CoroFluenza - Günter Kampf - E-Book

CoroFluenza E-Book

Günter Kampf

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Beschreibung

COVID-19 wurde zu Beginn der Pandemie als dramatisch, sehr schlimm und historisch einmalig beschrieben. Aber war das SARS-Coronavirus-2 tatsächlich gefährlicher als Influenzaviren oder andere Coronaviren, die seit jeher in den Wintermonaten Infektionen verursachen? Die Gesamtzahl der weltweiten Fälle war für COVID-19 sehr hoch, jedoch immer noch niedriger als die von der WHO geschätzte Zahl der Influenzainfektionen. Eine vergleichende Auswertung zahlreicher Studien und offizieller Fallzahlen zeigt, dass bei allen diesen viralen Atemwegsinfektionen die fallbezogenen Anteile asymptomatischer Verläufe und kritischer Verläufe mit intensivmedizinischer Behandlung etwa gleich hoch waren. Milde und moderate Verläufe waren bei COVID-19 sogar häufiger, während schwere Verläufe mit stationärer Behandlung seltener waren. Die fallbezogene Sterberate war für COVID-19 nur in den Jahren 2020 und 2021 höher als für Influenzavirus-Infektionen. Historisch einmalig war jedoch das anlasslose Testen, die mediale Darstellung der Pandemie und die teilweise unmenschlichen Maßnahmen. Der Autor plädiert dafür, bei zukünftigen Pandemien die Falldefinition auf Personen mit den typischen Symptomen einer Atemwegsinfektion zu beschränken und die Häufigkeit schwerer und kritischer Verläufe als offiziellen Indikator zu verwenden. Mit einem Vorwort von Dr. Ellis Huber, ehemaliger Präsident der Ärztekammer Berlin.

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Vorwort

Es tut einfach gut, sachlich formulierte, fachlich kompetente und medizinisch verantwortungsbewusste Analysen zur Corona-Pandemie zu lesen. Günter Kampf vermittelt mit seinen Büchern und insbesondere mit der hier vorliegenden Zusammenfassung der wissenschaftlichen Erkenntnisse Sicherheit und Durchblick, praktische Handlungsanleitungen und ganzheitliche Kompetenz im Umgang mit den Pandemien, die wir bisher erlebten und die künftig noch auf uns zukommen. Das Lehrbuch zu den Lehren aus der Corona-Pandemie muss nicht mehr geschrieben werden. „CoroFluenza“ schenkt uns ein medizinisches Propädeutikum, also eine Einführung in den evidenzbasierten Umgang mit viralen Infektionsgefahren. Es ist ein echter Segen für alle Ärztinnen und Ärzte, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind und die sich um die Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Bevölkerung sorgen. Die Corona-Pandemie hat uns alle gleichermaßen herausgefordert, verunsichert, durcheinandergebracht und oft auch verängstigt und in die Irre geführt.

Das Buch hier ist aber auch eine beruhigende Hilfe für alle Menschen, die tagtäglich für ihre eigene Gesundheit und für die Gesundheit ihrer Mitmenschen Verantwortung übernehmen und sich für gesundheitsförderliches Handeln und gesundheitsdienliche Lebenswelten einsetzen. Wir alle, Patienten, Bürger, Politiker, Ärzte und die anderen Angehörigen der Sozial- und Gesundheitsberufe hatten im Frühjahr 2020 einen Kontrollverlust erlebt. Das SARS-CoV-2-Virus machte Angst, löste panische Reaktionen aus und wurde als allgegenwärtige Gefahr empfunden. Viele haben die Gefahren nicht wirklich einschätzen können. Die Spaltung der Menschen, Familien, Freundschaften, Gemeinden und sozialen Gruppen hat das gedeihliche Miteinander aller in unserer Gesellschaft zerrüttet und das soziale Bindegewebe tief verletzt. Auch ich schwankte manchmal in der Beurteilung der Gefährdungsbewertung und der Lösungskonzepte.

Wir müssen jetzt die individuellen und gesellschaftlichen Wunden heilen, die das Geschehen um die Pandemie geschlagen hat. „CoroFluenza“ heißt das Heilmittel, das wir mit diesem Buch bekommen und nutzen dürfen. Sie als Leserin und Leser werden nach der Lektüre im Umgang mit Pandemien besser klarkommen und durchblicken. Sie werden Sinn- und Unsinn von Maßnahmen kompetenter beurteilen und den Wert gegensätzlicher Informationen, unterschiedlicher Haltungen oder kontroverser Diskussionen für eine freie Gesellschaft erkennen können. Die erlebten Gegensätze waren nicht entscheidend, auch wenn die öffentliche Kommunikation die Menschen in gute und böse, folgsame und aufsässige, solidarische und „sozialschädliche“ Gruppen aufgliederte. Das alles war auch ein Spiegel von Hilflosigkeit und die Projektion der Angst auf „Sündenböcke“. Öffentliche Medien verbreiteten kontinuierlich Angst und Schrecken und hatten Schwierigkeiten das Geschehen realistisch einzuordnen. Der politische Prozess machte viele Fehler und es ist jetzt an der Zeit, aus diesen Fehlern zu lernen.

In einer toleranten und kooperativen Gemeinschaft sind Infektionsgefahren und andere gesellschaftliche Probleme oder Herausforderungen besser zu bewältigen. Der Weg einer chinesischen Zwangskultur, den wir bei Corona zum Vorbild genommen hatten, kann nicht die Sache eines demokratischen Gemeinwesens sein. Wir müssen eine gesellschaftliche Kultur entfalten, die Menschen zusammenführt, Mitmenschlichkeit leben lässt und vor Bakterien, Viren und anderen Krankheitserregern nicht in Angst und Panik verfällt. Das können wir nun lernen, wenn wir die Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie nüchtern reflektieren, ehrlich auswerten und zur weiteren Kompetenzentwicklung nutzen. Eine demokratische Gesellschaft und eine demokratieförderliche politische Führung befähigen Menschen, Infektionsrisiken im persönlichen Leben, privat und öffentlich, am Arbeitsplatz und in der Lebenswelt weitestgehend selbst zu managen. Dazu benötigen sie eine ehrliche Risikokommunikation, Instrumente für das Risikomanagement in den jeweiligen Lebenswelten und geeignete Hilfen zur Nachverfolgung und zur Unterbrechung von Infektionsketten. CoroFluenza ebenso wie die anderen Bücher Günter Kampfs zum Pandemiemanagement, zur Wirkung der Corona-Maßnahmen und zur Freiheit der Wissenschaft sind dafür geeignete Lehrmittel. In der Corona-Pandemie ist uns in Wissenschaft, Politik und medialer Kommunikation ein rationaler Umgang mit der Gefahr leider nicht gelungen. Die Gefahren wurden im Vergleich zu bekannten Infektionskrankheiten deutlich überschätzt und die Wirkung autoritativer Interventionen wurden völlig falsch bewertet. Die tatsächliche Krankheitslast einer viralen Atemwegsinfektion wie COVID-19 war nicht so schlimm, wie Medien, Politiker und öffentliche Institutionen behauptet haben. Das alles belegt Günter Kampf akribisch, detailgetreu und wissenschaftlich fundiert. Sein Fazit lautet: „Die Hospitalisierungsrate von COVID-19-Fällen ist nicht grundsätzlich höher als bei saisonalen Coronavirus-Infektionen, sondern sogar deutlich niedriger als bei den Grippevirus-Infektionen in Deutschland“ und der „Anteil der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist nicht durchgängig höher als bei saisonalen Coronavirus- oder verschiedenen Influenzavirus-Infektionen.“

Der Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin ist sich dabei mit der weltweit angesehenen italienischen Virologin Ilaria Capua ziemlich einig: „SARS-CoV-2 ist an sich kein Killervirus. Aber es ist ein Stresstest für unser ganzes System. Für das Gesundheitswesen. Die Wirtschaft. Sogar für Familien. […] Es hat vor allem große, reiche Städte erwischt. Mailand. Madrid. New York. Warum? Nicht nur, weil dort viele Menschen auf engem Raum leben und es etwa einen guten, stark frequentierten Nahverkehr gibt. Sondern auch, weil sich das Gesundheitssystem dort in den vergangenen Jahrzehnten so entwickelt hat, dass es kollabieren musste. In der Lombardei hatte sich die Regionalregierung entschieden, in Hightech-Medizin zu investieren, sich auf solvente Patienten zu spezialisieren. Das hilft dir wenig, wenn eine Pandemie kommt. Du brauchst dann auch einfache Krankenhäuser im Umland und Ärzte, die zu den Leuten kommen, damit nicht alle in die Kliniken strömen. […] Dieses Virus ist gefährlich, weil es sehr leicht zu übertragen ist. Nicht, weil es besonders pathogen, also krankheitserregend wäre. Es ist für mich vor allem eine Krankheit unserer Lebensweise. Deswegen müssen wir auch über unser Wirtschaftssystem reden“, sagt sie im Magazin der Süddeutschen Zeitung bereits im Juni 2020. Und einen Monat später stand im Tagesspiegel: „Die zweite Welle haben wir selbst in der Hand. Die Pandemie verstärkt Negativität, dabei müssen wir zusammenstehen. Wir Europäer müssen unsere Werte, die Achtung vor dem Leben, dem Planeten, der Gesundheit verteidigen.“ Ilaria Capua hat ebenso wie Günter Kampf und einige andere Wissenschaftler in Deutschland sehr früh schon vor unsinnigen Vorstellungen und unwirksamen Maßnahmen gewarnt. Gehört wurden sie nicht. Zu Wort- und Meinungsführern wurden Virologen und Katastrophen-Statistiker, die sich in ihrer publizistischen wie politischen Aufmerksamkeit gerne sonnten.

Die medizinischen Erfahrungen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Umgang mit Infektionskrankheiten und Pandemien waren vor Corona klar und eindeutig: Das Virus, das Bakterium oder andere Krankheitserreger sind nichts, der betroffene Mensch und seine Lebenswelt sind alles. Dieser Satz fasst das Wissen im Umgang mit Pandemien, Epidemien und Infektionskrankheiten zusammen. Das individuelle Risikomanagement, die Verhältnisse in den Lebenswelten, die jeweiligen Abwehrkräfte und Resilienzen sind ebenso bedeutsam wie der Krankheitserreger selbst. Auch COVID-19 war und ist von sozialen Determinanten geprägt: Armut, Migrationshintergrund und Lebenswelten wie Pflegeheime oder Betriebe mit hohem Stresspotential. Es macht daher keinen Sinn, nur ein Virus zu bekämpfen.

Ziel der Gesundheitsversorgung ist immer die Gesundheit der Bevölkerung und der Schutz von besonders gefährdeten Menschen. Gesundheitsförderung und Pandemiebekämpfung nach den Prinzipien der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Menschen anleiten, ihre Kompetenzen zu entwickeln und Corona-Risiken oder andere Infektionsgefahren selbst zu steuern. Es geht also um eine neue Gesundheitskultur für Mensch und Gesellschaft.

Corona ist eine von vielen Bedrohungen des Lebens. Die Risikokommunikation sollte das immer wieder transparent machen, damit Angst, Panik und die Emotionen des individuellen wie sozialen Kontrollverlustes minimiert werden. Nicht nur das Coronavirus, sondern auch die Reaktion auf diese Pandemie produziert Krankheiten, gravierende Leiden und wirtschaftliche Schäden. Unterschiedliche Länder sind ungleich betroffen. Ein harter Lockdown korreliert nicht mit den auftretenden Mortalitätsraten. Deutlich bedeutsamere Faktoren sind das Maß an sozialer Ungleichheit oder Benachteiligung und das Fehlen von sozialem Vertrauen.

Die allgemeinen Regeln sind bei Krankheitserregern der Atemwege klar: möglichst wenig Infektionen durch minimale Kontakte, schnelle Erkennung von Infektionen durch differenzierte Messsysteme und aktive und gezielte Unterbrechung von Infektionsketten zum Schutz besonders gefährdeter Personenkreise. Damit die Menschen in ihren Lebenswelten das Risiko selbst steuern können, müssen sie mit Rat und Tat unterstützt werden. Sie brauchen funktionale Instrumente und technische Hilfen zur Selbstorganisation. Zielgerichtete subsidiäre Aktivitäten sind wichtiger als zentrale Vorschriften. Pandemiebewältigung können Gesundheitsämter und staatliche Organe nicht für die Menschen, sondern nur mit ihnen sicherstellen. Nicht alle Krankheiten, die zum Tode führen können, lassen sich verhindern. Die Sepsis, umgangssprachlich auch Blutvergiftung genannt, verursacht in Deutschland jährlich rund 85.000 Todesfälle. Es ist nach Aussagen der Experten die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. COVID-19 hat also in keinem der drei Pandemiejahre so viel Infektionstote zur Folge gehabt, wie andere Infektionsrisiken jährlich verursachen. Diese Wahrheit wurde im öffentlichen Bewusstsein medial und politisch verdrängt und verschwiegen. Warum es zu dieser Verkennung von Risiken und realer Gefahr kommen konnte, ist jetzt zu klären und aufzuarbeiten. „CoroFluenza“ trägt dazu bei und hilft für die Zukunft, bürgerschaftliches Selbstmanagement und Demokratisierung zu stärken. Daher wünsche ich dem Buch viele Leser und hohe Aufmerksamkeit.

Dr. Ellis Huber, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Teil 1 - Schweregrad und Ausbreitung

1. Virale Atemwegsinfektionen

1.1. Der Zeitraum bis September 2020

1.2. Die Pandemiejahre 2020 bis 2023

1.3. Schwere Grippewellen gab es immer

1.3.1. Italien im Jahr 2000

1.3.2. Deutschland im Jahr 2015

1.3.3. Deutschland im Jahr 2017

1.3.4. Mallorca im Jahr 2019

1.4. Schwere Atemwegsinfektionen in Deutschland

1.5. Phasen der Ausbreitung eines Atemwegsvirus

1.6. Öffentliche Darstellung von COVID-19

1.6.1. Die Fernsehansprache vom 18. März 2020

1.6.2. Weitere öffentliche Aussagen

1.6.3. Folgen dieser Darstellung

2. Schweregrad und Übertragbarkeit

2.1. Hintergrund

2.2. Aufteilung nach Schweregrad

2.2.1. Asymptomatische Infektion

2.2.2. Leichte oder moderate Infektion

2.2.3. Schwere Infektion

2.2.4. Kritische Infektion

2.2.5. Zuordnung zu epidemiologischen Fallzahlen

2.3. Aufteilung nach Ausbreitung

3. Asymptomatische Fälle

3.1. COVID-19

3.1.1. Asymptomatisch am Untersuchungstag

3.1.2. Durchgängig asymptomatisch

3.1.3. Präsymptomatische Fälle

3.1.4. Häufigkeit nach Impfstatus

3.1.5. Häufigkeit nach Alter

3.2. Sonstige Coronavirus-Infektionen

3.3. Influenzavirus-Infektionen

4. Leichte und moderate Verläufe

4.1. COVID-19

4.1.1. Häufigkeit

4.1.2. Häufigkeit nach Impfstatus

4.2. Sonstige Coronavirus-Infektionen

4.3. Influenzavirus-Infektionen

5. Schwere Verläufe

5.1. COVID-19

5.1.1. Hospitalisierte Fälle (Studien)

5.1.2. Hospitalisierte Fälle (Deutschland)

5.1.3. „Schwere Verläufe“ bei hospitalisierten Fällen

5.2. Sonstige Coronavirus-Infektionen

5.2.1. Hospitalisierte Fälle

5.2.2. Schwere Verläufe

5.3. Influenzavirus-Infektionen

5.3.1. Hospitalisierte Fälle (Studien)

5.3.2. Hospitalisierte Fälle (Deutschland)

5.3.3. Schwere Verläufe

6. Kritische Verläufe

6.1. COVID-19

6.2. Sonstige Coronavirus-Infektionen

6.3. Influenzavirus-Infektionen

7. Tödliche Verläufe

7.1. COVID-19

7.1.1. Todesfälle aus Bergamo

7.1.2. Todesfallzahlen

7.1.3. Todesursache der COVID-19-Todesfälle

7.1.4. Fallbezogene Sterblichkeitsrate

7.1.5. Infektionsbezogene Sterblichkeitsrate

7.2. Sonstige Coronavirus-Infektionen

7.2.1. Fallbezogene Sterblichkeitsrate

7.3. Influenzavirus-Infektionen

7.3.1. Fallbezogene Sterblichkeitsrate

7.3.2. Sterblichkeitsrate bei hospitalisierten Fällen

7.3.3. Infektionsbezogene Sterblichkeitsrate

8. Gesamtbild: Schweregrad

8.1. Asymptomatische Verläufe

8.2. Milde oder moderate Verläufe

8.3. Schwere Verläufe

8.4. Kritische Verläufe

8.5. Tödliche Verläufe

9. Gesamtbild: Übertragbarkeit

9.1. Weltweite Fallzahlen

9.2. Fallzahlen in Deutschland

10. Einordnung von COVID-19

Teil 2 - Welche Kenngrößen sind sinnvoll?

11. Kenngrößen bei Grippewellen

11.1. Erkenntnisse aus den Sentinelpraxen

11.2. Fallzahlen bei meldepflichtigen Krankheiten

11.3. Kenngrößen im nationalen Pandemieplan

12. Ziele der COVID-19-Maßnahmen

12.1. Reduktion der COVID-19-Fallzahlen

12.2. Reduktion schwerer Verläufe

12.3. Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden

13. Ziel: Die Übertragungsdynamik reduzieren

13.1. Kenngröße: R-Wert

13.2. Die R-Werte in den Jahren 2020 bis 2022

13.3. Perspektive für die Zukunft

14. Ziel: Die Fallzahl reduzieren

14.1. Falldefinitionen

14.1.1. COVID-19-Falldefinition der WHO

14.1.2. COVID-19-Falldefinition der ECDC

14.1.3. COVID-19-Falldefinition des Robert Koch-Instituts

14.1.4. Influenza-Falldefinitionen

14.2. Anfang 2020: überzogene Darstellung der Fallzahl

14.3. Inzidenzwerte in den Jahren 2020 und 2021

14.4. Bedeutung der PCR für die Falldefinition

14.4.1. Fälle mit geringer oder fehlender Infektiosität

14.4.2. Falsch positive Testergebnisse

14.5. Sinnhaftigkeit der Fallzahlbestimmung

14.5.1. Ziel: Überblick zur Infektionsdynamik

14.5.2. Ziel: Potenzielle Quellen finden

14.5.3. Ziel: Transmissionsdynamik eingrenzen

15. Ziel: Die Anzahl schwerer Verläufe reduzieren

15.1. Relevante Kenngröße: Schwere Verläufe

15.2. Risikoprofil für schwere Verläufe

15.3. Fokussierter Schutz für besonders Gefährdete

16. Perspektiven für die Zukunft

16.1. Falldefinition: nur bei typischen Symptomen

16.2. Fokus auf schwere und kritische Verläufe

16.3. Multidimensionales Indikatoren-Set

16.4. Testen nur zur Anpassung der Behandlung

16.5. Fortwährende Überprüfung des Ziels

16.6. Persönlicher Ausblick

Glossar

Danksagung

Quellenverzeichnis

Zum Autor

Teil 1 - Schweregrad und Ausbreitung

1. Virale Atemwegsinfektionen

1.1. Der Zeitraum bis September 2020

Virale Atemwegsinfektionen treten jedes Jahr mit einer Häufung in der kalten Jahreszeit auf. Zu den bekanntesten Viren gehören Rhinoviren, Coronaviren, Influenza- und Parainfluenzaviren, RS-Viren, Adenoviren sowie die humanen Metapneumoviren. Ihre Häufigkeit schwankt von Jahr zu Jahr. Seit 2008 werden in ausgewählten Arztpraxen Deutschlands Patienten mit akuter Atemwegsinfektion auf die verschiedenen Viren untersucht, um festzustellen, welche Viren oder Virusvarianten besonders häufig zu Arztbesuchen führen. Auf diese Weise kann die tatsächliche Krankheitslast im ambulanten Bereich pro Virus für eine Saison grob abgeschätzt werden.

Die Zahlen einer Saison werden von der Arbeitsgemeinschaft Influenza am Robert Koch-Institut als sogenannte ARE-Berichte veröffentlicht (ARE: akute respiratorische Erkrankungen). Seit dem Jahr 2016 wird angegeben, wie viele der untersuchten Proben einen positiven Virusnachweis erbrachten. Für diese Grundgesamtheit kann somit ermittelt werden, welche Atemwegsviren in einer Wintersaison besonders häufig waren. Abbildung 1 zeigt die relativen Häufigkeiten der untersuchten Viren pro Saison, jedoch ohne saisonale Coronaviren. In den Jahren 2015 bis zum Ende der Saison 2019/2020 wurde etwa die Hälfte der viralen Atemwegsinfektionen durch Influenzaviren verursacht, die andere Hälfte durch andere Viren wie Rhinoviren (22,1 % bis 36,1 %), RS-Viren (7,1 % bis 16,4 %), humane Metapneumoviren (2,7 % bis 10,6 %) und Adenoviren (6,0 % bis 8,3 %).

1.2. Die Pandemiejahre 2020 bis 2023

Mit Beginn der COVID-19-Pandemie wurde die Untersuchungen auf SARS-CoV-2, saisonale Coronaviren und Parainfluenzaviren ausgeweitet. Atemwegsviren wie Rhinoviren (24,1 % bis 55,8 %), Parainfluenzaviren (7,7 % bis 16,9 %), RS-Viren (5,2 % bis 15,7 %) oder humane Metapneumoviren (0,4 % bis 10,4 %) wurden in den drei Wintern bis zum Frühjahr 2023 weiterhin häufig in den Praxen entdeckt. Influenzaviren waren in den ersten beiden Jahren mit 0,3 % bis 7,5 % deutlich seltener und erreichten in der Saison 2022/2023 mit insgesamt 36,0 % wieder annähernd die Häufigkeit der präpandemischen Jahre. SARS-CoV-2 war nur in der Saison 2021/2022 mit 22,1 % das am häufigsten nachgewiesene Virus. In der Saison 2020/2021 waren saisonale Coronaviren mit 17,2 % und Parainfluenzaviren mit 16,9 % häufiger als SARS-CoV-2 mit 11,0 %. In der Saison 2022/2023 wurden Influenza-A-Viren mit 27,8 % und RS-Viren mit 12,8 % häufiger in den Proben gefunden als SARS-CoV-2 mit 11,4 %. In den ausgewählten Arztpraxen war somit in keinem Pandemiejahr eine herausragende Dominanz von SARS-CoV-2 bei Patienten mit akuten Atemwegsinfektionen festzustellen (Abbildung 1). Die anderen respiratorischen Viren behielten ihre klinische Relevanz trotz erheblicher Schwankungen in der Häufigkeit.

Abbildung 1: Relative Häufigkeit von Atemwegsviren in Deutschland, die in positiven Proben von Patienten mit akuten Atemwegsinfektionen in ausgewählten Arztpraxen nachgewiesen wurden; Quellen: ARE-Wochenberichte der KW 39 eines Jahres mit den Daten seit der KW 40 des Vorjahres.

1.3. Schwere Grippewellen gab es immer

Schwere Grippewellen sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Sie führten manchmal für kurze Zeit zu lokalen Engpässen der Krankenversorgung, so dass einzelne Patienten in umliegende Krankenhäuser verlegt werden mussten. Aber noch nie hat eine schwere Grippewelle dazu geführt, dass es Lockdowns gab, dass Heimbewohner monatelang keinen Besuch von ihren Angehörigen bekommen durften oder gar allein sterben mussten, dass in Bussen FFP2-Masken getragen werden mussten, dass Schwangere nach der Geburt von ihrem Neugeborenen isoliert wurden, dass es nächtliche Ausgangssperren gab, dass Schulen und Universitäten geschlossen wurden, dass ein ganzes Hochhaus wie in Göttingen für sieben Tage mit einem Bauzaun abgeriegelt wurde oder dass bei privaten Zusammenkünften staatlich vorgeschrieben wurde, wie viele Personen aus wie vielen Haushalten sich treffen durften. Insbesondere der Umgang mit Leidenden und Sterbenden war im Jahr 2020 ein Tabubruch. Die israelische Soziologin Eva Illouz sagte dazu [1]:

„Wir erleben einen anthropologischen Bruch im Umgang mit Leid, Sterben und Tod. Mich treibt um, wie leicht wir die Anordnungen hinnehmen, dass wir die Leidenden und Sterbenden allein lassen sollen. Schlagartig haben wir ihnen den Trost, die Begleitung und Beistand ihrer Nächsten entzogen. Bis dahin, dass die Toten in Isolation bestattet werden. [...] Das bedeutet eine Zäsur, wie auch die Tatsache, dass wir dieses Geschehen einfach hinnehmen. Mir scheint, dass unsere Gesellschaften ein bleibendes Trauma erleben.“

Diese beispiellosen Eingreife des Staates in die Grundrechte sind historisch einmalig. Deshalb seien hier noch einmal einige Beispiele für schwere Grippewellen angeführt, um deutlich zu machen, dass es sie immer wieder gegeben hat.

1.3.1. Italien im Jahr 2000

Im Winter 2019/20 wurde Italien von einer schweren Grippewelle heimgesucht. Die Krankenhäuser in Mailand, Florenz und Venedig waren überfüllt. In vielen Krankenhäusern lagen die Patienten auf Pritschen in den Gängen. In Mailand war es stundenlang nicht möglich, einen Krankenwagen zu rufen, da die Patienten, die nicht ins Krankenhaus aufgenommen werden konnten, die Einsätze blockierten. Die Zahl der Kranken wurde damals für Italien auf 8 Millionen geschätzt [2].

1.3.2. Deutschland im Jahr 2015

Im Winter 2015 hat die Grippewelle in Deutschland die Kliniken stark belastet. Die Notaufnahmen in Bayern seien damals komplett voll gewesen, sagte der Sprecher der Landeskrankenhausgesellschaft, Eduard Fuchshuber. „So extrem wie dieses Jahr habe ich es noch nicht miterlebt.“ In Offenbach waren wegen Überfüllung für eine Weile keine Aufnahmen in die internistische Abteilung möglich [3].

1.3.3. Deutschland im Jahr 2017

Im Februar 2017 wurden in Deutschland während der starken Grippewelle einige Notaufnahmen wegen Überlastung vorübergehend geschlossen. Verschärft wurde der Engpass dadurch, dass ein Teil der Pflegekräfte wegen Grippe ausfiel. Der Sprecher der integrierten Rettungsleitstelle in Nürnberg sagte: „Es ist extrem schwierig im Moment. Uns ist keine vergleichbare Situation in dem Ausmaß aus den vergangenen Jahren bekannt“ [4].

1.3.4. Mallorca im Jahr 2019

Im Winter 2019 kam es auf Mallorca zu einer starken Grippewelle, so dass die Notaufnahme eines Krankenhauses in Palma de Mallorca völlig überlastet war. Zeitweise warteten 114 Menschen gleichzeitig auf eine Behandlung, in Einzelfällen mussten Patienten bis zu 24 Stunden in Sesseln auf ein Krankenhausbett warten. Eine Grippewelle bringt die Krankenhäuser auf Mallorca regelmäßig an ihre Grenzen [5].