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Bewusst hat der Autor die Doppelbedeutung des Wortes Credo benutzt: "ich glaube" und "Bekenntnis", denn er "bekennt" auch das, was er "nicht glaubt". Im Hauptteil beschreibt er sein religiöses Credo, das von Bewunderung und Zweifel und Dostojewskis Großinquisitorlegende und dem Problem der Theodizee geprägt ist. Im zweiten Teil folgt dann ein pädagogisches Credo: Der ehemalige Schulleiter möchte, dass Denker und Philosophen die Kantschen Grundfragen des menschlichen Lebens in Bezug auf junge Menschen beantworten: 1 Was können Schüler überhaupt erfahren, lernen oder gar wissen? 2 Was soll der Lehrer/die Schule tun? 3 Was dürfen Lehrende und Lernende des Weiteren erhoffen? Und erst nach den Antworten darf Schule den Schulpolitikern überlassen werden, erst dann, wenn sie wissen, was Schule soll, dürfen sie und Methodiker planen. Und der alternde Autor widmet sich im letzten Teil seiner zunehmenden Schwäche, seinem nahenden Tode. Ernst und Humor wechseln, und manchmal weiß man nicht, ob man weinen oder lachen sollte. (erweiterte Neuauflage)
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Seitenzahl: 275
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vieles, was hier aufgeschrieben wurde, stammt aus:
EX LIBRIS
H. -J. SCHRADER
Auch diese Arbeit sei
meiner Frau Marianne
in Dankbarkeit gewidmet
für ihre jahrelange Geduld
mit meinem PC
und mir!
Was ich hier alles aufgeschrieben habe, ist nicht nur die Freizeitbeschäftigung eines Ruheständlers, so wie ein anderer seinen Garten pflegt oder ein dritter sein Auto zerlegt. Viele der hier wiedergegebenen Gedanken, Zweifel, Erinnerungen, Gewissheiten beschäftigen mich seit Jugendjahren. Und nun ist für mich durch achtzig zurückliegende Lebensjahre die Zeit der Kontemplation gekommen – und ich habe dafür Zeit.
Ich bin Sammler. Ich habe in meiner Kindheit sogenannte “Goldrandbilder” gesammelt, die es beim Kauf von Zigaretten gab. Später waren Briefmarken das Sammelobjekt, dann folgten Geschichts- und Tierbilder der Margarine-Werke Wagner bzw. Voss. Ein weiteres Gebiet waren Pläne für den Modellbau von Schiffen des 17. Jahrh. Ich war Mitglied verschiedener Buchgemeinschaften, angefangene Buchreihen mussten natürlich vervollständigt werden. Arno Schmidts “Zettels Traum” träumt in allen Ausgaben (inclusive eines Raubdrucks) bei mir vor sich hin.
Und dann gab es plötzlich einen Polen namens Adam Mickiewicz, der mich fesselte. Kurz, viele Notizblöcke füllten, Zettel träumten irgendwo vor sich hin, Disketten, CDs, Festplatten und USB-Sticks waren gefüllt mit Einfällen, Gedanken, Funden und nicht immer konnte ich im Nachhinein die Quelle entdecken. Entstanden ist ein Sammelalbum, das keineswegs Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit in Form und Inhalt erhebt.
In einer radikal diesseitig orientierten Zivilisation, in der es zum guten Ton gehört, von Kirche und dem Drumherum nichts zu halten, in der Aufklärung und naturwissenschaftliche Methodik Wissen und Meinen bestimmen, ist die Beschäftigung mit metaphysischen, gar religiösen Inhalten suspekt, scheint von Weltfremdheit zu zeugen, wird belächelt.
Das mag auch daran liegen, dass heutzutage nur die Fitten, die Tüchtigen etwas gelten und das Sagen haben und das Denken bestimmen und den Mainstream lenken, in dem Geheimnisvolles und was jenseits unserer Ratio liegt außer einem bisschen Esoterik-Firlefanz keinen Platz hat.
Es kann jedoch nichts schaden, wenn wir uns mal vergegenwärtigen, was wir nicht wissen und auch gar nicht wissen können. Dieses Feld des Nichtwissens mutet durch Aufklärung und Fortschrittsglauben stark geschrumpft an, und scheint in absehbarer Zeit ganz verschwunden. Doch wir vergessen, dass wir auch in Mathematik und Physik nicht alles wissen können: Fläche und Umfang eines Kreises sind nur hinlänglich berechenbar – π ist eine transzendente Zahl (da taucht der Begriff Transzendenz sogar in der Mathematik auf); die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation sagt, dass in der Quantenphysik verschiedene Eigenschaften von Teilchen nicht gleichzeitig genau bestimmt werden können, etwa der Ort eines Teilchens und sein Bewegungszustand, Teilchen lassen sich gleichermaßen als Wellen oder Korpuskeln beschreiben (Doppelspaltversuch). Zum Feld des Nichtwissens gehören alltägliche Fragen: Was ist eigentlich Liebe? Was ist Kunst, Ergriffenheit, Schönheit, Angst (nicht Furcht), Glück, … Kann ein Zufallsgenerator Buchstaben so zusammensetzen, dass Goethes Faust oder Dantes Göttliche Komödie oder Shakespeares Dramen oder Dostojewskis Karamasoff entstehen, kann ein Computer zufällig Noten anordnen, die Bachs h-moll-Messe oder Schuberts Winterreise ergeben? Und gehen wir noch ein Schritt weiter: Wer oder was steuert unser Leben? Was war mit uns vor uns „los“, was wird aus uns nach uns.
Auf solche Fragen darf der Leser keine Antworten erwarten, so ein Versuch wäre nicht nur vermessen, sondern geradezu lächerlich, weil es zum Menschsein gehört, gewisse Antworten nie zu bekommen, auf sie verzichten zu müssen (Protagoras).
Ich bin nicht mehr fit und tüchtig. Mein Alter schafft mir eine Brücke aus Kontemplation zwischen den Erinnerungen eines langen Lebens und dem früher oder später, jedenfalls ganz gewiss eintretenden Unbekannten.
Hier und da mag ein Leser äußerst irritiert sein und mir Blasphemie vorwerfen.
Dazu: Anscheinende Blasphemie ist nur scheinbare Blasphemie, da dienen die Wörter die Gedanken „griffiger“ darzustellen.
Einiges mag sehr subjektiv, gar narzisstisch und fast autistisch wirken. Das kommt nicht von ungefähr: Wenn jemand wie ich seinen Dienst wegen Burnout und Depression quittieren musste, dann belegt das sicherlich, dass er sich vorher und nachher mit sich beschäftigte, über sich nachdachte.
Insgesamt versuche ich mich auf den folgenden Seiten in drei Credos, dem weltanschaulich-religiösem, dann meinem pädagogischen und schließlich mein Credo über Leben und Altern.
… und noch gilt:
Herrlich ist für alte Leute
Ofen und Burgunder rot
Und zuletzt ein sanfter Tod –
Aber später, noch nicht heute!
(Hermann Hesse, Altwerden)
… und dennoch gilt insgesamt und erklärend:
Kein Glücklicher hat je ein gutes Buch geschrieben.
(Karl-Heinz Rofkar, Frühe Prosa – Aphoristisches)
Hans-Joachim Schrader, Tostedt, April 20191
Ceterum censeo „Notre-Dame“ esse reconstructam!,
denn:
„Der Mensch lebt nicht von Brot allein!“ (Mt 4,4)
1 noch ein paar Bemerkungen zu diesem Buch. Die Niederschrift wurde und wird durch allerlei Unwohlsein bis hin zu Krankenhausaufenthalt unterbrochen. Ich möchte endlich mit den Aufzeichnungen fertig werden, wenn mir das überhaupt noch vergönnt ist. Deshalb werden notwendige Korrekturen zu kurz kommen, und ein distanziertes Lektorat ist nicht möglich. Also bitte ich um Verständnis für manche Ungereimtheit, manchen Fehler – that’s life, that’s authentic!
Oh Herr, Du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde und meine Kräfte spürbar schwinden.
Herr, bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Bewahre mich vor den Besserwissern und Neunmalklugen und lass mich nicht zu ihnen gehören. Und bewahre mich vor unerbetenen Ratschlägen.
Schenke mir Demut vor Wahrhaftigkeit und lass mich Wissen von Meinen unterscheiden.
Ebenso bewahre mich vor Angeberei und Renommiersucht.
Befreie mich von dem Ehrgeiz, ständig andere Leute auf die rechte Bahn bringen zu wollen.
Verschone mich vor unnützem Gerede, bei dem ich den Wunsch verspüre, „einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzulächeln und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen“.3
Bewahre meine Rede vor der endlosen Aufzählung von Einzelheiten marginaler Geschichten und verleihe meiner Rede Flügel, schneller auf den Punkt zu kommen.
Schenke uns Freiheit, doch lehre uns, dass Freiheit auch immer die Freiheit des anderen ist4.
Versiegele mir die Lippen vor dem Ausmalen des eigenen Kummers, Schmerzes, der eigenen Krankheiten - sie nehmen zu, und meine Lust, davon zu berichten, wächst mit den Jahren; doch ich weiß, dass Leiden exklusiv und sehr persönlich ist.
Gib mir die Gnade, von den Krankengeschichten anderer verschont zu werden, und gib mir die Geduld, sie gegebenenfalls zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass auch ich mich gelegentlich irren kann und behüte mich vor Großtun.
Lass mich einigermaßen umgänglich bleiben.
ich will kein Heiliger sein - mit Heiligen lebt es sich schwer, aber ein alter Sauertopf ist etwas Unerträgliches.
Gib mir die Fähigkeit, Gutes dort zu sehen, wo man es nicht erwartet - bei Dingen wie bei Menschen. Und gib mir auch die Bereitschaft, darüber anerkennend zu sprechen.
Mach mich nachdenklich, aber nicht trübsinnig oder den Zweifel verehrend, mach mich hilfsbereit, aber nicht rechthaberisch.
Nimm anderen die Last zu glauben, mir sagen zu müssen, was ich sagen soll.
Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Wissen schenke mir die Gnade, nicht zu glauben, alles weitergeben zu müssen; auch wenn es vielleicht schade ist um alles Wissen, das ich nicht mehr nutze - aber du verstehst, dass ich mir so noch ein paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre meine Gegenüber und mich vor zunehmenden Sender-Empfänger-Problemen.
Lehre mich ferner, die deutlich sichtbare Gebrechlichkeit und die wachsenden Einschränkungen, die zunehmenden Verluste und die Einsamkeit danach mit Geduld und Gelassenheit zu ertragen. Sie sind nach Kindheit, Jugend, Erwachsensein ein neuer Lebensabschnitt für mich mit neuem Denken und Tun, bis der Tod mich in die Ewigkeit aufnimmt.
Und wenn das Ende naht, dann lass es ohne Verzögerung und auf natürliche Weise geschehen. Und schenke mir Zeit und Bewusstheit und Kraft, mich von allem zu lösen und von allen zu verabschieden. Und sollte ich die Kraft verlieren, meinen Betreuern mein Wollen und Begehren mitzuteilen, dann gib ihnen Vernunft, Verantwortung und Liebe, nach einem erfüllten Leben meinen Tod unterstützend und helfend hinzunehmen.
(Grafik nach Horst Janssen, im Besitz d. Autors)AMEN.
2 nach Teresa von Ávila, spanische Karmelitin und Mystikerin (1515-1582); Heilige: Patronin Spaniens; vorliegende Fassung vom Misanthropen Schrader, Weihnachten 2018
3 nach Maxim Gorki
4 nach Rosa Luxemburg
(dieser Brief wurde in der vorliegenden Form nie abgeschickt)
Sehr geehrte Frau Kujawa, sehr geehrter Herr Meier5,
wir danken für die Wiederaufnahme in die ev.-luth. Kirche.
1991 trat das Ehepaar Schrader aus der Kirche aus, fast 15 Jahre Heidenschaft, schließlich der Wiedereintritt: Da mag es für Sie schon interessant sein, unsere Beweggründe zu erfahren, auf jeden Fall ist es für mich wichtig, Ihnen diese Beweggründe mitzuteilen, obwohl mir bewusst ist, dass das alles viel komplizierter ist als es sich auf wenigen Seiten darstellen lässt. Um eins vorwegzunehmen: Beide Entscheidungen entwickelten sich über Jahre. Der Austritt geschah nicht, weil wir die Kirchensteuer einsparen wollten (wie das vom damaligen Kirchenvorstand in einem Schreiben an uns vermutet wurde). Und der Eintritt geschieht im Wesentlichen nicht, weil zwei ältere Menschen ihr Lebensende in vielerlei Hinsicht „in Ordnung bringen wollen“ und wohl das „Jüngste Gericht“ fürchten (man kann ja nie wissen). Beide Vermutungen sind nicht abwegig, weil plausibel. Und dennoch sind sie nur Marginalien, wenn nicht gar unzutreffend.
Der Austritt erfolgte, weil es uns ehrlicher zu sein schien, endlich mit unserem Unglauben (sic!) ins Reine zu kommen. Wir fühlten uns schon damals seit vielen Jahren von keiner Religionsgemeinschaft angesprochen. Das hat sich bis heute fast nicht geändert.
Ich hatte gute „Voraussetzungen“ für ein Leben im Glauben: Christlicher Pfadfinder, Vertreter des Kirchenkreises Northeim im Landesjugendkonvent in Verden, befreundet mit der Langenholtensener Pastorenfamilie. Doch seit vielen Jahren fehlt mir jede Art von Glauben an bzw. Vertrauen in das Wirken transzendenter Mächte, besonders an/in eine wissende, liebende Allmacht.67
Das uralte, ungelöste Problem der Theodizee beschäftigt mich, seitdem ich selbständig denken kann. Im Internet fand ich von einer Schüler-AG des Gymnasium Meerbusch zu dem Thema den Versuch einer Deutung von Hans Jonas „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“:
Jonas stellt die Frage: Warum gibt es Übel auf der Welt? oder: Warum gibt es Übel für das jüdische Volk, das in einem Bund mit seinem Gott lebt? Antwort:
Die Unschuldigen und Gerechten seien bewusst in den Tod gegangen, um den Namen Gottes zu heiligen und das Licht der Verheißung umso heller leuchten zu lassen.
Ausnahme: Auschwitz, weil Auschwitz auch die unmündigen Kinder ohne freien Entschluss verschlang.
Jonas‘ Beweisführung:
Gott existiert in Raum und Zeit und gibt seine Gottheit auf. Er verändert sich mit der Zeit, in der Zeit. Gott wird bereichert durch das zufällig entstehende Leben in Raum und Zeit.
Doch dann kam mit dem Menschen
das Ende der Unschuld
Wissen und Freiheit
Gut und Böse fallen auseinander diese Erfahrungen prägen Gott
Nach Jonas ist Gott also:
ein leidender Gott - wahrscheinlich seit es die Menschen gibt, die ihn missachtet und verschmäht haben.
ein werdender Gott - Gott wird von dem, was in der Welt geschieht verändert/ beeinflußt.
ein sich sorgender Gott - Gott trägt Sorge um seine Geschöpfe, kann aber nicht eingreifen, da er dem Menschen nolens volens Mitbestimmung gegeben hat.
Auch rein logisch ist Gott nicht allmächtig:
Macht braucht immer ein Gegenüber, an dem sie sich beweisen kann. Wenn aber Gott allmächtig ist, dann ist seine Macht durch nichts begrenzt und es gibt nichts mehr, woran/womit sich die Macht messen kann! Und das ist es ja gerade, was Macht ausmacht! Macht muss sich zeigen können, sich an einer adäquaten Macht beweisen können.8
Hinzu kommen religiöse Gründe.
Gott kann folgende Attribute besitzen: Allmacht, Verstehbarkeit (gewöhnlich wählt man stattdessen das Attribut Allwissenheit), Güte.
Jedoch können jeweils nur zwei dieser Attribute gleichzeitig gültig sein, weil sich sonst Fragen auftun (und die Theodizee ungelöst bleibt):
1. Wenn Gott allmächtig und gütig ist, ist er dann auch verstehbar bzw. allwissend?
Nein, er ist nicht verstehbar, weil ein allmächtiger und gütiger Gott so ein Leid nicht zulassen würde. Und er kann nicht allwissend sein, weil trotz Güte und Allmacht das Leid besteht.
2. Wenn Gott allmächtig ist und verstehbar bzw. allwissend, ist er dann auch gütig? Nein, denn wenn er allmächtig und verstehbar bzw. allwissend ist, dann muss man ihn allein für alles Leid in der Welt verantwortlich machen.
3. Wenn Gott gütig und verstehbar bzw. allwissend ist, ist er dann auch allmächtig?
Nein, denn ein verstehender bzw. allwissender, gütiger Gott würde das Leiden nicht zulassen, wenn er die Macht hätte, es zu verhindern.
Güte und Gott sind untrennbar verbunden, weil Gott das Gute will.
Verstehbarkeit (und Allwissenheit) ist nach der gesamten jüdischen Tradition ein Wesensmerkmal Gottes, der seine Thora gegeben hat und sich Israel offenbarte.
Also muss die Allmacht weichen. Also ist Gottes Macht begrenzt. Das erklärt, warum Gott nicht eingreifen kann, in Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec, Majdanek, Bergen-Belsen, … nicht eingreifen konnte.
Gott hat also die Erde sich selbständig entwickeln lassen. Gott hat mit der Schöpfung nur den Anstoß gegeben, ein Langzeitexperiment in Gang gesetzt, das durch Zufall, zunehmender Entropie, Veränderungen von Quantitäten in Qualitäten regiert wird; oder - vollkommen deterministisch chaotisch gedacht – hat vielleicht ein Schmetterling im Garten Eden mit den Flügeln geschlagen9? „Schau‘ mer mal, was rauskommt!“.
Das Böse an sich steigt ganz banal aus dem Herzen des Menschen auf und gewinnt Macht in der Welt.
Gott hat auf seine eigene Unverletzlichkeit verzichtet, damit die Welt sein kann. Damit hat Gott gegeben, was er geben kann. Das Dasein für die Kreatur. Mehr kann er nicht geben. Jetzt ist es am Menschen, Gott zu geben.
Soweit der Interpretationsversuch der Meerbuscher Gymnasiasten im Internet. Ich habe diesen Text verändert und ergänzt:
Das Attribut „Verstehbarkeit“ menschelt mir zu sehr. Verstehbarkeit ist mir zu wohlfeil. Wer versteht schon Putin, die Bücher von Arno Schmidt, den 2. Teil vom „Faust“, die Bilder von Jackson Pollock, Botokudisch, die große Fermatsche Vermutung – und ausgerechnet Gott soll so einfach verstehbar sein? Konrad in Mickiewicz‘ Dziady glaubte Gott zu verstehen und suchte in ihm vergeblich einen Dialogpartner. Ich habe darum die Verstehbarkeit durch Allwissenheit ersetzt.
Der Jonassche Text geht stillschweigend davon aus, dass es Gott gibt, „Gott ist nicht tot“ nur die Allmacht fehlt ihm offenbar (oder ist es die Liebe?).
Das ist natürlich ebenso wenig ein Gottesbeweis wie der ontologische des Anselm von Canterbury (1033-1109). Kant würde vielleicht einwenden, dass Gott keineswegs nur deshalb realiter existiert, weil ihm Liebe oder Allmacht fehlen.
Ich fühle mich da als Agnostiker, alles Wissen über Gott – wie es auch immer geartet ist – „menschelt“, wir wissen schier nichts über Gott, können auch nichts wissen. Alles Übersinnliche ist unerkennbar, insbesondere Gott, und die armseligen menschlichen Vorstellungen haben keinen Grund, an seiner Existenz zu zweifeln. Das Transzendente lasse sich nur erahnen, fühlen, glauben. Hier gilt für mich Protagoras‘ Homo-Mensura-Satz. Er lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Das ist ein klarer Satz, der unser Wissen und unsere Erkenntnismöglichkeiten und das, was für uns „da“ ist und erkennbar ist, sehr einschränkt. Die Wurzeln der menschlichen wie außermenschlichen Dinge liegen im Unwissbaren und somit im Unerklärbaren. Absolute Wahrheiten gibt es nicht. Das „Ding an sich“, die Ideen der Dinge sind nicht erkennbar10. Das Erklärbare, das Reale ist das, was von Verstand, Vernunft, Erkenntnismethoden zugänglich ist. Gerhard Szczesny drückte das in „Mögen alle Sorben glücklich sein“ so aus: „Das Wissen des Wissbaren ist Sache der Wissenschaft. Das Wissen des Machbaren ist Sache der Technik und der Politik. Das Wissen des Nichtwissbaren und Nichtmachbaren ist Sache der Dichtung, der Kunst, der Philosophie und der Religion.“
Kurz gesagt: Entweder existiert Gott gar nicht oder – wenn er existiert – ist er für unseren Verstand nicht halbwegs erkennbar, erfassbar, begreifbar, er ist ein „Ding an sich“11.
Vielleicht bin ich auch Deist: Der Schöpfergott nutzt zwei der drei Attribute, nämlich Allmacht und Allwissenheit, nur hat er irgendwann die Lust verloren, sich um den „Betrieb“, den er einst geschaffen hatte, zu kümmern. Gott nimmt nach der Schöpfung keinen Einfluss mehr auf die Welt, die ohne ihn wie eine Maschine allein weiterläuft. Am Anfang war der Logos, das Wort „es werde …“, der deus faber schuf damals diese Welt, eine Welt, die sich selbst entwickeln soll, die mit wissenschaftlicher Distanz von ihrem Schöpfer beobachtet wird. Denken wir mal an einen Pflanzenzüchter, der Kartoffeln in der Form von pommes frites züchten will: Wie viele Ernten muss der beobachten und selektieren und Kreuzungen vornehmen bis zum verkaufsfähigem Ergebnis. Und weil tausend Jahre vor Gott wie ein Tag sind, wird sich das Schöpfungsexperiment in unseren Zeitvorstel-lungen noch einige Milliarden Jahre so oder so entwickeln. Gott offenbart sich nicht wie im Judentum, im Islam und im Christentum. Er spricht nicht zu uns – und die Theodizee ist kein Problem mehr, denn die Allliebe fehlt.
Gott ist ein lauter Nichts,
ihn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach ihm greifst,
je mehr entwird er dir.
Angelus Silesius (1624 – 1677)
5 beide Adressaten waren Pastoren der Johannesgemeinde Tostedt
6 aus: Berthold Brecht, Kalendergeschichten
Die Frage, ob es einen Gott gibt
Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“
7 Zur Frage der Allmacht: Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz
8 (nur ein Pennäler-Joke:) „Gott ist allmächtig, er kann große Steine machen! Kann er auch einen Stein machen, der so groß ist, dass er ihn nicht tragen kann?“
9 Edward Norton Lorenz (1917-2008), Mathematiker, Meteorologe und Chaostheoretiker: Es ist nicht vorhersehbar, in welchem Maß sich beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen eines Systems anhaltend und langfristig auf die weitere Entwicklung des Systems auswirken. Lorenz brachte auf einem Vortrag eine bildhafte Veranschaulichung dieses Effekts am Beispiel des Wetters (butterflyeffect): „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings (bei Lorenz war’s ’ne Möwe) in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“
10 In Platons Theaitetos vertritt Sokrates gegenüber Theodoros eine andere Meinung über den Satz des Protagoras: Der einzelne Mensch, das Individuum (nicht der Mensch als Gattung) sei das Maß aller Dinge. Dann aber ist alles subjektiv und nichts verlässlich. Sagt der eine, es sei kalt, weil ihm friert, und sagt der andere, ihm sein aber warm, dann haben beide recht. Damit würde Protagoras mit seinem Satz zu einem Paradoxon der Art: „Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen!“
11 und nicht einmal das „weiß“ ich, doch Platon, Kant und andere schienen es zu wissen.
Zur Frage der Theodizee:
aus:
F.M. Dostojewskij, "Die Brüder Karamasoff" (schon bald nach Karl May gehörten in meiner Schülerzeit Dostojewskis Der Idiot, Schuld und Sühne, Die Brüder Karamasoff, Die Dämonen zu meinen Bestreadern. Ich erinnere, dass Klassenkamerad Helmut Otto mir mal sagte: „Lies nicht so viel Dostojewski, Der macht dich verrückt!“)
Ausschnitte aus der Anklage/Selbstverteidigungsrede des Großinquisitors vor Jesus (Iwan Karamasoff erzählt seinem Bruder Aljoscha die Legende vom Großinquisitor, die Übertragung aus dem Russischen besorgte E. K. Rahsin, für das Anliegen meiner Niederschrift habe ich hier und da ein wenig gekürzt und vielleicht sogar ein Wort geändert):
Die gewaltige Anklage/Selbstverteidigungsrede des Großinquisitors gegenüber dem schweigenden Jesus bezieht sich auf Jesu Versuchung in der Wüste, die von allen drei Synoptikern unterschiedlich ausführlich erzählt wird:
Matthäus 4:
1 Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde.
2 Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.
3 Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.
4 Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“
5 Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels
6 und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.«
7 Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5.Mose 6,16): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“
8 Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit
9 und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
10 Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5.Mose 6,13): „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“
Markus 1
12 Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste;
13 und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.
Lukas 4
1 Jesus aber, voll Heiligen Geistes, kam zurück vom Jordan. Und er wurde vom Geist in der Wüste umhergeführt
2 vierzig Tage lang und von dem Teufel versucht. Und er aß nichts in diesen Tagen, und als sie ein Ende hatten, hungerte ihn.
3 Der Teufel aber sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich zu diesem Stein, dass er Brot werde.
4 Und Jesus antwortete ihm: Es steht geschrieben (5.Mose 8,3): „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“
5 Und der Teufel führte ihn hoch hinauf und zeigte ihm alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick
6 und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben und ich gebe sie, wem ich will.
7 Wenn du mich nun anbetest, so soll sie ganz dein sein.
8 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es steht geschrieben (5.Mose 6,13): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.“
9 Und er führte ihn nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich von hier hinunter;
10 denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): „Er wird befehlen seinen Engeln für dich, dass sie dich bewahren.“
11 Und: „Sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“
12 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesagt (5.Mose 6,16): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“
13 Und als der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm bis zur bestimmten Zeit.
Die Handlung der Großinqusitorlegende spielt im sechzehnten Jahrhundert.
Jesus erscheint! Allerdings spricht Er kein Wort. Er erscheint nur und geht vorüber.
(Beginn des gekürzten Auszugs):
„Und so will Er denn in Seiner Barmherzigkeit wenigstens auf einen Augenblick zum Volk hinabsteigen, zu dem sich quälenden, dem leidenden, schmutzig-sündigen, doch kindlich ihn liebenden Volk. Jesu Erscheinen begab sich in Spanien, im sonnendurchglühten Sevilla zur schrecklichsten Zeit der Inquisition, als dort zum Ruhme Gottes täglich Scheiterhaufen zum Himmel aufflammten und man in prunkvollem Autodafé verruchte Ketzer verbrannte. Jesus will nur auf einen Augenblick Seine Kinder wiedersehen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen der Ketzer prasseln.
In unermesslichem Erbarmen kommt Er zu ihnen noch einmal in derselben menschlichen Gestalt, in der Er einst dreiunddreißig Jahre lang unter den Menschen gewandelt, vor anderthalb Jahrtausenden.
Er steigt hinab auf die glühenden Plätze der südlichen Stadt, wo gerade erst tags zuvor im Beisein des Königs, des Hofes, aller Granden und Kirchenfürsten und der reizendsten Damen der Hofgesellschaft, vor den Augen der zahlreichen Einwohnerschaft Sevillas vom greisen Kardinal-Großinquisitor fast ein volles Hundert Ketzer ad majorem gloriam Dei auf einmal verbrannt worden war.
Er ist ganz still und unbemerkt erschienen, aber alle - sonderbar ist das -, alle erkennen ihn.
Eine unwiderstehliche Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn, wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin Er geht.
„Das ist Er, Er selbst!“ raunt sich das Volk immer lauter und lauter zu, „das muss Er sein, das kann kein anderer sein als Er!“
Vor dem Portal der Kathedrale von Sevilla bleibt Er stehen, da man gerade unter Weinen und Wehklagen einen offenen weißen Kindersarg in den Dom trägt: im Sarge liegt das tote siebenjährige Töchterchen eines vornehmen Bürgers, sein einziges Kind. Man hat es ganz in Blumen gebettet. „Er wird dein Kind erwecken!“, ruft man aus der Menge der weinenden Mutter zu. Die Mutter des toten Kindes wirft sich Ihm zu Füßen und ruft: „Bist Du es, so erwecke mein Kind!“. Jesus schweigt in der Legende. Nur in dieser Szene flüstert Er zwei Worte: Voll Mitleid blickt Er auf das tote Kind, und Seine Lippen sprechen leise abermals: „Talitha kumi“13. Das waren Seine ersten und letzten Worte, die Er in dieser Geschichte spricht. Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich auf und blickt lächelnd mit weit offenen verwunderten Äuglein um sich.
Und gerade da, in diesem Augenblick, geht über den Platz der Kathedrale der Kardinal-Großinquisitor. Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht, eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein Glanz blinkt wie ein Feuerfunke.
Er hat gesehen, wie der Sarg vor Seine Füße gestellt ward. Er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt den Finger aus und befiehlt der Wache, Ihn zu ergreifen. Und siehe, so groß ist seine Macht, und bereits so gut abgerichtet, unterworfen und zitternd gehorsam ist ihm das Volk, dass es vor den Wachen wortlos zurückweicht und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn wegführen lässt. Die Wache führt den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes Verlies im alten Palast des Heiligen Tribunals. Der Tag vergeht, es wird Nacht: dunkle, glühende, hauchlose sevillanische Nacht. Da, im Dunkel der tiefen Nacht öffnet sich plötzlich die eiserne Tür des Verlieses, und mit der Leuchte in der Hand tritt er, der Greis, der Großinquisitor, langsam über die Schwelle. Er ist allein, hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt lange - eine oder zwei Minuten lang - Ihm ins Gesicht. Endlich tritt er leise näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und spricht zu Ihm:
'Bist Du es? Du?' Und da er keine Antwort erhält, fügt er schnell hinzu: Antworte nicht, schweige.
Warum also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn Du bist uns stören gekommen! Das weißt Du selbst. Bist Du's wirklich, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Aber morgen noch werde ich Dich richten und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
'Hast Du das Recht, uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt, aus der Du gekommen bist, aufzudecken?' fragt Ihn der Greis, und er gibt selbst statt Seiner die Antwort: 'Nein, dieses Recht hast Du nicht, denn das hieße Neues zu dem, was schon früher gesagt worden ist, hinzufügen und den Menschen die Freiheit nehmen, für die Du damals so eintratest, als Du auf Erden wandeltest. Alles, was Du neu verkünden würdest, wäre jetzt ein Anschlag auf die Glaubensfreiheit der Menschen, denn es würde nun als Wunder in Erscheinung treten, gerade ihre Glaubensfreiheit aber war Dir doch das Teuerste, damals vor anderthalb Jahrtausenden. Hast Du nicht damals so oft gesagt: 'Ich will euch freimachen? 'Jetzt hast Du sie gesehen, diese 'freien' Menschen!', fügt der Greis plötzlich mit sinnendem Spottlächeln hinzu. 'Ja, … wir haben das Werk schließlich zu Ende geführt, in Deinem Namen. Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält, doch jetzt ist das überwunden! So höre denn, dass gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein, und dabei haben sie doch selber ihre Freiheit zu uns gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Und das ist unser Werk.
(Er rechnet es sich und den Seinen im Ernst als Verdienst an, dass sie endlich einmal die Freiheit überwunden haben, und dass sie dies nur zu dem einen Zweck getan: um die Menschen glücklich zu machen. Denn erst jetzt (er meint damit natürlich die an Macht wachsende Inquisition) ist es zum erstenmal möglich, auch an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch war als Rebell geschaffen; aber können denn Rebellen glücklich sein?)
Du verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können. Du gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und kannst es Dir selbstverständlich nicht einfallen lassen, dieses Recht uns jetzt wieder zu nehmen. Warum also bist Du uns stören gekommen?'
Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins, der große Geist sprach zu Dir in der Wüste, und wie die Schriften uns überliefern, habe er Dich - 'versucht'.
Und wäre es möglich, etwas Wahreres zu sagen als das, was er Dir in seinen drei Fragen vorlegte, und was Du verwarfst, und was in den Schriften 'Die Versuchungen' genannt wird? Indes, wenn jemals auf Erden ein wirkliches, wie ein Donnerschlag erschütterndes Wunder geschehen ist, so geschah es an jenem Tage, am Tage dieser drei Versuchungen! Schon im Auftauchen dieser drei Fragen bestand das Wunder. Glaubst Du, alle Weisheit der Erde vermöchte etwas zu ersinnen, das an Kraft und Tiefe jenen drei Fragen, die Dir der mächtige und kluge Geist in der Wüste tatsächlich vorgelegt hat, auch nur annähernd gleichkäme? Denn wahrlich, in diesen drei Fragen ist die ganze weitere Menschengeschichte gleichsam zu einem Ganzen zusammengefasst und vorhergesagt, und sind drei Bilder gegeben, in denen alle auf der ganzen Erde unlösbaren historischen Widersprüche der Menschennatur offenbart sind.
Entscheide selbst, wer damals recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte? Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut, war folgender: Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Zuchtlosigkeit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten und die sie schreckt, denn für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit! Siehst du dort jene Steine in dieser nackten, glühenden Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, wie eine dankbare und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern wird vor Angst, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote würden dann ein Ende nehmen. Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Aber weißt Du auch, dass im Namen dieses irdischen Brotes der Geist der Erde sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird?14
Weißt Du auch, dass Jahrhunderte vergehen werden und die Menschheit durch den Mund ihrer Weisheit und Wissenschaft verkünden wird, dass es Verbrechen überhaupt nicht gäbe, und folglich auch keine Sünde, es gäbe nur Hungrige. 'Sättige sie zuerst, dann kannst Du von ihnen Tugenden verlangen!' werden sie auf ihre Fahne schreiben, die sie gegen Dich erheben und durch die Dein Tempel stürzen wird. An der Stelle Deines Tempels wird sich ein neues Bauwerk erheben. … Sie werden uns wieder aus den Erdlöchern hervorsuchen, uns, die in den Katakomben sich Verbergenden - denn man wird uns wieder verfolgen und martern -, sie werden uns finden und uns anflehen: 'Sättigt uns, denn die, so uns das Feuer vom Himmel versprachen, haben es uns nicht gegeben.' Und dann werden schon wir alles vollenden, denn vollenden wird derjenige, der den Hunger stillt; den Hunger aber stillen werden nur wir, in Deinem Namen, und wir werden lügen, dass es in Deinem Namen geschehe.
O, niemals, niemals werden sie ohne uns ihren Hunger stillen können! Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und so wird es denn damit enden, dass sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen werden: 'Knechtet uns lieber, aber macht uns satt.'