Couchsailing - Timo Peters - E-Book

Couchsailing E-Book

Timo Peters

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Beschreibung

Per Anhalter über den Atlantik! Eine wahre Abenteuergeschichte, die zwischen Europa, Afrika und Südamerika in den Weiten des Ozeans spielt: Eine Reise nach Brasilien im Segelboot. Per Anhalter. Timo Peters hat kein Boot, so gut wie keine Segelerfahrung und kaum Geld – nur die verrückte Idee, den Atlantik zu überqueren. In Gibraltar hat er schließlich Glück: Eine Mitsegelgelegenheit zu den Kanaren! Dort findet er das nächste Boot, und nach einem Stopp auf den Kapverden und unzähligen dramatischen, wundervollen und unvergesslichen Erlebnissen erreicht er Südamerika. Unterwegs taucht er ein in die skurrile Community der Weltumsegler. Er trinkt Champagner mit Millionären und lauscht den Geschichten stolzer Kapitäne. Doch zwischen den winzigen Inseln inmitten des Nichts treiben sich auch jede Menge Träumer, Hippies und Hasardeure herum. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie wollen ausbrechen aus dem Alltag und sich auf die Suche machen nach der ganz großen Freiheit.

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Seitenzahl: 366

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Timo Peters

Couchsailing auf dem Atlantik

Wie ich per Anhalter auf Segelbooten nach Südamerika reiste

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Timo Peters

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

 

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Inhaltsverzeichnis

WidmungDer 14-Stunden-Schlaf34° 23' 03.5" N – 008° 09' 10.3" WLibertalia43° 19' 05.6" N – 001° 59' 11.3" WKopfschütteln53° 33' 40.8" N – 009° 57' 17.8" OMuelle UnoJules36° 07' 13.1" N – 005° 20' 43.0" WRandy36° 05' 40.0" N – 05° 23' 41.9"WTristan32° 48' 05.9" N – 010° 20' 53.7" W29° 20' 23.8" N – 012° 41' 32.3" WIm TransatlantikhafenAdventsbasteln28° 12' 41.1" N – 014° 01' 16.3" WDas WeihnachtsdesasterBruch am Boot26° 32' 44.2" N – 016° 00' 16.1" WBarfußroute20° 58' 23.0" N – 020° 49' 36.0" WMindelo16° 53' 12.4" N – 024° 59' 25.5" WDie Genua17° 06' 44.1" N – 025° 03' 39.7" WAbschied180 Grad13° 19' 0.0" N – 025° 14' 45.7" W07° 35' 48.7" N – 025° 16' 55.5" WIm Kalmengürtel04° 09' 10.0" N – 025° 57' 26.1" W02° 26' 33.0" N – 026° 33' 36.9" WÄquatortaufe00° 39' 09.0" S – 027° 43' 06.9" W04° 11' 26.3" S – 030° 32' 39.9" WKarneval08° 01' 05.2" S – 034° 51' 07.4" OEpilogMehr von Timo PetersDank
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Für Modi und Malla

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Der 14-Stunden-Schlaf

Ich glaube, ich muss kotzen. Mein Magen zieht sich zusammen, es ist gleichzeitig heiß und kalt und zwischendurch habe ich das Gefühl, dass mir schwarz vor Augen wird. Ich spüre, wie sich Schweißtropfen auf meiner Stirn sammeln.

Verdammt, was ist denn los mit mir? Bin ich seekrank? Das kann eigentlich nicht sein. Es darf jedenfalls nicht sein, nicht jetzt! Ich war noch nie seekrank. Weder auf den Wochenendtörns im Sommer auf der Ostsee noch letztes Jahr auf dem Mittelmeer. Nie hatte ich Probleme. Ich konnte bislang sogar bei ordentlich Wellengang unter Deck sitzen und ein Buch lesen, während der Rest der Crew oben an Deck den Horizont fixierte, um die Übelkeit unter Kontrolle zu bekommen.

Abgesehen davon: Hier herrscht gar kein Seegang. Wenn man überhaupt von Wellen sprechen kann, dann sind sie winzig klein. Die Mystique treibt gemächlich über das Meer, sie stampft nicht durch das Wasser, sie hat so gut wie keine Schräglage.

Das letzte Segelmanöver war heute Morgen, als der Wind nachließ und wir das Vorsegel hissten, um mehr Segelfläche zu haben und nicht den Motor zuschalten zu müssen.

Seitdem herrscht Ruhe an Bord, ein paar Schäfchenwolken stehen am Himmel. Im Westen, Richtung Amerika, versinkt gerade die Sonne im Meer und taucht den friedlichen Ozean in rötliches Licht. Ein paar Seevögel sitzen auf dem Wasser und scheinen zu müde zum Jagen zu sein (oder zu satt). Dies ist eher Binnenalster als wilder Atlantik.

34° 23' 03.5" N – 008° 09' 10.3" W

Tag 11 der Reise

In meinem Kopf aber herrscht seit ein paar Stunden das Chaos. Irgendwann heute Nachmittag realisierte ich, dass der Moment gekommen war, dem ich seit Monaten entgegengefiebert hatte: kein Land mehr in Sicht! Meine Welt ist von jetzt an in zwei Hälften geteilt: oben der Himmel, unten das Wasser. Zwei Blautöne, getrennt von einer hauchdünnen und kreisrunden Linie. Egal in welche Himmelsrichtung ich mich drehe, ich sehe den Horizont. Ein Gefühl der absoluten Freiheit wollte ich jetzt verspüren. Endlich richtiges Hochseesegeln, auf den Spuren der großen Entdecker und Abenteurer! Die Nase im Seewind, eine Hand am Ruder und die Augen immer Richtung Karibik – so hatte ich mir das vorgestellt.

Stattdessen krallen sich meine beiden Hände so fest an das dünne Drahtseil der Reling, dass ich das Weiße auf meinen Handknöcheln sehen kann.

Eigentlich wäre es gerade meine Aufgabe, das Meer und den Horizont zu beobachten und nach Schiffen Ausschau zu halten, die unseren Kurs kreuzen könnten. Dafür hat Captain Randy mich an Bord genommen, als wir vorgestern abgelegt sind: als Unterstützung für den Ausguck. Randy kommt aus Colorado in den Vereinigten Staaten, ist 52 Jahre alt und eigentlich ein »Einhandsegler« – er segelt sein Schiff in der Regel allein und ohne die Hilfe einer Crew. So hat er im vergangenen Frühjahr den Atlantik überquert, von Florida nach Frankreich. Jetzt ist er auf dem Rückweg, der ihn zunächst entlang der Küste Marokkos in den Süden führt, zu den Kanarischen Inseln. Hier herrscht eine Menge Verkehr: Tanker und Containerschiffe teilen sich diesen wichtigen Seeweg, Kreuzfahrtriesen und vor allem eine Menge kleiner marokkanischer Fischerboote ohne moderne Ausrüstung. Um dieses Gewimmel jederzeit im Auge zu haben, hat Randy beschlossen, für dieses Teilstück ausnahmsweise jemanden bei sich an Bord zu haben.

Im Moment bin ich ihm jedoch keine große Hilfe. Zwar starre ich hinaus auf das Meer, meine Gedanken drehen sich aber nicht um unseren Kurs und den der anderen Schiffe in diesem Seegebiet. Sie drehen sich um alle möglichen Horrorszenarien: Wie weit mag es von hier aus zur Küste sein? Was, wenn mir hier was passiert? Oder Randy? Ich könnte die Mystique auf keinen Fall allein manövrieren. Oder? Mein Blick folgt jetzt dem roten Seil, das vor meinen Füßen entlangläuft bis nach vorne zum Bug. Keine Ahnung, wohin genau, aber es steht unter Spannung, muss also wichtig sein. Scheiße, denke ich und überlege, wie ich aus der Nummer hier herauskomme.

Ungefähr 55 Seemeilen sind es von hier aus zur Küste von Marokko, gute hundert Kilometer. Wie weit können eigentlich Rettungshubschrauber fliegen? Würde so ein Helikopter uns hier überhaupt noch erreichen und wie lange bräuchte er dafür wohl?

55 Seemeilen … die Mystique schafft im Schnitt bislang so fünf Meilen in der Stunde … wir bräuchten also elf Stunden, um Land zu erreichen.

Könnten wir bei diesem Wind überhaupt nach Afrika segeln?

Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Oder sie springen im Zickzack. Ob Kolumbus sich auch so gefühlt hat, als er nach Amerika aufbrach? Sicher nicht, denke ich, vielleicht die Schiffsjungen. Wobei selbst die Schiffsjungen im 15. Jahrhundert wahrscheinlich härtere Typen waren, als ich es bin.

Wie schnell ist wohl ein professionelles Rettungsboot? Bestimmt fünfmal so schnell wie wir. Wäre also in zwei Stunden hier, das geht.

Wobei: Wo ist wohl die nächste Stadt, in der so ein Speedboat auf meinen Funkspruch wartet? Und gibt’s in Marokko überhaupt so moderne Schiffe? Bislang habe ich hauptsächlich klapprige alte Fischerboote gesehen …

TIMO! Beruhig dich!

Ich muss versuchen, meine Gedanken zu ordnen. Also versichere ich mir: Alles läuft hier absolut nach Plan. Mein größter Traum ist gerade dabei, in Erfüllung zu gehen. Wenn mir vor einer Woche jemand gesagt hätte, wo ich mich heute befinden würde, hätte ich das mit Kusshand genommen! Ich bin an Bord einer hochmodernen Segelyacht mit der besten Ausrüstung, die man sich wünschen kann. Anders als Christopher Kolumbus’ Santa Maria hat die Mystique eine Radaranlage, wir haben Funkgeräte an Bord, GPS natürlich und AIS, ein Navigationssystem, das auch von der professionellen Hochseeschifffahrt genutzt wird. Über das Satellitentelefon bekommen wir Wetterinfos und E-Mails, theoretisch könnte ich jederzeit meine Mama anrufen. Apropos Wetter: Es könnte nicht besser sein und aller Voraussicht nach wird es auch in den kommenden Tagen so bleiben.

»Es gibt keinen Grund, Angst zu haben!«, sage ich jetzt laut zu mir selbst.

Es funktioniert, denke ich und merke, wie meine Hände sich ein wenig entkrampfen. Entspann dich, Timo, locker bleiben. Dein Captain hat jede Menge Erfahrung. Was sagte Randy, als wir uns kennenlernten? Die Mystique ist schon sein drittes Segelschiff, er war schon auf dem Pazifik unterwegs und kennt den berüchtigten Golf von Mexiko wie seine Westentasche. Dort hat er irgendwann in den Neunzigern das »Yachtmaster Ocean Certificate« erworben, das ist der größte und schwierigste Segelschein, den man überhaupt machen kann. Ich durfte auch einen Blick in sein persönliches Logbuch werfen: 50.000 Seemeilen sind da vermerkt. Rein rechnerisch hat Randy die Welt also schon mehr als zweimal umrundet. Einen besseren Skipper hätte ich nicht finden können!

Okay, es wird besser, merke ich und lasse meinen Blick über den Horizont schweifen. Rechts von der Mystique, oder steuerbord, wie ein echter Segler sagen würde, funkelt das Meer jetzt geradezu. Orangerot blitzt es an einer Million Stellen gleichzeitig auf. Einige Vögel scheinen diesen spektakulären Sonnenuntergang zu nutzen, um sich zu ihrer nächtlichen Angeltour aufzuraffen. Ganz in der Nähe des riesigen Feuerballs, der gerade im Westen in den Atlantik taucht, schießen sie immer wieder ins Wasser, bis sie schließlich mit ihrer Beute im Schnabel abdrehen und verschwinden.

Auch Randy kümmert sich anscheinend gerade um das Essen. Bis eben hat er in seiner Koje geschlafen, jetzt dringen Klappergeräusche aus der Bordküche zu mir an Deck. Das war keinen Moment zu früh, denke ich. Zum Glück hat Randy meine kleine Krise nicht mitbekommen! Die Blöße möchte ich mir echt nicht geben.

Also stürze ich nicht gleich nach unten zu meinem Captain, sondern wische mir den kalten Schweiß von der Stirn und lasse mir noch ein bisschen Wind um die Nase wehen.

Einige Minuten stehe ich so da und schaffe es jetzt auch, mich auf meine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren: Im Norden hat gerade ein Containerschiff seine Positionslichter eingeschaltet, ich sehe ein schwaches grünes Leuchten – das Schiff ist also in Richtung Osten unterwegs. Vielleicht fährt es ins Mittelmeer, vielleicht läuft es aber auch einen marokkanischen Hafen an, Casablanca, Rabat oder Tanger. Ich werde es nicht erfahren, denn es ist weit weg und wird bald hinter dem Horizont verschwinden.

Gut für uns, denke ich noch, hier besteht ganz sicher keine Kollisionsgefahr. Da steckt Randy seinen Kopf durch die Luke: »Wie läuft’s hier oben, alles gut?«, fragt er. Ich erschrecke mich ein bisschen und höre mich noch »Alles super« sagen, bevor ich einen Satz zur Seite mache und mich in hohem Bogen über die Reling übergebe.

Na klasse, denke ich. Wie sehr wird Randy jetzt bereuen, dass er mir eine Koje angeboten hat. Statt auf der Reise zu den Kanaren jemanden dabeizuhaben, der mitanpacken kann, hat er jetzt einen nutzlosen Mitesser an Bord, um den er sich noch zusätzlich zu kümmern hat. Ich fühle mich elend und bin mir nicht sicher, was gerade am schlimmsten ist: die Übelkeit? Das schlechte Gewissen oder die Scham? Oder die Gewissheit, dass es noch mindestens sieben Tage dauern wird, bis ich wieder festen Boden unter meinen Füßen habe?

Randy lässt sich nichts anmerken, er gibt sich verständnisvoll und erzählt mir von seinen Erfahrungen mit Seekrankheit, die ja fast jeder Segler schon mal gehabt hätte. Ich kann ihm leider nur halb zuhören, so sehr bemitleide ich ihn und mich selber. »Ich bin nicht seekrank«, stammle ich und merke dabei, wie unglaubwürdig sich das anhören muss. Randy scheint mich gerade auch nicht ernst zu nehmen, denn jetzt reicht er mir eine Packung mit Tabletten gegen Seekrankheit. Ich bemerke, dass sie tatsächlich schon geöffnet ist und einige Pillen fehlen – für einen Augenblick kann ich mich darüber freuen.

Eigentlich möchte ich trotzdem keine schlucken, aber ich bin jetzt zu schwach, um mich zu wehren. Ich spüle eine der Tabletten hinunter und frage mich, wie ich mich jetzt weiter verhalten soll. Aber Randy, ganz der Captain, hat schon einen Plan: »Ich habe geschlafen, fühle mich gut«, sagt er, »jetzt übernehme ich.« Ich schaue auf die Uhr und unterdrücke kurz den Impuls, ihm zu widersprechen: Es ist gerade einmal sieben Uhr und ich habe laut Plan noch den größten Teil meiner Schicht vor mir. Aber ich lasse die Dinge jetzt einfach geschehen und wehre mich nicht, als Randy mich in meine Koje schickt. »Du schläfst dich jetzt erst mal aus und morgen sieht die Welt dann ganz anders aus!«

Das bezweifle ich stark, denke ich, als ich die Treppe hinuntersteige und zu meiner Koje im hinteren Teil der Mystique wanke. Dort ziehe ich mich aus und drücke mein Gesicht in das Kopfkissen. Wie soll ich die nächste Woche bloß überstehen? Wie wird Randy morgen mit mir umgehen? Hält dieses bescheuerte Gefühlschaos jetzt wirklich noch tagelang an? Falls ja, dann ist dies schon das Ende meiner Tramperreise über den Atlantischen Ozean.

»Die Kanaren sind ja auch ganz schön«, denke ich noch, bevor ich in einen langen, traumlosen Schlaf falle, aus dem ich die nächsten 14 Stunden nicht erwachen werde.

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Libertalia

Es ist ein Augusttag in San Sebastián und zu dieser Zeit kann man sich in die baskische Hafenstadt eigentlich nur verlieben. In der Altstadt wimmelt es von Einheimischen und Touristen, die den ganzen Tag über nur Kaffee und Rotwein zu trinken scheinen. In kleinen Imbissen und Restaurants lassen sie sich Tapas schmecken, die hier Pintxos heißen und angeblich hier erfunden wurden. Durch jede der kleinen Gassen wehen die Klänge von Geigen, Gitarren, Bongos und allen erdenklichen anderen Instrumenten. In den letzten vier Wochen habe ich viele Städte gesehen, aber nirgendwo tummelten sich so viele Straßenmusiker wie hier.

An der Strandpromenade legen sich barfüßige Zauberer, Jongleure mit dicken Rastazöpfen und Feuerspucker in Batikshirts ordentlich ins Zeug, um sich von den flanierenden Touristen ein paar Euros für etwas zum Essen, einen Tetrapak Wein oder den nächsten Joint zu erschnorren. Unten am Strand springen Kinder in die Luft und versuchen, überdimensionale Seifenblasen zum Platzen zu bringen, die eine Blondine in einem bunten Blümchenkleid mit zwei Stäben in die Luft zieht. In großen Lettern hat sie »GRACIAS« vor sich in den Sand geschrieben, um die Eltern der Kinder wissen zu lassen, dass auch sie sich über eine Spende freuen würde.

Eines der beliebtesten Motive der Postkartenhändler zeigt die Promenade aus einem Winkel fotografiert, der die Bucht, die sie umschließt, wie ein riesiges Herz erscheinen lässt – mit einer kleinen Insel an der Spitze.

Um dem sowieso schon heftig übertriebenen Kitsch die Krone aufzusetzen, wird genau hinter dieser kleinen Insel gleich die Sonne im Atlantik untergehen.

43° 19' 05.6" N – 001° 59' 11.3" W

1 Jahr vor der Reise

Eigentlich müsste diese Hippieszenerie ganz gut zu meiner Stimmung passen. Ich nutze gerade meine letzten freien Semesterferien für eine Reise per Anhalter. Kreuz und quer bin ich in den letzten Wochen durch Europa getrampt. Ich habe als Couchsurfer in Prag und Paris übernachtet und in meinem kleinen Einmannzelt auf Rastplätzen in der Slowakei und an Autobahnabfahrten in Frankreich. Zwischendurch bin ich mal drei Tage von Bratislava aus an der Donau entlanggewandert, um in Wien einen Kumpel zu besuchen. Ich nehme alles so, wie es kommt, lasse mich treiben und lebe komplett ohne Pläne. So gesehen könnte ich mich also eigentlich ganz gut bei den anderen Tagträumern von der Strandpromenade an der Bahía de la Concha einreihen. Hier ein paar Freunde für die nächsten Tage zu finden, sollte kein Problem sein.

Noch vor ein paar Tagen hätte ich mich einfach ins Getümmel gestürzt. Doch jetzt gerade fehlt mir irgendwie die Lust. Vielleicht liegt es daran, dass San Sebastián bislang nicht gerade freundlich zu mir war. Bis kurz vor den Toren der Stadt lief es noch perfekt. Ramunas, ein litauischer Trucker, hatte mich aus Frankreich ins Baskenland mitgenommen. Ein superfreundlicher Kerl, der englisch sprach und mir zum Abschied ein halbes gebratenes Hühnchen zusteckte. An einer Abfahrt der Autopista 1 stieg ich aus dem Führerhaus seines Kühltransporters und ging davon aus, für die letzten paar Kilometer in die Altstadt schnell eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Stattdessen wartete ich Ewigkeiten ohne Erfolg und ging schließlich fast zwei Stunden zu Fuß durch die nordspanische Mittagshitze.

Endlich angekommen, erwartete mich dann die nächste negative Überraschung: Auf meine Anfragen für einen Übernachtungsplatz über Couchsurfing gab es nur Absagen.

Ich beschloss, mir für meine erste Nacht in San Sebastián erst einmal ein kleines Lager am Strand zu errichten – nur um wenig später von der Guardia Civil verjagt zu werden. Ziemlich frustriert schlug ich also spätabends mein Zelt auf einem Campingplatz auf, der auch noch etwas außerhalb der City lag. Dort habe ich die letzte Nacht verbracht, umringt von schicken Wohnmobilen und Familienurlaubern – ich fühle mich nicht wohl hier. Und dazu habe ich zum ersten Mal überhaupt auf meiner Reise für meine Unterkunft bezahlt. Zwar nur sieben Euro, aber bezahlt ist bezahlt und es geht ums Prinzip.

Nun sitze ich etwas missmutig vor meinem Laptop in einem Café in einer Seitengasse zur Strandpromenade. Bei Couchsurfing habe ich noch immer keine Zusage erhalten. Wie soll meine Reise jetzt weitergehen? San Sebastián und ich, das passt anscheinend gerade nicht. Also erst mal weitertrampen. Bislang habe ich es genossen, jeden Tag vollkommen frei entscheiden zu können, wohin ich möchte. Jetzt überfordern mich die Möglichkeiten ein bisschen und nichts reizt mich so richtig. Weiter entlang der Atlantikküste, nach Bilbao oder Santander? Oder in die Großstadt, nach Madrid oder Lissabon? Gelangweilt klicke ich mich durchs Internet, lade ein paar Bilder der letzten Tage bei Facebook hoch. Ein Selfie von mir vor dem Eiffelturm, ein Foto von meinem Rucksack auf einem Trecker irgendwo zwischen Paris und Bordeaux. Ich muss schmunzeln: die langsamste Mitfahrgelegenheit meiner Reise bislang, ich war beim Trampen ein Stückchen vom Weg abgekommen und ein Bauer brachte mich zurück zur Autobahn. Wir konnten uns nur mit Händen und Füßen verständigen, er sprach kein Wort Englisch und ich spreche kein Wort Französisch. Ein Foto von Stéphane, meinem Couchsurfing-Host in Paris. Bei ihm saßen jeden Abend außer mir noch weitere Gäste auf der Couch und gemeinsam mussten wir seine neuesten Erfindungen testen: Stéphane arbeitet als Brettspielentwickler. So richtig gut funktioniert hat irgendwie keines seiner Spiele, aber vielleicht lag das auch an dem Rotwein, den er zu unseren Spielrunden ohne Pause ausschenkte.

Während ich auf die ersten Reaktionen auf die Fotos bei Facebook warte, aktualisiere ich immer mal wieder den Couchsurfing-Tab. Vielleicht sagt mir hier ja doch noch jemand zu.

Nichts.

Also gebe ich mögliche Ziele in das Suchfenster ein und schaue mir die Profile der Gastgeber an. In Madrid und Bilbao fällt mir niemand ins Auge, ich scrolle eine Weile bei »Spanien«. Zwischendurch wieder zu Facebook, die ersten Kommentare auf meine Bilder sind da. Meine Tante schreibt mir, wie sehr sie Paris liebt, Adrian lacht über meine Treckerfahrt und wünscht mir noch viel Spaß.

Ich bin auf der dritten Suchergebnisseite für »Portugal« angekommen, als ich plötzlich bei einem Host hängen bleibe. »My couch is on a boat«, steht da und »Accepting guests«. Der Gastgeber heißt Phil, ist Deutscher und wohnt angeblich auf einem Segelboot, das sich gerade in Südportugal befindet.

»Das wäre ja zu cool, um wahr zu sein«, höre ich mich murmeln und merke, wie es anfängt zu kribbeln. Mit einem Schlag ist diese Reiseeuphorie wieder da, die ich heute so vermisst habe. Couchsailing – das wäre es doch! Ich versuche, mich ein wenig zu bremsen. Ist das vielleicht eines dieser unseriösen Angebote bei Couchsurfing, vor denen man immer mal wieder gewarnt wird? Möglicherweise hat der Typ es nur auf junge Frauen abgesehen, die er mit billigen Tricks beeindrucken kann? Vielleicht ist er aber auch einfach auf der Suche nach erfahrenen Seglern. Wahrscheinlich das. Wieso sollte jemand mit eigenem Segelboot sich irgendwelche Tramper auf seine Yacht holen?

Ich studiere das Profil genauer. »Ich benutze Couchsurfing, um Crew für mein Segelboot zu finden« steht da. Ein Bild von Phil, er scheint nicht viel älter zu sein als ich, es sei denn, das Foto ist nicht ganz aktuell. Und ein Bild von einem schwarzen Schiff mit zwei Masten. Das ist »normalerweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen« und hat zwei Gästekabinen. Plus eine »Wohnzimmercouch« – in Anführungszeichen.

Last-Minute-Anfragen okay? Ja

Maximale Anzahl von Gästen? 3

Kinder erlaubt? Nein

Haustiere erlaubt? Nein

Rauchen erlaubt? Ja

Und immerhin vier positive Referenzen, von denen sich zumindest zwei definitiv so anhören, als hätten da tatsächlich Leute bei Phil auf dem Boot übernachtet. Couchsurfing funktioniert auf Vertrauensbasis, Sicherheit wird nur dadurch geschaffen, dass Reisende ihre Hosts nach der Reise öffentlich einsehbar bewerten – und umgekehrt.

Ich schreibe Phil eine Nachricht:

Hey, ich bin Timo und gerade in Nordspanien unterwegs. Suchst du gerade Leute zum Mitsegeln? Ich hätte Lust, bin aber noch nie gesegelt (außer einmal auf Klassenfahrt auf dem Ijsselmeer, aber das zählt glaube ich nicht). Stimmt die Info, dass du gerade an der Algarve bist? Habe noch viel mehr Fragen, aber belasse es erst mal dabei und freue mich auf eine Antwort!

Lieben Gruß

Timo

Die Nachricht abgeschickt zu haben, gibt mir ein gutes Gefühl. Allerdings: Solange ich keine Antwort habe, habe ich noch immer keine Idee, wie es hier und jetzt für mich weitergeht. Also gehe ich erst einmal zum Tresen und bestelle eine der gelben Bierdosen, die mich aus dem Kühlschrank anlächeln. Es ist schließlich schon Nachmittag und ich bin im Urlaub. »Keler« heißt das lokale Gebräu und genau in dem Moment, in dem ich die Dose mit einem Zischen öffne, ploppt schon die Nachricht von Phil in meinem Couchsurfing-Posteingang auf:

Suche Crew, melde dich: +351921123456

Ein Telefonat und einen 30-Stunden-Trampermarathon quer durch Spanien später besteige ich das kleine Beiboot der Libertalia, mit dem mich Phil von einem Steg am Hafen des Fischerörtchens Tavira abholt. Ab jetzt reise ich per Anhalter auf einem Segelschiff!

Bevor ich drei Wochen später schweren Herzens von Bord gehen muss, da meine Semesterferien zu Ende sind, erlebe ich eine Zeit, die sich wie ein Traum anfühlt. Außer Käpt’n Phil und mir »wohnen« auf dem Boot: Reini, ein 49-jähriger Weltreisender aus Bremen. Anthony, ein Franzose, der so alt ist wie ich, aber schon seit einem Jahr durch Europa reist und dabei sagenhafte 150 positive Referenzen von Couchsurfing-Gastgebern erhalten hat. Später stößt noch die Schwedin Maria zu uns und gemeinsam segeln wir durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer.

Auf dem Weg beobachten wir Delfine, die auf unserer Bugwelle surfen. Ich lerne, was »backbord« und »steuerbord« bedeutet und dass man bei »Raumwind«, also bei Wind von der Seite, am schnellsten segelt. In Cádiz verbringen wir ein Wochenende, an dem wir jede Nacht bis in die Morgenstunden in Strandklubs tanzen. Ich stehe zum ersten Mal in meinem Leben am Ruder eines echten Schiffes. Wir ankern in Buchten, schnorcheln zwischen Barrakudas, angeln und grillen. In Gibraltar trinken wir britisches Ale, machen Selfies auf dem Affenfelsen und mit schwitzenden Polizisten. Ihre Uniformen sind für englischen Nieselregen und nicht für die südspanische Mittelmeersonne ausgelegt.

Und im Hafenbüro von La Línea entdecke ich einen Aushang am Schwarzen Brett: »Crew wanted: Gibraltar – Las Palmas de Gran Canaria«.

Die größten Angeber der Weltmeere: Eine Delfinschule zeigt ihr Können.

Viel zu schnell muss ich meine Koje auf der Libertalia wieder gegen mein selbst gebautes WG-Bett in Hamburg tauschen und meinen Platz am Ausguck gegen den Schreibtischstuhl.

Eigentlich sollte meine ungeteilte Aufmerksamkeit nun meinem Uniabschluss gelten.

Doch dieser Zettel von La Línea geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Sollte es tatsächlich möglich sein, über den Atlantik zu trampen? Einen Ozean ohne Flugzeug und ohne eigenes Schiff zu überqueren?

Irgendwann vor ein paar Jahren hatte ich einmal darüber nachgedacht, auf einem Containerschiff anzuheuern und so nach Amerika zu reisen. Das hatte sich damals aber schnell zerschlagen: Auf den modernen Ozeanriesen arbeitet in der Regel nur eine Handvoll hoch qualifizierter Leute. Auf Tankern und Containerschiffen wartet niemand auf einen hemdsärmligen Tramper wie mich. Aber auf Segelbooten also?

Immer wieder ertappe ich mich in diesen Monaten bei dem Versuch, mehr über das Trampen zur See herauszufinden. Wie realistisch wäre so ein Vorhaben? Ich stoße auf Blogs von Seglern, die Ozeane überquert haben oder gerade dabei sind. Und ich verschlinge bergeweise Bücher der großen Segellegenden. Abenteuererzählungen von den Weltmeeren statt Fachliteratur in Erziehungswissenschaften. Bei den Berichten von Wilfried Erdmann und Bernard Moitessier über ihre aberwitzigen Abenteuer wird das Kribbeln in meinem Bauch so stark, dass ich mich frage, wieso ich nicht schon viel früher auf das Segeln gestoßen bin. Der Virus hat mich gepackt.

Es gibt nur diesen einen kleinen Haken: In meinen Segelgeschichten haben die Atlantiküberquerer natürlich ein eigenes Boot – ausnahmslos. Ab und an finden sich aber immerhin kleine Hinweise: Manchmal ist von Mitseglern die Rede, die beim Ausguck helfen oder auf See die Kinder eines jungen Weltumseglerpärchens betreuen und unterrichten. Das könnte doch ich sein!

In jedem Fall wäre es gut, segeln zu können. Also mache ich nebenbei in einem Onlinekurs den »Sportbootführerschein See«. Ein Anfängerkurs für 200 Euro, in dem es um die Grundlagen der Navigation und die wichtigsten Regeln auf See geht. Eine Segelyacht könnte ich damit noch nicht chartern, aber immerhin habe ich jetzt in der Theorie mal einen Segeltörn geplant. Bei der Arbeit mit Seekarte, Bleistift und Zirkel komme ich mir schon fast vor wie ein echter Segler. In Wirklichkeit bin ich zwar noch weit davon entfernt, eine richtige Segelyacht führen zu können. Aber ich kenne ein paar Fachbegriffe – und mit dem Schein habe ich nun ein amtliches Dokument in der Hand, das zumindest beweist, dass ich mich mit dem Hochseesegeln schon mal beschäftigt habe.

Je näher das Ende meines Studiums rückt, desto klarer wird mir: Das Referendariat wird warten müssen. Bevor ich mir einen richtigen Job suche, muss jetzt erst mal meine Abenteuerlust gestillt werden.

Über Facebook habe ich über die letzten Monate den Kontakt zu Phil gehalten, meinem Käpt’n von der Libertalia. Ich weiß, dass er in diesem Sommer von Spanien aus in den Süden zu den Kanarischen Inseln gesegelt ist. Die ganze Zeit über mit verschiedenen Mitseglern an Bord. Irgendwann will auch er den Ozean überqueren – vielleicht stellt er sich als mein Joker bei der Suche nach einer Mitsegelgelegenheit heraus. Das würde meinen Plan deutlich vereinfachen. Ich erreiche ihn schließlich per Skype und sehe ihn auf meinem Monitor, wie er mit nichts als einer ölbefleckten giftgrünen Badehose auf dem Deck seines Schiffs sitzt. In der Hand hält er eine Zigarette und vor ihm steht eine grüne Dose Tropical.

»Timo, altes Haus! Was macht das Spießerleben? Nieselregen? Oder wie ist das Wetter da oben bei dir?«

»Ja, das Wetter sieht bei dir besser aus … Aber mein Spießerleben ist bald wieder vorbei! Ich werde wieder segeln gehen!«

Ich berichte Phil von meinem frisch erworbenen Bootsführerschein und von meiner Idee, an der er gewissermaßen eine Mitschuld trägt.

»Geil! Mach das! Ich habe hier eine Menge Trampertypen wie dich gesehen – total normal hier!«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Phil übertreibt. Das weiß ich noch von unserer gemeinsamen Zeit auf dem Mittelmeer: Er liebt es, Leute für große Abenteuer zu motivieren. Aber jetzt hoffe ich eigentlich auf etwas anderes:

»Wie schaut’s denn bei dir aus? Wolltest du nicht auch über den Großen Teich, jetzt bald?«

»Jo, der Plan steht! Im November geht’s los und dann ab nach Brasilien!«

Ich überlege. Bis November müsste ich dafür schon auf den Kanaren sein, das wird knapp. In Spanien oder Portugal müsste ich ein Boot zu den Kanaren finden. Das dauert sicher ein, zwei Wochen. Der Segeltörn selber dürfte noch mal ähnlich lang dauern. Oder soll ich einfach nach Fuerteventura fliegen … Phil unterbricht meinen Gedankengang:

»Die Crew habe ich schon zusammen! Ein Amerikaner und zwei Norwegerinnen kommen bald!«

»Shit. Das heißt, dass du für mich keinen Platz hast. Oder?«

»Nee, sorry. Hättest du mal eher Bescheid gesagt, ich hätte dich gerne dabeigehabt! Aber zu fünft – das wird zu eng! Aber wir sehen uns ja dann trotzdem, oder? Wird mal wieder Zeit für ein gemeinsames Bierchen!«

Eigentlich müsste ich jetzt enttäuscht sein, aber mein alter Käpt’n ist schon dabei, meine Reise zu planen. Spätestens im Oktober soll ich in Südspanien sein, sagt er: »Am besten in Gibraltar, da tanken alle noch mal billigen Sprit!«

Das deckt sich mit dem, was ich mir angelesen habe: Atlantiküberquerungen in Richtung Westen finden im Spätherbst und im Winter statt. Zwischen November und Februar bläst der Nordost-Passat, eine Windströmung, die Segelschiffe zuverlässig über den Ozean pustet. Angeblich nutzen viele Bootseigner den Passatwind, um den kalten europäischen Wintermonaten aus dem Weg zu gehen und stattdessen den Jahreswechsel in der Karibik zu verbringen. Was für ein Leben!

»Da sind jede Menge Rentner unterwegs, Timo! Die können alle gut jemanden gebrauchen, der noch fit ist und ein bisschen anpacken kann!«

Unser Skype-Telefonat läuft zwar nicht so, wie ich es mir insgeheim erhofft hatte. Trotzdem habe ich anschließend das Gefühl, dass mein »Atlantikprojekt« auf jeden Fall klappen kann. Phil verspricht, sich im Hafen umzuhören, ob jemand Crew braucht. Und er gibt mir eine Menge Tipps, wie man denn genau ein Boot findet. Schwarze Bretter gibt’s in jedem Hafen, genau wie Hafenkneipen, in denen ich Segler treffen kann. Außerdem schickt er mir eine Liste mit »Crewbörsen« – Internetforen, in denen Skipper nach Mitseglern suchen. Wir bleiben in Kontakt.

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Kopfschütteln

Mein Herz klopft, als ich ein letztes Mal nach oben scrolle, bevor ich auf den roten »Buchen«-Button der Flugsuchmaschine klicke.

Datum: 11. November

Abflug: 15.55 Uhr

Ziel: Málaga, Costa del Sol, Spanien

Reiserücktrittsversicherung: ohne

Stimmt alles. Málaga ist es geworden, weil es dorthin von Hamburg aus billige Direktflüge gibt und es bestimmt nicht schaden kann, neben Gibraltar auch ein paar andere Häfen in der Nähe abzuklappern. Ich drücke auf den Button und wenige Sekunden später erscheint die Flugbestätigung in meiner Mailbox. Ich grinse, springe aus meinem Schreibtischstuhl auf und drehe mich vor Freude und Aufregung einmal um meine Achse – jetzt ist es fix! In nicht einmal vier Wochen startet die Reise, der ich seit einem Jahr entgegenfiebere.

53° 33' 40.8" N – 009° 57' 17.8" O

24 Tage bis zum Start

Eigentlich hatte ich nach der Flugbuchung noch ein bisschen weiter mein Abenteuer planen wollen. Aber im Grunde ist die Planung abgeschlossen, alles Weitere wird unterwegs in Südspanien passieren. Mein erstes Boot über den Ozean werde ich eher nicht an diesem Donnerstag in meiner WG in Hamburg-Altona am Computer finden.

Und immerhin ist eben der Startschuss zur Erfüllung eines meiner größten Träume gefallen. Oder ich habe mich zumindest in den Startblock gesetzt. Jedenfalls bin ich aufgeregt und hibbelig und dieser Tag muss gefeiert werden!

In der Wohnküche meiner WG, mein erster Anlaufpunkt für solche Gelegenheiten, werde ich nicht fündig – keiner da. Also laufe ich in Richtung Sternschanze. Dort arbeite ich schon seit dem Studium in verschiedenen Bars und Cafés. Gerade in den letzten Wochen habe ich dort so manche Schicht geschoben – und mir so ein bisschen Geld für meinen Trip verdient. Dementsprechend viele Leute kenne ich dort – da findet sich bestimmt jemand, der Lust auf ein Bier hat.

Dunkle Wolken hängen über der Stadt, der Wind fegt durch die Häuserschlucht an der Stresemannstraße, auf der der Feierabendverkehr stadtauswärts in Richtung Autobahn kriecht. Die Leute hetzen in Richtung S-Bahn, ein Fahrradfahrer pöbelt einen Fußgänger an, der brüllt zurück. Es ist noch nicht einmal sechs Uhr und die Dämmerung hat eingesetzt – der Herbst ist angekommen in Hamburg, der Nieselregen lässt bestimmt nicht lange auf sich warten. Nur meiner Laune kann all das gerade nichts anhaben. Immer wieder merke ich auf dem Weg, wie manche meiner Schritte zu kleinen Freudensprüngen werden. Was interessiert mich das Hamburger Wetter? Schon bald befinde ich mich auf dem Weg in die Karibik! Ich versuche, einen Gang herunterzuschalten, scheitere aber: Nach wenigen Sekunden befinde ich mich wieder hüpfend auf dem Weg nach St. Pauli. Als ich an die Sternbrücke komme, erkenne ich, dass in der Astrastube das Licht brennt – perfekt.

»Lenni!« – begrüße ich meinen Mitbewohner, der in dem kleinen, abgeranzten Musikschuppen unter der baufälligen Bahnbrücke gerade ein Konzert von zwei Indiebands vorbereitet. »Was machst du denn hier?«, fragt er, erwartet aber keine Antwort, sondern läuft nach hinten zum Kühlschrank und kommt mit drei grünen Jever-Flaschen zurück.

Im selben Moment kommt Niels mit einer Kiste Fritzkola durch die Eingangstür. Deshalb drei. Niels ist für das Programm in der »Stube« zuständig. Ich glaube, er kennt jede Rockband zwischen Neapel und Kirkenes und ist eigentlich immer hier, wenn er nicht gerade schläft.

Wir setzen uns auf die Barhocker und stoßen an.

»Ich habe gerade einen Flug gebucht!«

»Wohin?«

»Málaga!«

»Wann?«

»In vier Wochen.«

»Warum?«

Lenni spricht nicht viel und ein großer Reisefan ist er auch nicht. Niels studiert das Booklet einer CD und ich bin mir nicht sicher, ob er uns überhaupt zuhört.

»Dort geht’s los, von da trampe ich über den Atlantik!«, sage ich. Lenni schaut mich an, als würde er sich fragen, ob ich das ernst meine. »Hä?«, fragt er.

»Lenni, davon spreche ich doch seit Monaten.« Ich hatte mir ein bisschen mehr Euphorie erhofft, hätte mir aber auch denken können, dass Lenni dafür der falsche Ansprechpartner ist.

»Ich dachte, das wäre nur Gequatsche«, sagt Lenni und prustet jetzt laut los: »Das klappt doch nie!«, sagt er. »Du meinst das ernst, oder? Ich sehe dich schon auf irgendeiner Insel im Ozean sitzen und den Schiffen winken! Hola, hola, por favoooor!« Lenni bekommt sich kaum ein vor Lachen, und auch ich muss jetzt schmunzeln.

Viele Konzertbesucher erwarten Lenni und Niels heute nicht. Die beiden Bands kommen aus Lübeck und Neuss – sie haben ihren großen Durchbruch noch vor sich und sind hier in Hamburg bislang nur wenigen echten Liebhabern bekannt. Aber neben einer Handvoll eingefleischter Musikfans stoßen den Abend über noch einige Freunde und Bekannte zu uns und ich kann ausgiebig mein Projekt bequatschen.

Immer wieder muss ich erklären, wie ich mir das vorstelle: In den Häfen Südspaniens will ich mich auf die Suche machen nach Kapitänen, die mit ihren Schiffen in Richtung Amerika unterwegs sind und für die Überfahrt Crew brauchen. Klassisches Anheuern, wie es noch vor hundert Jahren hier gleich um die Ecke im Hamburger Hafen absolut üblich war.

»Aber wieso sollte dich da jemand mitnehmen wollen?«, fragt Niels. »Und dann auch noch umsonst? Oder bezahlst du denen dann was?«

»Nein, zahlen möchte ich nichts. Eine Ozeanüberquerung mit dem Segelboot dauert mehrere Wochen«, sage ich. »Da haben viele Segler lieber noch ein Paar zusätzlicher Hände an Bord – und die habe ich!«

Ich ernte viel ungläubiges Kopfschütteln und es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass ich das Prinzip »Hand gegen Koje« erkläre. So richtig kann sich hier keiner vorstellen, dass – und wie genau – das funktionieren soll. Und wenn ich ehrlich bin: Auch ich habe noch keine Ahnung, ob ich in ein paar Wochen tatsächlich das europäische Festland auf einem Segelboot verlassen werde.

»Ja, geiler Trip«, sagt Felix, einer meiner Tresenkollegen aus der Kneipe, »die Karibik ist super. Aber wieso sparst du nicht einfach noch einen Monat und kaufst dir dann ganz normale Flugtickets?«

Ich brauche eine Sekunde, um die Frage überhaupt zu verstehen.

»Ich will doch nicht segeln, nur um nach Südamerika zu kommen. Also schon, aber darum geht es mir doch nicht. Ich will wissen, wie das ist, wenn man wochenlang kein Land sieht!«

Ich will herausfinden, wie groß sich so ein Ozean anfühlt. Wie es ist, irgendwann an der anderen Seite Land zu sehen und an einem Ort anzukommen, an den man normalerweise nur per Flugzeug kommt. Ich möchte am eigenen Leib erfahren, wie groß der Planet ist, auf dem wir leben. Mit dem Flugzeug geht das nicht: Bei jedem meiner Interkontinentalflüge der letzten Jahre kam es mir nach der Landung geradezu absurd vor, wie ich nach einigen Stunden in der klimatisierten Flugzeugkabine plötzlich an einer ganz anderen Ecke der Welt ausgespuckt wurde. Mit dem Flugzeug bin ich schneller in New York als mit dem Auto in München – wie soll man so begreifen, wie weit es nach Amerika ist?

Im Moment werden solche Fragen aber auch langsam unwichtiger: Ich stoße ausgiebig auf mein Projekt an und werde zum Protagonisten jeder Menge beschwipster Szenarien, die an diesem Abend entworfen werden. In ihnen treffe ich auf Kapitäne, die mich auf dem Ozean als Lustknaben halten, lande schiffbrüchig wahlweise auf irgendwelchen einsamen Inseln, Eisschollen oder treibend auf selbst gebauten Flößen Tausende Seemeilen von der nächsten Küste entfernt. Mehrmals werde ich darauf hingewiesen, dass ich im schlimmsten Notfall meinen eigenen Urin trinken kann, und es tauchen erstaunlich viele und kreative Ideen auf, wie ich bei Hunger ohne jegliche Ausrüstung Fische fangen kann.

Es wird eine lange Nacht, in der wir nach der Astrastube noch in einigen anderen Bars landen. Als Lenni und ich nach Hause torkeln, fährt die S-Bahn schon wieder – also ist es nach halb fünf am Morgen.

Wenige Tage später sitze ich knapp 250 Kilometer weiter westlich bei ein paar Tassen Ostfriesentee in der Küche meiner Eltern. Natürlich dreht sich auch hier alles um meinen Trip – nur der Tonfall unterscheidet sich deutlich.

»Das ist doch Träumerei! Und wie viel Zeit du damit wieder vertrödeln wirst! Du willst wohl nie anfangen zu arbeiten?« Mein Vater kommt einfach aus einer anderen Welt als ich: Handwerksmeister, selbstständig (»Die Betonung liegt auf ›ständig‹!«) seit fast zwanzig Jahren, und wahrscheinlich wird er mir gleich erzählen, dass er gerade fünfzehn Jahre alt war, als er anfing, »richtig zu arbeiten«, und dass er seitdem nie länger als zwei Wochen Urlaub am Stück gemacht hat.

Eigentlich müsste er sich langsam daran gewöhnt haben, dass ich etwas anders Urlaub mache, als er das tut. Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit auf Reisen »vertrödelt«: Ich trampte durch Israel und den Nahen Osten und war zu Fuß in den Anden und im südamerikanischen Dschungel unterwegs. Auf Offroadpisten fuhr ich durch das australische Outback und in Südostasien tanzte ich nächtelang auf Full-, Half- und Quartermoonpartys. Selten dauerten diese Abenteuer kürzer als zwei, drei Monate. Mein Vater hielt sie schon immer eher für Zeitverschwendung und hatte eigentlich die Hoffnung, dass ich jetzt bald anfangen würde, meine Karriere in Schwung zu bringen. Wenn schon nicht als Handwerker, dann zumindest als Lehrer.

Dass er von meiner Idee, nach Amerika zu trampen, nicht gerade hellauf begeistert sein würde, überrascht mich also nicht. Also versuche ich erst gar nicht, ihm klarzumachen, wie sinnvoll und wie wichtig dieser Trip für mich ist.

Aber ich wundere mich ein bisschen darüber, wie meine Mutter reagiert. Eine ganze Weile sitzt sie einfach da auf unserer kleinen roten Küchencouch und sagt gar nichts. Von ihr hätte ich mir eigentlich ein bisschen Begeisterung erhofft. Dass sie Papa vielleicht an seinen Vater erinnert, der letztes Jahr gestorben ist und sein ganzes Leben lang von einer großen Weltreise geträumt hatte, am liebsten zur See.

Meine Mutter hatte meine Reiselust schon immer besser nachvollziehen können. Von ihr kamen im Laufe der Jahre immer wieder die Sprüche, die ich hören wollte: »Ich hätte mir die Welt auch mehr anschauen sollen, als ich noch jung war«, und, mein persönlicher Favorit: »Du weißt selbst am besten, was das Richtige für dich ist!«

Jetzt nippt sie an ihrem Tee und es fällt mir schwer, ihren Gesichtsausdruck zu lesen.

»Mama, du sagst ja gar nichts!«

Sie schweigt weiter, wirft aber jeweils einen Kluntje in jede unserer drei Teetassen. Ohne den großen weißen Kandis trinkt hier niemand seinen Tee – ostfriesisches Teegesetz ist ostfriesisches Teegesetz. Jetzt steht meine Mutter auf, sie hat noch immer nichts gesagt, und gibt einen Schuss heißes Wasser in die Teekanne aus Porzellan, aus der wir schon Tee trinken, seit ich denken kann. Sie füllt unsere Tassen auf, setzt sich und sagt: »Aber an Weihnachten bist du wieder da, oder?«

Daher weht der Wind! Meine Mutter ist schon einen Schritt weiter und gerade dabei zu verstehen, dass so ein Trip auch bedeutet, dass wir uns eine ganze Weile lang nicht sehen werden. Und ganz offensichtlich hat sie schon eine Vorstellung davon, wie lange man für so eine Atlantiküberquerung so brauchen könnte: Denn bis Weihnachten wird das natürlich knapp. Die reine Segelzeit von Spanien nach Amerika müsste ungefähr vier Wochen betragen. Da ist kein einziger Landgang miteingerechnet und erst recht nicht die Zeit, die ich in den Häfen brauchen werde, um überhaupt erst mal ein Boot zu finden, das Platz für mich hat, und einen Kapitän, der mich brauchen kann. Und dazu kommt: Sollte ich tatsächlich gleich in Málaga auf ein Segelboot stoßen, das bereit zum Ablegen ist und eigentlich nur noch auf mich wartet, hätte ich wahrscheinlich schon Lust, mir nach der erfolgreichen Atlantiküberquerung noch ein bisschen die karibische Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Aus meiner Sicht spricht auch nicht viel dagegen, die Weihnachtstage unter Palmen zu verbringen.

»Das kommt darauf an, wie schnell ich ein Boot finde«, sage ich. »Versprechen kann ich das nicht.« Mutter nickt nur, aber ich kann ihr ansehen, dass sie weiß, was das bedeutet. Sie kennt mich. Wenn die Angelogene weiß, dass sie angelogen wird, dann ist es keine Lüge mehr, oder?

Das scheint auch meine Mutter so zu sehen, jedenfalls schaffen wir es jetzt, uns noch ein paar schöne Tage zu machen, bevor ich wieder nach Hamburg fahre, um die letzten Dinge zu organisieren. Für mein WG-Zimmer finde ich ziemlich schnell einen Zwischenmieter – ein Kumpel von einem Kumpel meines Mitbewohners sucht gerade eine Unterkunft. Ich mache mit ihm aus, dass er mein Zimmer für mindestens drei Monate haben kann und eventuell auch noch länger. So habe ich das immer gemacht, wenn ich auf einer größeren Reise war: WG-Zimmer in Hamburg sind heiß begehrt, sodass sich eigentlich immer jemand findet, der meine Miete zahlt, während ich irgendwo anders unterwegs bin.

Ein bisschen länger denke ich darüber nach, was ich einpacken soll. Ölzeug, Rettungsweste, Segelschuhe und -handschuhe – als ich mich im Bootsausrüstungsladen Niemeyer bei mir um die Ecke umschaue, finde ich viele Dinge, die ich eventuell brauchen könnte. Hier würde es nicht lange dauern, einen Koffer zu füllen. Noch schneller würde ich hier aber auch ein riesiges Loch in meine kleine Reisekasse reißen. Wahrscheinlich ist es schlauer, meine künftigen Kapitäne mit ultraleichtem Gepäck zu beeindrucken als mit perfekter Segelausrüstung. Ich kaufe mir für zwei Euro das winzige Büchlein »Knoten. 24 maritime Knoten in über 100 praxisgerechten Fotos« und beschließe, ansonsten mit dem auszukommen, was ich bereits habe.

Meine Regenhose kommt mit, gegen das Wasser, das von unten an Deck spritzt. Nach langem Hin und Her entschließe ich mich auch, meine Allwetterjacke einzupacken. Ansonsten wird es auf dem Boot wahrscheinlich eher heiß – schließlich bin ich einen Großteil der Reise in tropischen Breiten unterwegs. Also Sonnenbrille und -creme, Badehose. Bei meinem Neoprenanzug, den ich mir mal zum Windsurfen gekauft habe, überlege ich kurz, lasse ihn dann aber zu Hause. Handgepäck sollte reichen. Schließlich gibt es auf Segelbooten in der Regel wenig Platz, da brauche ich nicht meinen halben Hausstand mitzuschleppen. Falls sich unterwegs herausstellen sollte, dass irgendetwas unverzichtbar ist, dann werde ich mir das schon irgendwo kaufen können. Nur mein Schlafsack muss auf jeden Fall mit, ich kann nicht erwarten, dass mein nächster Kapitän Bettzeug für mich bereithält. Und wahrscheinlich brauche ich ihn auch bei meinen Unterkünften an Land: Solange ich kein Boot habe, möchte ich wenn möglich bei Couchsurfern übernachten. Das ist kostenlos und ich lerne außerdem gleich noch ein paar Locals kennen, das ist immer gut. Und wer weiß, vielleicht treffe ich ja jemanden, der jemanden kennt, der ein Segelboot hat …

Als Gastgeber für meine erste Nacht in Málaga kämen Kiki und Reme infrage, ein Paar, das den Bildern im Couchsurfing-Profil nach zu urteilen ein paar Jahre älter als ich sein müsste und sagenhafte 70 positive Bewertungen gesammelt hat. Oder Loreno, der auf seinem Profil von seinem dreiwöchigen Couchsurfing-Trip durch Italien schwärmt. Mari Jaime ist 26, hat kurze blonde Haare und ihre Fotos sind entweder sehr vorteilhaft oder sie ist extrem sexy, außerdem war sie schon mal in Hamburg. Als ich ein paar Tage vor meinem Abflug ein paar Couchsurfer anschreibe, um eine Bleibe für die erste Nacht zu finden, beginne ich meine Nachrichten immer gleich:

SUBJECT: Timo from Germany sent you a new CouchRequest

Hey,

ich bin Timo, bin 28 Jahre alt und mein Ziel in diesem Winter ist es, über den Atlantik zu trampen. Also muss ich als Erstes eine Segelyacht finden, die mich zu den Kanaren bringt. Die Häfen in Südspanien sind gut, um so ein Boot zu finden. Also probiere ich es zuerst in Málaga.