Crackrauchende Hühner - Leveret Pale - E-Book

Crackrauchende Hühner E-Book

Leveret Pale

4,8

Beschreibung

Nihilismus. Romantik. Drogen. Chaos. Kratom. Karl Marx beim Monopolyspielen. Zwei Hühner auf Crack. Der totale Wahnsinn. Der 17-jährige Schüler Nathan ist ein psychopathischer Freak mit der exotischen Lieblingsdroge Kratom. Von den meisten seiner Klassenkameraden wird er gemieden, so auch von Daniel, der sogar Angst vor Nathan hat. Doch bei der Berlinklassenfahrt am Ende der zehnten Klasse kommen Nathan und Daniel in dasselbe Hotelzimmer und damit wird die Konfrontation unausweichlich. Bald schlagen Daniels Ängste vor Nathan jedoch in eine morbide Faszination für den exzentrischen Außenseiter, dem eine prophetische Macht innezuwohnen scheint, um. Je länger Daniel aber Nathan folgt, desto mehr beginnt die Realität zu zerbröckeln. Bald vollführt Nathan biblische Wunder und hält nihilistische Predigten. Es tauchen sonderbare Gestalten auf, wie Schwarze in Einhornkostümen, sprechende, cracksüchtige Hühner und suizidale Zombies. Zunehmend beginnen Traum und Realität immer mehr ineinander zu kollabieren. Bald steht Daniel vor der Frage: Was ist real? Und wen interessiert das eigentlich? -- korrigierte Neuauflage 2019 ---

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Ein postmoderner, surrealistischer, nihilistischer und vielleicht sogar postfaktischer Texthaufen; wahrscheinlich ein romantischer und gleichzeitig dekonstruktiver Roman. Ein psychedelischer Trip zwischen die Zeilen.

Míau

DAS BUCH

Der 17-jährige Schüler Nathan ist ein psychopathischer Freak mit der exotischen Lieblingsdroge Kratom. Von den meisten seiner Klassenkameraden wird er gemieden, so auch von Daniel, der sogar Angst vor Nathan hat. Doch bei der Berlinklassenfahrt am Ende der zehnten Klasse kommen Nathan und Daniel in dasselbe Hostelzimmer und damit wird die Konfrontation unausweichlich. Bald schlagen Daniels Ängste vor Nathan jedoch in eine morbide Faszination für den exzentrischen Außenseiter, dem eine prophetische Macht innezuwohnen scheint, um. Je länger Daniel aber Nathan folgt, desto mehr beginnt die Realität zu zerbröckeln. Bald vollführt Nathan biblische Wunder und hält nihilistische Predigten. Es tauchen sonderbare Gestalten auf, wie Schwarze in Einhornkostümen, sprechende, cracksüchtige Hühner und suizidale Zombies. Immer mehr beginnen Traum und Realität ineinander zu kollabieren. Bald steht Daniel vor der Frage:

Was ist real? Und wen interessiert das eigentlich?

Die Neuauflage 2019 wurde durch ein Korrektorat von Robin Gerull ermöglicht.

DER AUTOR

Leveret Pale ist das Alter Ego des deutschen Schriftstellers Nikodem Skrobisz (*26.02.1999). Er verfasste Crackrauchende Hühner im Alter von 17 Jahren, innerhalb von drei Wochen. Seit Oktober 2017 ist er Vorstandsmitglied des BVjA. Er hat mehrere Romane veröffentlicht und ist Autor zahlreicher Artikel, Essays und Kurzgeschichten. Er studiert zurzeit Kommunikationswissenschaft und Psychologie in Jena. Mehr Informationen gibt es auf seiner Webseite:

https://leveret-pale.de

Sie sollten dieses Buch nicht lesen, wenn Sie engstirnig oder religiös sind, und auf keinen Fall, wenn Sie keinen Humor haben. In diesen Fällen wäre vielleicht eine Kapsel Zyankali ein besserer Zeitvertreib.

Sämtlich Äußerungen, Beschreibungen, Geschichten, Ideen und Charaktere auf den folgenden Seiten, und sogar meine eigene Persönlichkeit, sind fiktiv. Also verklagt mich nicht. Und ich übernehme keine Haftung, für gar nichts und schon gar nicht dafür, dass jemand meint, irgendetwas davon zu ernst nehmen zu müssen.

Für den blassen Engel, der mir die Silberphiole mit der Asche der Blauen Blume brachte. In seinen Adern floss schwarzer Mohnsaft, gemischt mit Peyotelspeichel, gesalzen mit Amphetaminen. Er hustlet noch immer durch die trostlosen Straßen und Gassen von Nimmermehr.

Inhaltsverzeichnis

Nathan der Weise

High mit dem Messias

Kratomträume

Das Erste Wunder

Linksradikale

Politisches Geschwafel

Interview mit Herrn Karl M.

Explosion

Die Cannabisvermehrung von Neukölln

Ein ganz normaler Tag, fast

Krankenhaus und Freud

Die Rückkehr des Penners

Heimfahrt

Polizeibericht

Ankunft und Befragung

Bahnsteigphilosophie

Nathans Domizil

Der Bunker

Das dealende Einhorn

Asiafood

Stachus

Sektentreffen mit Hühnern

Bombenbauen

I set fire to the shit

Schreiben

Wissenschaften

Pavillon

Fight Club

Chainsawchickencurry

Anale Penetration

Hitler in Pink

Scheissewerfen

Startvorbereitungen

Mit der LSD-Rakete

Richtung Erleuchtung

Monologe

Erkenntnis und Tod

Wiederauferstehung

Endlösung der Nathanfrage?

Deus Rex

Prolog: Nathan der Weise

Nathan war ein komischer Kauz.

Das fing bei seinem Aussehen an. Die Haare standen widerspenstig in alle Richtungen ab, die Wangenknochen traten aus dem abgemagerten Gesicht hervor. Am Grund seiner eingefallenen Augenhöhlen lagen blaue Opale, die einen stechenden, analytischen Blick ausstrahlten. Wenn Nathan einen ansah, fühlte es sich an, als würde eine kalte Geisterhand in einem herumtasten. Man zuckte unwillkürlich zusammen und rieb sich am Körper, um das klebrige Gefühl dieser sonderbaren Kälte zu vertreiben.

Sein Gang war schleppend, als würde er durch den Raum treiben. Die spinnenartigen Beine waren dem Körper immer einen Meter voraus, der bei jedem Schritt etwas in die Knie ging und wieder hochwippte.

Als wir im Deutschunterricht die Ringparabel aus Nathan der Weise von Lessing lasen, fragte unser Deutschlehrer, wohl im Scherz, Nathan, was er von der Ringparabel halte. Der antwortete ohne mit der Wimper zu zucken in einem sachlichen Ton: »Statt den Ringen hätte Lessing auch drei Pferdeäpfel nehmen können, das wäre anschaulicher. Die kann man nämlich auch kaum auseinanderhalten, und sie entsprechen deutlich akkurater der Natur solcher Scheißdogmen.«

Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus, unser Deutschlehrer erblasste und sagte: »Nathan, nach der Stunde zu mir.«

Und natürlich ging Nathan nach der Stunde einfach nach Hause, statt mit dem Lehrer zu diskutieren. Denn so war Nathan: verrückt, manchmal kindisch, dann wieder todernst – immer ein Rebell, der einfach machte und sagte, was er wollte.

Wir nannten ihn seitdem oft Nathan den Weisen, wie den Typen aus der Ringparabel. Das war eigentlich als Witz gedacht, aber wir lagen damit sicherlich nicht ganz falsch. Denn unser Nathan hatte tatsächlich, trotz allem Unsinn, den er trieb, etwas Weises an sich, aber auch etwas Gefährliches und Skrupelloses.

Viele bezeichneten ihn als einen Psychopathen, und spätestens seit dem Vorfall mit Herrn Maaysen zweifelte kaum jemand daran, dass er auch einer war.

Der Vorfall ereignete sich letzten Winter. Herr Maaysen war damals unser Englischlehrer. Niemand mochte ihn, und er mochte niemanden. Er war ein aufgeblasener Despot, der von allen gefürchtet werden wollte, offensichtlich, um zu kompensieren, dass er wie ein weichgespültes Muttersöhnchen aussah. Anfangs hatten wir den Fehler gemacht, ihn wegen seines Auftretens - kleingebaut, weiche, schwabbelige Statur, fettiges blondes Haar und Quietschestimme – zu unterschätzen, und ihm keinen Respekt entgegenzubringen. Nach zwei Schulwochen, zehn Verweisen und zahlreichen Strafarbeiten hatte er uns allen Angst eingehämmert - allen, außer Nathan.

Herr Maaysen gab an dem Tag die letzte Schulaufgabe an die Klasse heraus. Wie bei jedem seiner Tests, war der Notenschnitt fatal. Als der Despot Nathan dessen Schulaufgabe austeilte, lächelte er breit und sagte:

»Nathan. Du hast einen sehr großen Wortschatz und dein Essay ist nicht schlecht formuliert. Aber leider hast du das Thema verfehlt. Note: sechs.« Nathan nahm sie, blätterte durch sein Essay und stand auf. Er ging zum Waschbecken neben der Tafel.

»Nathan, was machst du da?«, fragte Herr Maaysen.

»Ihr Thema war scheiße und mein Essay besser als alles, was Sie jemals zustande bringen könnten. Die Note ist inakzeptabel.« Mit diesen Worten entzündete Nathan die Schulaufgabe mit einem Zippo. Aus dem Waschbecken züngelten orange Flammen. Nathan drehte den Wasserhahn auf und das Feuer erlosch zischend. Dampf stieg auf.

Die ganze Klasse sah atemlos zu. Selbst diejenigen, die gerade noch wegen ihrer schlechten Noten untereinander empört tuschelten, erstarrten.

»Spinnst du?«, brüllte Herr Maaysen. »Feuer in der Schule – dafür wirst du fliegen!«

»Wenn Sie es darauf ankommen lassen wollen«, sagte Nathan stoisch, zuckte mit den Schultern, nahm seinen Schulranzen und ging zur Tür.

»Wohin gehst du?«, brüllte Maaysen. »Ich will mit dir nach der Stunde zum Direktor. Das ist Brandstiftung. Gib mir das Feuerzeug!« Seine Wangen wurden so knallrot wie jedes Mal, wenn er einen Wutanfall bekam. Sie gaben ihm das Aussehen eines Milchbubis aus einer Zwiebackwerbung. Darüber machten wir Schüler uns häufig hinter seinem Rücken lustig.

»Ich nehme mir frei für heute. Das ist mir zu bescheuert«, sagte Nathan und verschwand durch die Tür. Herr Maaysen sah ihm wie paralysiert hinterher, dann wirbelte er herum und schrie uns an: »Was glotzt ihr so? Diktat! Sofort und auf Note! Und wehe jemand sagt die nächsten zwei Stunden auch nur ein Wort, der sitzt am Wochenende nach!«

Wir hassten Nathan in diesen Stunden der stummen Qualen, die er uns bereitet hatte, aber als wir am nächsten Morgen in die Schule kamen, war das schnell wieder vergeben.

Ich kann mich noch bildhaft daran erinnern. Bereits von Weitem konnte ich die kleine Gestalt sehen, die nackt, bis auf die Eierzwicker-Unterhose, auf dem Dach der Schule auf und ab sprang und brüllte. Neben ihr stand ein Fiat Punto. Es war Herr Maaysen.

Er wollte hinunter, aber von der bunten Schülermasse unten erhielt er nichts als spöttisches Gelächter.

Die Leiter zum Dach fehlte, und als die Feuerwehr Herrn Maaysen endlich mit einem Kran von seiner Pein erlöste, war er so durchgefroren, dass er die nächsten drei Wochen im Bett verbringen musste. Bis sein Auto vom Schuldach verschwand, dauerte es fast genauso lange, und es benötigte wieder die Hilfe der Feuerwehr.

Alle wussten, dass Nathan, der in einiger Entfernung grinsend auf einer Bank saß und einen Joint rauchte, der Verantwortliche war. Aber nicht einmal die Polizei konnte seine Schuld beweisen, noch konnte sie herausfinden, wie das Auto samt Herrn Maaysen, der einen Filmriss hatte, auf das Dach gelangt waren.

Seitdem bekam Nathan keine schlechtere Note mehr als eine Zwei. Sogar das Verbrennen der Schulaufgabe hatte keine Konsequenzen für ihn, im Gegensatz zu Herrn Maaysen. Dieser war wie verwandelt nach seiner Rückkehr. Er wurde ein ängstlicher und zuvorkommender Lehrer, der immer zitterte, sobald Nathan das Wort erhob. Es war fast schon schade, als er am Ende des Schuljahres kündigte.

Als Held feierten wir Nathan trotzdem nicht. Er blieb der verschrobene Außenseiter.

Er war ein notorischer Schulschwänzer und wenn er mal auftauchte, wirkte er selten nüchtern, noch an uns Mitschülern interessiert. Man sah ihn oft in Bücher vertieft, die für uns so kryptische Titel trugen wie Das Sein und das Nichts, Entweder - Oder, Also sprach Zarathustra, Warum Krieg? oder Naked Lunch.

Seine Zeugnisse gehörten trotzdem soweit ich weiß zu den besten der Schule. Er galt als hochintelligent, auch wenn weder Schulpsychologen noch Pädagogen ihn dazu bringen konnten, sich entsprechend zu verhalten.

Er besaß eine befremdliche Aura, als wäre er nicht von dieser Welt; wie ein Prophet. Und er wusste über Dinge Bescheid, die kaum einer von uns verstand, egal ob es um Quantenphysik oder Psychologie ging, und diskutierte sie bei Gelegenheit oft breit mit unseren Lehrern aus, bis sie vor ihm kapitulierten. Nicht selten vollführte er auch merkwürdige Tricks und Wunder, wie den Streich an Herrn Maaysen, die sich nicht mit Logik und Physik allein erklären ließen.

Manchmal habe ich das Gefühl, er wäre ein Messias gewesen, der von Alpha Centauri entsandt worden war, um die menschliche Rasse zu bekehren, aber dann beim Anblick ihrer Dummheit resigniert hatte.

Er glich aber mehr einem Dämon als einem Menschen. Ich hatte, um ehrlich zu sein, Angst vor ihm – und auch allen Grund dazu, wenn man bedenkt, wie es Herrn Maaysen ergangen war und wie launisch Nathan zu sein schien.

Ich war zwei Jahre lang mit ihm in einer Klasse und schaffte es, ihm die ganze Zeit aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hätte ich nie ein Wort mit ihm gewechselt, wenn nicht die Berlinklassenfahrt am Ende des zweiten gemeinsamen Schuljahres gewesen wäre. Man teilte mich mit ihm, Luis und dem anderen Klassensonderling Jakob in ein Zimmer ein, weil Luis und ich es nicht mehr geschafft hatten, in einem anderen Zimmer unterzukommen.

Nun gab es kein Entkommen mehr vor dieser merkwürdigen Kreatur. Ich machte mich auf alles gefasst: von wilden Drogenorgien in unserem Zimmer bis hin zu Polizeieinsätzen und üblen Streichen. Bald merkte ich aber, dass meine Angst vor ihm großteils unbegründet war. Er war mir gegenüber gleichgültig, vergrub sein Gesicht in Büchern, rauchte Joints oder verschwand für Stunden spurlos. Er schien kein Interesse an mir zu hegen, und auch nicht daran, uns Schwierigkeiten zu machen. Bald entspannte ich mich in seiner Nähe.

Es war schließlich die Abschlussfahrt der 10ten Klasse – die letzte Woche vor den Sommerferien, nach denen mit der Oberstufe und dem Abitur der Ernst des Lebens auf uns wie ein Regen aus Nackenschellen eindreschen sollte. Keiner von uns wollte Stress; ich schon gar nicht.

Kapitel I: High mit dem Messias

Am dritten Abend der Fahrt hatten wir frei und alle aus unserer Klasse gingen zur Spree feiern.

Nun ja, fast alle. Jakob, der auch in meinem Zimmer war, sagte und tat wie immer nichts. Er lag einfach auf seinem Bett und hörte Musik. Er war halt ein introvertierter Autist, glaubte ich zumindest damals. Er sprach nie mit irgendjemandem aus unserer Klasse; nur durch seine Meldungen im Unterricht wussten wir, dass er nicht stumm war.

Und noch jemand wollte nicht mit, nämlich Nathan, was mich wunderte. Zum ersten Mal fragte ich mich, was dieses Wesen eigentlich machte, während wir feierten; wohin Nathan verschwand, wenn wir auf Ausflügen waren; was er dachte und fühlte; und, ob er wirklich so verrückt war, wie wir alle glaubten.

Ich machte mich gerade in unserem Zimmer fertig für die Feier, als mir diese Gedanken kamen. Ich schielte zu Nathan hinüber.

Er lag auf seinem Bett, nur in Boxershorts, in seinem Mundwinkel steckte ein qualmender Joint und auf seiner flachen Brust lag ein Buch. Irvin Yalom, irgendetwas mit Psychoanalyse und Existentialismus.

Luis stand bereits in der Tür, kämmte seine aufgestylten blonden Haare und betrachtete sich selbst in der Kamera seines iPhones.

»Ähm, Nathan«, fragte ich zögerlich. Es waren die ersten Worte, die ich jemals an ihn richtete. Er reagierte nicht. »Kommst du mit zur Spree?«

Ohne von dem Buch aufzusehen, antwortete er: »Wozu?«

»Du weißt schon: saufen, kiffen. Spaß haben. Wir haben Unmengen an Wein und Bier. Bierpong spielen. Ludwig hat sogar Gras, also wenn du mehr willst. Wir machen halt Party.«

»Klingt langweilig«, sagte Nathan, zog an seinem Joint, nahm ihn aus dem Mund und tippte ihn in einem Aschenbecher neben seinem Bett ab. Er sah mich noch immer nicht an, atmete aus und sagte: »Alkohol ist scheiße. Tut euch so einen Dreck nicht an.«

»Saufen ist geil«, rief Luis. »Kommst du jetzt? Es ist doch besser, wenn der Irre hierbleibt.«

»Warte«, entgegnete ich. Plötzlich durchdrangen mich die leuchtend blauen Augen Nathans. Mein Atem stockte. Ich spürte die sezierende Kälte seines Blickes auf mir und wollte mich abwenden, aber im selben Moment befahlen mir Nathans Augen, weiterzusprechen. Ich gehorchte – wie ich später oft gehorchen sollte, wenn sein Blick mich traf.

»Was ist daran langweilig? Es macht Spaß. Ich dachte, du wärst ein Partylöwe. Ich habe von deiner Hausparty vorletztes Jahr gehört. Das soll der Hammer gewesen sein. Und was ist schlecht an Alkohol?«

Ich konnte es nicht fassen. Der wahrscheinlich größte Junkie der Schule erklärte mir mit einem Joint im Mundwinkel, Alkohol sei Dreck. Wie sollte ich das nachvollziehen?

Nathans Blick zerschnitt mich, drang tiefer. So musste sich eine Zwiebel fühlen, wenn man sie schälte: fürchterlich. Nathans Stimme war scharf und es schwang ein feindseliger Unterton mit: »Alkohol ist ein Gift. Es tötet Zellen in deinem ganzen Körper und versetzt dich in ein ekelerregendes Delirium. Es macht dich zu einem dummen, kotzenden Idioten, der keinen gescheiten Satz mehr auf die Reihe bringt. Null Mehrwert. Und Partys langweilen mich schon seit Jahren. Inhaltslose kollektive Zeitverschwendung, von der ich nur Kopfschmerzen kriege.«

»Sagt der Typ mit einem Joint in der Hand«, rief Luis.

»Ist medizinisches Cannabis. THC-frei, macht nicht high. Es enthält nur gesundes Cannabidiol. Ich rauche das nur wegen des Geschmacks und wegen der gesundheitsfördernden Wirkung.«

»Ah, was auch immer du laberst. Komm, gehen wir«, drängte Luis. Er war ungeduldig, wollte saufen und Mädchen aufreißen. Das hatte ich wenige Minuten zuvor auch noch gewollt, aber nun glaubte ich, dass Nathan interessanter sein könnte. Ich hatte das Gefühl, an der Schwelle zu etwas viel Größerem zu stehen: zu einer anderen Welt, einer Parallelwelt der Mainstreamrealität, in die mich nur Nathan führen konnte. Tief in mir sehnte sich irgendetwas schrecklich danach, speichelte vor Verlangen, über diese Schwelle zu treten. Wie Alice dem weißen Kaninchen einfach ins Wunderland zu folgen.

»Ich bleibe hier«, sagte ich.

Luis starrte mich an, als hätte ich gerade verkündet, Lepra wäre keine Krankheit, sondern ein geiler Lifestyle. Dann zeigte er mir den Vogel und rief beim Hinausgehen: »Du hast dich bei dem Irren mit einem Hirnschaden angesteckt.« Die Tür des Hostelzimmers krachte zu.

»Idiot«, sagte Nathan. »Und warum bleibst du jetzt hier? Erwartest du etwa Entertainment von mir?«

»Ich … ich glaube, dass du recht haben könntest oder so. Ich will wissen, was du jetzt machst und was besser sein soll als eine Party. Ich will etwas Neues erleben, meinen Horizont erweitern und du bist ja … Ich will dich nicht beleidigen, aber du bist etwas anders als die meisten, und irgendwie macht mich das neugierig.«

»Anderssein ist in einer kranken Gesellschaft wie dieser nicht selten etwas Wunderbares, also danke für das Kompliment«, sagte Nathan, zog an seinem Joint und blätterte eine Seite um. Ich trat von einem Bein aufs andere.

»Wie hast du das mit Herrn Maaysen eigentlich gemacht?«

»Ein Zauberer verrät niemals den Zuschauern, wie seine Tricks funktionieren, sonst wäre es ja langweilig.« »Und seinen Schülern?«, fragte ich unwillkürlich. Nathan sah auf und musterte mich. In seinen Augen funkelte eine Mischung aus Neugier und raubtierhaftem Hunger. Er lächelte arrogant.

»Denen schon, sofern sie soweit sind.«

Ich holte tief Luft. »Okay. Kann ich dein Schüler werden? Zumindest für den Abend«, sagte ich und spürte, wie das Blut in mein Gesicht schoss. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, lächerlich. Wozu bemühte ich mich überhaupt, mich bei so einem arroganten Arschloch einzuschleimen?

»Warum nicht«, sagte Nathan und zuckte mit den Schultern »Dann bist du jetzt halt mein Schüler.« Ich spürte ein elektrisches Kribbeln in mir aufsteigen, aber Nathan widmete sich wieder seinem Buch und zog an seinem Joint. Ich stand vor ihm, wartete, er blätterte um, runzelte die Stirn, wohl wegen einer komplizierteren Passage. Ich räusperte mich.

»Ähm, Nathan?«

»Hmm.«

»Du liest doch nicht die ganze Zeit, oder?«

»Nein. Ich hatte eigentlich vor, mich mit Kratom wegzuballern, um es nicht mehr mitzubekommen, wenn ihr von euren Feiern zurückkommt.«

»Kratom? Was ist das? Eine Droge?«

»Eine Droge.« Er stand auf, drückte den Joint aus und ging zu seinem Spind.

Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern kribbeln. Ich stand an der Schwelle zum Wunderland, kurz davor zu springen, aber trotzdem noch verunsichert, ob ich das wirklich wollte.

»Was ist das genau? Ist das illegal? Also eigentlich, du weißt, ich … ähm, trinke und kiffe nur gelegentlich. Ich nehme keine harten Drogen.«

»Danach wirst du nicht mehr trinken. Und der Begriff ›harte Drogen‹ ist Bullshit. Wenn überhaupt, dann ist Alkohol eine harte Droge. Das ist doch höchstens als Desinfektionsmittel vernünftig zu gebrauchen: Die toxischen Effekte überwiegen jeden Nutzen. Es ist nur legal, weil es eine Tradition ist.« Er spuckte das Wort aus, als wäre es brauner Dreck in seinem Mund.

»Übertreib mal nicht«, wandte ich ein. »Alkohol ist schädlich, aber nicht so extrem. Natürlich, es gibt auch Alkoholsüchtige, aber das ist doch im Vergleich zu anderen Drogen eher harmlos, und man wird davon auch nicht irre, wie von irgendwelchen Halluzinogenen oder Crack oder so Zeug. Wenn es wirklich so schädlich ist, wäre das doch bekannt oder sogar verboten, und alle würden darüber reden.«

»Es ist bekannt. Es sitzen mehr Leute mit einer Alkoholpsychose in der Klapse als wegen Cannabis oder irgendeiner anderen Droge, auch wenn das in der Öffentlichkeit gern heruntergespielt wird. Google mal Dr. David Nutt oder die Pharmakinetik von Ethanol oder die Statistiken der Bundesdrogenbeauftragten. Siebenundsiebzigtausend Alktote jedes Jahr allein in der BRD, aber die Menschen sind eben ignorant, wenn es um ihr liebstes Betäubungsmittel geht. Und selbst wenn man auf die Gesundheit scheißt. Ich finde die deliriöse Wirkung einfach nur widerlich.«

Nathan machte mit einer Handbewegung deutlich, dass das Thema vom Tisch war.

Er griff in den Spind, holte ein Buch hervor und legte es auf den Tisch. Für einen Herzschlag glaubte ich in einem Anflug erregter Verwirrtheit, es wäre eine Art Zauberbuch oder Lexikon, aber dann las ich überrascht, dass es ein Reiseführer für Indonesien war.

Er klappte es auf. Die Seiten waren zusammengeleimt und der größte Teil war herausgeschnitten. Dort befand sich ein Tresor. Er schloss ihn auf, nahm ein Tütchen heraus und verstaute das Buch wieder im Spind. Er kam mit dem Tütchen zu mir und hielt es mir vors Gesicht. Kratom stand drauf. Es war gefüllt mit einem bräunlich-grünen Pulver, das mich an Matcha erinnerte.

»Es ist legal, falls es dich interessiert«, sagte er. »Es wurde sogar von der Bundesopiumstelle durchgewunken, weil es zu harmlos und zu unbekannt ist, um es zu verbieten.«

»Und was ist das jetzt genau? Eine Pflanze?«

»Jo. Um genau zu sein: die pulverisierten Blätter eines Baumes, der in Südostasien wächst. Die Schlitzaugen konsumieren die Blätter seit Jahrhunderten, und in den USA gibt es zurzeit etwa sechs Millionen Kratomkonsumenten. Bisher gab es keinen einzigen bekannten Todesfall, der sich direkt darauf zurückführen lässt. Es ist also recht sicher und erprobt, nur in Europa kennt das irgendwie kein Schwein.«

»Cool. Also ein sicheres Legal High … aber wie wirkt das jetzt? Ich dachte, die meisten dieser legalen Sachen würden nichts taugen?«

»Oh, die meisten ja, aber das Zeug taugt richtig. Es entspannt dich total, ohne deine Gedanken zu verwirren. Es hebt dich auf eine Wolke, ohne deinem Körper zu schaden, und du wirst keinen Kater davon kriegen. Glaub mir, das wird dir gefallen.«

»Okay«, sagte ich, »klingt gut.«

»Du willst es also probieren?«

»Ja, warum nicht? Wenn es sicher ist und zum Schülersein gehört …« Ich grinste.

»Keine Ahnung, ob es dazugehört. Ich war noch nie Lehrer. Eigentlich halte ich auch nichts von solchen Autoritätsstrukturen, aber heute kann man ja mal eine Ausnahme machen.« Nathan zuckte mit den Schultern; damit war alles gesagt.

Er zog eine Feinwaage aus seiner Hosentasche und stellte sie zusammen mit drei Pappbechern, die er aus seinem Reisekoffer zauberte, auf den Tisch.

»Jakob, willst du auch mal probieren?«, fragte Nathan.

Jakob, der bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte, sah von seinem Bett zu uns auf, dann sagte er: »Ja.«

Ich war wie paralysiert. Jakob hatte noch nie mit einem von uns gesprochen.

Er war ein hochintelligenter Eigenbrötler, aber Nathan hatte wohl bereits länger Kontakt mit ihm, dem lockeren Umgangston nach zu schließen.

Wer mit Jakob sprechen und ihn zum Drogenkonsum animieren konnte, der musste übernatürliche Kräfte besitzen. Dieser Gedanke verwunderte mich aber nicht mehr, schließlich kannte ich Nathan bereits seit zwei Jahren. Und spätestens seit dem Vorfall mit Herrn Maaysen hatte mein Glaube an die Realität Risse bekommen.

Nathan legte einen Fetzen Papier auf die Waage, maß für jeden von uns etwas Pulver ab und schüttete es in die Becher. Dann verschwand er damit ins Bad und kam mit drei Bechern voller Schlamm zurück. Aus seinen Taschen zauberte er mehrere Tütchen Kaffeezucker, wohl geklaut aus einem Restaurant, und entleerte sie großzügig in die Brühe.

»Ich habe leider nicht die richtigen Zutaten dabei, aber mit Zimt, Zucker, Kakao und etwas Schokoeis kann man daraus köstliche Shakes machen. So wird das wie Hundescheiße schmecken, aber ihr werdet es nicht bereuen. Es wird die Pforten eurer Wahrnehmung ein Stück weiter öffnen und euch einen angenehmen Abend bescheren.« Er leerte seinen Becher in einem Zug.

Jakob und ich nahmen unsere. Ich starrte die Brühe an. Sie roch wie Grüner-Matcha-Tee und sah auch irgendwie so aus. Ich hatte von Kratom noch nie zuvor gehört. Möglicherweise war alles, was Nathan mir darüber erzählt hatte, gelogen. Es hätte ein tödliches Gift oder einfach nur eines dieser wirkungslosen Legal Highs sein können. Wie die Katzenminze, von der Luis mal erzählt hatte, und von der er ohne eine echte Wirkung, außer Übelkeit, mehrere Joints geraucht hatte.

Vielleicht war es auch einfach nur getrockneter, wieder aufgeweichter Schlamm. Wer wusste schon, was sich dieser Verrückte so gab? Ich fühlte mich an die Szene in Matrix erinnert, in der Morpheus Neo die blaue Pille des Vergessens und Konformität anbietet und die rote Pille des Erwachens in die Realität. Gleichzeitig bestand aber auch immer dieses unterschwellige Gefühl, beides könnte Fake sein.

War Nathan ein Erwecker oder ein Betäuber – oder ein Illusionist? Waren die Pforten der Wahrnehmung, von denen er sprach, echt oder eine Wahnvorstellung?

Ich würde es erfahren. Ich könnte es googeln und mich in langwierige Recherchen verstricken. Oder die Sache wie ein Abenteuer direkt angehen. Ich wählte Letzteres und nahm einen Schluck.

Es schüttelte mich und ich verzog das Gesicht. Das Zeug schmeckte wirklich wie Hundescheiße und unendlich bitter.

»Austrinken, komplett«, befahl Nathan. Ich gehorchte.

Mit einem Zug leerte ich den ekelhaften Schlamm und warf den Becher in hohem Bogen in den Mülleimer. Jakob tat es mir gleich. Es schüttelte mich erneut. Alles zog sich in mir zusammen.

Nun gab es kein Zurück mehr, ich hatte mich dem Verrückten ausgeliefert. Ich hatte alle Sicherungsschnüre gekappt und stürzte ins Ungewisse. Ich hatte Angst, aber keine Zeit mich darin zu vertiefen, denn Nathan ging bereits wild mit den Armen fuchtelnd und kommandierend an sein Werk.

»Jakob, hast du Pink Floyd auf deinem Smartphone? Bei meinem ist der Akku alle.«

»Ja«, sagte Jakob, »The Division Bell?«

»The Division Bell, richtig. Das ist mein Mann. Fang mit High Hopes an, danach vielleicht das Album Obscured by Clouds, das passt auch, und vergiss nicht Comfortably Numb in die Playlist zu tun.« Und an mich gerichtet: »Du kennst Pink Floyd wahrscheinlich nicht, oder?« Ich schüttelte den Kopf. Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihm nichts zuordnen.

»Was für Musik hörst du so?«

»Vor allem Rap. Manchmal auch Pop, aber nur auf Partys halt«, sagte ich.

»Den gleichen Mainstreamrotz wie alle also«, schnaubte Nathan verächtlich.

»Pop ist wirklich meistens Rotz. Aber bei Rap und Hiphop kann man das nicht pauschal sagen«, wandte Jakob ein. »Eminem ist gut, Lemur ist klasse und die ersten Alben von Genetikk sind auch okay. Du kannst ein Genre nicht gleich verurteilen, nur weil der Großteil davon schlecht ist.« Ich kam nicht umhin, ihn anzustarren. Ich hatte ihn vor diesem Tag noch nie normal reden hören. Und hier, im Beisein Nathans, bildete er sogar ganze Sätze über so triviale Sachen wie Musik. War das real oder war ich bereits mitten im halluzinogenen Drogendelirium?

Ich zwickte mich, als keiner hinsah, aber es tat weh und änderte nichts an der Situation.

»Ja. Ja, du hast recht, sorry. Ich vergesse immer Eminem. Und die alten Alben von Genetikk sind tatsächlich auch gut«, sagte Nathan. »Da waren sie noch nicht Kommerz; sie waren authentisch und hatten noch etwas Neues, bevor sie auf die langweilige Mainstream-Gangstarrapperschiene gewechselt sind. Heutzutage ist aber kaum noch jemand authentisch: alle verbogen und verlogen, Langweiler. Egal. Daniel, hast du eine Musicbox?«

Daniel. Daniel Vogt. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich Nathan meinen Namen sagen hörte.

»Ja, habe ich.« Ich holte meinen Rucksack und nahm die Box heraus.

»Hat sie Bluetooth?«

»Jep.«

»Gib sie Jakob. Jakob, High Hopes. Wir wärmen uns damit hier auf, bevor wir uns nach draußen verziehen. Ich habe bereits gestern ein nettes Plätzchen zum Chillen ausgemacht.«

Nathan nahm von einer Stuhllehne ein abgeranztes weißes Shirt. Er schlüpfte hinein wie ein Wiesel.

Plötzlich hörte ich Kirchenglocken läuten und das Surren von Bienen. Es kam von allen Seiten; wie ein ätherisches Orchester. Ich war verwirrt, doch dann spielten engelhafte Keyboardklänge und eine göttliche Stimme setzte ein. »[Aus urheberrechtlichen Gründen kann ich den Songtext nicht zitieren, googelt oder duckduckgot ihn.]«, und ich realisierte, dass das die Musik war, die aus meiner Box kam und mich vom Kratom getragen in ihren magischen Bann zog.

»Setzt euch, Leute, lasst die Wirkung kommen«, sagte Nathan, plumpste auf den Boden, lehnte sich an seinen Koffer und schloss die Augen. Ich setzte mich ihm gegenüber und lehnte meinen Rücken an die Wand, Jakob nahm neben mir Platz. Ich ließ mich in die Musik fallen. Normalerweise hätte mich ein so ruhiges und langsames Lied innerhalb von Sekunden gelangweilt, aber nun genoss ich es. Meine Unsicherheit, Aufregung und mein Misstrauen gegen Nathan schmolzen langsam dahin wie Schnee im Frühjahr.

Ich spürte, wie das Kratom wirkte: wie Wärme durch meine Adern kroch. Ein Kribbeln stieg in meiner Seele auf und wurde von Minute zu Minute stärker, während ich immer tiefer in mir selbst und der Musik versank. Ich fühlte mich geborgen, als würde mich ein Engel umarmen. Ich sah Nathan an. Er war wie ausgeschnitten, als hätte ihn ein übernatürlicher Künstler in die Collage des chaotischen, mit Kleidungsstücken und Müll überhäuften Hostelzimmers hineingeklebt. Die Musik war herrlich. Nie zuvor hatte ich Töne auf diese Art und Weise wahrgenommen. Die Tonleitern erhoben sich über mir und rauschten in die Tiefe. Ich hörte jedes Instrument einzeln und gleichzeitig ihr harmonisches Zusammenspiel, das wie in Wellen durch meinen Körper drang und alle meine Sinne gleichzeitig verführte. Vor meinem inneren Auge eröffneten sich weite Wiesen mit leuchtend grünem Gras und stechend blauem Himmel. Ich glaubte sogar, die britische Luft riechen zu können.

Wir schwebten so vor uns hin, sicherlich eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, vielleicht auch zwei, wer weiß das schon. Wir hörten mehrere Lieder, aber wir kamen letztendlich zurück zu High Hopes.

»Versteht ihr, worum es in diesem Lied geht?«, erklang Nathans Stimme wie die eines Erzählers aus dem Off.

»Drogen?«, fragte ich und lächelte. Ich hatte das Gefühl, in einer warmen Wattewolke zu schweben.

»Nein. Kindheit«, sagte Jakob.

»Kindheit?«, fragte ich, milde verwundert.

»Kindheit«, bestätigte Nathan. »Es geht um das größte Drama der menschlichen Existenz: das Erwachsenwerden und Abstumpfen.«

»Du redest gern über deine Meinung vor dich hin, kann das sein? So wie vorhin bei Kratom und dann bei Musik«, fragte ich. Nathan sah mich irritiert an.

»Ähm, ja … Stört dich das?«

»Ne, passt schon. Hatte das nur irgendwie nicht erwartet. Ist aber interessant, mach weiter«, sagte ich. »Erinnert mich irgendwie an einen Podcast.«

»Okay. Also wo war ich?«

»Das größte Drama«, sagte Jakob.

»Ah ja, stimmt. Also. Als Kinder sehen wir die Welt als ein einziges Wunder: Alles ist verheißungsvoll und interessant, jedes Atom kann uns begeistern und wir ziehen uns alles rein. Doch wir werden irgendwann erwachsen und ernüchtern. All die Wunder werden plötzlich zu kalkulierbaren physikalischen Reaktionen ohne tieferen Sinn. Das Leben erscheint sinnlos, öde und leer.«

»Ist es ja auch«, sagte Jakob.

»Das ist ziemlich zynisch«, sagte ich.

»Eben. Jakob ist ein super Beispiel, aber nicht nur er. Wir alle desillusionieren, geben auf und werden zu einem gewissen Grad zynisch mit der Zeit. Nicht alle gleich stark, aber niemand kann sich diesem Prozess ganz entziehen. Jeder Mensch geht aber anders damit um. Manche flüchten sich in dumpfen Konsum oder Religionen oder andere Ideologien, die uns Mystizismus, Sinn oder Heil vorgaukeln. Da ist Zynismus eigentlich noch die gesündeste Form. Er ist zumindest ehrlich, aber auch er tötet innerlich ab und lässt einen erkalten.«

»Lieber kalt wie ein Eiswürfel als labil wie eine Pfütze«, sagte Jakob.

»Aber wozu das alles überhaupt? So wie du das formulierst, klingt das irgendwie krankhaft, aber das ist doch der ganz normale Prozess des Erwachsenwerdens«, wandte ich ein.

»Ja eben, das ist ja das Schlimme. Es ist Teil des normalen Werdegangs, man kann sich dem nicht entziehen. Sei doch mal ehrlich: Findest du es toll, erwachsen zu werden?«, sagte Nathan.

»Ja, schon irgendwie. Als Erwachsener ist man freier und erfahrener, hat viel mehr Möglichkeiten.«

»Aber man muss auch mehr machen und man verliert sehr viel, unter anderem die naive Reinheit des Lebens. Jene kindliche Reinheit, die alle Religionen vergöttern. Wenn man erwachsen wird, beginnt man die Welt zu verstehen und wird kritisch. Damit stirbt für einen die Magie, die Welt verliert ihr geheimnisvolles Funkeln. Das Verheißungsvolle, das Neue, die Romantik. Sie alle sterben, und mit ihnen häufig wir als Menschen. Das Leben ist kein Leben mehr, es ist ein langsamer Sterbensprozess, in dem alles immer profaner und kälter wird. Heutzutage beschleunigen Aufklärung und Digitalisierung diesen Prozess noch mehr. Die Menschen leben länger, aber nur, um sich in Jobs abzurackern, mit einer sinnlosen Existenz zu hadern und dann in Altersheimen zu versauern. Bereits als Kinder werden sie mit der harten, apollinischen Naturwissenschaft konfrontiert und sterben innerlich. Ein Vogel ist kein wunderbares Geschöpf mehr, er wird zu einer biochemischen Maschine, Religionen werden zu haltlosen Lügengebilden, das Individuum eine Ressource und Zahl in der globalen Wirtschaft.«

»Das ist aber die Realität«, sagte Jakob.

»Zumindest nehmen wir an, dass es die Realität ist, und diese Realität tut weh.«

»Das ist traurig«, sagte ich, auch wenn ich mich nicht traurig fühlte. Ich fühlte mich gut, ich spürte Frieden, ich war losgelöst von allem Negativen und betrachtete es von außen.

So wie ich da saß, fühlte ich mich wie der Häuptling eines Indianerstammes, der gerade die Friedenspfeife mit der ganzen Welt geraucht hatte, und nun erfüllt und etwas erschöpft in das Feuer der Existenz starrte. Das Feuer war Nathan, und es sprach zu mir, und ich lauschte neugierig. Sämtliche Vorbehalte, sämtliche Hemmungen und Ängste gegenüber diesem Verrückten waren nun komplett vom Rausch hinweggespült und durch Vertrauen und Respekt ersetzt worden.

»Ja, es ist traurig, aber kein Grund aufzugeben und auch keiner, um zu weinen. Man muss lernen, den Schmerz zu akzeptieren, ja, ihn gar zu zelebrieren«, sprach mein Prophet. »Das Erwachsenwerden ist hart und viele verrohen daran, aber es öffnet auch tausend neue Türen zur Magie, man muss sie nur finden. Und überhaupt erst suchen! Daran scheitern die meisten. Aber nicht ich und genauso wenig ihr! Ich brenne lieber aus, als dass ich versauere und desillusioniere! Und jetzt haben wir genug herumgesessen und gequatscht, es wird Zeit zu leben!«

Nathan stand unvermittelt auf. Er zog sich seinen hellgrauen Hoodie über und setzte eine schwarze Pilotenbrille auf, obwohl draußen bereits die Sonne über den Hausdächern unterging. Das Lied endete.

»Wir gehen raus«, sagte Nathan und griff sich eine Flasche Wasser und eine Packung Tortillachips, bevor er durch die Tür verschwand. Ich hatte keine Möglichkeit, zu protestieren. Ein Stich ging durch mein Herz, ich wollte mich nicht von meiner Wolke erheben. Ich fühlte mich zu müde, zu entspannt, aber dann tat ich es doch, und die Wolke folgte mir und machte mich aktiv, drang in mein Fleisch ein und gab ihm Kraft. Die Müdigkeit und Tiefenentspannung wichen Neugier und Energie. Wie durch einen warmen Nebel glitt ich, während ich die Treppe des Hostels hinunterwanderte. In der Lobby verabschiedeten wir uns von unseren Lehrern, die uns ermahnten, vor elf Uhr zurück zu sein. Es war erst sieben.

Draußen war es wunderschön. Der Beton schimmerte, das Glas glitzerte im Sonnenuntergang rot-golden wie Diamanten. Die Konturen traten hervor, die Farben waren kräftiger, die Klänge sanfter, alles verschmolz zu einer harmonischen Melodie, die ganze Welt wirkte poetisch. Ich hatte keine Halluzinationen, alles war wie immer, nur fielen mir all die kleinen, schönen Details erst jetzt auf. Alles wirkte intensiver, frischer. Ich war gefühlt das erste Mal auf der Welt, ich war wieder ein Kind, und Nathan war mein Führer durch dieses Wunderland, er war mein neuer Vater.

»Ich bin plötzlich richtig wach«, sagte ich zu Nathan.

»Das ist bei Kratom immer so. Es verstärkt deine positiven Empfindungen. Wenn du aktiv sein willst, macht es dich aktiver, wenn du dich zurücklehnst, entspannt es dich.«

»Nice«, sagte ich und nickte. Dann fragte ich, ohne recht zu wissen, warum: »Ist das die Realität?«

»Ja und Nein. Wir sind, wie auch im Alltag, noch weit davon entfernt. Du hast erst die Tür deiner Lügenblase aufgemacht. Du bist noch nicht einmal wirklich über die Schwelle getreten. Und vergiss nicht: Du bist high. Auf Drogen siehst du genauso wenig die Realität wie nüchtern, du siehst nur eine andere Verzerrung der Realität, andere Phänomene. Es geht darum, möglichst viele verschiedene Verzerrungen kennenzulernen und dann daraus die echte Realität zu konstruieren.«

»Zeig mir mehr«, rief ich überschwänglich, obwohl ich mir nicht sicher war, Nathan richtig verstanden zu haben. Ich war euphorisch von der Droge und der adrenalinschwangeren Aufbruchsstimmung, die einen immer packt, wenn man eine Grenze überschreitet und Tabus zerschmettert. Mir gefiel das alles. Ich war keinen ganzen Abend im Bann des Propheten Nathan und war bereits besessen von ihm und seiner exzentrischen Weltsicht.

»Geduld.«

»Was muss ich tun?«, fragte ich und verkniff es mir, ein launiges »Meister« anzufügen. Nathan wirkte plötzlich tatsächlich wie ein Mentor aus einem Kung-Fu-Film. Aber einem mit animierten sprechenden Tieren und überdrehten Effekten, keinem seriösen.

»Erst einmal: Streich ›müssen‹ aus deinem Wortschatz. Du bist frei. Alles, was du tust, tust du, weil du dich dafür entscheidest. Du musst deinen eigenen Weg gehen«, sprach Nathan.

Ich nickte. Plötzlich kam neue Musik aus der Box. Sie war rockiger, fetziger, punkiger. Es war Jesus of Suburbia von Green Day.

Der Songtext erzählte von einem Typen, der in einer Vorstadt rumgammelte und sich mit Ritalin zudröhnte. Wie passend, denn wie ich später erfahren sollte, verdankte auch unser Messias seinen Wahn nicht nur dem Ritalin, sondern kam auch tatsächlich aus einer Vorstadt. Einem wahnsinnigen Vorort Münchens namens Unterhaching, der neben einem verlassenen Flughafen lag und in dem es nur so von Potheads und Spinnern wimmelte.

Die Musik ließ mein Herz höherschlagen, die Harmonie zerfiel zu einer energiegeladenen Eufonie der Gefühle. Nathan tanzte über den Bordstein, ich tat es ihm gleich. Jakob folgte uns mit der Box. Wir kamen zu einem Kinderspielplatz inmitten einer Betonblocksiedlung.

»Zieht euch das rein! Mitten in der öden Wüste aus Armut, Beton und Hoffnungslosigkeit: ein Brunnen des Friedens, der Kindheit. Lasst uns spielen!« Nathan warf sich auf die Schaukel und begann manisch kichernd hin- und herzuschwingen.

Ich starrte ihn einen Moment lang an. Er war damals 17, ich 16, beide also mindestens ein Jahrzehnt zu alt, um auf einem Kinderspielplatz zu spielen, ohne wie Idioten dazustehen.

Ich zuckte mit den Schultern. Mir war total egal, was die Gesellschaft von mir dachte, ich war high und Spielen klang verlockend. Ich stieg auf die Schaukel neben ihm und begann, ebenfalls zu pendeln. Die Welt tanzte in einem Kaleidoskop, ich lachte, flog hin und her, immer höher in die Ekstase. Der Wind zerrte erfrischend an meinen Haaren und Klamotten. Nathan schwang neben mir, ebenfalls immer höher und wilder. »Ist das nicht geil?«, rief Nathan.

»Und wie!«, schrie ich. Das war besser als jede Achterbahn, die ich in den letzten Jahren ausprobiert hatte. High Hopes und Nathan hatten Recht: Das Erwachsenwerden war ein Drama. Ich dachte daran, wie ich als Kind geglaubt hatte, dass, wenn ich intensiv und lange genug schaukelte, sich die Schaukel überschlagen und ich mit Überschall in eine andere Dimension katapultiert würde. Verrückte Kindergedanken, aber plötzlich wirkten sie wieder so nah. Und ich schwang und schwang und schwang immer höher, und so tat es Nathan. Es war, als könnte er meine Gedanken lesen.

Plötzlich, als wir beide am höchsten Punkt waren, ließen wir synchron los. Die Ekstase entlud sich wie ein Orgasmus. Ich war ein Vogel, ich flog über den Kinderspielplatz, lachte. Ich breitete meine Schwingen in der Wolke aus Wärme und Glück aus. Grinsend landete ich in einem Gebüsch und überschlug mich. Nathan neben mir, wir lachten, ich spürte keinen Schmerz.

»Kommt, lasst uns wieder etwas Musik hören und entspannen«, sagte Jakob, der die ganze Zeit auf einer Bank danebengesessen und zugeschaut hatte.

Wir liefen zu einem Rasenfleckchen neben dem Spielplatz und ließen uns nieder. Die ganze Welt schwankte ein bisschen, um mein Sichtfeld herum wuchsen die hässlichen Betonblöcke der Plattenbausiedlung gen Himmel, und ich versank im warmen, kuscheligen Gras.

Ich war müde, das Kratom drückte mich richtig in den Boden. Aus der Musikbox liefen abwechselnd David Bowie-, Pink Floyd-, Green Day- und irgendwelche PsyTrance-Stücke. Es war wunderschön, die Erde umarmte mich, die Nymphen der Natur säuselten mir die Lieder ins Ohr, ich fühlte mich gut, aber nicht dumm oder verwirrt, nur ruhig und zufrieden, bis in den Kern meiner Seele entspannt. Wir schwiegen, ließen die Tortillas und das Wasser kreisen. Allein beim Geruch der Maischips kreierte mein Gehirn Bilder von weiten, großen Maisfeldern. Ich kaute langsam, teils aus Trägheit, teils aus Genuss.

Es wurde immer dunkler. Es gab keine Beleuchtung auf dem Spielplatz, sodass wir bald vereinzelte Sterne am Himmel funkeln sahen. Ich dachte nach. Luis und meine anderen Freunde, die nun an der Spree saßen, lachten über sinnlose Dinge, torkelten verwirrt umher und kotzten und qualmten alles voll. Das kam mir auf einmal dreckig und abstoßend vor. Es war heiter und machte Spaß, aber jetzt wirkte es traurig, das Saufen: Es war irgendwie so stumpf, so pseudoerwachsen.

Warum sollte man sich so etwas antun, wenn man doch die Welt so schön mit Kratom genießen, wenn man wieder ein Kind sein konnte, ohne die Klarheit der Gedanken zu verlieren? Ich war froh, Nathan gefolgt zu sein. Ich sah zu ihm hinüber. Er starrte träumerisch zum Himmel, als könnte er irgendwo da oben zwischen den Sternen eine lang verlorene Heimat sehen.

»Daniel«, sagte er plötzlich.

»Ja?«

»Was siehst du, wenn du zu den Sternen aufblickst?«

»Ein paar Sterne, aber nicht alle. Die meisten kann man wegen des Lichts der Stadt nicht sehen.«

»Hmm … interessant. Und was symbolisiert die Stadt für dich?«

»Zivilisation, Fortschritt«, sagte ich, ohne nachzudenken. Es sprudelte aus mir heraus. »Meinst du etwa, dass das Wissen des Fortschritts und unser zivilisiertes Leben uns blenden? Sodass wir nicht mehr die Wahrheit sehen können, nicht mehr die erhabenen Dinge wie Sterne, die Lichter anderer Welten?«

Was hatte ich da gesagt, was für eine krude Logik hatte mir das Kratom entlockt? Ich wollte mich schon dafür entschuldigen, dass ich Bullshit gelabert hatte, aber Nathan kam mir zuvor.

»Das war nicht das, worauf ich hinauswollte. Aber es ist ein interessanter Gedanke. Unsere Gene sind nicht für die Zivilisation geschaffen, die ganze Technologie, Facebook, Fernsehen, der moderne Konsumismus: Sie sprechen unsere Instinkte zwar an, fucken uns aber einfach zu hart ab. Wir sind blind durch Reizüberflutung und Propaganda, laufen im Kreis, gefangen in einem sinnbefreiten Materialismus und entfremdet von unserer Heimat, der Erde.«

»Ist Materialismus nicht richtig?«, wandte Jakob ein.

»Epistemologisch, empirisch und ontologisch gesehen, ja, glaube ich, befürchte ich. Aber er kann uns keine Antwort darauf geben, warum und wozu wir existieren. Materialismus allein ist ein fürchterlicher Lifestyle, er hat keinen höheren Sinn und bleibt immer am nackten Boden kleben. Das ist die traurige Wahrheit unserer Existenzen. Er sagt uns, dass wir sterbliche Tiere sind, Wurmfutter. Weil wir allerdings so intelligent sind, wollen wir uns das nicht eingestehen und träumen von mehr. Aber es gibt nichts, oder zumindest können wir es nicht sehen. Es ist uns leider niemals möglich, die Realität wirklich zu erkennen. Das macht alles so absurd.«

»Ist das aber nicht wie bei der heisenbergschen Unschärferelation?«, wandte Jakob ein. »Man kann die Wahrheit nicht erkennen, denn sobald man sie ansieht, verändert sie sich. Du kannst nicht mit Bestimmtheit sagen, dass Materialismus die Wahrheit ist, genauso wenig, wie du dadurch Metaphysik widerlegen kannst.«

»Das ist aber ein sehr materialistischer Standpunkt, die Unschärferelation auf die Wahrheit anzuwenden und damit den Materialismus in Frage zu stellen, der die Unschärferelation überhaupt erst anwendbar macht«, sagte Nathan. »Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Es ist ein Widerspruch. Eine Umkehrung aller Werte gegen sich selbst. Fast schon Nihilismus.« Er seufzte. »Und wir wissen wieder nur, dass wir nichts wissen können, und wir müssen glauben und hoffen. Hoffnung ist das Einzige, was bleibt, das süßeste und tödlichste aller Gifte. Die ganze Menschheit, die Industrie, der Kapitalismus, die Wissenschaft, alles läuft auf Hoffnung. Alle hoffen; sie sagen sich ›eines Tages‹, ›wenn genug Geld da ist‹ oder ›morgen‹, ›nur noch etwas‹ oder ›wenn wir das herausfinden‹, aber sie wissen alle tief in ihrem Inneren, dass das ein Gift ist, eine Lüge: Am Ende gibt es kein Ziel. Hat man eins