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John Dickie erzählt in seinem internationalen Bestseller die spannende Geschichte der Mafia von ihren Anfängen in den Olivenhainen Siziliens, über ihre Erfolgsgeschichte in den USA bis hin zu ihrem Ausbau zur global operierenden Holding. Von den Regeln, die die Organisation der "Ehrenmänner" im Innersten zusammenhalten, von ihren Initiationsriten, ihren Strategien und Kooperationspartnern in Staat, Gesellschaft und Kirche. Wenn Sie glauben, alles über die Mafia zu wissen, irren Sie sich! Erweitert und aktualisiert: mit einem Extra-Kapitel zur Festnahme von Bernardo Provenzano im Jahr 2006. "´Cosa Nostra´ liest sich wie ein Roman. Ich weiß nicht, was ich am meisten loben soll: Dickies Sorgfalt, Genauigkeit und seinen Scharfsinn als Historiker oder seine Lebhaftigkeit, seinen Schwung und seine Gewandtheit als Erzähler." Andrea Camilleri
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Seitenzahl: 777
John Dickie
Die Geschichte der Mafia
John Dickie erzählt in seinem internationalen Bestseller die spannende Geschichte der Mafia von ihren Anfängen in den Olivenhainen Siziliens, über ihre Erfolgsgeschichte in den USA bis hin zu ihrem Ausbau zur global operierenden Holding. Von den Regeln, die die Organisation der "Ehrenmänner" im Innersten zusammenhalten, von ihren Initiationsriten, ihren Strategien und Kooperationspartnern in Staat, Gesellschaft und Kirche. Wenn Sie glauben, alles über die Mafia zu wissen, irren Sie sich!
Erweitert und aktualisiert: mit einem Extra-Kapitel zur Festnahme von Bernardo Provenzano im Jahr 2006.
„´Cosa Nostra´ liest sich wie ein Roman. Ich weiß nicht, was ich am meisten loben soll: Dickies Sorgfalt, Genauigkeit und seinen Scharfsinn als Historiker oder seine Lebhaftigkeit, seinen Schwung und seine Gewandtheit als Erzähler.“
Andrea Camilleri
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
John Dickie ist Historiker und Journalist. Er lehrt Romanistik am University College in London und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Kultur Italiens verfasst. Sein Buch ›Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia‹ war ein internationaler Bestseller. 2005 wurde er vom Staatspräsidenten der italienischen Republik zum »Commendatore dell´Ordine della Stella della Solidarietà Italiana« ernannt.
[Karten]
Vorbemerkung
Prolog
Einleitung
Ehrenmänner
Die Entstehung der Mafia: 1860–1878
Die beiden Farben Siziliens
Dr. Galati und der Zitronengarten
Initiation
Baron Turrisi Colonna und die »Sekte«
Die Gewaltindustrie
»Die so genannte Mafia«: Wie die Organisation zu ihrem Namen kam
Die Mafia hält Einzug in das italienische System: 1876–1890
»Ein Instrument der Kommunalverwaltung«
Die Favara-Bruderschaft: Mafia im Land des Schwefels
Die Primitiven
Korruption an höchsten Stellen: 1890–1904
Eine neue Politikergattung
Der Sangiorgi-Bericht
Der Notarbartolo-Mord
Sozialismus, Faschismus, Mafia: 1893–1943
Corleone
Ein Mann mit Haaren auf dem Herzen
Die Mafia setzt sich in Amerika fest: 1900–1941
Joe Petrosino
Das Amerika des Cola Gentile
Krieg und Wiedergeburt: 1943–1950
Don Calò und die Wiedergeburt der ehrenwerten Gesellschaft
Die Familie Greco
Der letzte Bandit
Gott, Beton, Heroin und Cosa Nostra: 1950–1963
Die jungen Jahre des Tommaso Buscetta
Die Plünderung Palermos
Die Ferien des Joe Bananas
Der »erste« Mafiakrieg und seine Folgen: 1962–1969
Die Bombe von Ciaculli
Wie im Chicago der zwanziger Jahre? Der erste Mafiakrieg
Die Antimafia
»Ein Phänomen der kollektiven Kriminalität«
Die Anfänge des zweiten Mafiakrieges: 1970–1982
Der Aufstieg der Corleoneser: 1. Luciano Leggio (1943–1970)
Die spirituelle Krise des Leonardo Vitale
Tod eines »linken Fanatikers«: Peppino Impastato
Heroin: die Pizza-Connection
Bankiers, Freimaurer, Steuereintreiber, Mafiosi
Der Aufstieg der Corleoneser: 2. Auf dem Weg zur Mattanza (1970–1983)
Terra Infidelium: 1983–1992
Die tugendhafte Minderheit
Berühmte Leichen
Zusehen beim Stierkampf
Der Mammutprozess und seine Folgen
Bomben und Untergrund: 1992–2006
Die Villa des Totò Riina
Capaci und die Folgen
»Onkel Giulio«
Der Traktor tritt auf
Der Hausverwalter und das Werbegenie
Ricottakäse und Gespenster: eine Chronik der Cosa Nostra seit dem Sommer 2003
Kurzes Glossar
Danksagung
Bildnachweis
Literatur
Aussagen von pentiti
Archivmaterial
Zeitungen und Zeitschriften
Gespräche mit Anti-Mafia-Untersuchungsrichtern
Prolog/Einleitung/Ehrenmänner
Die Entstehung der Mafia: 1860–1878
Die Mafia hält Einzug in das italienische System: 1876 bis 1890
Korruption an höchsten Stellen: 1890–1904
Sozialismus, Faschismus, Mafia: 1893–1943
Die Mafia setzt sich in Amerika fest: 1900–1941
Krieg und Wiedergeburt: 1943–1950
Gott, Beton, Heroin, und Cosa Nostra: 1950–1963
Der »erste« Mafiakrieg und seine Folgen: 1962–1969
Die Anfänge des zweiten Mafiakrieges: 1970–1982
Terra Infidelium: 1983–1992
Bomben und Untergrund: 1992–2006
Zitierte Quellen
Die Entstehung der Mafia: 1860–1876
Die Mafia hält Einzug in das italienische System: 1876–1890
Korruption an höchsten Stellen: 1890–1904
Sozialismus, Faschismus, Mafia: 1893–1943
Die Mafia setzt sich in Amerika fest: 1900–1941
Krieg und Wiedergeburt: 1943–1950
Gott, Beton, Heroin, und Cosa Nostra: 1950–1963
Der »erste« Mafiakrieg und seine Folgen: 1962–1969
Die Anfänge des zweiten Mafiakrieges: 1970–1982
Terra Infidelium: 1983–1992
Bomben und Untergrund: 1992–2003
Register
[Bildteil]
Wie sehr schnell deutlich werden wird, enthält dieses Buch zwangsläufig schwere Vorwürfe gegen bestimmte Personen. Des halb sollte jeder Leser einige wichtige Punkte im Kopf behalten.
Mafiafamilien und Familien von Blutsverwandten sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn hier erwähnt wird, dass Mit glieder einer biologischen Familie in die Mafia aufgenommen wurden, ist damit in keiner Weise gesagt, dass auch ihre Bluts- oder angeheirateten Verwandten Verbindungen zur Mafia hätten, im Interesse der Organisation tätig wären oder auch nur über die Zugehörigkeit ihrer Angehörigen zur Mafia Bescheid wüssten. Im Gegenteil: Seit die Cosa Nostra eine Geheimorganisation ist, hat sie es sich zur Regel gemacht, dass ihre Mitglieder selbst nächsten Angehörigen nichts über ihre Angelegenheiten erzählen dürfen. Und erst recht sollte man nicht unterstellen, dass die Nachkommen verstorbener Personen, gegen die in diesem Buch der Vorwurf der Komplizenschaft mit der Mafia erhoben wird, auch selbst in irgendeiner Form Komplizen wären.
Die sizilianische und die amerikanische Mafia haben während ihrer gesamten Geschichte stets Beziehungen zu einzelnen Geschäftsleuten, Politikern und Mitgliedern von Gewerkschaften und anderen Institutionen gepflegt. Ebenso bauten beide Organisationen auch Beziehungen zu Unternehmen, Gewerkschaften, politischen Parteien oder Gruppen innerhalb der Parteien auf. Die verfügbaren historischen Belege weisen nachdrücklich darauf hin, dass die Vielgestaltigkeit dieser Beziehungen eines ihrer wichtigsten Merkmale war. Werden beispielsweise Schutzgelder an die Mafia gezahlt, sind die betroffenen Organisationen und Personen unter Umständen völlig unschuldige Erpressungsopfer, ebenso können sie aber auch bereitwillige Helfer des organisierten Verbrechens sein. Bemerkungen zu solchen Organisationen und Personen in diesem Buch verfolgen keinesfalls den Zweck, in dieser Hinsicht im Einzelfall eine Vorverurteilung nahe zu legen. Ebenso sollte man nicht davon ausgehen, dass Organisationen oder Einzelpersonen, die früher in irgendeiner Beziehung zur Mafia standen, dies auch heute noch tun. Außerdem sollte man aus den Beschreibungen in diesem Buch keine Rückschlüsse über Organisationen oder Personen ziehen, die rein zufällig die gleichen Namen tragen wie jene, die hier erwähnt werden.
Wie viele andere Untersuchungen über die Mafia, so legt auch dieses Buch ein weit gefasstes historisches Prinzip offen: Angehörige der Mafia entgingen einer Verurteilung viel häufiger, als man eigentlich annehmen sollte. Innerhalb dieses großen Rahmens haben die einzelnen Fälle sehr unterschiedliche Merk male; sie sind keineswegs ein Anlass, allen Angehörigen der Ordnungskräfte oder der Justiz sowie Zeugen oder Richtern Fehlverhalten oder Unfähigkeit zu unterstellen. Rückschlüsse auf Fehlverhalten oder Unfähigkeit sollte man nur dann ziehen, wenn hier ausdrücklich darauf hingewiesen wird.
In der Geschichte wurde vielfach versucht, die Existenz der Mafia zu leugnen oder ihren Einfluss herunterzuspielen. Viele, die solche Ansichten vertraten, sprachen und handelten in gutem Glauben. Ebenso wurden vielfach ehrliche, plausible und in manchen Fällen völlig gerechtfertigte Zweifel an der Zuverlässigkeit einzelner oder aller pentiti (Mafia-Abtrünniger) geäußert. Sofern auf den folgenden Seiten nicht ausdrücklich etwas anderes gesagt wird, sollte man keine Rückschlüsse auf die Komplizenschaft einer Person zur Mafia ziehen, nur weil diese Person den Berichten zufolge die Existenz der Mafia leugnete oder herunterspielte oder Zweifel der zuvor beschriebenen Art an den pentiti geäußert hat.
Wenn auf den folgenden Seiten über Treffen der Mafia in Hotels, Restaurants, Läden und an anderen öffentlichen Orten berichtet wird, sollte niemand daraus den Schluss ziehen, dass Eigentümer, Management oder Personal der genannten Einrichtungen in irgend einer Form Komplizen der Mafia waren, dass sie über die Art der Zusammenkünfte, die kriminelle Vergangenheit der Teilnehmer und die kriminelle Natur der dort ausgehandelten Geschäfte Bescheid wussten.
Aus praktischen Gründen war es nicht möglich, alle noch lebenden Personen zu befragen, deren Worte hier anhand von Büchern, Zeitungsinterviews und anderen schriftlichen Quellen wiedergegeben werden. Der Autor ist in allen Fällen davon ausgegangen, dass die Formulierungen in solchen Büchern und Zeitungen sorgfältig und in bestem Wissen aufgezeichnet wurden.
Zwei Geschichten, zwei Tage im Mai, dazwischen die historischen Entwicklungen eines ganzen Jahrhunderts. Beide Geschichten – die eine ein melodramatisches Märchen, die andere tragische Realität – liefern wichtige Erkenntnisse über die sizilianische Mafia, und sie machen ungefähr deutlich, warum man jetzt endlich eine Geschichte der Organisation schreiben kann.
Die erste Geschichte wurde der Welt am 17. Mai 1890 im Teatro Costanzi in Rom vorgeführt. Nach einer vielfach geäußerten Ansicht war es die erfolgreichste Opernpremiere aller Zeiten. Cavalleria rusticana (die »Bäuerliche Ritterlichkeit«) von Pietro Mascagni stellte klangvolle Melodien in den Dienst einer einfachen Geschichte von Eifersucht, Ehre und Rache, und angesiedelt war sie unter den Bauern Siziliens. Das Werk wurde begeistert aufgenommen. Es gab dreißig Vorhänge; die italienische Königin war zugegen und soll den ganzen Abend über applaudiert haben. Die Cavalleria wurde schnell zu einem internationalen Hit. Wenige Monate nach jenem Abend in Rom schrieb Mascagni an einen Freund, er sei mit 26 Jahren durch seinen Einakter bis an sein Lebensende reich geworden.
Zumindest das eine oder andere Musikstück aus Cavalleria rusticana kennt wohl jeder, und jeder weiß, dass die Oper mit Sizilien zu tun hat. Das Intermezzo erklingt zu der berühmten Zeitlupen-Titelszene von Raging Bull, in dem Martin Scorcese mit italoamerikanischem Machogehabe, Stolz und Eifersucht abrechnet. Die Opernmusik zieht sich auch durch Der Pate Teil III von Francis Ford Coppola. In der entscheidenden Szene ersticht ein als Priester verkleideter Mafiakiller sein Opfer in dem üppig ausgestatteten Teatro Massimo in Palermo, während auf der Bühne Cavalleria rusticana gespielt wird. Die tragende Tenorrolle des Turiddu singt der Sohn von Don Michael Corleone. Am Ende des Films erklingt noch einmal das Intermezzo als Begleitung zum einsamen Tod des gealterten Don, gespielt von Al Pacino.
Etwas anderes ist im Zusammenhang mit der Cavalleria weniger bekannt: Die Handlung ist ein Mythos über Sizilien und die Mafia in reinster, so weit wie irgend möglich harmloser Form, und dieser Mythos ähnelte ein wenig der offiziellen Ideologie, deren sich die sizilianische Mafia eineinhalb Jahrhunderte lang bediente. Danach war die Mafia keine Organisation, sondern ein kompromissloser Sinn für Stolz und Ehre, der angeblich tief im Charakter jedes Sizilianers verwurzelt war. Das Bild von der »bäuerlichen Ritterlichkeit« stand in diametralem Gegensatz zu der Idee, die Mafia könne auch nur im Hinblick auf ihre Vergangenheit diesen Namen verdienen. Auch heute kann man die Geschichte der Mafia nicht erzählen, ohne sich mit diesem Mythos auseinander zu setzen.
Die zweite Geschichte führt uns auf einen Berg oberhalb der Straße, die in Palermo von der Stadt zum Flughafen führt. Wir schreiben den 23. Mai 1992, es ist fast 18 Uhr, und Giovanni Brusca, ein stämmiger, bärtiger junger Ehrenmann, beobachtet ein Stück der Schnellstraße kurz vor dem Abzweig zu der Kleinstadt Capaci. Zuvor haben seine Leute mit Hilfe eines Skateboards dreizehn kleine Fässer mit fast 400 Kilo Sprengstoff in ein Kanalisationsrohr gesteckt.
Wenige Meter hinter Brusca steht ein anderer Mafioso. Er raucht und telefoniert mit seinem Handy. Plötzlich bricht er das Gespräch ab, beugt sich nach vorn und mustert die Straße durch ein Fernrohr, das auf einem Baumstumpf steht. Als er einen Konvoi aus drei Fahrzeugen näher kommen sieht, zischt er: »Vai!« (»Los!«), nichts geschieht. »Vai!«, drängt er noch einmal.
Brusca hat bemerkt, dass der Konvoi unerwartet langsam fährt. Er wartet noch ein paar scheinbar unendliche Sekunden und lässt die Wagen sogar an einem alten Kühlschrank vorüberfahren, den er als Markierung an den Straßenrand gestellt hat. Erst als er von hinten ein drittes, fast panisches »Vai!« hört, drückt er auf den Knopf.
Die Detonationen lassen ein tiefes, donnerndes Rollen entstehen. Eine gewaltige Explosion zerreißt den Asphalt, wirbelt den ersten Wagen durch die Luft. Er landet sechzig oder siebzig Meter entfernt in einem Olivenhain. Aus dem zweiten Auto, einem kugelsicheren Fiat Croma, wird der Motor herausgerissen, und die zerschmetterten Reste des Wagens stürzen in den tiefen Explosionskrater. Der dritte ist beschädigt, aber noch intakt.
Die Opfer des Anschlags waren der führende Anti-Mafia-Ermittler und Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und seine Frau (in dem weißen Croma) sowie drei Leibwächter (in dem vorausfahrenden Fahrzeug). Mit dem Mord an Falcone hatte die sizilianische Mafia sich ihres gefährlichsten Feindes entledigt, der zum Symbol für den Kampf gegen die Organisation geworden war.
Die Bombe von Capaci ließ ganz Italien stillstehen. Die meisten Menschen im Land wissen noch heute, wo sie gerade waren, als sie davon erfuhren, und danach erklärten mehrere Prominente, sie schämten sich dafür, Italiener zu sein. Für manche war die Tragödie von Capaci ein überragender Beweis für Arroganz und Macht der Mafia. Aber der Anschlag kennzeichnete auch die endgültige Abkehr von dem Mythos aus Cavalleria rusticana: Die offizielle Ideologie der Mafia hatte offiziell ihren Bankrott erklärt. Dass die erste glaubwürdige Geschichte der Mafia in italienischer Sprache erst nach Capaci verfasst wurde, ist kein Zufall.
Die liebenswürdige kleine Liebes-Dreiecksgeschichte von Cavalleria rusticana erreicht ihren Höhepunkt auf dem Marktplatz einer sizilianischen Kleinstadt, wo der raubeinige Kutscher Alfio es ablehnt, sich von dem jungen Soldaten Turiddu zum Trinken einladen zu lassen. Die beiden tauschen keinerlei offene Vorwürfe aus, aber beide wissen, dass die kleine Kränkung tödliche Folgen haben wird: Alfio hat erfahren, dass Turiddu ehrenrührige Absichten auf seine Frau verfolgt. Ihr kurzer Wortwechsel verkörpert in gedrängter Form ein ganzes primitives Wertesystem. Beide erkennen, dass ihre Ehre verletzt wurde, dass die Blutrache gerechtfertigt ist und dass der Konflikt nur durch ein Duell bereinigt werden kann. Wie es die Sitte vorschreibt, umarmen sich die beiden, und als Zeichen, dass er die Herausforderung annimmt, schnappt Turiddu mit den Zähnen nach Alfios rechtem Ohr. Turiddu sagt unter Tränen und Küssen seiner Mutter Lebewohl und verlässt die Bühne, um sich mit Alfio in einem nahe gelegenen Obstgarten zu treffen. Dann hört man aus der Ferne den Schrei einer Frau: »Turiddu ist tot!« Während die Bauern entsetzt aufheulen, fällt der Vorhang.
Mascagni stammte aus der Toskana. Als er Cavalleria rusticana vertonte, war er noch nie in Sizilien gewesen. Bei den Proben änderte der Tenor den Text der Eröffnungsarie: Beide Librettisten kamen aus Mascagnis Heimatstadt und hatten ihr keinen ausreichend sizilianischen Ton verliehen. Aber das spielte kaum eine Rolle. Sizilien – oder zumindest ein bestimmtes Bild davon – war 1890 ganz groß in Mode. Das Publikum im Teatro Costanzi erwartete – und bekam – die pittoreske Insel geboten, die es aus den illustrierten Magazinen kannte: ein exotisches Land voller Sonne und Leidenschaft, bewohnt von mürrischen, dunkelhäutigen Menschen.
In Wirklichkeit war die Mafia 1890 bereits eine mörderische, hoch entwickelte kriminelle Vereinigung mit engen politischen Verflechtungen und internationaler Reichweite. In der sizilianischen Hauptstadt Palermo beteiligten sich Kommunalpolitiker an Banken- und Aktienbetrug, und sie unterschlugen Mittel, die man der Stadtverwaltung für Sanierungsmaßnahmen zugewiesen hatte. Unter ihnen waren etliche Mafiosi. Allgemein hatte man aber von der Mafia ein ganz anderes Bild. Mascagnis Publikum hielt Turiddu und insbesondere den Kutscher Alfio bei allem ländlichen Pathos der Handlung nicht nur für typische Sizilianer, sondern auch für typische Mafiosi. Das Wort »Mafia« bezeichnete nach der allgemeinen Vorstellung nicht nur eine Organisation, sondern auch eine Mischung aus gewalttätiger Leidenschaft und einem »arabischen« Stolz, der angeblich über das Verhalten der Sizilianer bestimmte. »Mafia« galt vielfach als primitiver Begriff von Ehre, als rudimentärer Kodex der Ritterlichkeit, an den sich die rückständigen Bewohner in den ländlichen Gebieten Siziliens hielten.
Und das war auch nicht nur ein Missverständnis, das die hochnäsigen Norditaliener verbreiteten. Sieben Jahre nach dem atemberaubenden Erfolg von Mascagnis Oper schrieb der altkluge sizilianische Soziologe Alfredo Niceforo das Buch L’Italia barbara contemporanea (»Das barbarische zeitgenössische Italien«), eine Untersuchung der »rückständigen Rassen« Italiens. Dabei versah er manche Cavalleria-artigen Gemeinplätze über die sizilianische Mentalität mit einem abwertenden Beigeschmack: »Der Sizilianer … hat ewig die Rebellion und die grenzenlose Leidenschaft seines eigenen Ich im Blut – er ist, kurz gesagt, ein Mafioso.« Niceforo, Cavalleria rusticana und große Teile der italienischen Kultur jener Zeit brachten Sizilianer und Mafia systematisch durcheinander. Den gleichen Fehler machten auch später Generationen von Beobachtern aus Sizilien, dem übrigen Italien und anderen Ländern: Sie verwischten alle klaren Grenzen zwischen der Mafia und der »urtümlichen Mentalität des sizilianischen Unterbewusstseins«, wie ein englischer Reiseschriftsteller es in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte.
Allzu lange wurde die sizilianische Kultur mit der mafiosità verwechselt, und diese Begriffsverwirrung war im Interesse des organisierten Verbrechens. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass es für die Verbrecherorganisation namens Mafia von großem Nutzen war, wenn allgemein die Auffassung herrschte, es gebe sie gar nicht. Immer wieder hieß es: »Eine geheime kriminelle Organisation gibt es nicht; diese Verschwörungstheorie haben sich Leute ausgedacht, die nicht verstehen, wie Sizilianer denken.« Unzählige Autoren haben die immer gleiche falsche Argumentation aufgewärmt: Nach Jahrhunderten der Invasionen seien die Sizilianer gegenüber allen Fremden misstrauisch, und deshalb regelten sie Konflikte lieber untereinander, statt Polizei oder Gerichte einzuschalten.
Wegen der verwischten Grenzen zwischen Mafia und Sizilianern kann es auch so aussehen, als sei es nutzlos, juristisch gegen die Verbrecher vorzugehen. Wenn die angeblich so primitive sizilianische Mentalität an allem schuld war, wie konnte man dann die Mafia verfolgen? Sollte man die gesamte Inselbevölkerung einsperren? »Tutti colpevole, nessuno colpevole«, wie man in Italien sagt: Wenn jeder schuldig ist, ist niemand schuldig.
Eineinhalb Jahrhunderte lang gelang es der Mafia sehr gut, mit diesem System aus falschen Vorstellungen hausieren zu gehen. Am heimtückischsten war, dass sie einfach Verwirrung und Zweifel hervorrief. Deshalb blieb die Existenz der Mafia immer nur ein Verdacht, eine Theorie, eine Ansichtssache – und das bis vor erstaunlich kurzer Zeit. Entsprechend witzlos erschien die Idee, eine Geschichte der »Mafiamentalität« zu schreiben – es war, als wolle man die Vergangenheit des französischen Flairs oder der britischen Verschrobenheit beleuchten.
Wenn der Mythos von der bäuerlichen Ritterlichkeit heute endgültig zerstört ist, haben wir das Falcone und seinen Kollegen zu verdanken. Die Vorgeschichte zur Bombe von Capaci begann bereits Anfang der achtziger Jahre: Damals wurden in weniger als zwei Jahren etwa tausend Menschen ermordet – Ehrenmänner, ihre Angehörigen und Freunde, Polizisten, aber auch Unbeteiligte. Sie wurden auf offener Straße erschossen oder an geheime Orte gebracht und dann erdrosselt; die Leichen wurden in Säure aufgelöst, in Beton eingegossen, im Meer versenkt oder zerstückelt und an Schweine verfüttert. Es war der blutigste Mafiakonflikt aller Zeiten, aber es war kein Krieg, sondern eine Serie von Hinrichtungen. Bei den Tätern handelte es sich um ein Bündnis von Verbrechern, die sich um die Führung der Mafia von Corleone gruppierten. Sie ließ ihre Feinde von geheimen Todesschwadronen jagen und verschaffte sich so eine diktatorische Macht über die Mafia in ganz Sizilien.
Unter den Opfern waren zwei Söhne, ein Bruder, ein Neffe, ein Schwager und ein Schwiegersohn des Ehrenmannes Tommaso Buscetta, der über besonders gute Beziehungen verfügte. Wegen seiner Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks tauften die Zeitungen ihn auf den Namen »Boss von zwei Welten«. Aber als die Leute aus Corleone mit ihrem Großangriff begannen, war er in keiner der beiden Welten mehr sicher. Buscetta wurde in Brasilien festgenommen. Als man ihn nach Italien auslieferte, versuchte er mit dem Strychnin, das er immer bei sich trug, Selbstmord zu begehen. Er überlebte, allerdings nur knapp. Nach seiner Genesung entschloss sich Buscetta, auszupacken: Er wollte alles sagen, was er über die Geheimgesellschaft wusste, in die er mit siebzehn Jahren aufgenommen worden war. Aber sprechen wollte er ausschließlich mit Giovanni Falcone, und nur mit ihm allein.
Falcone war der aufgeweckte Sohn einer Mittelschichtfamilie aus la Kalsa, damals ein heruntergekommenes Viertel in der Innenstadt von Palermo. Er sagte einmal, er habe schon als kleiner Junge den Duft der Mafia eingesogen. Im örtlichen katholischen Jugendclub spielte er Tischtennis mit Tommaso Spadaro, der später zu einem berüchtigten Mafioso und Drogenhändler wurde. Falcones Angehörige schirmten ihn vor solchen Einflüssen ab und erzogen ihn im Sinne von Pflichterfüllung, Kirche und Patriotismus.
Seine Berufslaufbahn begann Falcone als Untersuchungsrichter am Insolvenzgericht. Dort entwickelte er die Fähigkeit, zweifelhafte Finanzaufzeichnungen zielsicher aufzuspüren. Diese Begabung wurde zum ersten Bestandteil dessen, was man später als »Falcone-Methode« der Mafiaermittlungen bezeichnete. Auf einen großen Fall von Heroinschmuggel wurde sie erstmals 1980 angewandt, nachdem man Falcone an das Kriminaluntersuchungsgericht von Palermo versetzt hatte. Dort sorgte er 1982 in dem Heroinfall für 72 Verurteilungen – ein ungeheurer Erfolg auf einer Insel, wo zuvor zahllose andere Verfahren an der Einschüchterung von Zeugen, Richtern und Geschworenen gescheitert waren.
Durch Buscetta erhielt Falcone erstmals Einblick in das Innenleben der sizilianischen Mafia. »Er war für uns so etwas wie ein Sprachlehrer, mit dem man in die Türkei fahren kann, ohne dass man sich mit Händen und Füßen verständigen muss«, sagte Falcone einmal. In vielstündigen Gesprächen mit Buscetta erwarben Falcone und seine Mitarbeiter umfassende Kenntnisse über die Organisation. Geduldig verschafften sie sich einen Überblick über die Verbindungen zwischen Gesichtern, Namen und Verbrechen. Sie zeichneten ein völlig neues Bild von Befehlsstrukturen, Methoden und Geisteshaltung.
Heute kann man sich kaum noch vorstellen, was man alles über die Mafia nicht wusste, bevor Tommaso Buscetta und Falcone sich zusammensetzten. Die erste Erkenntnis betraf den Namen, den die Mitglieder selbst ihrer Organisation gegeben hatten: Cosa Nostra – »Unsere Sache«. Zuvor hatten selbst die wenigen Untersuchungsrichter und Polizisten, die diesen Namen ernst genommen hatten, ihn nur auf den amerikanischen Ableger angewandt.
Buscetta klärte Falcone auch über die pyramidenförmige Kommandostruktur der Cosa Nostra auf. Gruppen von jeweils ungefähr zehn Soldaten der untersten Ebene werden von einem capodecina (Führer von zehn) beaufsichtigt. Jeder capodecina untersteht seinerseits dem gewählten Chef einer lokalen Bande oder »Familie«, dem ein Stellvertreter und ein oder mehrere consiglieri (Berater) zugeordnet sind. Drei Familien mit aneinander grenzenden Revieren bilden ein mandamento (Distrikt). Der Chef des mandamento gehört der Kommission an, dem Parlament oder Vorstand der Cosa Nostra für die Provinz Palermo. Oberhalb dieser Provinzebene gibt es theoretisch noch eine regionale Körperschaft mit den Mafiabossen aus ganz Sizilien. Aber in der Praxis spielt Palermo für die sizilianische Mafia die beherrschende Rolle: In der Stadt und Provinz haben fast die Hälfte der fast hundert Familien Siziliens ihre Reviere, und der Boss der Kommission von Palermo hat auch in der gesamten sizilianischen Mafia die Führungsposition.
Zur Zeit von Buscettas Enthüllungen gehörten etwa 5000 Ehrenmänner einer einzigen kriminellen Vereinigung an. Wichtige Morde – an Polizisten, Politikern oder Mafiosi – mussten genehmigt werden und wurden auf höchster Ebene geplant, damit sie in die Gesamtstrategie der Organisation passten. Um Stabilität zu schaffen, erließ die Kommission auch Richtlinien für Konflikte zwischen den Familien und mandamenti, die ihr unterstanden. Die Ermittler waren erstaunt über ein derart großes Ausmaß an innerer Disziplin.
Der »Boss der zwei Welten« besaß auch intime Kenntnisse über die amerikanische Cosa Nostra. Von ihm erfuhr Falcone, dass die amerikanische Mafia ganz ähnlich aufgebaut war wie die sizilianische, aus der sie hervorgegangen war. Es waren aber getrennte Organisationen; wer der Mafia in Sizilien angehörte, war nicht automatisch auch Mitglied des amerikanischen Ablegers. Die engen Verbindungen zwischen beiden waren nicht organisatorischer Natur, sondern beruhten auf Verwandtschafts- und Geschäftsbeziehungen.
Andere Ehrenmänner folgten Buscettas Beispiel und suchten bei den staatlichen Stellen Schutz vor den Corleonesi und ihren Todesschwadronen. Zusammen mit seinem engen Mitarbeiter Paolo Borsellino überprüfte Falcone peinlich genau ihre Aussagen, und am Ende hatte er 8607 Seiten an Beweisen gesammelt – die Anklageschrift für den berühmten »Mammutprozess«, der in Palermo in einem eigens errichteten, bombensicheren Gerichtsgebäude stattfand.
Am 16. Dezember 1987, nach 22 Verhandlungsmonaten, sprach der Richter 342 Mafiaangehörige schuldig und verurteilte sie zu insgesamt 2665Jahren Haft. Ebenso wichtig war, dass die »Buscetta-Theorie« über die Struktur der Cosa Nostra, wie Skeptiker sie genannt hatten, in einer strengen juristischen Prüfung bestätigt worden war.
Die endgültige juristische Absegnung der Buscetta-Theorie erfolgte dann im Januar 1992, als das Kassationsgericht, der oberste Gerichtshof Italiens, entgegen den Hoffnungen und Erwartungen der Cosa Nostra die ursprünglichen Urteile endgültig für rechtens erklärte. Es war für die sizilianische Mafia die schlimmste juristische Niederlage aller Zeiten. Die Corleonesi setzten ihre Todesschwadronen nun auf die Untersuchungsrichter an. Wenige Monate nach dem Urteil wurde Falcone ermordet. Noch nicht einmal zwei Monate nach seinem Tod ging noch einmal eine Welle von Fassungslosigkeit und Empörung durch Italien, als auch Paolo Borsellino und fünf seiner Leibwächter vor dem Haus seiner Mutter durch eine gewaltige Autobombe ums Leben kamen.
Der tragische Tod von Falcone und Borsellino hatte weit reichende Auswirkungen, und die sind bis heute spürbar. Zunächst einmal bekräftigten sie einfach nur, dass die Mafiabekämpfer einen folgenschweren Sieg errungen hatten: Dass es eine straff organisierte kriminelle Vereinigung namens Cosa Nostra gibt, ist heute nicht mehr nur eine Theorie.
Wenn die Cosa Nostra existiert, hat sie auch eine Geschichte. Und wenn sie eine Geschichte hat, so ein häufiger Ausspruch von Falcone, dann hat sie einen Ursprung, und sie wird auch ein Ende haben. Die Arbeiten von Falcone, Borsellino und ihren Kollegen sowie der Zerfall des Lügengeflechts rund um den Begriff der »bäuerlichen Ritterlichkeit« haben für Historiker die Voraussetzungen geschaffen, um die Geschichte der Mafia zuverlässiger und eingehender zu untersuchen als je zuvor. Als durch Buscettas Aussagen und den Mammutprozess die Wahrheit über die Cosa Nostra ans Licht kam, griffen einige Historiker – in ihrer Mehrzahl Sizilianer – erste Anhaltspunkte von den Untersuchungsbeamten auf: Sie sahen sich nun Aufzeichnungen, die man zuvor übersehen hatte, genauer an und brachten neue Indizien ans Licht. Allmählich eröffnete sich ein ganz neues Forschungsgebiet. Als das Kassationsgericht dann 1992 die Buscetta-Theorie bestätigte und damit den Anlass für die Morde an Falcone und Borsellino schuf, war das Verfassen einer Geschichte der Mafia plötzlich weit mehr als nur ein akademisches Ziel: Es wurde jetzt zu einer zwingenden Notwendigkeit, wenn man eine tödliche Bedrohung für die Gesellschaft verstehen wollte, und es sollte den verbliebenen Mafiaermittlern zeigen, dass sie in ihrem Kampf nicht allein standen.
Eine bahnbrechende erste Geschichte der sizilianischen Mafia erschien im folgenden Jahr in Italien. Sie wurde 1996 aktualisiert, und auch seither hat man weitere Entdeckungen gemacht. Der Drang, die Geschichte der Mafia zu erzählen, hat sich im Gefolge der Gräuel taten von 1992 parallel zu dem Bedürfnis nach ihrer Bekämpfung entwickelt. In Sizilien hat die Vergangenheit großes Gewicht.
Ebenso könnte es großes Gewicht haben, wenn die Geschichte der Mafia auch außerhalb Italiens bekannt wird. Falcones heldenhafte Auseinandersetzung mit der Cosa Nostra in den achtziger Jahren war zwar Gegenstand einiger ausgezeichneter Berichte in englischer Sprache, aber die völlig neue Sichtweise der Mafia, die sich durch Falcone eröffnete, ist bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Dieses Buch ist die erste historische Darstellung der sizilianischen Mafia von den Anfängen bis heute, die in einer anderen Sprache als Italienisch verfasst wird. Es beschreibt die neuesten Forschungsergebnisse und erzählt die Geschichte der Mafia so, wie die heutigen italienischen Spezialisten sie sehen. Aber es enthält auch einige völlig neue Befunde. In den letzten Jahren hat sich für die sizilianische Mafia eine umfassende historische Darstellung herauskristallisiert, wie sie noch vor wenigen Jahren als unmöglich galt. Ein Bild, das früher nur in den unscharfen Konturen der Soziologensprache gezeichnet wurde – mit »Mentalitäten«, »parastaatlichen Funktionen« oder »gewalttätigen Mittelsmännern« –, enthält heute echte Menschen, Orte, Daten und Verbrechen. Je klarer das Bild wird, desto beunruhigender werden die Folgerungen, die sich daraus ergaben: Eine Geheimgesellschaft, zu deren eigentlichem Daseinszweck das Morden gehört, ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein integraler Bestandteil des italienischen Lebens.
»Mafia« gehört – wie »Pizza«, »Spaghetti«, »Oper« oder »Desaster« – zur langen Liste der Wörter, die aus dem Italienischen in viele andere Sprachen auf der ganzen Welt übernommen wurden. Weit über Sizilien und die Vereinigten Staaten hinaus, wo die Mafia im engeren Sinn ihre Heimat hat, wird es ganz allgemein auf Verbrecher angewandt. Es wurde zum Oberbegriff für eine weltweite Vielfalt von Verbrecherbanden, die wenig oder gar nichts mit dem sizilianischen Vorbild zu tun haben – wir sprechen heute von der Chinesenmafia, der Russenmafia, der albanischen Mafia oder Türkenmafia.
Auch kriminelle Vereinigungen in anderen Regionen Süditaliens werden manchmal als »Mafia« bezeichnet: die Sacra Corona Unita in Apulien, die ’Ndrangheta in Kalabrien und die Camorra in Neapel und Umgebung. Jede dieser Vereinigungen hat ihre eigene faszinierende Geschichte – die Camorra ist sogar ein wenig älter als die Mafia –, aber sie sollen hier nur am Rande erwähnt werden, wenn sie für die Geschichte der sizilianischen Cosa Nostra eine Rolle spielen. Das hat einen einfachen Grund: Keine andere kriminelle Vereinigung in Italien ist auch nur annähernd so mächtig und gut organisiert wie die Mafia. Dass dieses sizilianische Wort am häufigsten verwendet wird, ist kein Zufall.
Das vorliegende Buch ist insofern unvollständig, als es nur die Geschichte der sizilianischen Mafia erzählt. Aber auch einige besonders berühmte amerikanische Mafiosi, beispielsweise Lucky Luciano und Al Capone, bevölkern die nachfolgenden Seiten: Jede Darstellung der sizilianischen Mafia muss zwangsläufig auch über die amerikanische Mafia berichten, die aus ihr hervorging. Die Vereinigten Staaten waren für das organisierte Verbrechen in den letzten zwei Jahrhunderten immer ein guter Nährboden, aber nur ein Teil der organisierten Verbrechen geht auf das Konto der Mafia. Deshalb wird die amerikanische Mafia hier unter dem richtigen, aufschlussreichen Blickwinkel dargestellt. Nur wenn man sie aus der Sicht einer kleinen Mittelmeerinsel beschreibt, erscheint die Geschichte der Mafia in den Vereinigten Staaten – zumindest was ihr Frühstadium angeht – sinnvoll.
Die sizilianische Mafia strebt nach Macht und Geld, und dazu pflegt sie die Kunst, Menschen umzubringen und ungestraft davonzukommen. Außerdem verbindet sie mit ihrer einzigartigen Organisation die Eigenschaften eines Staates im Staate mit denen eines illegalen Unternehmens und einer eingeschworenen Geheimgesellschaft nach Art der Freimaurer.
Ein Staat im Staate ist die Cosa Nostra, weil sie bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle bringen will. Jede Mafiafamilie (die während eines großen Teils ihrer Geschichte auf Italienisch als cosca bezeichnet wurde) übt mit dem Einverständnis der Gesamtorganisation eine Schattenherrschaft über die Bewohner ihres Gebietes aus. Schutzgelder haben für eine Mafiafamilie die gleiche Funktion wie die Steuern für eine legale Regierung. Der Unterschied besteht darin, dass die Mafia möglichst alle wirtschaftlichen Tätigkeiten »besteuern« will, die legalen ebenso wie die illegalen: das so genannte pizzo bezahlen Einzelhändler und Räuber gleichermaßen. Ein Mafioso beschützt am Ende unter Umständen sowohl den Inhaber eines Autohauses als auch die Bande von Autodieben, die ihn bestehlen. Damit wird die Mafia zu der einzigen Partei, die garantiert mit allen Schutzmaßnahmen Geld verdient. Und wie ein Staat maßt sie sich die Macht über Leben und Tod ihrer Untergebenen an. Aber die Mafia ist kein Schattenkabinett; sie lebt davon, dass sie den legalen Staat unterwandert und für ihre eigenen Zwecke nutzbar macht.
Ein Wirtschaftsunternehmen ist die Cosa Nostra, weil sie Profit erzielen will, wenn auch durch Einschüchterung. Aber ihre »Regierungsarbeit« bringt nur selten hohe Gewinnspannen. Die Schutzgeldeinnahmen fließen zum größten Teil in die Aufrechterhaltung der kriminellen Fähigkeiten: Sie kauft Anwälte, Richter, Polizeibeamte, Journalisten, Politiker und Gelegenheitsarbeitskräfte, außerdem werden Mafiaangehörige unterstützt, wenn sie Pech haben und im Gefängnis landen. Mit diesen Gemeinkosten wird eine »Marke« der Einschüchterung aufgebaut, wie die Mafiaforscher es nennen. Diese Marke lässt sich in allen möglichen Märkten einsetzen, beispielsweise bei Betrügereien im Bauwesen oder beim Tabakschmuggel. Allgemein gilt die Regel: je heimtückischer, gewalttätiger und gewinnträchtiger ein Markt ist – wie im offenkundigen Fall des Drogenschmuggels undhandels –, desto mehr nützt es den Mafiaangehörigen, wenn sie bei ihrem Markt eintritt auf ein weltbekanntes, völlig zuverlässiges Markenzeichen der blutrünstigen Einschüchterung zurückgreifen können.
Eine Geheimgesellschaft ist die Mafia, weil sie ihre Mitglieder sehr sorgfältig auswählen muss und ihnen als Gegenleistung für die Vorteile der Mitgliedschaft strenge Verhaltensregeln auferlegt. Vor allem verlangt die Cosa Nostra von ihren Mitgliedern dreierlei: Verschwiegenheit, Gehorsam und erbarmungslose Gewaltbereitschaft.
Die Geschichte dieser Organisation ist schon für sich betrachtet faszinierend. Aber eine Geschichte der Mafia kann nicht nur von der Mafia und den Taten ihrer Mitglieder handeln. Auch vor Falcone und Borsellino kamen schon viele Menschen im Kampf gegen die Mafia ums Leben. Manche von ihnen treten in dem Drama auf, das hier wiedergegeben werden soll, denn der Kampf der Mafia gegen die Bewohner Siziliens und andere, die sich ihr von Anfang an entgegengestellt haben, ist ein integraler Bestandteil ihrer Geschichte. Ebenso kommen in dem Bericht auch Personen vor, die sich aus den verschiedensten Gründen – von begründeter Angst über politischen Zynismus bis zu regelrechter Komplizenschaft – in den Dienst der Organisation gestellt haben.
Aber selbst wenn eine Geschichte der Mafia das alles beinhaltet, würde sie immer noch viele Fragen unbeantwortet lassen. Da außerhalb Italiens jeder weiß oder zu wissen glaubt, was die Mafia ist, erschien es eigentlich unglaublich, dass die ganze Wahrheit über die sizilianische Organisation erst 1992 ans Licht kam. Wie konnte eine kriminelle Organisation so lange derart mächtig sein, ohne dass man über sie Bescheid wusste? Teilweise lässt sich das mit einem Mangel an Beweisen begründen. Die Mafia überlebte und gedieh, weil sie Zeugen einschüchterte und sowohl die Polizei als auch die Gerichte täuschte oder bestach. Früher blieb den Behörden (und nach ihnen auch den Historikern) nur allzu oft nichts anderes übrig, als die Leichen zu zählen und sich zu fragen, was für eine eigenartige Logik sich hinter so viel Blutvergießen verbarg.
Aber das Problem lag noch tiefer; es hatte mit dem Kern des italienischen Regierungssystems zu tun. Der italienische Staat verhielt sich der sizilianischen Mafia gegenüber über ein Jahrhundert lang zumindest sehr ignorant. Wenn in seltenen Fällen einmal Kenntnisse über die Mafia bis in staatliche Institutionen vordrangen, wurden sie sehr schnell wieder vergessen. Und selbst wenn sie eine Zeit lang im Gedächtnis blieben, setzte man sie nicht sinnvoll ein. Italien verpasste mehrmals die Gelegenheit, etwas von den Tatsachen zu begreifen, deren Beweis die Richter Falcone und Borsellino schließlich mit dem Leben bezahlten. Die Mafia war deutlich zu sehen und doch versteckt. Deshalb geben dieses Versäumnis und diese Ignoranz eine viel umfangreichere Geschichte ab, als wenn nur wenige Personen in einer Mantel-und-Degen-Verschwörung die Wahrheit verborgen gehalten hätten. Und auch aus diesem Grund ist das vorliegende Buch nicht nur eine Geschichte der Mafia, sondern auch eine Geschichte der italienischen Versäumnisse beim Verstehen und der Bekämpfung dessen, was eigentlich immer auf der Hand lag.
Eine Fülle von Beispielen aus jüngster Zeit zeigt, dass das tief verwurzelte italienische Mafia-Problem auch heute noch sehr lebendig ist. Zu der Zeit, da dieses Buch geschrieben wird, wurde der siebenfache italienische Premierminister und Senator auf Lebens zeit Giulio Andreotti verurteilt, weil er dafür gesorgt hatte, dass die Mafia einen Journalisten ermordete, der ihn erpressen wollte. (In dem Prozess trat Tommaso Buscetta, der frühere »Boss zweier Welten«, als Kronzeuge auf.) Gegen das Urteil hat Andreotti beim Kassationshof Berufung eingelegt. In einen weiteren hochkarätigen Mafiafall ist der Werbemanager verwickelt, der 1993 die Forza Italia gründete, die politische Partei des heutigen Ministerpräsidenten und Medienzaren Silvio Berlusconi[*].
In jüngster Zeit erhob ein Mafia-Abtrünniger den Vorwurf, hochrangige Vertreter hätten bei mehreren Zusammenkünften einen Pakt zwischen Cosa Nostra und Forza Italia besiegelt. Die Anschuldigungen wurden energisch zurückgewiesen, und man sollte aus solchen Vorwürfen Einzelner, von denen noch keiner zu einem rechtskräftigen Urteil geführt hat, keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber sie lassen nicht nur aufhorchen, sondern sie werfen auch die historische Frage auf, wie Italien überhaupt in eine derart missliche Lage geraten konnte.
Als Historiker im Anschluss an Buscettas Aussagen erstmals solche Fragen beantworten wollten, machten sie eine erstaunliche Entdeckung, und die ließ es noch rätselhafter erscheinen, dass man in Italien zuvor nicht richtig über die Mafia Bescheid gewusst hatte. In Wirklichkeit war Buscetta bei weitem nicht der erste Ehrenmann, der die omertá, die berühmte Verschwiegenheitspflicht der Mafia, missachtet hatte, und er war auch nicht der Erste, dem man seine Aussagen glaubte. Informanten aus Mafiakreisen gibt es fast ebenso lange wie die Mafia selbst. Ebenso existierte fast von Anfang an ein geheimer und häufig sehr enger Dialog zwischen Ehrenmännern und den herrschenden Mächten – Polizei, Justiz, Politik. Manche Teile dieses Dialogs können die Historiker heute verfolgen. Was sie dabei erfahren, ist faszinierend und bestürzend zugleich, denn es zeigt, in welch großem Umfang der italienische Staat sich zum Komplizen der Mörder gemacht hat.
Aber selbst nachdem man auf diese früheren Mafia-Abtrünnigen gestoßen war, blieb die folgenschwere Frage, wie man ihre Aussagen interpretieren sollte. Mit diesem Problem kämpften Polizei und Untersuchungsrichter von den Anfängen der Mafia bis zu Falcones und Borsellinos Mammutprozess. Warum sollte man Berufsverbrechern glauben, die beliebig viele Motive hatten, zu lügen? Die Aussagen von Informanten aus der Mafia wurden häufig als so unzuverlässig abgetan, dass sie in Gerichtssäle – und in historische Bücher – keinen Eingang fanden. Zeugenaussagen von Ehrenmännern und selbst von pentiti zu lesen, ist immer schwierig. Schon das Wort pentito ist trügerisch: Echte Reue kommt bei Ehrenmännern nur vergleichsweise selten vor. In der ganzen Geschichte der Organisation haben ihre Mitglieder gegenüber dem Staat in der Regel nur dann ausgesagt, wenn sie damit anderen Mafiosi schaden konnten, von denen sie betrogen oder in einem Konflikt besiegt worden waren. Geständnisse gab es immer dann, wenn dem Verlierer keine andere Waffe mehr blieb. Wie andere pentiti, so gehörte auch Buscetta zu den Verlierern, und entsprechend verzerrt sind manche Teile seiner Aussagen.
Aber ein anderer Aspekt an Buscettas Aussage machte sie zu mehr als nur einer subjektiven Sicht auf die Vorgänge. Das war der Grund, warum sie zur aufschlussreichsten Aussage aller Mafiaangehörigen wurde. Buscetta erklärte genau, wie die Ehrenmänner denken: Er legte offen, welch seltsame Regeln sie befolgen und warum sie diese Regeln häufig übertreten. Auch der »Boss zweier Welten« stand noch unter dem Einfluss dieses Kodex und leugnete stets die Behauptung, er habe sich von einem Ehrenmann in einen pentito verwandelt. Ermittler und Historiker lernten von Buscetta vor allem eines: Man muss die Regeln der Mafia ernst nehmen – und das ist keineswegs gleichbedeutend mit der Annahme, diese Regeln würden immer befolgt.
Insbesondere auf eine Regel aus dem Innenleben der Cosa Nostra wies Buscetta immer wieder hin. Sie betrifft die Wahrheit. Von Buscetta wissen wir, dass die Wahrheit für Mafiosi ein besonders kostbares und gefährliches Gut ist. Bei der Aufnahme eines Ehrenmannes in die sizilianische Mafia muss er unter anderem geloben, niemals andere »gemachte Männer« zu belügen, ganz gleich, ob sie derselben Familie angehören oder nicht. Jeder Ehrenmann, der danach noch eine Lüge erzählt, kann sehr schnell feststellen, dass er einen Abkürzungsweg zum Säurebad eingeschlagen hat. Andererseits kann eine gut getarnte Lüge aber in dem ständigen Machtkampf innerhalb der Cosa Nostra auch zu einer wirksamen Waffe werden. Was daraus wird, ist klar: akute Paranoia. Buscetta erklärte es so: »Ein Mafioso lebt in ständiger Angst, verurteilt zu werden – nicht nach den Gesetzen der Menschen, sondern durch den boshaften Tratsch innerhalb der Cosa Nostra. Die Furcht, jemand könnte schlecht von einem reden, ist immer gegenwärtig.«
Unter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass alle Ehrenmänner die Kunst, den Mund zu halten, hervorragend beherrschen. Bevor Buscetta sich auf die Seite des Staates schlug, saß er einmal drei Jahre im gleichen Gefängnis wie ein Ehrenmann, der kurz zuvor den Befehl zur Ermordung eines dritten Mafiaangehörigen ausgeführt hatte – und der war ein enger Freund von Buscetta gewesen. Während der ganzen drei Jahre wechselten die beiden Feinde kein einziges böses Wort, und beim Weihnachtsessen saßen sie sogar zusammen am Tisch. Buscetta wusste, dass sein Zellengenosse von der Cosa Nostra bereits zum Tode verurteilt war; ob dieser ebenfalls über die vorgesehene Hinrichtung Bescheid wusste, ist nicht bekannt. Und pflichtschuldigst wurde er nach seiner Entlassung ermordet.
Zu Personen, die nicht bereits wissen, wovon die Rede ist, sagen Ehrenmänner am liebsten überhaupt nichts; untereinander kommunizieren sie mit Codes, Andeutungen, Satzbruchstücken, starren Blicken und beredtem Schweigen. In der Cosa Nostra fragt oder sagt niemand mehr, als unbedingt nötig ist. Niemand erkundigt sich ausdrücklich nach etwas. Der Richter Falcone beobachtete: »Zu den Tätigkeiten eines Ehrenmanns gehört die Deutung von Zeichen, Gesten, Nachrichten und Schweigen.« Besonders ausführlich berichtete Buscetta, wie es sich in einer solchen Welt lebt:
»In der Cosa Nostra ist es Pflicht, die Wahrheit zu sagen, aber es herrscht auch große Zurückhaltung. Und diese Zurückhaltung, die Dinge, die nicht gesagt werden, liegt wie ein unauflöslicher Fluch über allen Ehrenmännern. Sie macht alle zwischenmenschlichen Beziehungen zutiefst verlogen und absurd.«
Der Widerwille gegen offene Worte ist auch der Grund, warum Ehrenmänner, selbst wenn sie miteinander reden, fast nie leere Plauderei betreiben. Sagt der Mafioso A beispielsweise zum Mafioso B, er habe den Unternehmer X ermordet oder der Politiker Y stehe auf der Gehaltsliste der Cosa Nostra, dann stimmt das wahrscheinlich; stimmt es nicht, handelt es sich um eine taktische Lüge, die auf ihre Weise in jeder Hinsicht genauso bedeutsam ist wie die Wahrheit. Deshalb gelten Mafiosi seit Buscetta nicht mehr von vornherein als unglaubwürdige Zeugen. Ganz gleich, ob sie »bereut« haben oder nicht: Die Interpretation ihrer Aussagen besteht aus heutiger Sicht darin, dass man die Gesetzmäßigkeiten von Wahrheiten und taktischen Lügen erkennt und diese Erkenntnis dann mit anderen Indizien bestätigt. Dieses Prinzip hat auch für die Geschichte der Mafia wichtige Auswirkungen, die sich aus den üblichen Quellen speist: aus Polizeiakten, staatlichen Untersuchungsberichten, Zeitungsartikeln, Memoiren, Geständnissen und so weiter. Aber durch alle diese Unterlagen, ob sie nun unmittelbar die Worte von Ehrenmännern wiedergeben oder nur ihre verblassten Spuren enthalten, ziehen sich wie ein blutiges Wasserzeichen die Symptome des tödlichen Spiels mit der Wahrheit, das sich mit einem Leben in der Mafia verbindet.
In jeder historischen Darstellung bleibt immer ein Element der Unsicherheit, und das gilt umso mehr für eine Darstellung, die sich auf die verschlungenen Wege der sizilianischen Mafia begibt. Deshalb kann auch dieses Buch letztlich kein endgültiges Urteil über Schuld oder Unschuld der beschriebenen Personen fällen; die Geschichte der Mafia ist kein nachträglicher Strafprozess. Aber es handelt sich auch nicht nur um Vermutungen. Zwar wäre es sowohl falsch als auch nutzlos, längst verstorbene historische Gestalten in ein imaginäres Gefängnis zu sperren, aber wir können uns einen Eindruck von dem ekelhaften »Gestank der Mafia« – wie man es in Italien formuliert – verschaffen, den sie noch heute ausströmen.
Die Geschichte der Mafia ist also verwickelt, und in ihr kommen viele Personen vor. Entsprechend erzählen die einzelnen Kapitel dieses Buches unterschiedliche Geschichten. Der Bericht wechselt von den Soldaten zu den Bossen, er begibt sich aber auch in den Dunstkreis der Mafia und handelt von ihren Opfern, Feinden und Freunden, von den ärmsten bis zu den mächtigsten Mitgliedern der Gesellschaft. In einem oder zwei Kapiteln schließlich muss die Mafia mangels historischer Belege das bleiben, was sie zu jener Zeit oft zu sein schien: ein bösartiges, schemenhaftes Gebilde.
Bevor von der Entstehung der Mafia die Rede ist, soll darüber berichtet werden, wie das Leben in der Cosa Nostra heute aussieht, welchen Ehrenkodex ihre Mitglieder befolgen. Abtrünnige haben in jüngster Zeit neue Erkenntnisse darüber geliefert, wie die Mafiaangehörigen heute denken und fühlen – Erkenntnisse, die man über frühere Zeiten natürlich nicht gewinnen kann. Und natürlich würden wir es uns zu einfach machen, wenn wir mit unseren heutigen Kenntnissen über die Regeln innerhalb der Mafia die Lücken in unserem Wissen über frühere Zeiten stopfen wollten. Wenn man die Geschichte der Mafia verfolgt, wird aber andererseits auch deutlich, dass die berühmte kriminelle Vereinigung aus Sizilien sich in den rund 140 Jahren ihres Bestehens erstaunlich wenig gewandelt hat. Eine »gute Mafia«, die irgendwann bösartig und gewalttätig wurde, gab es nie. Es gab nie eine traditionelle Mafia, die dann modern, organisiert und geschäftstüchtig wurde. Die Welt hat sich geändert, aber die sizilianische Mafia hat nichts anderes getan, als sich darauf einzustellen; sie ist heute, was sie seit ihrer Geburt immer war: eine verschworene Geheimgesellschaft, die die Kunst pflegt, Menschen umzubringen und ungestraft davonzukommen.
Unzählige Filme und Romane haben dazu beigetragen, der Mafia einen düsteren Glanz zu verleihen. Derartige Mafiageschichten wirken überzeugend, weil sie das Alltägliche dramatisieren: Sie beschwören jene Hochspannung herauf, die aus der Kombination von Gefahr und gewissenloser Durchtriebenheit erwächst. In der Welt der Kinomafia werden Konflikte, von denen jeder betroffen ist – Konflikte um konkurrierende Bestrebungen, Verantwortung und Familie –, zu einer Frage von Leben und Tod.
Die Behauptung, Literatur und Film zeichneten ein falsches Bild der Mafia, wäre sowohl naiv als auch unrichtig – aber das Bild ist stilisiert. Wie alle anderen Menschen, so sehen auch Mafiosi gern fern, und sie gehen ins Kino; dann haben sie Spaß daran, im Film eine stilisierte Version ihres eigenen Alltags zu sehen. Tommaso Buscetta war ein Fan von Der Pate, allerdings war die Szene am Ende, in der die anderen Mafiosi die Hand von Michael Corleone küssen, in seinen Augen unrealistisch. Die widersprüchlichen Ziele, die eine fiktive Gestalt wie Al Pacinos Michael Corleone motivieren – Ehrgeiz, Verantwortungsgefühl, Familie –, nehmen tatsächlich auch im Leben der wirklichen Mafiaangehörigen eine zentrale Stellung ein.
Ein offenkundiger Unterschied besteht allerdings darin, dass in der entsetzlichen Wirklichkeit der Cosa Nostra vom Glanz des Kinos nicht das Geringste übrig bleibt. Und es gibt auch einen weniger nahe liegenden, letztlich aber noch wichtigeren Unterschied: Während es in der Geschichte von Michael Corleone um die moralischen Gefahren einer unkontrollierten Machtausübung geht, sind die wirklichen Mitglieder der sizilianischen Mafia besessen von den Ehrenregeln, die ihre Handlungsweise beschränken. Ein Ehrenmann kann diese Regeln umgehen, manipulieren oder neu schreiben, aber er ist sich immer bewusst, dass sie darüber bestimmen, wie er von seinesgleichen wahrgenommen wird. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Vorstellungen der Mafia von Ehre sonderlich viel »Ehrenhaftes« im herkömmlichen Sinn hätten. Der Begriff »Ehre« hat innerhalb der Cosa Nostra eine ganz besondere Bedeutung, sodass er den Mitgliedern der Organisation als Motiv für die abscheulichsten Taten dienen kann. Ein gutes Beispiel ist Giovanni Brusca, der Mann, der den Zünder der Bombe von Capaci betätigte.
Brusca war in Cosa-Nostra-Kreisen als »lo scannacristiani« bekannt, »der Mann, der Christen die Kehle durchschneidet«. Das Wort »Christ« ist in Sizilien gleichbedeutend mit »Mensch«, in der Mafia jedoch bedeutet es »Ehrenmann«. Brusca gehörte zu einem Killerkommando, das unmittelbar Totò Riina unterstand, dem »Boss der Bosse« und Anführer der Corleonesi. Auch nach dem Anschlag von Capaci war Brusca nicht untätig. Er tötete den Boss der Familie Alcamo, der sich Riinas Autorität immer stärker wider setzte. Wenige Tage später erdrosselten Angehörige von Bruscas Todesschwadron die schwangere Freundin des Mannes. Anschließend ermordete Brusca einen auffallend reichen Geschäfts mann und Ehrenmann, der es versäumt hatte, die Mafia mit Hilfe seiner politischen Verbindungen vor dem Mammutprozess zu schützen.
Und es kam noch schlimmer. »lo scannacristiani« war mit Santino Di Matteo befreundet, einem weiteren Ehrenmann, dessen kleiner Sohn Giuseppe im Garten der Familie mit Brusca spielte. Aber irgend wann entschloss sich Santino Di Matteo, die Geheimnisse der Cosa Nostra an die Behörden zu verraten. Als erster Mafia angehöriger erzählte er den Ermittlern, wie man den Mord an Falcone ausgeführt hatte. Daraufhin kidnappte Brusca den kleinen Giuseppe Di Matteo aus einem Reitstadion und hielt ihn 26 Monate lang in einem Keller gefangen. Im Januar 1996 schließlich, als Giuseppe vierzehn war, befahl Brusca, ihn zu erdrosseln und die Leiche in Säure aufzulösen.
Am 20. Mai 1996 wurde »lo scannacristiani« auf dem Land nicht weit von Agrigent festgenommen. Vierhundert Polizeibeamte umstellten das schachtelförmige, zweistöckige Gebäude, in dem er sich versteckt hielt. Gegen 21 Uhr stürmte ein dreißigköpfiges Einsatzkommando durch Türen und Fenster das Haus. Drinnen saßen Brusca und seine Familie an einem Tisch und sahen sich im Fernsehen eine Sendung über Giovanni Falcone an – in zwei Tagen stand der vierte Jahrestag der Ermordung bevor. Im Schlafzimmer entdeckte die Polizei einen ganzen Schrank voller Versace- und Armani-Kleidung, und in einer großen roten Tasche befand sich amerikanisches und italienisches Geld im Wert von 15000 Dollar, zwei Handys und Schmuck, darunter Armbanduhren von Cartier. Auf dem Tisch im Esszimmer fand man eine kurzläufige Pistole aus Kunststoff, die Bruscas kleinem Sohn Davide gehörte.
Heute arbeitet Brusca mit der Justiz zusammen. Seinem eigenen, beunruhigend detaillierten Geständnis zufolge hat er »viel mehr als hundert, aber weniger als zweihundert« Menschen getötet. Über den Mord an Giuseppe Di Matteo berichtete er:
»Hätte ich einen Augenblick länger Zeit zum Überlegen gehabt, ein wenig mehr Ruhe zum Nachdenken wie bei den anderen Verbrechen, dann gäbe es vielleicht eine Hoffnung von eins zu tausend oder eins zu einer Million, dass das Kind heute noch am Leben ist. Aber heute wäre es nutzlos, wenn ich es zu rechtfertigen versuchte. Ich habe es damals nicht genügend durchdacht.«
Besonders entsetzlich ist an der sizilianischen Mafia, dass Männer wie »lo scannacristiani« nicht verrückt werden. Ihre Taten sind aus Sicht der Cosa Nostra durchaus nicht unvereinbar mit dem Ehrenkodex und noch nicht einmal mit ihrer Rolle als Ehemänner und Väter. Bis zu dem Tag, als er sich entschloss, sich auf die Seite der Behörden zu schlagen und seine Geschichte zu erzählen, galt keine seiner Taten – nicht einmal der Mord an einem Kind, das nicht viel älter war als sein eigenes – bei anderen Mafiaangehörigen als unehrenhaft.
Nach dem Bombenanschlag von Capaci liefen noch mehr Mafiosi zu den Behörden über, und manche dieser »Reuigen« rechtfertigten ihre Entscheidung mit der Behauptung, Mörder wie »lo scannacristiani« hätten die traditionellen Werte und den Ehrenkodex verraten. Die gleiche Argumentation hatte auch Tommaso Buscetta vertreten, ungefähr nach dem Motto »Nicht ich habe die Cosa Nostra verlassen, sondern die Cosa Nostra hat mich verlassen«. Aber aus historischer Sicht steht eine solche Behauptung auf tönernen Füßen, denn Verrat und Brutalität waren in der Mafia von Anfang an immer mit der Ehre vereinbar. Giovanni Brusca war ein viel typischeres Mafiamitglied, als manche Abtrünnigen gern glauben mögen.
Nach dem Anschlag von Capaci eröffnete die neue Welle der Überläufer für die Ermittler die Möglichkeit, jene Erkenntnisse über die innere Kultur der Mafia zu ergänzen, die Buscetta und andere frühere pentiti geliefert hatten. Heute wissen wir, dass der Ehrenkodex viel mehr ist als nur ein Verzeichnis von Regeln. Wer zum Ehrenmann wird, nimmt eine völlig neue Identität an und betritt ein anderes ethisches Universum. Und das Kennzeichen dieser neuen Identität, dieser neuen moralischen Empfindlichkeit, ist die Ehre des Mafioso.
Schon 1984 skizzierte Tommaso Buscetta gegenüber Falcone erstmals den Ehrenkodex der Cosa Nostra. Er beschrieb den Initiationsritus, bei dem der Kandidat ein brennendes Bild – meist der Verkündigung Mariens – in der Hand hält und Treue und Verschwiegenheit bis in den Tod gelobt. Zuvor hatte man Gerüchte über dieses seltsame Ritual als Volksmärchen abgetan, und noch heute gehört Buscettas Bericht darüber zu den Teilen seiner Aussage, die dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheinen. Aber durch die Aussagen von Buscetta, »lo scannacristiani« und anderen ist überdeutlich geworden, dass die Mafiosi solche Dinge todernst nehmen und für eine Angelegenheit der Ehre halten.
Wie man an dem Initiationsritual erkennt, ist Ehre ein Zustand, den man sich verdienen muss. Bevor ein angehender Mafioso zum Ehrenmann aufsteigt, wird er genau beobachtet, überwacht und auf die Probe gestellt; fast immer ist ein Mord die Voraussetzung für die Aufnahme in die Organisation. Während dieser Vorbereitungszeit wird der Kandidat ständig daran erinnert, dass er bis zum Aufnahmeritual ein Niemand ist, »ein Nichts gemischt mit null«. Kommt es dann zur Initiation, ist sie häufig das wichtigste Ereignis im Leben eines Mafioso. Das Verbrennen des heiligen Bildes ist ein Symbol für seinen Tod als normaler Mensch und seine Wiedergeburt als Ehrenmann.
Bei der Initiation muss der neue Mafioso Gehorsam geloben – sie ist die erste Säule des Ehrenkodex. Ein »gemachter« Mann ist seinem Capo fast immer gehorsam; nach dem Warum fragt er nie. Was diese Verpflichtung bedeutet, kann man verstehen, wenn man eine entscheidende Prüfung für den gesamten Ehrenkodex betrachtet: den Mord an Frauen und Kindern. Dies war für die sizilianische Mafia immer ein heikles Thema, und häufig behaupteten Mafiosi, sie würden Frauen und Kindern nie etwas zuleide tun. Dazu ist zu sagen, dass viele Ehrenmänner tatsächlich so lange wie möglich an diesem Prinzip festhalten. Die Cosa Nostra bringt sicher nicht mir nichts, dir nichts kleine Babys um, nicht zuletzt weil sie damit ihr Image beschädigen und einige ihrer engsten Unterstützer abschrecken würde.
Andererseits war Giuseppe Di Matteo aber bei weitem nicht das erste Kind, dem Ehrenmänner absichtlich das Leben genommen hatten. Die Beseitigung von Frauen und Kindern gilt nämlich nur dann als unehrenhaft, wenn sie nicht notwendig wäre. Sie kann aber zu einer Notwendigkeit werden, wenn das Leben des Mafioso selbst auf dem Spiel steht; und ein Mafioso bringt sein Leben häufig schon allein dadurch in Gefahr, dass er ein Mitglied der Cosa Nostra ist.
Wie nahezu alle Mafiamorde, so fand auch die Tötung von Giuseppe Di Matteo erst statt, nachdem man gemeinsam entschieden hatte, dass sie notwendig sei. Der Tod des Jungen war Teil einer Strategie, die von einigen Anführern der Cosa Nostra gegenüber den Familien von Abtrünnigen verfolgt wurde, weil diese die gesamte Organisation gefährdeten. Wenn eine solche Entscheidung getroffen war, hätte es als unehrenhaft gegolten, sie nicht in die Tat umzusetzen.
An dieser Stelle kommt der Gehorsam ins Spiel. Der Mafioso, der die Tat ausführte und Giuseppe Di Matteo auf Bruscas Befehl erdrosselte, erklärte seine Denkweise vor Gericht später so:
»Wer [in der Cosa Nostra] eine gute Karriere machen will, muss immer zur Verfügung stehen … Ich wollte Karriere machen, und ich hatte es von Anfang an akzeptiert, denn ich fühlte mich sehr wohl. Damals war ich Soldat der Cosa Nostra, ich gehorchte den Befehlen, und ich wusste, dass ich vorwärts kommen würde, wenn ich einen kleinen Jungen erdrosselte. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.«
Ehre häuft man durch Gehorsam an: Als Gegenleistung für die so genannte »Verfügbarkeit« können einzelne Mafiosi ihr Ehrenkonto aufstocken, und das verschafft ihnen den Zugang zu mehr Geld, Informationen und Macht. Zur Cosa Nostra zu gehören, verschafft die gleichen Vorteile wie die Mitgliedschaft in anderen Organisationen: man erreicht selbst gesteckte Ziele, erlebt ein beflügelndes Gefühl von Stellung und Kameradschaft und kann moralische oder sonstige Verantwortung nach oben auf die Bosse abschieben. Das alles sind Aspekte der Mafiaehre.
Zur Ehre gehört auch die Verpflichtung, gegenüber anderen Ehrenmännern die Wahrheit zu sagen, und das führt zu der berüchtigten, gewundenen Redeweise der Mafiosi. Giovanni Brusca berichtete einmal, wie er in New Jersey bei amerikanischen Mafiamitgliedern zu Besuch war: Dort stellte er entsetzt fest, wie vergleichsweise redselig seine Gastgeber waren. Zur Begrüßung wurde er zum Abendessen eingeladen, aber als Brusca das Restaurant betrat, sah er zu seinem Erstaunen, dass alle Mafiosi ihre Geliebten mitgebracht hatten und dass sie offen darüber redeten, zu welcher Familie dieser oder jener Verbrecher gehörte. »In Sizilien würde es uns nicht im Traum einfallen, in der Öffentlichkeit oder sogar privat über so etwas zu sprechen. Jeder weiß, was man wissen muss.« Brusca behauptet, es sei ihm so peinlich gewesen, dass er sich entschuldigt habe und gegangen sei. »Es ist eine andere Mentalität«, lautete seine Schlussfolgerung nach diesem Erlebnis in Amerika. »Morde begehen sie nur unter außergewöhnlichen Umständen. Und Massaker, wie wir sie in Sizilien haben, kommen dort überhaupt nicht vor.«
Die Pflicht eines Mafioso, die Wahrheit zu sagen, dient unter anderem dem Aufbau jenes gegenseitigen Vertrauens, das unter Gesetzesbrechern dünn gesät ist. Die Notwendigkeit, Vertrauen zu haben, ist auch eine Erklärung für jene Aspekte der Ehre eines Mafioso, die mit Sex und Ehe zu tun haben. Frisch »gemachte« Mafiaangehörige verpflichten sich, kein Geld mit Prostitution zu verdienen, und wenn sie mit der Frau eines anderen Mafioso schlafen, droht ihnen die Todesstrafe. Mafiosi, die spielen, ein sexuell ausschweifendes Leben führen oder ihren Reichtum zur Schau stellen, gelten als unzuverlässig und demnach entbehrlich. Die Einhaltung dieser Regeln ist wichtig, wenn man anderen Ehrenmännern beweisen will, dass man vertrauenswürdig ist. Aus dem gleichen Grund erklärt die Führungsetage der Mafia es zur Tugend, sich die Hände schmutzig zu machen, und Machogehabe der alten Schule ist für die Kultur der Organisation unentbehrlich. Arbeitstreffen gruppieren sich beispielsweise häufig um männliche Tätigkeiten wie die Jagd oder um Festessen.
Ehre hat auch mit Loyalität zu tun. Die Mitgliedschaft in der »ehrenwerten Gesellschaft«, wie die Mafiosi sie zu nennen pflegten, ist mit neuen Loyalitätsbeziehungen verbunden, und die sind wichtiger als Blutsbande. Ehre bedeutet, dass ein Mafioso die Interessen der Cosa Nostra über die seiner Verwandten stellen muss. Enzo Brusca, der Bruder von »lo scannacristiani«, beteiligte sich an Morden, wurde aber nie zum Ehrenmann. Wie es sich gehörte, stellte er keine Fragen. Was er über seine Verwandten in der Cosa Nostra wusste, hatte er durch Hörensagen oder aus der Presse erfahren; deshalb war ihm lange Zeit nicht klar, dass sein Vater als Boss des örtlichen mandamento (Distrikt) fungierte. Obwohl Enzo Brusca also an den Taten der Mafia mitgewirkt hatte und ein Verwandter mehrerer Ehrenmänner war, hatte er kein Recht, über die Geschäfte der »Familie« Bescheid zu wissen.
Das umgekehrte Prinzip gilt jedoch nicht: Ein Mafiaboss ist berechtigt, das Privatleben seiner Leute bis ins Kleinste zu überwachen. So fragt ein Mafioso beispielsweise in vielen Fällen seinen Capo um Erlaubnis, wenn er heiraten will. Es ist von größter Bedeutung, dass ein Mafioso sich die richtige Ehepartnerin aussucht und sich in der Ehe ehrenhaft verhält. Noch stärker als für andere Ehemänner besteht für Mafiosi die Notwendigkeit, ihre Frauen bei Laune zu halten, denn eine verärgerte Ehefrau könnte der gesamten Mafiafamilie großen Schaden zufügen, wenn sie zur Polizei geht. Ebenso müssen die Mitglieder der Cosa Nostra peinlich genau darauf achten, das Ansehen ihrer Frauen zu wahren; das Ehebruch-Tabu hat unter anderem einen wichtigen Grund: Nach den Worten des Richters Falcone bietet es die Gewähr, dass die Ehefrauen der Ehrenmänner »nicht in ihrem eigenen sozialen Umfeld erniedrigt werden«. Häufig heiraten Mafiosi die Schwestern oder Töchter anderer Ehrenmänner, also Frauen, die bereits im Umfeld der Mafia aufgewachsen sind und deshalb die Verschwiegenheit und/oder Unterwürfigkeit besitzen, die von ihnen verlangt wird. Die Frauen unterstützen ihre Männer auch aktiv bei ihren Tätigkeiten, spielen aber dabei stets eine untergeordnete Rolle. Sie können nicht offiziell in die Mafia aufgenommen werden, und Ehre ist eine ausschließlich männliche Eigenschaft. Andererseits verschafft die Ehre eines Mafioso aber auch seiner Frau mehr Ansehen, und ihr Wohlverhalten trägt wiederum zu seiner Ehre bei.
Der Richter Falcone verglich die Aufnahme in die Mafia einmal mit dem Übertritt zu einer Religionsgemeinschaft: »Man kann nicht aufhören, Priester zu sein. Oder Mafioso.« Die Parallelen zwischen Mafia und Religion reichen sogar noch weiter, vor allem deshalb, weil viele Ehrenmänner gläubig sind. Der Boss Nitto Santapaola aus Catania ließ in seiner Villa einen Altar und eine kleine Kapelle bauen; andererseits ließ er nach Aussagen eines pentito einmal vier Kinder erdrosseln und in einen Brunnen werfen, weil sie seine Mutter überfallen hatten. Bernardo Provenzano, bis vor kurzem Boss der Bosse, meldete sich aus seinem Versteck mit kleinen Notizen zu Wort, von denen einige abgefangen wurden; sie enthielten stets einen Segen und die Anrufung göttlichen Schutzes – »Nach dem Willen Gottes möchte ich ein Diener sein«. Ein hoch gestellter Mafioso, der wie »lo scannacristiani« ein Todeskommando leitete, betete vor jeder Tat: »Gott weiß, dass sie selbst getötet werden wollen und dass ich daran keine Schuld trage.«
Solche Empfindungen sind teilweise eine Folge der Tatsache, dass die katholische Kirche gegenüber der Mafia lange Zeit eine große Toleranz an den Tag legte. Die Geistlichen behandelten Männer, deren Macht sich auf Routinemorde stützte, genauso wie alle anderen Sünder. Den bösartigen Einfluss der Mafia übersahen sie, weil diese scheinbar die gleichen Werte hochhielt wie die Kirche: Ehrerbietung, Demut, Tradition und Familie. Für Prozessionen und gute Werke nahmen sie Spenden aus kriminell erworbenem Reichtum an. Sie gaben sich damit zufrieden, dass cosche (die Mehrzahl von cosca) sich als religiöse Bruderschaften ausgaben, und übertrugen die Verwaltung der Spendengelder an Würdenträger, die Blut an den Händen hatten. Manche Geistlichen waren sogar selbst Mörder. In der Geschichte der Beziehungen zwischen Kirche und Mafia kommt eine Vielzahl solcher Episoden vor.
Entgegen manchen Behauptungen stimmt es aber nicht, dass die Mafia eigentlich kaum mehr ist als ein Ableger der katholischen Kirche. Die Religion eines Mafioso hat nichts mit der Institution Kirche zu tun. Das Geheimnis der Mafia-Religion besteht vielmehr darin, dass sie den gleichen Zwecken dient wie der Ehrenkodex; sie drückt einfach die gleichen Dinge mit anderen Worten aus. Die Mafia-Religion übernimmt Formulierungen aus dem katholischen Glauben und schafft damit Zusammengehörigkeitsgefühl, Vertrauen und eine Reihe anpassungsfähiger Regeln, genau wie der Ehrenkodex, der Begriffe aus dem Rittertum verwendete, die in der Anfangszeit der Mafia beim Adel noch geläufig waren.
Wie die Mafia-Ehre, so ist auch die Mafia-Religion für die Angehörigen der Organisation ein Mittel, um ihre Taten zu rechtfertigen – vor sich selbst, voreinander und vor ihren Angehörigen. Mafiosi reden sich gern ein, sie mordeten nicht nur für Geld und Macht, sondern im Namen einer höheren Instanz, der sie dann meist die Namen »Ehre« und »Gott« beilegen. In Wirklichkeit ähnelt die Religion, zu der sich die Mafiosi und ihre Familien bekennen, vielem anderen im ethischen Universum der Mafia-Ehre: Es lässt sich nur schwer feststellen, wo der echte – wenn auch fehlgeleitete – Glaube endet und die zynische Täuschung beginnt. Wer die Denk weise der Mafia begreifen will, muss verstehen, dass die Ehrenregeln sich im Kopf jedes Mitglieds mit kalkulierter Täuschung und herzloser Grausamkeit vermischen.