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Auf der Bristlecone Pine Ranch im beschaulichen Örtchen Crosston Creek hat Holly ein Zuhause gefunden. Brian, der Eigentümer der Ranch, ist ein väterlicher Freund für sie geworden und die Arbeit mit den Pferden könnte für Holly nicht erfüllender sein. Als sie erfährt, dass die Ranch in finanziellen Schwierigkeiten steckt und Brian sie verkaufen muss, bricht für Holly eine Welt zusammen. Die einzige Rettung wäre Brians Sohn Callen - ein erfolgreicher Anwalt. Der hat allerdings seit einem tragischen Unfall vor Jahren nicht mehr mit seinem Vater gesprochen und die Ranch interessiert ihn nicht. Aber so schnell gibt Holly nicht auf. Sie setzt alles daran, dass sich Vater und Sohn wieder versöhnen und die Ranch gerettet werden kann. Dass sie dabei Gefühle für Callen entwickelt, war nicht geplant und verkompliziert ihren Plan immens ...
Auftakt der neuen, romantischen Reihe von Cara Lay. Crosston Creek, ein malerischer Ort am Fuße der Rocky Mountains, wo Herzen zueinander finden.
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Auf der Bristlecone Pine Ranch im beschaulichen Örtchen Crosston Creek hat Holly ein Zuhause gefunden. Brian, der Eigentümer der Ranch, ist ein väterlicher Freund für sie geworden und die Arbeit mit den Pferden könnte für Holly nicht erfüllender sein. Als sie erfährt, dass die Ranch in finanziellen Schwierigkeiten steckt und Brian sie verkaufen muss, bricht für Holly eine Welt zusammen. Die einzige Rettung wäre Brians Sohn Callen – ein erfolgreicher Anwalt. Der hat allerdings seit einem tragischen Unfall vor Jahren nicht mehr mit seinem Vater gesprochen und die Ranch interessiert ihn nicht. Aber so schnell gibt Holly nicht auf. Sie setzt alles daran, dass sich Vater und Sohn wieder versöhnen und die Ranch gerettet werden kann. Dass sie dabei Gefühle für Callen entwickelt, war nicht geplant und verkompliziert ihren Plan immens …
CARA LAY
»Fünf Jahre ist es nun schon her«, ertönte Brian Wilborns Stimme auf der Stallgasse.
Holly schob eine Strähne unter das Tuch zurück, mit dem sie während der Arbeit ihre blonden Locken bändigte, und streckte den Kopf aus der Box. Ihr Chef kam auf sie zu, seine Mundwinkel nur zur Andeutung eines Lächelns nach oben gebogen. Holly hatte diese immer etwas reservierte Art früher mit Unfreundlichkeit verwechselt. Bis sie nach und nach erkannt hatte, welch gütiger Mann sich hinter seinen Mauern versteckte. Holly schenkte ihm ein rasches Lächeln und wandte sich dann Mortimers Tränke zu, um sie zu kontrollieren, wurde jedoch durch ein nachdrückliches Stupsen an ihrem Rücken daran gehindert. Mortimer brachte sich in Erinnerung.
»Du Untier.« Hollys Stimmlage strafte ihre Aussage Lügen. Entsprechend unbeeindruckt zeigte sich der so Gescholtene.
Holly schob seinen Kopf zur Seite, drückte sich an dem kräftigen Körper vorbei und durch die Tür der Pferdebox auf den Gang, wo ihr Chef auf sie wartete. »Guten Morgen, Brian.«
Mortimers imposanter Schädel erschien neben Holly. Der Hengst warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Brian behauptete zwar immer, Pferde könnten vielleicht sanft oder wild dreinschauen, aber keinesfalls vorwurfsvoll, doch er sah offensichtlich nicht genau genug hin. Morty sprach definitiv mit den Augen. Und seine momentane Botschaft war eindeutig.
»Also gut, überredet.« Aus einer der unzähligen Taschen ihrer Weste zog Holly die Karotte, die ohnehin für ihn vorgesehen war, und hielt sie ihrem Liebling unter den Pferden der Ranch hin. Mortimer brummelte zufrieden, nahm vorsichtig die Möhre von der flachen Hand und kaute genüsslich.
Brian lächelte nun wärmer, wirkte dabei jedoch weiterhin bedrückt. »Dass dein Herz eines Tages so an diesem Tier hängen würde, hättest du vor fünf Jahren nicht gedacht, oder?«
»Nein, hätte ich nicht.« Damals hätte sie es ebenso wenig für möglich gehalten, sich jemals an einem Ort so sicher und zu Hause zu fühlen. Sie streichelte Mortimers Stirn. »Aber wie könnte ich diesem prächtigen Mann widerstehen?«
Der Hengst war in der Tat ein ausnehmend schönes Pferd. Seine vordere Hälfte glänzte nachtschwarz und verlor sich dann in schwarzen Sprenkeln auf weißem Grund in Richtung Schweif. Er sah aus, als wäre jemandem beim Anstrich die Farbe ausgegangen. Mit diesem Farbverlauf war er ein typischer Vertreter der Rasse Colorado Ranger und obendrein ein gefragter Deckhengst.
Brian tätschelte den Hals des Hengstes, der den Kopf in der Hoffnung auf eine weitere Leckerei fast in seine Jackentasche steckte. »Ja, ein Prachtkerl ist er wirklich.« Die Miene ihres Chefs wirkte bei diesen Worten seltsamerweise noch trauriger.
Holly sah Brian prüfend an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Essen wir heute zusammen?« Brian erwiderte ihren Blick so ernst, dass es Holly schwer ums Herz wurde.
»Natürlich, gern.« Eigentlich aßen sie ohnehin so gut wie jeden Tag gemeinsam. Brians Einladung war ein Überbleibsel aus der Zeit, als Holly ihn nur bekocht hatte und dann in ihre kleine Mansardenwohnung über dem Stall verschwunden war. Heute klang es allerdings nach einer förmlichen Einladung, so steif wie Brian sie vorbrachte. »Ist alles gut bei dir?«, erkundigte sich Holly noch einmal, doch erneut sah er sie nur in sich gekehrt an und schenkte ihr ein müdes Lächeln.
»Bis nachher dann.« Im Weggehen legte er ihr kurz die Hand auf die Schulter.
Holly sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher. Ihr Chef, Eigentümer der Bristlecone Pine Ranch und inzwischen auch väterlicher Freund, hatte mal schlechte und mal bessere Tage. Heute schien wieder ein Tag zu sein, an dem das Elend der Welt auf seinen Schultern lastete. Seit seine Frau vor rund zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, lebte er recht zurückgezogen. Das hatte Russ ihr schon vor Jahren erzählt. Der Inhaber des Crosston Inn war immer über alles und jeden bestens informiert.
Dass Brian den Kontakt zu Menschen nicht unbedingt suchte, konnte Holly nach all der Zeit auf der Ranch bestätigen, doch was genau dazu geführt hatte, wusste sie bis heute nicht. Weder Russ noch Sam, der seit Jahren auf der Ranch arbeitete, hatten allzu viel darüber preisgegeben und Holly kam es zu intim und zu neugierig vor, weiter in sie zu dringen. Brian vermied das Thema völlig. Etwas, das Holly uneingeschränkt akzeptierte, denn ihr Chef respektierte umgekehrt Hollys Schweigen über ihr altes Leben.
Die restlichen Pflichten im Stall gingen ihr heute nicht so mühelos von der Hand wie sonst. Brians fast greifbare Bedrückung und ein Gefühl drohenden Unheils hingen wie eine dunkle Wolke über Hollys Kopf. Erst rutschte ihr der Griff der Putzbox aus den kalten Fingern, und Bürsten, Striegel und Kardätschen kullerten über die Stallgasse, dann verhedderte sich das Zaumzeug beim Aufhängen, und am Ende ließ sie versehentlich den Deckel der Futterkiste mit einem lauten Knall zufallen.
Sam warf ihr einen scharfen Blick zu. »Alles klar?« Seine buschigen, schlohweißen Augenbrauen zogen sich eng zusammen.
Er war ein ruhiger Mann, der mit Mensch und Tier eine Engelsgeduld hatte. Wenn es jedoch um das Wohl seiner Pferde ging, konnte er böse werden.
»Sorry«, murmelte Holly rasch. »Weiß auch nicht.«
»Dann mach mal Feierabend«, brummte Sam. »Den Rest schaffe ich schon allein. Bevor du am Ende noch den Sattel falsch herum auf Mortimer wirfst.« Zum Glück zeigte sich bei diesen Worten ein gutmütiges Lächeln in Sams wettergegerbten Zügen.
»Mortimer? Den habe ich heute Morgen schon bewegt.« Sofort spürte Holly in Gedanken wieder den scharfen Wind in ihren Augen und die Kälte auf den Wangen. Seit einiger Zeit durfte sie mit dem wertvollen Hengst allein ins Gelände. Einen größeren Vertrauensbeweis und ein höheres Lob für ihre immer besseren Reitkünste hätten ihr Brian und der Stallmeister nicht machen können.
»Weiß ich. Der Boss möchte nachher mit ihm raus.«
Brian wollte auf Mortimer ausreiten? Holly sah Sam mit großen Augen an. Sie hätte nicht sagen können, wann ihr Chef zum letzten Mal ausgeritten war. Irgendwann mit ihr zusammen, als sie die Pferde noch nicht ohne Begleitung außerhalb des Reitplatzes bewegen durfte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Brian in all den Jahren jemals allein ins Gelände gegangen war. Sein Verhalten wurde immer rätselhafter.
»Wieso so plötzlich? Hat Brian etwas dazu gesagt?«
Sam zuckte mit den Schultern. »Muss er nicht. Ist der Boss.«
»Aber …«
»Er wird seine Gründe haben, Mädchen.« Sam machte sich daran, einen neuen Sack Kraftfutter zu öffnen. Ein Zeichen, dass die Unterhaltung beendet war.
Holly wünschte, sie hätte seine Gelassenheit teilen können. Sie kannte Brian inzwischen recht gut. Obwohl, oder besonders weil sich der schweigsame Mann nie in die Karten sehen ließ, hatte sie ein Gespür für seine Stimmungen entwickelt. Etwas bereitete Brian Kummer – und durch die Art, wie er Holly angesehen hatte, ahnte sie, dass es auf irgendeine Art auch sie selbst betraf.
Nachdem sie Sam beim Umfüllen des Futtersacks geholfen hatte, verabschiedete sie sich von ihm, steckte Mortimer eine weitere Karotte zu und stapfte dann die Stiege zu ihrer Mansardenwohnung über dem Stall hoch.
Die zwei Zimmer waren schlicht eingerichtet. Ein durchgesessenes Sofa mit Tisch davor, ein schwerer Sessel, ein Sideboard mit einem klobigen Röhrenfernseher. Neben dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto. Es zeigte sie auf Mortimer bei ihrem ersten gemeinsamen Ausritt. Brian hatte den Schnappschuss angefertigt. Ein einfaches Handyfoto, doch es fing perfekt das Glück dieses Augenblicks ein.
Die andere Hälfte des Raums belegten eine in die Jahre gekommene Küchenzeile und ein Esstisch mit verschrammter Tischplatte sowie drei nicht zueinanderpassende Stühle.
Im Schlafzimmer zeigte sich ein ähnlich zusammengewürfeltes Bild. Ein altes, dafür riesiges Bett, ein Kleiderschrank und vor dem Fenster ein Schreibtisch mit ihrem modernsten Besitz darauf: ein Notebook, das Brian ihr zum vergangenen Weihnachtsfest geschenkt hatte, obwohl es hier draußen auf der Ranch nur im Farmhaus verlässliches Internet gab. Hätte ihr jemand vor fünf Jahren gesagt, dass man ohne das weltweite Netz leben konnte, hätte sie ihn für einen exotischen Aussteiger gehalten. Heute vermisste sie diese Annehmlichkeit nur selten. Internet benötigte nur derjenige, der Kontakt zur Welt haben wollte.
Trotz des Sammelsuriums an Möbeln mochte Holly ihr kleines Reich. Mit den Jahren war es – vor allem durch Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke – gemütlich geworden. Obwohl sie Weihnachten seit dem Tod ihrer Mutter eher als bedrückend empfand, hatte sie sogar ein großes Keramikrentier auf die Fensterbank gestellt und ein hölzerner Stern baumelte an der Deckenleuchte.
Zwei Flickenteppiche, eine kuschelige Decke auf dem Sofa, Kissen auf den Stühlen und inzwischen auch Vorhänge brachten Farbe in die Mansarde, in der wegen der Dielen und der Deckenbalken Holz dominierte. Zum letzten Geburtstag hatte Sams Frau Louisa ihr einen Quilt überreicht. Ein Geschenk, das Holly die Tränen der Rührung in die Augen getrieben hatte.
»Ach was«, hatte Louisa abgewehrt. »Ich nähe einfach gern und bin froh, wenn ich jemandem damit eine Freude machen kann. Meine gesamte Verwandtschaft ist bereits versorgt.«
Holly lächelte jedes Mal, wenn ihr Blick auf die leuchtenden Farben fiel. Aus ihrem einstigen Unterschlupf war ein Zuhause geworden. Sie hatte endlich eine Heimat.
Von unten hörte sie das Klappern von Eimern, ein Pferd wieherte. Vertraute Geräusche, die ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelten. Nachdenklich begann Holly, ihre Arbeitsklamotten auszuziehen. Brian hatte mit seiner Frage vorhin ins Schwarze getroffen: Noch vor einigen Jahren hätte sie sich niemals vorstellen können, dass ihr all dies so ans Herz wachsen könnte. Eine New Yorkerin durch und durch war sie gewesen, die nicht einmal in den Ferien die Großstadt verlassen hatte. Das Mädchen von einst hatte sich verändert. Mit etwas Glück war es endlich verschwunden.
Es war dunkel, als sich Holly frisch geduscht auf den Weg zu Brian machte. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ keinen Zweifel daran, dass der Winter vor der Tür stand. Holly zog die Jacke enger um sich und blies warme Luft in ihre Hände. Die Atemluft formte in der Kälte kleine Wölkchen. An solchen unwirtlichen Tagen kam ihr der Weg über den großzügigen Hof weiter vor, als die vielleicht zweihundert Schritte, die das Haupthaus tatsächlich entfernt lag.
Über dem Giebel lugten die Wipfel der mächtigen Kiefern hervor, denen die Ranch ihren Namen verdankte. Im Sommer lag stets ein Hauch ihres harzigen Dufts über Bristlecone Pine.
Sie erinnerte sich, wie sie Brians Zuhause damals zum ersten Mal gesehen hatte. Wie sich aus dem Schnee die Umrisse eines stattlichen Hauses geschält hatten, das deutlich größer als das von ihr erwartete Farmhaus war. Außer dem Sockel und dem seitlich emporragenden Kamin aus Naturstein war das Gebäude aus Holz errichtet und wirkte wie ein warmer, freundlicher Landsitz. Ein Heim, in das man abends nach getaner Arbeit gern kam und sich mit seiner Familie zum Abendessen setzte. Ein Zuhause, das im Winter dazu einlud, vor dem prasselnden Kaminfeuer zu verweilen.
Die Realität sah anders aus.
Aus der Nähe waren Holly die Anzeichen des einsetzenden Verfalls nicht entgangen. Spinnweben vor den Fenstern, Schmutz auf der Verandatreppe und Verandamöbel, auf denen sichtlich schon lange niemand mehr Platz genommen hatte. Die Brüstung war spröde und die Fassade verlangte nach einer frischen Lasur.
Die Spinnweben waren seit Jahren verschwunden und die Stufen gefegt. Für Sauberkeit sorgte inzwischen Holly. Doch die Veranda wirkte auch in diesen Tagen noch verlassen und die Frontansicht trostlos.
Im Innern des Hauses sah es ähnlich aus. Immer, wenn sie durch die schwere Eichentür trat, war ihr in der Eingangshalle, als liefe sie durch eine Wolke stillen Leids. Selbst mit Fantasie ließ sich die ehemals freundliche Atmosphäre der Räume kaum mehr erahnen. Heute verdeckten vergilbte Laken die meisten Möbel, und Holly focht mit dem Staubwedel einen einsamen Kampf gegen Spinnennetze an den frei liegenden Deckenbalken und den Schmutz in den Ecken. Trauer beherrschte dieses Haus und seinen letzten Bewohner.
Sie drückte die Klinke der Haustür hinunter. Brian schloss tagsüber nie ab.
»Wer soll sich schon hierher verirren?«, hatte er Hollys Staunen kommentiert, die als New Yorkerin eher an Zusatzschlösser und Riegel denn an offene Türen gewöhnt war. Mittlerweile verstand sie Brians Sorglosigkeit. Die Ranch war wirklich einsam und friedlich.
Holly stieß die Tür auf, und wie immer ließ sie nicht nur das kühle Metall der Klinke in ihrer Handfläche erschauern. Gut, dass Brian nie Gäste hatte. Einen freundlichen Empfang bot dieser düstere Anblick niemandem mehr.
Ihre Stimmung besserte sich ein wenig, als sie zischende Geräusche von Gebratenem aus der Küche hörte. Sie folgte den appetitlichen Gerüchen und fand Brian am Herd, wo er Steaks in der Pfanne wendete. Im Ofen entdeckte sie eine Auflaufform mit großen Kartoffeln, auf dem Küchentisch eine Schüssel mit Salat. Daneben stand ein Kännchen mit Gartenkräuterdressing. Das wusste sie, ohne hineinzusehen. Es enthielt immer Gartenkräuterdressing, denn dieses Gericht in genau dieser Kombination war Brians Spezialität.
»Deshalb sollte ich heute nichts für das Abendessen vorbereiten«, sagte Holly lächelnd. »Soll ich den Tisch decken?«
»Bereits erledigt.« Brian prüfte mit leichtem Druck, ob die Steaks gar waren.
»Aber auf dem Küchentisch ist doch …?« Holly stutzte. »Hast du etwa im Esszimmer gedeckt?«
Brian nickte. »Trag doch schon einmal den Salat rüber. Das Fleisch ist gleich so weit.« Seine Stimme war anders als sonst. Nicht nur ruhig – heute lastete hörbar ein Gewicht auf ihr.
Holly nahm Schüssel und Kännchen und bog um die Ecke ins Esszimmer neben der Küche. Der Tisch war festlich gedeckt, mit weißem Porzellan und dem silbernen Besteck, das von Brians Großeltern stammte. Sie aßen selten hier und noch seltener an einer so eleganten Tafel. Da weder Weihnachten noch ihr Geburtstag war, konnte es nur eins bedeuten: Brian hatte ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Und angesichts seiner merklichen Anspannung wuchs sich Hollys Knoten im Magen zu einem fülligen Basketball aus.
Mit zitternden Händen stellte sie den Salat und das Dressing ab, dann schlüpfte sie mit weichen Knien auf ihren Platz. Sie hatte Brian fragen wollen, ob sie noch etwas helfen konnte, aber diesen einen Moment brauchte sie für sich. Durchatmen, Holly. Es wird schon nichts Schlimmes sein.
Brian erschien mit der Auflaufform in den Händen. »Gießt du den Wein ein? Ich hole die Teller mit dem Fleisch.«
Erst jetzt sah Holly, dass sogar ein Rotwein dekantiert auf der Anrichte bereitstand. An einem gewöhnlichen Abend. Holly schluckte.
Brian wusste, wie unwohl sie sich fühlte, wenn er vor ihren Augen Whiskey trank, deshalb hatte er sich angewöhnt, in Hollys Beisein so gut wie nie Alkohol zu sich zu nehmen. Wein bildete eine gelegentliche Ausnahme. Meist an Weihnachten. Zu Silvester gab es ein Glas Champagner. Holly hätte weglaufen mögen, so sehr fürchtete sie sich inzwischen vor dem Abend.
Während Brian die Teller vor ihnen beiden abstellte, war seine Miene nicht dazu angetan, Hollys Stimmung aufzuhellen. Er setzte sich und lächelte verkrampft. »Guten Appetit.«
Holly fühlte sich an eine Henkersmahlzeit erinnert. Normalerweise liebte sie dieses Gericht, doch die übliche Freude auf den bevorstehenden Genuss wollte sich nicht einstellen. Lustlos steckte sie sich ein Stück von dem Steak in den Mund.
Nach einigen Momenten sah Brian sie an. »Schmeckt es dir nicht?« Er neigte leicht den Kopf. Seine eisgrauen Augen schienen sie zu röntgen. Das war sein Trick. So hatte er sie in den vergangenen fünf Jahren häufig durchschaut und nach und nach ihren Panzer behutsam geknackt – vielleicht sogar, ohne es zu merken oder es darauf angelegt zu haben.
Holly legte das Besteck zur Seite und erwiderte seinen Blick. Es hatte keinen Zweck zu leugnen. Ihr Teller sprach Bände. Seit Minuten kaute sie auf einem Stück Fleisch herum, als wäre es Gummi. Der Bissen im Mund wurde einfach nicht kleiner – und das lag sicher nicht an der Qualität des Steaks. Die Kartoffel mit der Sour Cream hatte sie nicht einmal angerührt. Sie trank einen großen Schluck Wein und spülte das Fleisch damit herunter. »Ich merke, dass etwas im Busch ist.« Es war immer besser, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Das verdirbt mir ein wenig den Appetit.«
Brian nickte wissend. »Das habe ich schon befürchtet.« Er lächelte ein trauriges Lächeln. »Du kennst mich eben.« Seltsamerweise schien ihn diese Aussage noch mehr zu bedrücken. Auch er legte sein Besteck zur Seite. »Ich werde weggehen«, sagte er leise. »Ich werde Bristlecone Pine verkaufen und Crosston Creek verlassen.«
Hollys Herz tat einen schmerzhaften Schlag. Dann fror es ein.
Tausend Fragen stoben gleichzeitig durch ihren Kopf, aber keine schaffte den Weg hinaus. Wie erstarrt saß Holly vor ihrem Teller. Sie atmete gegen den Druck in ihrem Brustkorb, presste Luft in die Lunge und stieß sie wieder aus. Ein seltsamer Laut zwischen Stöhnen und Wimmern passierte ihre Kehle. Wann? Warum? Musste sie gehen? Sie wollte mit Brian sprechen, ihn anflehen, dass er nicht verkaufte, eine Erklärung verlangen – zumindest die schuldete er ihr doch –, ihm all die Fragen aus dem Geflecht ihres Knotens im Hirn stellen und brachte nichts davon heraus. Stumm starrte sie ihn an, schwindlig vor Schreck und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Wann?«, stieß sie schließlich hervor.
»So schnell wie möglich. Am liebsten sofort. Hängt vom Käufer ab«, sagte Brian, griff nach seinem Glas und trank es in einem Zug leer. »Es tut mir leid.«
Tu es nicht, flehte Holly still. Betrink dich nicht. Nicht auch noch das. »Warum? Ausgerechnet jetzt. Es ist bald Weihnachten!« Als ob das eine Rolle spielte. Bewies es doch allenfalls, dass Weihnachten wirklich das bedeutungsloseste aller Feste war – oder zumindest sein sollte. Die letzten fünf Jahre war der Tag dank Brian irgendwie erträglich gewesen, aber nun schien ihr zukünftig selbst diese Gnade verwehrt zu werden.
»Es tut mir leid«, wiederholte Brian und füllte seinen Wein nach.
Holly sah ihn an und wartete darauf, dass er weitersprach. Doch er setzte sein Glas nur an und trank.
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«
»Es ist das Wichtigste.« Er stellte das schon wieder leere Glas ab und sah sie an. »Es tut mir leid, dass ich ausgerechnet in der für dich schlimmsten Jahreszeit gehe. Aber es ist auch die für mich schlimmste Zeit, und wer weiß, ob sich noch einmal so eine Gelegenheit ergibt den ganzen quälenden Erinnerungen hier« – er machte eine ausholende Geste – »zu entkommen. Trotzdem tut es mir leid, dass ich dich damit verletze.«
Holly schnaubte. »Klar, deshalb haust du ab, ohne mir eine Erklärung zu geben.« Sie stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte. »Als ob du auch nur einen Gedanken daran verschwendet hättest, was aus mir wird.« Tränen traten ihr in die Augen, die sie keinesfalls vor Brian weinen wollte. Sie blinzelte hektisch. »Weiß es Sam schon?«, presste sie hervor. »Was wird aus ihm?«
»Ich wollte erst mit dir reden«, antwortete Brian leise. »Sam kommt schon klar. Er könnte längst im Ruhestand sein.«
»Oh, wie fürsorglich«, giftete Holly. »Weißt du was? Ich komme ebenfalls gut ohne dich klar. Du musst dir keine Sorgen machen. Und das hier« – sie wies mit verächtlicher Miene auf den Tisch – »hättest du dir auch sparen können.«
Sie stürzte aus dem Zimmer, ohne dass Brian reagierte. Er hatte sie die ganze Zeit über still und traurig angesehen. Manchmal hasste sie seine Ruhe. Und den Umstand, dass die massive Haustür zu schwer war, um sie wütend zuzuschlagen.
Mortimer sah sie groß an, als sie zu ihm in die Box schlüpfte. So späten Besuch war er nicht gewohnt. Holly wurde klar, dass sie Brian gar nicht gefragt hatte, was aus dem Hengst und den übrigen Pferden werden sollte. Viele waren es ohnehin nicht mehr, nur einige Stuten und eine Handvoll Jährlinge standen derzeit auf Bristlecone Pine. Das armselige Überbleibsel einer einstmals bedeutenden Zucht. Kein Wunder, dass an allen Ecken und Enden das Geld fehlte. Anfragen für auswärtige Stuten kamen kaum noch herein, dabei waren Mortimers Deckprämien das größte Kapital der Ranch.
Sam hatte ihr erzählt, wie gepflegt Bristlecone Pine früher gewesen war. Die Stallungen waren hell und großzügig, die Paddocks boten den Tieren Platz, und jeder Pferdeliebhaber, der ein Colorado Rangerbred suchte, riss sich darum, ein Tier von den Wilborns zu erwerben. Der Campingplatz war von Frühjahr bis Herbst ausgebucht, weil Brians Frau Melissa es wie keine Zweite verstanden hatte, den Traum vom Landleben in Szene zu setzen.
Holly konnte sich die Zeiten kaum vorstellen, in denen das Farmhaus belebter Mittelpunkt des Anwesens gewesen war. Mit üppigen Blumenkästen, blühenden Rosen vor dem Haus, frei laufenden Hühnern und zur Freude der Kinder frechen Ziegen auf dem Campingplatz. Und vor allem natürlich mit glücklichen Pferden, die geduldig die Campinggäste durch die Wälder der Rocky Mountains trugen.
Von dieser Idylle war heute, zehn Jahre nach Melissas Tod, nicht einmal eine Ahnung erhalten geblieben.
Die Ranch verfiel immer mehr, und Brian hatte offensichtlich kein Interesse daran, diesen Zustand zu ändern. Nüchtern betrachtet war es vermutlich die vernünftigste Entscheidung, Bristlecone Pine zu verkaufen, wenn jemand es tatsächlich haben wollte. Für das abgeschiedene Stück Land und die heruntergekommenen Gebäude gab es mit Sicherheit nicht viele Interessenten.
»Aber muss es ausgerechnet mich schon wieder treffen?«, murmelte Holly und lehnte ihr Gesicht an Mortimers Hals. Der Geruch nach Pferd beruhigte sie. Sie konnte nicht verstehen, dass es Menschen gab, die das Gestank nannten. Mortimer drehte mit gespitzten Ohren den Kopf in ihre Richtung und schnaubte leise. Automatisch musste Holly lächeln. Der Hengst schien immer zu merken, wie sie sich fühlte. Von Anfang an hatte diese besondere Bindung zwischen ihnen bestanden. Anscheinend war ihr bester Freund ein Pferd. Auch den würde sie verlieren. An diesem Punkt angekommen, schluchzte sie hemmungslos auf. »Warum nur, Morty?« Sie schlang die Arme um seinen Hals und vergrub das Gesicht in seiner nachtschwarzen Mähne. »Gerade als ich dachte, endlich ein Zuhause zu haben.« Jetzt flossen die Tränen, die sie vorhin im Esszimmer unterdrückt hatte. Hier, in der Geborgenheit, die ihr das starke Pferd vermittelte, erlaubte sie sich, ihre Trauer herauszulassen. Sie schluchzte, spürte die Nässe auf den Wangen, ließ die Tränen laufen und hätte sich am liebsten in der Ecke der Box zusammengekauert und die Welt um sich herum vergessen. Aber gerade, als sie überlegte, ob sie wirklich bei Mortimer in der Box schlafen sollte, erklangen Schritte. So spät am Abend?
Sie musste sich nicht umdrehen, den leicht schlurfenden Gang kannte sie.
»Wusste ich es doch, dass ich dich hier finde.« Sam lehnte sich auf die Tür der Box. »Brian war eben bei mir.«
»Dann weißt du es jetzt auch?« Noch immer an Mortimer geklammert, drehte Holly den Kopf in Sams Richtung.
»Hm«, brummte er. »War abzusehen.«
»Das ist alles, was dir dazu einfällt? Wer weiß schon, wie es mit uns weitergeht? Wir werden unser Zuhause verlieren. Und die Pferde. Morty.« Holly merkte, wie ihre Stimme ins Hysterische abzurutschen drohte und atmete tief durch.
»Bin zu alt für etwas Neues. Werde in den Ruhestand gehen.«
»Und dein Haus?« Sam und Louisa wohnten etwas abseits in einem urigen Haus, das mit viel Naturstein an englische Cottages erinnerte. Obwohl es am Rand der Ranch lag, gehörte es zum Land von Bristlecone Pine.
»Hoffe, der Neue lässt mich dort wohnen. Kann Miete zahlen.« Sam legte die Stirn in Falten. »Brian sagt, der Neue kommt morgen. Dann wissen wir mehr.«
»Morgen schon?« Holly schluckte. Das ging jetzt schnell. Schlimmstenfalls saß sie also wirklich Weihnachten auf der Straße. »Weißt du, wer es ist?«
»Niemand von hier.« Sam zuckte mit den Schultern. »Werden wir morgen sehen. Mach dich bis dahin nicht verrückt.«
Sams Anwesenheit hatte Holly getröstet, seine Worte hingegen nicht. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass Sam sein Zuhause verlieren könnte. Er war mit diesem Stück Land verwurzelt. Als junger Mann hatte er bei den alten Wilborns, Brians Eltern, angefangen und war seitdem auf dieser Ranch geblieben. Er hatte Brian aufwachsen sehen und dessen Sohn.
Nach dem ersten Schreck war ihr klargeworden, dass sie selbst viel besser dastand. Ein Eigentümerwechsel bedeutete nicht automatisch, dass sie weggehen musste. Sie war jung und fleißig. Irgendeinen Job würde der neue Eigentümer sicherlich für sie haben. Allerdings würde sich Bristlecone Pine ohne Brian und Sam nicht mehr wie ein Zuhause anfühlen. Aber wenigstens wäre sie nicht arbeits- und obdachlos.
Am nächsten Morgen gab sie sich vor der Stallarbeit besondere Mühe mit ihrem Äußeren. Sie zog ein frisch gebügeltes Shirt an und fand eine fast fleckenfreie Jeans. Die Arbeitsstiefel würde sie im Stall kurz unter Wasser halten, und die Haare flocht sie ordentlich zu einem französischen Zopf und band ein Tuch darüber. Der neue Eigentümer sollte auf den ersten Blick in ihr eine engagierte Mitarbeiterin erkennen.
Sam hob erstaunt die Augenbrauen, als sie die Futterkammer betrat. Er nickte anerkennend. »Wird schon gutgehen.«
Sie begannen mit ihrer morgendlichen Routine, doch Holly war angespannt. Zu allem Überfluss übertrug sich ihre Unruhe auf die Tiere. Sie konnte nur beten, dass der Neue ihren Umgang mit den Pferden nicht ausgerechnet heute begutachten wollte. Wie zum Beweis schüttelte Esmeralda, eine der nervösesten Stuten im Stall, unwillig den Kopf und schlug Holly den Schweif ins Gesicht, als sie die Hufe kontrollieren wollte.
In diesem Moment hörte sie Brians Stimme am Tor. Rasch setzte sie Esmeraldas Bein ab und drehte sich um.
»Und hier stehen die Stuten«, erklärte ihr Chef dem Mann neben sich. »Drei sind tragend.«
»Hmm«, brummte der Angesprochene, ließ den Blick durch den Stall wandern und bei Holly stoppen. »Das ist sicher die Mitarbeiterin, von der Sie sprachen.«
»Ja, das ist Holly. Holly Lawson.«
Beide Männer setzten sich in Bewegung und kamen auf sie zu. Holly knipste ihr strahlendstes Lächeln an, obwohl ihr das mit jedem Schritt schwerer fiel, den der Fremde näher kam. Hieß es nicht, nur Bruchteile von Sekunden entschieden darüber, ob sich zwei Menschen sympathisch waren – oder eben nicht?
Holly spürte sofort, dass sie mit diesem Mann nicht gut auskommen würde. Sein perfekt sitzender Anzug täuschte nicht über seine grobschlächtige Art hinweg. Er hatte ein kantiges Gesicht, stechende, schmale Augen und zeigte ein so übertriebenes Lächeln, dass es beinahe grotesk wirkte. In Holly zog sich alles zusammen. Ruhig, ermahnte sie sich selbst. Du brauchst den Job. Und du musst ihn ja nicht heiraten. Nicht einmal mit ihm essen, wie du das mit Brian so häufig machst. Die Zeiten sind vorbei. Die Trauer, die sie bei diesem Gedanken überfiel, machte es ihr noch schwieriger, die Mundwinkel weiterhin nach oben zu biegen. Wahrscheinlich grinsten sie sich an wie zwei Haie.
»Holly Lawson. Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.« Sie streckte ihm die Hand hin.
»Weatherford. Michael Weatherford. Sie sind hier also das Mädchen für alles.« Er lachte dröhnend über einen Witz, den nur er verstand. Denn Holly war schließlich das Mädchen für alles. »Brian hier« – er schlug Hollys Chef krachend auf die Schulter – »hat es zur Bedingung gemacht, dass Sie Ihren Job behalten.« Er ließ in einer unverschämten Art seinen Blick prüfend über Holly wandern und verharrte einen dreisten Moment auf Höhe ihrer Brüste, bevor er anerkennend nickte. »Wir werden uns schon verstehen.« Erneut lachte er.
Holly drehte sich der Magen um. Sie sah Hilfe suchend zu Brian, aber der war mit Esmeralda beschäftigt, die offenbar ihren zukünftigen neuen Eigentümer ebenso wenig leiden konnte wie Holly. Drohend legte sie die Ohren an und tänzelte mit der Hinterhand leicht in Weatherfords Richtung.
»Vorsicht!«, warnte Holly, doch es war zu spät. Die Stute schlug nach hinten aus. Glücklicherweise verfehlte sie Weatherford um einen Hauch, der ausholte und dem Pferd einen harten Schlag mit der flachen Hand verpasste.
Esmeralda stieß ein nervöses Quieken aus, riss den Kopf hoch und zerrte an dem Strick, mit dem Holly sie zum Putzen vor der Box angebunden hatte.
Weatherford holte abermals aus, aber Holly warf sich in seinen Arm. Eher überrascht als verärgert hielt der Mann inne. »Das wollen Sie dem Mistvieh durchgehen lassen? Solche Unarten muss man sofort austreiben. Ein Pferd mit einem solchen Charakter ist schlecht fürs Geschäft. Von der nimmt doch niemand ein Fohlen ab, wenn das jemand sieht.«
Brian schob sich zwischen Weatherford und Esmeralda, streichelte die Stute und sprach beruhigend auf sie ein. Noch immer zuckten die Ohren des Tieres hin und her.
»Normalerweise ist sie nicht so«, versicherte Holly. »Eigentlich ist sie lammfromm, wenn sie die Menschen erst mal kennt.« Was nicht ganz stimmte, aber der Kerl brachte es fertig, Esmeralda wegzugeben, schlimmstenfalls zum Schlachter, denn die Stute benötigte tatsächlich eine Weile, bis sie ihrem Reiter vertraute. Dann jedoch zeigte sie die besten Anlagen, die sie glücklicherweise auch erfolgreich vererbte. Man musste nur behutsam mit ihr umgehen.
Weatherford starrte von Holly zu dem Tier und wieder zurück. Es war seiner grimmigen Miene anzusehen, dass Hollys Worte ihn nicht überzeugt hatten.
»Kommen Sie«, unterbrach Brian den lautlosen Disput zwischen Holly und ihrem zukünftigen Chef. »Ich zeige Ihnen jetzt den Star von Bristlecone Pine. Unseren Deckhengst Mortimer.« Sein Blick bat Holly stumm um Verzeihung. Vermutlich war ihm in dieser Sekunde klar geworden, dass es auf lange Sicht mit Holly und Weatherford nicht funktionieren würde. Hollys Weiterbeschäftigung zur Bedingung für den Verkauf zu machen, war eine nette Geste, doch scheiterte die an der Realität.
Hoffentlich ist Sam bei dem Hengst, schoss es Holly durch den Kopf, während sie den beiden Männern mit einem Knoten im Magen hinterhersah, die Kurs auf den Nachbarstall nahmen. Sie selbst konnte Esmeralda jetzt nicht allein lassen. Sam würde Weatherford nicht erlauben, mit Mortimer ähnlich grob umzuspringen wie mit Esmeralda. Noch gehörte Bristlecone Pine schließlich nicht diesem Widerling. Und sofern es nach ihr ginge, würde er nie Herr über diese Tiere werden. Irgendetwas musste es doch geben, um die Ranch vor ihm zu bewahren.
»Wenn ich nur wüsste, was«, seufzte Holly und kraulte Esmeralda am Ansatz der Mähne, bis die Stute sich merklich entspannte.
»Hey, gibt es hier zufällig einen Kaffee für einen armen, durchgefrorenen Veterinär?« Noah Amaro steckte den Kopf in die Sattelkammer, die auch als Aufenthaltsraum diente, und blickte hoffnungsvoll in Richtung der winzigen Essecke, die hauptsächlich aus einem Kühlschrank, einem Esstisch und dem wichtigsten Utensil, einer in die Jahre gekommenen Kaffeemaschine, bestand. Er lächelte, als er die volle Kanne entdeckte.
»Was denkst denn du? Gerade frisch gekocht. Ich wusste ja, dass du kommst.« Holly füllte ihm lächelnd eine große Tasse. »Stark und schwarz, wie du ihn magst.«
»Du bist meine Retterin.« Noah legte die Hände um den dampfenden Becher. »Es ist so kalt, dass der Schnee sicher nicht mehr lange auf sich warten lässt.«
Holly dachte an ihren ersten Winter in Colorado. Bei all dem Schnee war ihr tatsächlich ein bisschen weihnachtlich zumute gewesen. Wenn in Crosston Creek die riesige, festlich geschmückte Tanne neben der Kirche einschneite und die kleinen Lichter aus dem Weiß ragten, konnte man gar nicht anders, als eine kindliche Freude zu spüren.
Vielleicht waren das ihre letzten weißen Weihnachten, kam ihr plötzlich in den Sinn. Wer wusste schon, wohin es sie im kommenden Jahr verschlug?
»So ernst? Findest du die Aussicht auf Schnee so furchtbar?« Noah sah sie über die Tasse hinweg an. Er hatte nicht nur ein feines Gespür für seine tierischen Patienten, er war ein ebenso guter Menschenkenner. Holly hatte den attraktiven Hispanoamerikaner schnell in ihr Herz geschlossen. Sogar zwei Dates hatten sie gehabt, bis Holly ihm gestehen musste, dass sie nur freundschaftlich für ihn empfand. Er hatte es ihr nicht übel genommen, und seitdem war ihr Umgang kumpelhaft. Noch jemand, den sie vermissen würde.
»Hey.« Er stellte die Tasse ab, kam auf Holly zu und umfasste ihre Schultern mit den Händen. »Schau mich an. Willst du dem Onkel Doktor nicht sagen, was los ist?« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wenn ich es genau überlege, sah auch Sam nach sieben Wochen Regenwetter aus. Ist etwas mit den Pferden?« Besorgt runzelte er die Stirn.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Oder irgendwie auch.«
Noah rieb Holly über die Oberarme und nickte ihr auffordernd zu. »Was ist passiert?«
»Es ist so furchtbar«, platzte es aus Holly heraus. »Brian verkauft die Ranch, und der neue Eigentümer ist ein Arschloch. Er hat Esmeralda geschlagen.«
Wenn etwas den gutmütigen Noah zuverlässig zornig machte, war es ein Tier, das durch menschliche Schuld litt. Prompt grub sich eine steile Falte in seine Stirn.
»Erzähl.« Noah nahm seine Tasse wieder in die Hand und lehnte sich gegen den Sattelbock neben ihm.
Holly fasste für ihn die Geschehnisse des Vormittags zusammen. »Sam sagt, Mortimer kann ihn auch nicht leiden«, schloss sie mit einem gewissen Grad an Schadenfreude, die sich allerdings schnell in einen Klumpen im Magen zurückverwandelte, sobald sie sich vorstellte, dass Morty demnächst diesem unsympathischen Menschen ausgeliefert sein würde. Sofort wurden ihre Augen feucht.
»O Mann, das ist in der Tat furchtbar.« Betroffenheit sprach aus Noahs Blick. »Und Brian will wirklich an diesen Kerl verkaufen?«
»Er hat ihn jedenfalls nicht vom Hof gejagt, wie er es hätte machen sollen«, erklang in dem Moment Sams Stimme. Der alte Mann schlurfte zur Kaffeemaschine. Holly kam es vor, als wären seine Schritte schwerfälliger als sonst.
»Wenn mir nur etwas einfallen würde, das ich tun könnte«, stieß Holly verzweifelt aus. »Wir können doch nicht hier sitzen und auf ein Weihnachtswunder hoffen. Wenn wir nichts tun, ist Bristlecone Pine verloren.«
»Und wenn ihr noch einmal mit Brian sprecht?«, schlug Noah vor.
»Das wird nichts nutzen.« Sam schüttelte den Kopf. »Ich hab’s vorhin versucht. Er hat gleich abgewinkt. Er ist ein Sturkopf. Wenn er einmal eine Entscheidung gefällt hat, lässt er sich durch nichts davon abbringen. Das hat er von seinem Vater. Und sein Sohn hat es von ihm.«
»Callen!« Plötzlich blitzten Noahs Augen auf. »Hat der nicht ein Wörtchen mitzureden? Da gab es doch irgendeine Klausel im Testament.«
Sam zuckte mit den Schultern.
»Welche Klausel?« Holly horchte auf. Bestand etwa noch Hoffnung?
»Genau weiß ich das nicht. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das mal wichtig werden würde, als Callen mir das damals erzählt hat.«
»Du kennst Brians Sohn?« Hollys Erstaunen wurde immer größer. Brians Familienmitglieder waren für sie Phantome. Holly wusste, dass es sie gab – oder gegeben hatte – aber ihre Existenz lag allenfalls wie ein dunkler Schatten über Bristlecone Pine, ohne dass jemals über sie gesprochen wurde. Holly hatte anfänglich den Fehler gemacht, Brian auf seine Familie anzusprechen. Er hatte ihr ungewohnt rüde erklärt, dass dieses Thema in diesem Hause tabu war. Seitdem hielt sich Holly daran, vor allem, weil Brian sie im Gegenzug ebenfalls nicht mit Fragen quälte.
»Natürlich kenne ich ihn.« Noah trank den Kaffee aus und stellte die Tasse mit einem bedauernden Blick in die Spüle neben dem Kühlschrank. »Wir waren zusammen auf der Highschool. Nach dem Wechsel aufs College haben wir uns leider ein wenig aus den Augen verloren. Als die Sache mit seiner Mutter und Chelsea passierte, hat er Crosston Creek den Rücken gekehrt. Zum Geburtstag oder Weihnachten schicken wir uns eine Mail, bringen uns knapp auf den neuesten Stand, aber das war’s dann auch schon.«
»Chelsea?« Holly überlegte vergeblich, ob ihr der Name etwas sagte. »Wer ist das?«
Hollys Frage hielt Noah auf, der sich auf den Weg in den Stall machen wollte. »Chelsea. So hieß doch Brians Tochter. Callens Schwester.« Noah sah sie an, als litte sie unter akuter Demenz. Offenbar ging er davon aus, dass ihr der Name etwas sagen sollte. Das tat er aber nicht.
»Brian hatte eine Tochter?« Holly blickte von Noah zu Sam und wieder zurück. Mit einem Mal fühlte sie sich ausgeschlossen. Sie hatte akzeptiert, dass Brian nicht über seine Familie sprach. Aber dass er ihr gegenüber nicht einmal seine Tochter erwähnt hatte, gab ihr das Gefühl, eine Fremde für ihn zu sein.
»Du lebst jetzt seit … wie lange? … vier Jahren hier und weißt nichts von Chelsea?« Noah kratzte sich im Nacken und sah ratlos zu Sam.
»Fünf Jahre«, verbesserte ihn Holly leise. »Nein, Brian hat nicht ein Wort über sie verloren. Und andere auch nicht.« Ein vorwurfsvoller Blick traf Sam.
»Sieht man ja, wo es hinführt, wenn zu viel geredet wird.« Mit mürrischer Miene goss sich Sam den restlichen Kaffee ein und stapfte in Richtung Stall.
»Ich dachte, du wüsstest Bescheid und befolgtest nur die ungeschriebene Regel auf dieser Ranch.« Noahs Unbehagen war spürbar. »Niemand spricht über diese Tragödie. Chelsea war Callens jüngere Schwester. Sie saß am Tag des Unfalls mit in dem Fahrzeug. Callen und sie waren wie Pech und Schwefel. Ihr Tod hat Callen komplett den Boden unter den Füßen weggerissen. Am Tag der Beerdigung war er, soweit ich weiß, zum letzten Mal auf Bristlecone Pine. Ich muss jetzt mal wieder«, schob er schnell hinterher, ehe Holly noch Fragen stellen konnte oder die Informationen auch nur verdaut hatte. »Ich schaue mir die werdenden Mütter an.« Mit diesen Worten verließ er die Kammer.
»Ja, ja, geht nur alle.« Holly drehte sich zur Spüle und begann, die Tassen auszuwaschen. Dann pfefferte sie den Spüllappen auf den Tisch und rubbelte an einem Kaffeefleck herum, als gelte es, die Tischplatte gleich mit zu entfernen.
Sie hatte gedacht, diese Leute stünden ihr nah. Sie hatte Sam und Brian trotz ihrer schroffen Art in ihr Herz geschlossen. Jetzt verlor sie beide und musste obendrein feststellen, dass Brian sie nie wirklich in sein Leben gelassen hatte.
Ohne sich von Noah zu verabschieden, stapfte sie hoch in ihre Wohnung. Selbst die rief nicht dasselbe Gefühl von Behaglichkeit hervor wie sonst. Es war kein Zuhause mehr, sondern nur noch der Ort, an dem sie wohnte, bis Weatherford kam. Denn eins war klar: Niemals würde sie für jemanden arbeiten, der so mit den Pferden umging.
Ihr drehte sich bei dem Gedanken der Magen um, dass sie Morty nicht mitnehmen konnte. Die paar Hundert Dollar, die sie in den letzten Jahren angespart hatte, würden bei Weitem nicht für einen prämierten Hengst wie Mortimer reichen. Und wo sollte sie mit ihm hin? Sie hatte ja selbst kein Dach mehr über dem Kopf, sobald der Vertrag unterschrieben sein würde.
Auf ihrem Handy fand sie eine Nachricht von Brian. Er war mit Michael Weatherford in Vail zu einem Geschäftsessen verabredet, sie brauchte heute nichts für ihn vorzubereiten. Gut so, sie hatte ohnehin keine Lust, ihn zu sehen. Nicht den Mann, der alles, was ihr wichtig war, verraten und verkauft hatte.
Sie schlug ihre Mittagspause damit tot, aus ihrem Giebelfenster über die Weiden zu blicken. Auch diese Aussicht würde sie vermissen. Die Fohlen, die im Frühjahr über die Koppeln tobten. Im Hintergrund die majestätischen Höhenzüge der Rocky Mountains. Heute hüllten Wolken die Gipfel ein. Die vom Nebel verschluckten Bäume wirkten wie verwischte Kohlezeichnungen. Düster und abweisend. Es wurde Zeit, dass es endlich schneite. Bisher hatte der Winter nur kurz angeklopft, einige Flocken hinterlassen und war wieder verschwunden. Aber Noah hatte recht – es roch nach Schnee. Bald würden sie so viel davon haben, dass sie sich den Frühling herbeisehnten.
Am Nachmittag gab es im Stall wenig zu tun, und da Brian sie auch nicht im Haus benötigte, machte Holly früh Feierabend. Sie absolvierte im Bad das komplette Pflegeprogramm, das meist zu kurz kam. Unwillkürlich erinnerte sie sich dabei an ihr Leben in New York. Wie viel Spaß sie in den besseren Momenten mit ihrer Freundin Jessica erlebt hatte. Wenn sie samstags zusammen vor dem Spiegel gestanden, sich gegenseitig Schminktipps gegeben und den gesamten Inhalt des Kleiderschranks durchprobiert hatten, war auch für Holly die Welt fröhlich gewesen.
Voller Wärme dachte sie an die Freundin, zu der sie aus Vorsicht den Kontakt abgebrochen hatte. Wer wusste schon zu sagen, über welche Möglichkeiten ihr Stiefvater verfügte? Automatisch kamen die anderen Gedanken. Die, die sie so dringend vergessen wollte. Die an den Tag, an dem sie New York verlassen …
Schluss damit! Sie würde nicht zulassen, dass diese Erinnerungen sie einholten. Wenn sie sich unbedingt sorgen wollte, lieferten ihr Weatherford und Bristlecone Pine genug Stoff.
Vielleicht brauchte sie einfach etwas Ablenkung nach diesem Tag. Sie könnte sich mal wieder im Crosston Inn sehen lassen. Noch waren die Straßen frei. Paige musste zwar heute arbeiten, aber in ihrer Pause würde ihre Freundin sie sicher auf andere Gedanken bringen.
Kurzentschlossen schnappte sie sich ihre Autoschlüssel und holperte wenige Minuten später in ihrem Honda von der Ranch. Ungefähr zwei Meilen lang führte die schmale Straße in engen Windungen durch den Wald. Im Sommer idyllisch, im Winter selbst nach fünf Jahren noch eine gewisse Herausforderung. In diesem Moment war sie froh, dass der Schnee auf sich warten ließ.
Crosston Creek war winzig, es Stadt zu nennen beinahe übertrieben. In den ersten Monaten hatte sie sich noch, angefüllt mit New Yorker Eindrücken, gefragt, ob die Einwohner sich hier wirklich wohlfühlten. Mittlerweile wusste Holly, dass die Menschen nicht nur gern hier lebten, sie waren hier tief verwurzelt und mit ihrer Heimat verbunden.
War Holly anfangs nur hiergeblieben, weil niemand in dieser Einöde nach einem Mädchen aus New York suchen würde, so konnte sie sich inzwischen selbst nicht mehr vorstellen, jemals woanders gelebt zu haben. Auch sie hatte sich verliebt in diesen Ort, der kaum mehr bot als eine Hauptstraße mit einer Handvoll Geschäften, dafür aber Ruhe, imposante, das weite Tal malerisch einrahmende Berggipfel, wilde Flüsse und eine reiche Natur.
Der Parkplatz des Crosston Inn war schon reichlich voll. Sie quetschte ihren Wagen neben den dicken Pick-up mit der Aufschrift Noah Amaro, Veterinär. Er war also ebenfalls hier. Plötzlich freute sie sich darauf, den Abend nicht allein verbringen zu müssen.
Im Crosston Inn schlug ihr der übliche Lärm entgegen. Das rustikale Lokal war der einzige Gastronomiebetrieb im Umkreis etlicher Meilen und damit der zentrale Treffpunkt des Städtchens, eine Mischung aus Diner, Bar und Café. Russ stand hinter der Theke und zapfte Bier, seine Frau Irene wirbelte im Hintergrund herum und ihre Freundin Paige schleppte gerade ein voll beladenes Tablett zu einem der Tische. Der ganz normale Wahnsinn, wenn nach Feierabend alle zugleich Hunger und Durst stillen wollten.
Holly grinste. Sie konnte sich gut an ihre Anfangszeit hier erinnern. An den ersten Tagen hatte sie abends ihre Füße nicht mehr gespürt und geglaubt, sie würde dieses Arbeitspensum niemals schaffen. Doch Russ und Irene hatten bewundernswert geduldig über verschüttete Getränke und verwechselte Bestellungen hinweggesehen und es letztlich sogar aufrichtig bedauert, dass Holly die Stelle in Bristlecone Pine angenommen hatte.
Auch jetzt strahlte Russ sie über die Köpfe seiner Gäste hinweg an. Er überragte die meisten Menschen im Raum. Mit den sehnigen Armen, dem krausen Haar und wie üblich bekleidet mit Holzfällerhemd und Jeans, konnte Holly ihn sich nicht nur hinter dem Tresen, sondern mindestens ebenso gut irgendwo in der Wildnis vorstellen. Tatsächlich gab es in den Wäldern eine Hütte, in die er sich gelegentlich zurückzog. »Holly, grüß dich, lange nicht gesehen. Du bist nicht zufällig zum Arbeiten gekommen? Hier ist der Teufel los. Irene wird in der Küche gebraucht und Paige kommt kaum hinterher.«
Holly lachte, zwängte sich durch die Menschen vor der Bar und schlüpfte hinter die Theke. »Hallo, Russ. Ich bin zwar etwas eingerostet, aber das schaffe ich schon noch.«
Wie selbstverständlich griff sie nach einem leeren Tablett und begann, die Tische abzuräumen. Auf dem Rückweg nahm sie neue Bestellungen auf.
»Du bist die Beste«, raunte Paige ihr im Vorbeigehen zu. »Louisa hat sich ausgerechnet heute krankgemeldet.« Schon war sie an Holly vorbeigehuscht, bevor sie fragen konnte, was Sams Frau fehlte.
Bertha, die Mittlere der ABC-Schwestern, zupfte sie am Ärmel. »Wir hätten gern drei Gläser Wein. Die haben wir schon vor einer ganzen Weile bestellt, aber die gute Paige hat uns wohl vergessen.«
»Kommt sofort.« Holly wandte sich in Richtung Bar, erhaschte dabei Russ’ Aufmerksamkeit und bedeutete ihm mit den Fingern eine Drei. Mehr musste sie nicht sagen. Adele, Bertha und Carla – oder kurz die ABC-Sisters – kamen mehrfach in der Woche und tranken immer je ein Glas Wein. Das war schon so gewesen, als Holly hier noch gearbeitet hatte, und in Anbetracht des Alters der drei vermutete Holly, es musste bereits zur Gründung Crosston Creeks so gewesen sein. Das Trio kannte jeden und jeder kannte die älteren Damen. Holly war sich ziemlich sicher, dass die Schwestern nur kamen, um die Nachrichtenlage mit Russ abzugleichen und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen.
Noah winkte ihr zu. »Kann ich etwas bestellen bitte?« Er lächelte ihr entgegen. »Bist du die neue Aushilfe?«
»Nur für heute.« Holly stellte sein leeres Glas auf das Tablett. »Louisa ist krank. Weißt du, was sie hat?«
»Ich glaube, die Angst um ihr Zuhause setzt ihr zu. Sam hat vorhin so eine Andeutung gemacht. Dabei ist Louisa doch eigentlich unverwüstlich.« Er seufzte. »Brians Pläne sind eine ziemliche Katastrophe.«
Holly biss die Zähne aufeinander. Die immer freundliche Louisa. Ob Brian überhaupt bewusst war, wem er alles mit seiner Entscheidung Kummer bereitete?
»Leistest du mir nachher Gesellschaft, wenn es etwas ruhiger geworden ist?«, fragte Noah.
Holly nickte. »Klar. Was darf ich dir bis dahin bringen?«
Fast zwei Stunden später fiel sie Noah gegenüber auf die Bank. Russ stellte ihr unaufgefordert ein großes Glas Wasser und einen riesigen Salat hin. »Hier, den hast du dir redlich verdient. Ich danke dir, dass du eingesprungen bist. Wenn du mal einen neuen Job suchst – du kannst jederzeit wieder hier anfangen.«
Holly lächelte traurig. »Wer weiß, vielleicht muss ich das sogar.«
Sofort wurde Russ ernst. »Der Verkauf? Willst du nicht auf Bristlecone Pine bleiben?« Er bewies mit seiner Frage einmal mehr, dass ihm wirklich nichts in dem Ort entging.
»Ich habe Zweifel, ob es auf Dauer mit dem neuen Eigentümer und mir passt«, erwiderte sie zurückhaltend. »Ich will, nein, ich muss es versuchen. Für Mortimer.« Sofort hatte sie wieder einen Kloß im Hals. Die letzten Worte waren sicherlich von der Geräuschkulisse verschluckt worden, doch Russ und Noah hatten offenbar das verräterische Glitzern in ihren Augen gesehen, denn Noah ergriff spontan ihre Hand und Russel tätschelte ihre Schulter.
»Noch ist ja nichts unterschrieben«, sagte Russel. Dann sah er Noah an. »Muss nicht eigentlich Callen auch zustimmen?«
Holly hätte fast gelacht. Gab es wirklich nichts, was Russ nicht wusste?
Noah nickte bedächtig. »So etwas in der Art hat mir Callen damals erzählt. Also nicht, dass er einem Verkauf zustimmen muss, darüber haben wir nie geredet. Aber er sagte etwas von einer Klausel im Testament seiner Eltern, die ihn jetzt zum Miteigentümer von Bristlecone Pine macht.«
»Was denkst du – wie sehr hängt Callen an seinem Elternhaus?« Einen kurzen hoffnungsvollen Moment lang erlaubte sich Holly, an ein Weihnachtswunder zu glauben. Obwohl jemand, der seit zehn Jahren nicht mehr zu Hause aufgetaucht war, wohl nicht als sonderlich heimatverbunden gelten konnte.
Entsprechend zweifelnd verzog Noah das Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen, ob er noch an der Farm hängt. Früher hat er die Pferde und das Leben dort geliebt. Jeder hier hat geglaubt, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten wird. Dass er Wirtschaft und Recht studieren und ausgerechnet in einer Großstadt sesshaft werden würde, hätte ich nie erwartet.«
Holly spießte ein Tomatenviertel auf die Gabel. »Der Unfall?«, mutmaßte sie.
»Ich denke schon.« Noah winkte Paige heran und bestellte ein alkoholfreies Bier.
»Ich mach das.« Russ bedeutete seiner Bedienung, sich zu setzen. »Es ist gerade ruhig. Gönn dir eine Pause.«
Mit einem erleichterten Seufzen fiel Paige auf den Platz neben Holly, schob sich einige ihrer rotbraunen Haarsträhnen hinter das Ohr und stibitzte sich eine Gurkenscheibe von Hollys Teller.
»Findest du nicht, es ist an der Zeit, mir zu erzählen, was damals passiert ist?«, wandte sich Holly wieder an Noah und stocherte in ihrem Salat herum. »Ich kam mir vorhin wirklich doof vor, weil alle außer mir Bescheid wissen. Und wenn es helfen könnte, die Ranch zu retten …«
»Du kennst die Geschichte nicht?« Paige angelte nach einem Tomatenstück. »Wie kann das sein?«
»Weil es niemand für nötig hält, mich einzuweihen«, gab Holly spitz zurück. »Ich wollte Brian nicht hinterherschnüffeln und dachte, im Grunde wüsste ich, was es zu wissen gibt. Melissa Wilborn hatte einen tödlichen Verkehrsunfall und Brian trauert seitdem. Dass es noch eine Tochter gab, die auch verstarb, habe ich heute zum ersten Mal gehört.«
Paige schüttelte fassungslos den Kopf. »Da lebst du nun schon so lange dort und Brian hat nichts erzählt.« Sie sah Noah an. »Willst du oder soll ich?«
»Ganz Crosston Creek stand damals unter Schock«, begann Noah, weil Russ soeben mit einem Hamburger für Paige am Tisch erschien, die sich sofort auf ihr Essen stürzte.
Noah nahm Russ mit einem Nicken das Bier ab, trank, dann redete er weiter. »Es war wenige Tage vor Weihnachten. Callen hatte angefangen, Wirtschaft zu studieren, und war für die Weihnachtstage nach Bristlecone Pine zurückgekehrt. Seine Schwester Chelsea war noch auf der Highschool. Dort fand irgendeine Weihnachtsfeier statt, an der sie teilnahm. Sie hätte danach besser bei einer Freundin in Crosston Creek übernachtet, denn an dem Abend herrschte fürchterliches Wetter. Es stürmte und schneite ununterbrochen. Aber aus irgendeinem Grund wollte Chelsea nach Hause. Melissa hat sie abgeholt. Auf dem Rückweg wurde der Wagen von einem umstürzenden Baum getroffen. Schneebruch. Melissa war auf der Stelle tot, Chelsea erlag etwas später ihren Verletzungen. Es war das traurigste Weihnachtsfest, das Crosston Creek je erlebt hat. Callen war meines Wissens nach der Beerdigung nie wieder auf Bristlecone Pine.«
»Schrecklich.« Holly überlief ein Frösteln. Kein Wunder, dass Brian nicht darüber sprach. Er hatte innerhalb weniger Tage seine gesamte Familie verloren. Natürlich wollte er vergessen. Wenn das jemand nachvollziehen konnte, dann sie. Mit Vergessen und Verdrängen kannte sie sich aus.
»Ich habe damals gehört, Chelsea sei heimlich auf dem Schulfest gewesen«, warf Paige mit vollem Mund ein. »Deshalb konnte sie nicht bei einer Freundin übernachten.«
»Klingt so, als hätte Brians Sohn nicht die besten Erinnerungen an Crosston Creek. Vermutlich lohnt es nicht einmal, darüber nachzudenken, ihn zu fragen.« Holly stocherte weiter bedrückt in ihrem Salat herum.
»Warum eigentlich nicht?« Paige rettete eine aus dem Burger hängende Gurkenscheibe vor dem Absturz. »Was hast du denn zu verlieren?«
»Geld«, warf Noah lakonisch ein. »Nämlich den Kaufpreis für ein Flugticket nach New York. Ich glaube nicht, dass das ein Thema für eine lockere E-Mail ist. Da wird Holly schon persönlich vorsprechen müssen.«
»Ich soll nach New York?« Ausgerechnet New York? Konnte es keine der anderen Millionenstädte sein, wenn Brians Sohn unbedingt in einer Metropole leben wollte? Holly schluckte trocken. »Vielleicht reicht ja auch ein Anruf.«
»Keine Lust auf einen Besuch in der alten Heimat? Alte Freunde treffen? Seit du in Crosston Creek bist, hast du nicht ein Mal Urlaub gemacht.« Paige strahlte. Kein Wunder, sie war immer schnell zu begeistern. Und sie kannte Hollys Hintergrund nicht. Die Wahrheit hatte Holly immer zurechtgebogen, und etwas von Abenteuerlust nach der Highschool erzählt. Selbstfindung in einer Phase, in der sie sich nicht für ein College entscheiden konnte. Paige hatte nach dem College eine ähnliche Zeit erlebt und war deshalb nach Crosston Creek zurückgekehrt. Daher konnte sie Hollys Begründung gut nachvollziehen. Dass sich Holly geschworen hatte, New York nie wieder zu betreten, ahnte niemand. Brian vermutete natürlich, dass es in New York Schwierigkeiten gegeben hatte. Kein Mensch schmiss die Highschool ohne triftigen Grund. Doch er hatte nie nachgebohrt, nachdem Holly seine anfänglichen Fragen ausweichend beantwortet hatte.