorben werden könnte?«
»Ach Alex. Es könnte ihn nur das Leben kosten, nicht wahr?« Brian imitierte Alex’ Tonfall fast perfekt.
Dieser grinste immer noch. »Lass ihn kommen. Ich verspreche, ich werde mich beherrschen. Aber was dich angeht, habe ich so meine Bedenken.«
»Warum?« Brian versuchte, Alex’ Gesichtsausdruck zu ergründen.
»Es fließt dein Blut in seinen Adern. Dein süßes Blut. Es wird dich umbringen, mein Liebster. Seine Nähe, sein Geruch. Glaub mir, weder für mich noch für Gabriel wird es eine solche Qual sein.« Sanft strich er über Brians fein geschwungene Lippen.
»Ich werde es aushalten können«, sagte Brian zuversichtlich. »Sagst du René, dass er ihn abholen soll?«
»Selbstverständlich, Brian. Ich freue mich, deinen Sohn kennenzulernen. Ich bin wirklich gespannt.«
Verhasst ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! Und aber nein – Regieren.
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren
Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
In holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
Von ferne her mich endlich heimzulocken,
Mich selber zu mir selber – zu verführen.
Friedrich Nietzsche
Fröhlich setzte ich mich raus in den großen Garten. Ich hatte eine geradezu unverschämt gute Laune. Jetzt würde ich also Brians Nachkommen kennenlernen. Wenn er so war wie Brian, dann würde es ein ganz wundervolles Zusammentreffen werden. Ich war eigentlich sehr froh über diese unerwartete Abwechslung, denn Henrys Tod arbeitete noch in mir. Ich hatte den alten Mann sehr gemocht. Ich hatte ihn geliebt. Wie gern hätte ich ihn für immer bei mir gehabt. Ich hatte an seinem Bett gesessen, hatte ihn begleitet. Mit ihm gesprochen oder einfach nur zugehört. Und ich hatte ihm zum letzten Mal das Angebot gemacht – er lehnte es ab. Lehnte es einfach ab mit den Worten: Ich habe so viel gesehen in meinem Leben. Ich bin jetzt müde. Ich gehe wirklich ohne Angst, Alex.
Ich hatte daneben gesessen und geweint. Jetzt schämte ich mich dafür, aber Henry hatte wenigstens erfahren, wieviel er mir bedeutete. Oh, ich konnte den Tod eines geliebten Menschen nicht gut wegstecken. Es brach mir das Herz. Aber er war nicht traurig gewesen, nicht ängstlich. Und schließlich war er einfach eingeschlafen. Ich hatte ihm die Augen zugedrückt und an seinem Bett gewacht. Und getrauert.
Es dauerte nicht lange, da tauchte Henrys Neffe René auf, denn Henry hatte ihm das alte Haus vererbt. Und als er das Haus gesehen hatte, war ihm klar, dass er nach London ziehen musste. René war ein junger, aufstrebender Anwalt, ehrgeizig bis ins Blut. Aber grundehrlich. Er hatte einige übersinnliche Gaben seines Onkels geerbt, und daher erkannte er uns sofort als das, was wir waren. Ich hatte also nur die Wahl, ihn zu töten oder ihn einfach einzuweihen. Ich nahm ihn mit ins Bett.
Mittlerweile hat er alle juristischen Angelegenheiten hier in London für mich übernommen. Er ist ein fähiger Mann und – davon abgesehen – brauche ich tatsächlich immer jemanden, der sich zu jeder Tageszeit frei bewegen kann. Ich hoffe, er ist Henry ein ebenbürtiger Nachfolger.
In den letzten Jahren habe ich noch einige Dinge an meiner bezaubernden alten Stadtvilla verändern lassen. Im Garten erstreckt sich jetzt zum Beispiel ein wunderbarer Pool, der abends beleuchtet ist. Ich liebe es, zusammen mit Brian in der Dunkelheit zu schwimmen. Der Garten ist ringsherum von hohen Hecken und riesigen Bäumen abgegrenzt, sodass niemand einen Blick auf sein Innerstes werfen kann. Auch im Haus selbst, neben dem geräumigen Salon, habe ich einen kleinen Swimmingpool einrichten lassen. Es ist einfach ein wunderbares Gefühl, sich in den warmen, leichten Wellen des Wassers treiben zu lassen. Das Haus ist mittlerweile wieder angefüllt mit all den Kostbarkeiten, die ich im Laufe meines langen Lebens angesammelt habe. Glücklicherweise hatte der Kreis von Merrick damals nicht allzu viel zerstört, als wir überstürzt New York verlassen mussten. Ich erinnere mich nur ungern an diese Zeit. Steven McLane, mein treuer Mitarbeiter und Freund, half mir später meine Habe hierher nach London zu bringen. Er leitet noch immer die Black Rose in New York – und hat noch immer keine Frau. Ah, aber das ist eine andere Geschichte.
Zur Beerdigung meines alten Freundes Henry erschien natürlich auch Jaqueline, seine Tochter. Sie war noch immer wunderschön. Und ich wartete gespannt, ob sie sich bei meinem Anblick an irgendetwas würde erinnern können; an etwas, das ich ihr angetan hatte. Doch sie erinnerte sich nicht. Sie erkannte mich zwar und Brian und Gabriel, doch kein negativer Gedanke wollte in ihrem entzückenden kleinen Gehirn entstehen. Ich hatte alles gelöscht. Sie fand mich noch immer sehr anziehend, und ich hatte alle Mühe sie abzuwimmeln. Denn vergaß ich mich erst einmal wieder, war ihr Schicksal besiegelt. Und Brian warf mir auch immer warnende Blicke zu. Ich wusste, ich musste mich zusammenreißen.
Der Rest des Kreises von Merrick hatte sich anscheinend zurückgezogen, denn in den letzten Jahren hatte ich nichts mehr von ihnen gehört. Aber vielleicht wollten sie einen auch nur in Sicherheit wiegen. Wer weiß das schon? Denn ich hätte wetten können, dass sie noch immer das Geheimnis des ewigen Lebens ergründen wollten.
Julian packte einige Dinge in einen schwarzen Koffer, und Monica sah ihm dabei zu. Es ging sehr langsam voran, aber Julian hatte darauf bestanden, seine Sachen selbst einzupacken. Er war einfach in einem unglaublich sturen Alter.
Monica beobachtete ihn. Ihr entging der harte Zug um seinen Mund und die Müdigkeit in seinen grünen Augen nicht. Und wie mager er geworden war. Würde er sich jemals davon erholen, wenn dieses erste Zusammentreffen mit seinem Vater ein Desaster werden würde?
Sie hoffte inständig, dass es nicht zu einer Katastrophe kam. Was erwartete er wohl? Sie schlug die Beine übereinander und beobachtete ihn weiter. Wenn er erst einmal erwachsen war, dann war er sicherlich unwiderstehlich. Schon jetzt war er ausgesprochen schön. Ungewöhnlich für einen Jungen in seinem Alter. Wie sein Vater wohl aussah? Julian hielt in der Bewegung inne.
»Warum beobachtest du mich die ganze Zeit?«, fragte er, und seine Stimme klang leicht gereizt.
»Ich frage mich, ob es wirklich gut ist, dass du allein nach London fliegst. Und ich frage mich, was das für ein Mann war, den du gestern einfach in diese Wohnung gelassen hast.«
Er hörte den unausgesprochenen Vorwurf in ihrer Stimme. Aber er ging nicht darauf ein. »Du kannst ja meinetwegen bleiben, bis er mir mein Flugticket bringt. Er ist sehr sympathisch, wirklich. Und ich fahre auf jeden Fall. Ich muss meinen Vater einfach kennenlernen.« Julian sah gedankenverloren durch sie hindurch. Monica stand auf.
»Nimm dir auf jeden Fall regenfeste Kleidung mit. Ich glaube, in London regnet es ständig.«
Julian nickte ergeben. Schließlich schloss er den Koffer und packte einige Sachen in seinen Rucksack, den er als Handgepäck mitnehmen wollte. Auch das schmale rote Buch verschwand darin.
»Wirst du dir dort auch einen Arzt suchen, der deine Hand weiter behandelt?« Monica schaute aus dem Fenster und beobachtete das sanfte Rot der untergehenden Sonne.
Julian lachte leise. »Ja, bestimmt. Die Fäden in meiner Stirn sollten ja auch gezogen werden. Gibst du mir jetzt bitte das Schmerzmittel und die Schlaftabletten, die du die ganze Zeit in deiner Tasche spazieren trägst?«
Monica sah ihn verblüfft an, aber es war nicht das erste Mal, dass er Dinge wusste. Einfach wusste, als könne er Gedanken lesen.
Etwas widerwillig reichte sie ihm die Mittel.
»Du weißt, dass du verantwortungsvoll damit umgehen musst, Julian.«
Er nickte. »Gestern hätte ich sie gebraucht. Aber der Baldrian hat’s auch getan.«
Er ließ die Fläschchen ebenfalls in seinem Rucksack verschwinden. Seine Hand pochte unangenehm, und in seinem Kopf kreiste ein stechender Schmerz. Er hatte sich übernommen, das wusste er. Aber nichts konnte ihn jetzt davon abhalten, das Ticket in Empfang zu nehmen und zu seinem Vater zu fliegen.
Monica hatte gerade für sich und Julian einen Tee aufgesetzt, da klingelte es an der Tür. Julian drückte auf den Knopf, der die Haustür öffnete.
»Das wird McNamara sein.«
Und richtig. Kurze Zeit später stand er bereits vor der Wohnungstür und ließ sich von Julian hereinbitten. Monica fand ihn bezaubernd.
»Kommen Sie aus Frankreich, Mr. McNamara? Sie haben einen merkwürdigen Akzent.«
Er lachte melodiös. »Nein. Ich bin gebürtiger Ire, aber ich habe lange Zeit in Frankreich gelebt. Sehr lange Zeit.«
Sie lächelte darüber, wie er sehr lange Zeit gesagt hatte, denn er war höchstens 25. Und plötzlich kam sie sich unglaublich alt vor, obwohl sie selbst noch keine 40 war. Das Leben rauschte nur so vorüber, dachte sie betrübt.
Sie bot ihm einen Tee an, den er dankend ablehnte. Ernst erläuterte er Julian den Fahrtverlauf. Wo er wann wohin gehen müsste, und dass er in Heathrow warten sollte, bis ihn jemand ansprach.
»Du wirst um 17.45 Uhr in London ankommen. Ein Freund deines Vaters wird dich abholen und dich dann zu deinem Ziel fahren. Alles verstanden?«
Julian nickte, etwas verwirrt. Wieder nahm er dieses merkwürdige Kribbeln wahr, das sich von seinem Nacken über seine Schultern in seine Arme ausbreitete. Er war nervös.
Schließlich verabschiedete Daniel McNamara sich und wünschte Julian eine gute Reise. Julian bedankte sich artig für die Hilfe, die McNamara ihm gewesen war. Auch wenn er das alles nicht verstehen konnte.
Am nächsten Tag war Julians Nervosität noch intensiver als am Vortag. Monica brachte ihn zum Flughafen. Ihr war noch immer nicht wohl bei dem Gedanken, Julian allein fortzulassen. Aber sie hatte McNamara als absolut vertrauenserweckend empfunden. Sein Erscheinen hatte sie doch beruhigt. O.k., sagte sie sich, Julian ist zwar noch nicht volljährig, aber doch schon sehr erwachsen. Er wird das alles schaffen. Sie begleitete ihn bis zum richtigen Terminal und nahm ihn dort in den Arm. Julian war überrascht, als ihn eine Welle der Zuneigung durchströmte.
»Meld dich bitte, wenn du angekommen bist.« Monica sah aus, als würde sie gleich weinen.
»Ja klar. Mach dir keine Sorgen«, sagte Julian und versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Tonfall zu geben. Aber in Wirklichkeit war er alles andere als ruhig.
»Und vergiss nicht, dass die Sommerferien auch irgendwann mal zu Ende sind.«
Er nickte brav, aber in diesem Moment erschien ihm nichts ferner, als der Gedanke an seine Schule.
Julian war noch nie zuvor geflogen, und alles war neu und aufregend. Er schloss sich der großen Menge der Leute an, die den gleichen Flug wie er gebucht hatten. Mit leicht zittrigen Fingern zeigte er seinen Pass und ließ den Rucksack durchleuchten. Doch alle waren ausgesprochen nett zu ihm. Selbst seine Langsamkeit schien keinen zu stören. Niemand schnauzte ihn an. Wahrscheinlich weil er noch so ramponiert aussah.
Erstaunt sah er, dass Daniel first class für ihn gebucht hatte. So saß er mitten zwischen all den gutaussehenden und vor allen Dingen reichen Menschen, zu denen er sonst fast keinen Kontakt hatte. Das erste Mal in seinem Leben in einem Flugzeug. Und er hatte einen Fensterplatz. Mit schweißnassen Händen saß er auf seinem Sitz und rutschte unruhig hin und her. Der Herr, der neben ihm saß, lächelte ihn freundlich, aber abwesend an.
Dann startete die Maschine. Der Start war herrlich. Mit was für einer Kraft man in den Sitz gepresst wurde. Achterbahnfahren war nichts dagegen. Verstohlen gähnte er zweimal, wie Monica es ihm gesagt hatte, als seine Ohren zufielen. Dann war die Maschine hoch in den Lüften, und er durfte den Anschnallgurt lösen. Vorsichtig zog er das schmale rote Buch aus seinem Rucksack und las weiter in den Eintragungen seiner Mutter: