D.I. Grace: Einer lebt, einer stirbt - Matthew J. Arlidge - E-Book
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D.I. Grace: Einer lebt, einer stirbt E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Zwei Geiseln. Eine Kugel. Die Entscheidung: tödlich. Das Letzte, woran Amy und Sam sich erinnern, ist das Konzert in London. Strömender Regen, eine Mitfahrgelegenheit nach Southampton, heißer Kaffee. Dann das Erwachen: Sie sind gefangen in einem alten Schwimmbad, auf dem Boden liegt eine Pistole. Die Botschaft ihres Peinigers: Entweder sterben beide langsam und qualvoll. Oder einer tötet den anderen und ist frei. Damit beginnt eine Mordserie, die Detective Inspector Helen Grace und ihr Team an die Grenzen bringt. Das Muster wird schnell deutlich: ein einsamer Ort, zwei Menschen und eine Entscheidung, an deren Ende Tod oder die Schuld des Überlebenden steht. Doch nichts scheint die Opfer miteinander zu verbinden. Helen sucht verzweifelt nach einem Motiv – und gelangt zu einer verstörenden Erkenntnis. Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Vielleicht würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Als wir nach dem Überfall zu uns kamen, waren wir in diesem alten Schwimmbad. Fünf Meter hohe Kachelwände. Keine Leiter. Ich habe Sam umarmt. Seinen Geruch eingeatmet, den ich so sehr liebe. Dann klingelte das Handy, und wir begriffen den grausamen Plan. *** Amy sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Jeden Quadratzentimeter unseres Kerkers haben wir nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole hat keiner von uns angerührt. Bisher.

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Seitenzahl: 407

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M.J. Arlidge

Einer lebt, einer stirbt

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Geiseln. Eine Kugel. Die Entscheidung: tödlich.

 

Das Letzte, woran Amy und Sam sich erinnern, ist das Konzert in London. Strömender Regen, eine Mitfahrgelegenheit nach Southampton, heißer Kaffee. Dann das Erwachen: Sie sind gefangen in einem alten Schwimmbad, auf dem Boden liegt eine Pistole. Die Botschaft ihres Peinigers: Entweder sterben beide langsam und qualvoll. Oder einer tötet den anderen und ist frei.

 

Damit beginnt eine Mordserie, die Detective Inspector Helen Grace und ihr Team an die Grenzen bringt. Das Muster wird schnell deutlich: ein einsamer Ort, zwei Menschen und eine Entscheidung, an deren Ende Tod oder die Schuld des Überlebenden steht. Doch nichts scheint die Opfer miteinander zu verbinden. Helen sucht verzweifelt nach einem Motiv – und gelangt zu einer verstörenden Erkenntnis.

 

Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Vielleicht würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Als wir nach dem Überfall zu uns kamen, waren wir in diesem alten Schwimmbad. Fünf Meter hohe Kachelwände. Keine Leiter. Ich habe Sam umarmt. Seinen Geruch eingeatmet, den ich so sehr liebe. Dann klingelte das Handy, und wir begriffen den grausamen Plan.

 

***

 

Amy sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Jeden Quadratzentimeter unseres Kerkers haben wir nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole hat keiner von uns angerührt. Bisher.

Über M.J. Arlidge

M.J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit fünf Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die auf Krimiserien spezialisiert ist. «Einer lebt, einer stirbt» war das erfolgreichste britische Krimidebüt 2014, die Thrillerreihe um Detective Inspector Helen Grace erscheint in 27 Ländern.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel102. Kapitel103. Kapitel104. Kapitel105. Kapitel106. Kapitel107. Kapitel108. Kapitel109. Kapitel110. Kapitel111. Kapitel112. Kapitel113. Kapitel114. Kapitel115. Kapitel116. Kapitel117. KapitelLeseprobe: D.I. Grace: Schwarzes Herz1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelPressestimmen zur D.I.-Grace-Reihe

1

Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Er liegt von mir abgewandt – es wäre ganz leicht. Merkt er, wenn ich mich bewege? Würde er sich wehren? Oder wäre er einfach froh, dass dieser Albtraum ein Ende hat?

So etwas darf ich nicht denken. Ich muss mich an das halten, was gut und richtig ist. Aber wenn man eingesperrt ist, sind die Tage endlos, und als Erstes stirbt die Hoffnung. Um die finsteren Gedanken abzuwehren, klammere ich mich an gute Erinnerungen, aber es fallen mir immer weniger ein.

Wir sind erst zehn Tage hier (oder sind es elf?), aber das normale Leben ist nur noch eine blasse Erinnerung. Nach einem Konzert in London wollten wir per Anhalter zurückfahren, da ist es passiert. Unzählige Autos waren schon an uns vorbeigerauscht, es goss in Strömen, wir waren klatschnass und wollten gerade umkehren, als endlich ein Lieferwagen hielt. Drinnen war es warm und trocken. Wir bekamen Kaffee aus einer Thermoskanne angeboten. Schon der Geruch munterte uns wieder auf. Und erst der Geschmack. Wir wussten nicht, dass es unsere letzten Momente in Freiheit waren.

Als ich wieder zu mir kam, hämmerte mein Herz. In meinem Mund war Blut. Ich war nicht mehr im warmen Lieferwagen, sondern an einem kalten, dunklen Ort. War das ein Traum? Ein Geräusch hinter mir schreckte mich auf. Es war zum Glück nur Sam, der sich mühsam aufrichtete.

Wir waren ausgeraubt worden. Ausgeraubt und ausgesetzt. Ich krabbelte vorwärts, tastete die Wände ab, die uns gefangen hielten. Kalte, harte Kacheln. Ich stieß gegen Sam, hielt ihn fest und atmete seinen Geruch ein, den ich so liebe. Dann war der Moment vorbei, und wir begriffen den Horror unserer Lage.

Wir befanden uns in einem leeren Schwimmbecken. Dem Verfall preisgegeben. Sprungbretter, Schilder und sogar die Leitern waren abmontiert. Alles, was sich irgendwie noch verwenden ließ, hatte man mitgenommen. Zurückgeblieben war ein tiefes, glattes Loch, aus dem es keinen Ausweg gab.

Hörte das miese Arschloch unser Schreien? Wahrscheinlich. Denn als wir endlich Ruhe gaben, passierte es. Ein Handy klingelte. Für einen kurzen Moment dachten wir erleichtert, jemand käme, um uns zu retten. Dann sahen wir auf dem Boden neben uns das Handydisplay leuchten. Sam rührte sich nicht, also lief ich hin. Warum ich? Warum immer ich?

«Hallo, Amy.»

Die Stimme am anderen Ende klang verzerrt, unmenschlich. Ich wollte um Gnade betteln, beteuern, dass alles ein Irrtum sei, aber als ich meinen Namen hörte, verlor ich jeden Mut. Ich schwieg, und die Stimme fuhr unbarmherzig fort:

«Willst du leben?»

«Wer sind Sie? Was haben Sie mit uns –»

«Willst du leben?»

Einen Moment konnte ich nichts sagen. Doch dann –

«Ja.»

«Auf dem Boden vor dir liegt eine Pistole. Mit einer Kugel. Für Sam oder für dich. Das ist der Preis der Freiheit. Du musst töten, um zu leben. Willst du leben, Amy?»

Wieder konnte ich nichts sagen. Mir wurde schlecht.

«Nun, willst du?»

Dann war die Leitung tot. Und Sam fragte: «Was haben sie gesagt?»

 

Sam schläft dicht neben mir. Ich könnte es jetzt tun.

2

Die Frau schrie vor Schmerz. Verstummte. Auf ihrem Rücken bildeten sich rote Striemen. Erneut hob Jake die Gerte und ließ sie auf die Haut knallen. Die Frau wand sich, schrie auf, sagte dann:

«Noch mal.»

Sie sagte selten mehr. Sie war nicht sehr gesprächig. Nicht wie manch andere seiner Kunden. Die Beamten, Buchhalter und Angestellten, die ihr Leben in sexlosen Beziehungen fristeten – die waren ganz wild darauf zu reden. Wollten unbedingt von dem Mann gemocht werden, der sie für Geld schlug. Sie aber war anders, ein Buch mit sieben Siegeln. Sie verriet nie, wie sie auf ihn gekommen war. Oder warum sie herkam. Sie gab klare, eindeutige Anweisungen – nannte ihre Bedürfnisse –, dann hatte er anzufangen.

Zuerst fesselte er immer ihre Handgelenke, fixierte mit zwei nietenbesetzten Lederbändern die Arme an der Wand. Eiserne Fußfesseln umschlossen die Füße. Ihre Kleidung lag ordentlich zusammengelegt auf dem bereitgestellten Stuhl, und sie stand gefesselt und in Unterwäsche da und wartete auf ihre Bestrafung.

Kein Rollenspiel. Kein «bitte tu mir nicht weh, Daddy» oder «ich bin ein ungezogenes Mädchen». Sie wollte einzig und allein, dass er ihr Schmerzen zufügte. In gewisser Hinsicht war das befreiend. Irgendwann wird jeder Job zur Routine, und manchmal war es ganz schön, sich nicht auf die Phantasien trauriger Möchtegernopfer einlassen zu müssen. Gleichzeitig war ihre Weigerung, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, auch frustrierend. Das Wichtigste bei jeder SM-Begegnung ist Vertrauen. Der Devote muss sich in sicheren Händen wissen, muss sich darauf verlassen können, dass der Dominierende seinen Charakter und seine Bedürfnisse kennt und Letztere auf eine für beide Seiten annehmbare Weise erfüllt. Ansonsten kann daraus schnell Körperverletzung oder sogar Missbrauch werden – und das war ganz sicher nicht Jakes Ding.

Also hatte er es immer wieder versucht, hier eine Frage, dort einen Kommentar fallen gelassen. Und im Laufe der Zeit hatte er ein paar Eckdaten zusammenbekommen: dass sie ursprünglich nicht aus Southampton stammte, dass sie keine Familie hatte, dass sie auf die vierzig zuging und ihr das nichts ausmachte. Aus den gemeinsamen Sitzungen wusste er, dass es ihr einzig um den Schmerz ging. Sex war kein Thema. Sie wollte nicht verführt oder angemacht werden. Sie wollte bestraft werden. Die Schläge überschritten nie eine gewisse Grenze, waren aber hart und konstant. Ihr Körper hielt das aus – sie war groß, muskulös und gut trainiert –, und alte Narben verrieten, dass sie kein Neuling in der SM-Szene war.

Trotz seiner Versuche, all der vorsichtig gestellten Fragen wusste Jake über sie jedoch nur eines mit Sicherheit. Beim Anziehen war ihr einmal ein Ausweis aus der Tasche gerutscht und zu Boden gefallen. Blitzschnell hatte sie ihn aufgehoben und wohl angenommen, er hätte nichts gesehen. Aber das hatte er. Seine Menschenkenntnis war eigentlich gut, daher war er in dem Moment wirklich überrascht gewesen. Ohne den Ausweis wäre er nie darauf gekommen, dass sie Polizistin war.

3

Amy hockt ein Stück weg von mir. Nichts ist mehr peinlich, ohne jede Scham pinkelt sie auf den Boden. Ich sehe zu, wie der dünne Pissestrahl auf den Kacheln aufschlägt, winzige Tropfen hochspringen und auf ihrer dreckigen Unterhose landen. Vor wenigen Wochen hätte ich mich bei dem Anblick abgewendet, jetzt nicht mehr.

Der Urin sickert langsam die Schräge hinab in die Fäkalienpfütze, die sich am tieferen Beckenende gebildet hat. Gebannt verfolge ich den Weg, bis das Rinnsal versiegt und das Spektakel vorbei ist. Amy zieht sich in ihre Ecke zurück. Kein Wort der Entschuldigung, kein Blick. Wir sind zu Tieren geworden – achten weder auf uns selbst noch aufeinander.

Am Anfang war das anders. Wir waren wütend, trotzig. Entschlossen, nicht hier zu sterben, sondern gemeinsam zu überleben. Amy stellte sich auf meine Schultern, versuchte sich an der Wand festzukrallen, doch an den glatten Kacheln brachen ihre Nägel ab. Dann versuchte sie, von meinen Schultern hochzuspringen. Aber das Becken ist fast fünf Meter tief, vielleicht sogar mehr, und jede Rettung außer Reichweite.

Wir haben das Handy probiert, aber es war mit einer PIN gesichert, und nach ein paar Versuchen war der Akku leer. Wir schrien, bis wir heiser waren. Die einzige Antwort war das Echo, das uns verspottete. Manchmal fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten, die einzigen menschlichen Wesen weit und breit. Draußen ist bald Weihnachten, und bestimmt sucht man nach uns, aber hier drinnen, umgeben von dieser schrecklichen, unendlichen Stille, ist das schwer zu glauben.

Flucht ist nicht möglich, also überleben wir bloß noch. Wir haben unsere Nägel abgekaut bis aufs Blut, das wir gierig aufsaugten. Morgens haben wir Kondenswasser von den Kacheln geleckt, aber unsere Mägen taten trotzdem weh. Wir haben überlegt, unsere Kleidung zu essen, die Idee aber wieder verworfen. Denn nachts ist es eiskalt, und alles, was uns vorm Erfrieren schützt, sind unsere paar Klamotten und die Wärme, die wir voneinander bekommen.

Bilde ich mir das ein, oder sind unsere Umarmungen kälter geworden? Weniger fest? Seit wir hier sind, haben wir uns Tag und Nacht aneinandergeklammert, uns gegenseitig am Leben gehalten, weil keiner allein an diesem furchtbaren Ort zurückbleiben will. Zum Zeitvertreib spielen wir Spiele, stellen uns vor, was wir machen, wenn der Rettungstrupp kommt – was wir essen, unseren Familien sagen, was wir zu Weihnachten bekommen werden. Aber die Spiele werden seltener, uns dämmert, dass wir nicht grundlos hier sind. Dass es für uns kein Happy End geben wird.

«Amy?»

Schweigen.

«Amy, bitte sag etwas …»

Sie sieht mich nicht an. Spricht nicht mit mir. Habe ich sie schon verloren? Ich versuche mir vorzustellen, was sie denkt, aber ich habe keine Ahnung.

Vielleicht gibt es nichts mehr zu sagen. Wir haben alles probiert, jeden Zentimeter unseres Kerkers nach einem Fluchtweg abgesucht. Nur die Pistole haben wir nicht angerührt. Sie liegt noch immer da und ruft nach uns.

Ich hebe den Kopf und ertappe Amy dabei, wie sie sie betrachtet. Unsere Blicke treffen sich, und sie schaut weg. Würde sie die Pistole aufheben? Vor einer Woche hätte ich nein gesagt. Aber jetzt? Vertrauen ist zerbrechlich – schwer zu verdienen, leicht zu verlieren. Ich bin mir in nichts mehr sicher.

Ich weiß nur, dass einer von uns sterben wird.

4

Helen Grace trat entspannt und glücklich in die klare Abendluft hinaus. Sie verlangsamte ihre Schritte, genoss den Moment des inneren Friedens und betrachtete amüsiert die Massen an Menschen, die hektisch ihre Einkäufe erledigten.

Sie war auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt von Southampton. Direkt am WestQuay-Einkaufszentrum gelegen, bot der Markt alljährlich Gelegenheit, originelle, handgemachte Geschenke zu finden, die auf keiner Amazon-Wunschliste standen. Helen hasste Weihnachten, aber besorgte trotzdem immer etwas für Anna und Marie. Das war das einzige Zugeständnis an die Festtage, das sie gern machte. Sie kaufte Schmuck, Duftkerzen und andere Kleinigkeiten und sparte auch nicht bei den Süßigkeiten: Datteln, Schokolade, ein sündhaft teurer Christmas-Pudding und eine hübsche Schachtel mit Pfefferminzpralinen – die mochte Marie besonders.

Dann holte sie ihre Kawasaki aus dem WestQuay-Parkhaus und schlängelte sich durch den Innenstadtverkehr in südwestliche Richtung nach Weston. Rasch ließ sie Trubel und Wohlstand hinter sich und landete mitten in Armut und Verzweiflung, in Stein gehauen in Form von fünf monolithischen Wohnblöcken, die die Skyline von Southampton beherrschen. Seit Jahren waren sie der erste Willkommensgruß für Schiffsreisende, und einst machten sie dieser Rolle in ihrer imposanten Verkörperung von Futurismus und Optimismus alle Ehre. Doch das war lange her.

Der Melbourne Tower war mit Abstand am schlimmsten verfallen. Vor vier Jahren war im sechsten Stock eine Drogenküche explodiert. Der Schaden war beträchtlich, das Herzstück aus dem Gebäude herausgerissen. Zunächst hatte der Stadtrat versprochen, es wieder aufzubauen, doch dann war die Krise dazwischengekommen. Theoretisch stand die Sanierung zwar immer noch auf dem Plan, aber niemand glaubte mehr daran. Das Gebäude verharrte in seinem verwundeten und ungeliebten Zustand, von den meisten Familien, die einst dort gewohnt hatten, inzwischen verlassen. Eingezogen waren stattdessen Drogenabhängige, Obdachlose und all jene, für die es sonst keinen Platz auf der Welt gab. Ein hässlicher, vergessener Ort.

Helen stellte ihr Motorrad in sicherer Entfernung der Towers ab und ging zu Fuß weiter. Allgemein mied man als Frau die Siedlung besser in der Dunkelheit, aber Helen war nie um ihre Sicherheit besorgt. Man kannte sie hier und machte einen Bogen um sie, was ihr nur recht war. Heute Abend war alles ruhig, abgesehen von ein paar Hunden, die um ein ausgebranntes Auto herumschnüffelten. Helen stieg vorsichtig über Spritzen und Kondome hinweg und betrat den Melbourne Tower.

Vor Wohnung 408 im vierten Stock blieb sie stehen. Früher war dies eine schöne, komfortable Sozialwohnung gewesen, jetzt war die Tür mit Sicherheitsschlössern geradezu gespickt, und das Metallgitter vor dem Eingang – von innen mit einem Vorhängeschloss gesichert – ließ erst recht den Eindruck von Fort Knox entstehen. Die hämischen Grafitti – Hirni, Mongo, Opfer – neben der Tür ließen erahnen, warum die Wohnung so gesichert war.

Hier wohnten Marie und Anna Storey. Anna war schwerstbehindert, konnte weder sprechen, essen noch allein zur Toilette gehen. Mit ihren vierzehn Jahren war sie in allem auf ihre Mutter angewiesen, und die leistete Übermenschliches. Sie lebten von Sozialhilfe und der Wohlfahrt, kauften ihre Lebensmittel bei Lidl und heizten sparsam. Damit wären sie zurechtgekommen – das war eben ihr Los im Leben, und Marie neigte nicht zu Bitterkeit. Wären da nicht die halbstarken Schlägertypen aus der Gegend gewesen. Dass sie arbeitslos waren und aus zerrütteten Familien stammten, war keine Entschuldigung. Diese Kids waren Kriminelle, denen es Spaß machte, andere zu unterdrücken, zu quälen und eine wehrlose Mutter mit ihrem Kind fertigzumachen.

Helen war all das bekannt, weil sie damit zu tun gehabt hatte. Einer dieser Wichser – ein mieser, pickelgesichtiger Versager namens Steven Green – hatte versucht, Maries Wohnung in Brand zu setzen. Die Feuerwehr war schnell vor Ort gewesen und hatte den Schaden auf den Eingangsflur und das vordere Zimmer begrenzen können, aber Marie und Anna waren danach völlig verstört und panisch vor Angst gewesen, als Helen sie befragte. Es ging hier um versuchten Mord, und dafür musste jemand zur Rechenschaft gezogen werden. Helen gab ihr Bestes, aber aus Mangel an Beweisen kam der Fall nie vor Gericht. Helen drängte die beiden umzuziehen, aber Marie blieb stur. Die Wohnung war ihr Zuhause und speziell auf Annas Bedürfnisse hin umgebaut worden – warum sollten sie umziehen müssen? Marie verkaufte die wenigen noch verbliebenen Wertsachen und ließ die Wohnung sichern. Vier Jahre später flog die Drogenküche in die Luft. Bis dahin hatte der Aufzug funktioniert, und Wohnung 408 war im Grunde ein glückliches Zuhause gewesen. Jetzt war es ein Gefängnis.

Die Sozialdienste sollten eigentlich regelmäßig Besuche abstatten und ein Auge auf die beiden haben, aber sie mieden den Tower wie die Pest und schauten nur alle Jubeljahre mal vorbei. Helen kam häufiger. Und war zufällig zur Stelle, als Steven Green mit seiner Gang zurückkehrte, um sein Werk zu vollenden. Vollgedröhnt wie immer, hielt er einen Benzinkanister umklammert, den er mit einer selbstgemachten Lunte anzuzünden versuchte. Er kam nicht mehr dazu. Helens Schlagstock erwischte ihn erst am Ellbogen, dann im Nacken, wie ein nasser Sack plumpste er zu Boden. Die anderen, durch das plötzliche Auftauchen einer Polizistin völlig überrascht, ließen ihre Benzinkanister fallen und traten die Flucht an. Einigen gelang sie, anderen nicht. Helen hatte lange trainiert, wie man flüchtige Verdächtige von den Beinen holt. Sie vereitelte den Anschlag und kam wenig später in den Genuss, Steven Green und drei seiner engsten Freunde zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt zu sehen. Manchmal war der Job eben doch erfüllend.

Jetzt unterdrückte Helen ein Schaudern. Schäbige Korridore, kaputte Existenzen, Grafitti und Dreck waren ihr aus ihrer eigenen Kindheit zu vertraut, als dass es sie kaltgelassen hätte. Erinnerungen stiegen auf, die sie seit langem rigoros unterdrückte, so auch jetzt wieder. Sie war wegen Anna und Marie hier – und nichts und niemand sollte diese Stimmung trüben.

Sie klopfte dreimal – das verabredete Zeichen –, und nach vielem Aufgeschließe wurde die Tür geöffnet.

«Essen auf Rädern?», war Helens flapsige Frage.

«Verpiss dich», kam die erwartete Antwort.

Helen grinste, während Marie das Gitter öffnete, um sie hereinzulassen. Die finsteren Gedanken verflogen jedes Mal bei Maries «warmherzigem» Willkommensgruß. Drinnen verteilte Helen ihre Geschenke, erhielt selbst welche und fühlte sich im Reinen mit sich selbst. Einen kurzen Moment lang war Wohnung 408 ein Refugium in einer dunklen und brutalen Welt.

5

Der strömende Regen wusch ihre Tränen ab. Aber sie fühlte sich nicht gereinigt – dazu war sie nicht mehr in der Lage. Wie im Wahn brach sie durch das Gestrüpp, ohne auf die Richtung zu achten. Sie musste einfach nur weiter. Weg, weg, weg.

Ein Dornenzweig riss ihr das Gesicht auf, Steine bohrten sich in ihre Füße. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach irgendjemandem, irgendetwas, sah aber nichts als Bäume. War sie überhaupt noch in England? Sie schrie um Hilfe, aber ihre Stimme war schwach, die Kehle zu rau.

In Sampson’s Winter Wonderland standen Familien geduldig Schlange vor der Höhle des Weihnachtsmanns. Das Wonderland bestand eigentlich nur aus hastig aufgebauten Zelten auf einem matschigen Acker, aber den Kindern schien es zu gefallen. Freddie Williams, vierfacher Familienvater, hatte gerade in seinen ersten vorweihnachtlichen Mince Pie gebissen, als er sie erblickte. Eine gespenstische Gestalt im strömenden Regen. Freddies Mince Pie blieb auf halbem Wege in der Luft hängen, als sie langsam, aber zielstrebig auf ihn zuhumpelte. Auf den zweiten Blick sah sie eher mitleiderregend als gespenstisch aus – verwahrlost, blutend und leichenblass. Freddie wollte Reißaus nehmen – sie wirkte durchgeknallt –, aber unter ihrem panischen Blick versagten seine Beine den Dienst. Die letzten Meter legte sie schneller zurück, als er es für möglich gehalten hatte, und als er erschrocken zurückwich, warf sie sich auf ihn. Der Mince Pie machte einen Salto und landete mit einem satten Platsch in einer Pfütze.

Wenig später im Büro von Sampson’s Wonderland, fest in eine Decke gewickelt, sah sie nicht weniger gestört aus. Sie weigerte sich zu sagen, wo sie gewesen war oder wo sie herkam. Anscheinend wusste sie nicht einmal, welcher Tag war. Es war nicht mehr aus ihr herauszubekommen, als dass sie Amy hieß und heute Morgen ihren Freund umgebracht hatte.

 

Helen trat auf die Bremse und kam vor der Southampton Central Police Station zum Stehen. Das futuristische Gebäude aus Glas und Kalkstein ragte vor ihr in die Höhe und verhieß einen großartigen Blick über die Stadt und den Hafen. Es war erst ein gutes Jahr alt und für ein Polizeirevier sehr beeindruckend. Die Sicherheitssysteme waren auf dem neuesten Stand, eine CPS-Unit – die Spezialeinheit zur Verbrechensverfolgung – befand sich vor Ort, es gab ein SmartWater-Analyselabor und alles, was das Herz des modernen Polizeibeamten begehrte. Helen stellte das Motorrad ab und ging hinein.

«Kleines Nickerchen im Dienst, Jerry?»

Der angesprochene Beamte schreckte aus seinem Tagtraum hoch und versuchte, so geschäftig wie möglich zu wirken. Alle setzten sich immer etwas aufrechter hin, wenn Helen hereinkam. Nicht unbedingt, weil sie Detective Inspector war, eher wegen ihres Auftretens. Ein Meter achtzig purer Ehrgeiz und Energie in Motorradleder. Sie war nie zu spät, nie verkatert, nie krank. Sie lebte ihre Arbeit mit einer Leidenschaft, von der andere nur träumen konnten.

Helen ging auf direktem Weg in die Abteilung für schwere Kriminalität. Southamptons Vorzeigerevier mochte zwar revolutionär sein, die Probleme in der Stadt aber blieben die gleichen. Beim Durchsehen des Stapels von Fallakten resignierte Helen angesichts der Vorhersehbarkeit ein wenig. Eine häusliche Auseinandersetzung, die mit Totschlag geendet hatte – zwei zerstörte Leben und ein kleines Kind in staatlicher Obhut. Der versuchte Mord an einem Saints-Fan durch angereiste Anhänger von Leeds United und kürzlich erst die brutale Ermordung eines Zweiundachtzigjährigen bei einem schiefgelaufenen Raubüberfall. Der Angreifer hatte die gestohlene Brieftasche auf der Flucht fallen lassen und der Polizei einen sauberen Fingerabdruck und damit prompt seine Identität geliefert. Ein alter Bekannter der Polizei von Southampton – ein mieser Typ, der mal eben in der Vorweihnachtszeit das Leben einer arglosen Familie zerstört hatte. Helen sollte der CPS-Unit heute Morgen dazu Bericht erstatten. Sie schlug die Akte auf und schwor sich, dass die Beweise gegen das kleine Arschloch absolut wasserdicht sein würden.

«Leg gar nicht erst die Beine hoch, wir haben Arbeit.»

Mark Fuller, ihr gleichermaßen gut aussehender wie talentierter DS, kam auf sie zu. Seit fünf Jahren arbeiteten er und Helen Hand in Hand. Mord, Kindesentführung, Vergewaltigung, Menschenhandel – er hatte ihr bei der Aufklärung zahlreicher unangenehmer Fälle geholfen, und sie hatte sich immer auf seinen Einsatz, seine Intuition und seinen Mut verlassen können. Dann aber hatte ein hässlicher Scheidungskrieg seinen Tribut gefordert, und in letzter Zeit hatte Mark oft zerfahren und unzuverlässig gewirkt. Enttäuscht merkte Helen, dass er wieder einmal nach Alkohol roch.

«Eine junge Frau, die behauptet, ihren Freund ermordet zu haben.»

Mark zog ein Foto aus der Akte und reichte es Helen. In der rechten oberen Ecke war der «Vermisst»-Stempel deutlich zu erkennen.

«Das Opfer heißt Sam Fisher.»

Helen betrachtete den Schnappschuss eines jungen Mannes mit glattem Gesicht. Ordentlich, optimistisch, fast ein wenig naiv. Mark ließ Helen Zeit, das Foto aufmerksam zu studieren, dann gab er ihr ein zweites.

«Und die Tatverdächtige. Amy Anderson.»

Der Anblick überraschte Helen. Ein hübsches Mädchen aus gutem Hause – höchstens Anfang zwanzig. Mit ihrem langen, gepflegten Haar, den auffallend blauen Augen und den fein geschwungenen Lippen war sie der Inbegriff von Jugend und Unschuld. Helen griff nach ihrer Jacke.

«Dann los.»

«Willst du fahren, oder soll ich –»

«Ich fahre.»

Schweigend gingen sie zum Dienstwagen, unterwegs sammelte Helen noch DC Brooks ein, die in Kontakt mit der Vermisstenstelle stand. Die unerschütterlich fröhliche Charlene «Charlie» Brooks war eine gute Polizistin, gewissenhaft und energisch, die sich allerdings standhaft weigerte, sich auch wie eine solche zu kleiden. Zum heutigen Outfit gehörte eine hautenge Lederhose. Es war nicht Helens Aufgabe, den Kleidungsstil ihrer Beamten zu beanstanden, aber diesmal war sie drauf und dran.

Im Auto machte sich Marks Alkoholfahne noch stärker bemerkbar. Helen warf ihm einen scharfen Blick zu und öffnete dann das Fenster.

«Was wissen wir?», fragte sie.

Charlie hatte bereits die Akte aufgeschlagen.

«Amy Anderson. Ist vor gut zwei Wochen als vermisst gemeldet worden. Wurde zuletzt bei einem Konzert in London gesehen. Am Abend des 2. Dezember hat sie ihrer Mutter gemailt, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund Sam nach Hause trampen und vor Mitternacht zurück sein würde. Beide sind seither verschwunden. Ihre Mutter hat die Polizei verständigt.»

«Und weiter?»

«Heute Morgen ist sie bei Sampson’s aufgetaucht. Hat gesagt, sie hätte ihren Freund umgebracht, seitdem schweigt sie. Spricht mit niemandem ein Wort.»

«Und wo ist sie die ganze Zeit über gewesen?»

Mark und Charlie warfen sich einen Blick zu, dann sagte Mark:

«Da können wir nur spekulieren.»

 

Sie ließen den Wagen auf dem Parkplatz des Winter Wonderland stehen und machten sich auf den Weg zum Bürocontainer. Der Anblick, der sie beim Eintreten erwartete, war erschütternd. Die junge Frau, die dort zusammengesunken in eine alte Decke gewickelt saß, sah verwildert, wahnsinnig und völlig abgemagert aus.

«Hallo, Amy. Ich bin Detective Inspector Helen Grace – Sie können mich Helen nennen. Darf ich mich setzen?»

Keine Reaktion. Helen ließ sich Amy gegenüber vorsichtig auf einem Stuhl nieder.

«Ich würde gerne mit Ihnen über Sam sprechen. Geht das?»

Die junge Frau sah auf, ein panischer Ausdruck lag in ihrem ausgemergelten Gesicht. Helen rief sich das Foto vor Augen, das sie vorhin betrachtet hatte. Wären da nicht die stechend blauen Augen und die alte Narbe am Kinn, man hätte sie kaum identifizieren können. Das einst glänzende Haar war jetzt stumpf, verknotet und fettig. Die Fingernägel waren dreckig. Gesicht, Arme und Beine sahen aus wie nach einem Anfall von Selbstverstümmelung. Und dann dieser Geruch. Der Geruch war das Schlimmste. Süß. Stechend. Widerlich.

«Ich muss Sam finden. Können Sie mir sagen, wo er ist?»

Amy schloss die Augen. Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg durch die Wimpern und rann ihr über die Wange.

«Wo ist er, Amy?»

Langes Schweigen, schließlich flüsterte sie:

«Im Wald.»

Da Amy sich kategorisch weigerte, den sicheren Bürocontainer zu verlassen, musste Helen den Suchhund anfordern. Sie ließ Charlie als Aufpasserin bei Amy zurück und nahm Mark mit. Simpson, der Retriever, steckte seine Nase in die blutverschmierten Lumpen, die einmal Amys Kleidung gewesen waren, und jagte los in Richtung Wald.

Es war unschwer zu erkennen, wo Amy langgelaufen war. Wie blind war sie durch den Wald gestolpert und hatte deutliche Spuren im Unterholz hinterlassen. Ein Stück Stoff hier, ein Hautfetzen dort markierten ihren Weg. Simpson fand sie alle und sprang eifrig durch das Dickicht. Helen blieb dicht hinter ihm, und Mark war entschlossen, sich von einer Frau nicht abhängen zu lassen. Aber er hatte seine Mühe und schwitzte Alkohol aus.

Vor ihnen tauchte ein einsam gelegenes Gebäude auf. Ein öffentliches Schwimmbad, lange geschlossen und heruntergekommen, ein trauriges Überbleibsel aus fröhlichen Zeiten. Simpson sprang an einer Tür mit Vorhängeschloss hoch und raste dann um das Gebäude herum, bis er ein kaputtes Fenster fand. Auf den zersplitterten Scheiben war frisches Blut. Sie hatten Amys Kokon gefunden.

Es war schwierig hineinzukommen. Trotz des üblen Zustands des Gebäudes war jeder Ein- und Ausgang gesichert. Gegen was gesichert? In der Umgebung wohnte niemand. Schließlich brachen sie das Schloss auf, dann begann das übliche Ballett, Schuhe in sterilen Überzügen glitten über den Boden.

Und da lag er. Im Schwimmbecken, fünf Meter unter ihnen. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Leiter fand, dann stand Helen unten im Becken neben Amys «Sam». Ein normaler junger Mann auf dem besten Weg, Karriere als Anwalt zu machen, aber sein Anblick hätte das nicht vermuten lassen. Er sah aus wie die Leiche eines alten Penners. Die Kleidung war mit Urin und Exkrementen verdreckt, die Fingernägel abgebrochen und schmutzig. Und dann das Gesicht. Eingefallen und zu einer schrecklichen Fratze verzerrt – Angst, Schmerz und Entsetzen hatten ihre Spuren hinterlassen. Lebendig war er gutaussehend und sympathisch gewesen. Tot war er widerwärtig.

6

Würde man nie aufhören, sie zu quälen?

Amy hatte geglaubt, im Southampton General Hospital endlich in Sicherheit zu sein. In Ruhe gelassen zu werden, heilen und trauern zu können. Aber sie wollten sie unbedingt foltern. Gaben ihr weder zu essen noch zu trinken, obwohl sie darum bettelte. Angeblich war ihre Zunge geschwollen, der Magen geschrumpft, und die Därme könnten bei der Aufnahme von fester Nahrung reißen. Also hatte man sie an einen Tropf gehängt. Vielleicht war das ja richtig, aber es war nicht, was sie wollte. Wann hatten die mal zwei Wochen ohne Nahrung verbracht? Was wussten die schon?

Sie hing außerdem an einem Morphiumtropf, der ein wenig half, auch wenn peinlich genau darauf geachtet wurde, dass er nie zu voll war. Wenn der Schmerz unerträglich wurde, bediente sie den Tropf, indem sie mit der linken Hand einen Knopf drückte. Die rechte Hand war mit Handschellen ans Bett gefesselt. Die Krankenschwestern waren ganz aufgeregt und spekulierten laut flüsternd, was sie wohl verbrochen haben mochte. Ihr Baby umgebracht? Ihren Mann getötet? Die hatten richtig Spaß dabei.

Und dann – Himmel hilf –, dann hatten sie ihre Mutter zu ihr gelassen. Da war sie durchgedreht, hatte geschrien und gebrüllt, bis ihre Mutter sich auf Anordnung des Arztes verwirrt zurückgezogen hatte. Was zum Teufel dachten die sich eigentlich? Sie konnte doch nicht ihrer Mutter gegenübertreten. Nicht jetzt. Nicht so.

Sie wollte einfach nur allein sein. Lenkte ihre ganze Konzentration auf die Dinge um sich herum, starrte das Webmuster ihres Kopfkissenbezugs in Grund und Boden und betrachtete stundenlang den hypnotisch glühenden Draht in der Nachttischlampe. So konnte sie sich ausklinken, die Gedanken abwehren. Und wenn doch ein Bild von Sam sie aus dem Nichts heraus ansprang, dann drückte sie den Morphiumknopf und dämmerte für einen Augenblick weg in glücklichere Gefilde.

Aber tief im Inneren wusste sie, dass man sie nicht lange unbehelligt lassen würde. Dämonen umkreisten sie, zerrten sie zurück an den Ort des Todes, den sie hinter sich gelassen hatte. Sie konnte die Polizeibeamten vor der Zimmertür sehen. Die nur darauf warteten, hereinkommen und sie befragen zu dürfen. Kapierten die nicht, dass sie diese Fragen niemals beantworten wollte? Hatte sie nicht genug gelitten?

«Sagen Sie ihnen, dass sie nicht zu mir können.»

Die Krankenschwester, die sich gerade ihre Untersuchungsergebnisse durchlas, blickte auf.

«Sagen Sie ihnen, ich hätte Fieber», fuhr Amy fort, «ich würde schlafen …»

«Ich kann sie nicht aufhalten, Liebes», sagte die Schwester ruhig. «Am besten bringt man’s hinter sich.»

Nein, sie würde nie genug leiden können. Amy wusste das. Sie hatte den Mann, den sie liebte, getötet. Und es gab keinen Weg zurück.

7

«Erzählen Sie uns, wie Sie aus dem Becken herausgekommen sind, Amy.»

«Mit einer Leiter.»

«Wir haben dort aber keine Leiter gesehen.»

Amy bedachte sie mit einem wütenden Blick, wandte sich ab und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Dann versank sie wieder in sich selbst. Helen betrachtete sie aufmerksam. Falls Amy log, war sie eine verdammt gute Schauspielerin. Helen warf Mark einen Blick zu, dann fuhr sie fort:

«Was für eine Art Leiter war das?»

«Eine Strickleiter. Sie wurde runtergelassen, direkt nachdem ich …»

Tränen brannten in Amys Augen, sie senkte den Kopf. Auf ihren Handflächen waren tatsächlich leichte Abschürfungen festgestellt worden. Bestätigte das, dass sie eine Strickleiter hochgeklettert war? Helen ermahnte sich innerlich – warum zog sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht? Amys Geschichte war verrückt. Ihr zufolge waren sie an der Autobahn mitgenommen, unter Drogen gesetzt und entführt worden, dann hatte man sie hungern lassen – und gezwungen, einen Mord zu begehen. Warum sollte jemand so etwas tun? Nach außen hin waren Amy und Sam nette junge Leute, aber die Erklärung für dieses schreckliche Verbrechen musste irgendwo in ihrer Vergangenheit liegen.

«Wie war Ihre Beziehung zu Sam?»

Amy begann zu schluchzen.

«Vielleicht wäre es an der Zeit für eine Pause, Detective Inspector.» Amys Mutter hatte auf der Anwesenheit eines Anwalts bestanden.

«Wir sind noch nicht fertig», erwiderte Helen kurz angebunden.

«Sie sehen doch, dass sie erschöpft ist. Sicher können wir –»

«Ich sehe nur, dass es einen Toten namens Sam Fisher gibt. Der hinterrücks erschossen wurde. Aus nächster Nähe. Von Ihrer Mandantin.»

«Meine Mandantin bestreitet nicht, geschossen zu ha–»

«Aber sie will uns nicht sagen, warum.»

«Ich habe Ihnen gesagt, warum», ging Amy zum Gegenangriff über.

«Ja, und das ist eine ganz tolle Geschichte, Amy. Aber sie ergibt keinen Sinn!»

Helen ließ den Satz im Raum stehen. Mark wusste, dass dies sein Stichwort war, den Druck zu erhöhen.

«Niemand hat Sie gesehen. Oder den Lieferwagen. Weder die LKW-Fahrer noch die Verkehrspolizei. Auch nicht andere Anhalter auf der Strecke. Hören Sie also auf mit dem Quatsch und sagen Sie uns, warum Sie Ihren Freund getötet haben. Hat er Sie geschlagen? Hat er Sie bedroht? Warum hat er Sie an diesen schrecklichen Ort gebracht?»

Amy blieb stumm und hob nicht einmal den Blick. Es war, als hätte Mark gar nicht gesprochen. Helen übernahm wieder und schlug einen sanfteren Ton an.

«Sie wären nicht die Erste, Amy, die sich in einen sympathischen Jungen verliebt, der sich als brutaler Sadist entpuppt. Das ist nicht Ihre Schuld, niemand verurteilt Sie dafür, und wenn Sie mir sagen, was passiert ist, was schiefgelaufen ist, dann verspreche ich, Ihnen zu helfen. Hat er Sie angegriffen? Waren noch andere beteiligt? Warum hat er Sie dorthin gebracht?»

Immer noch nichts. Zum ersten Mal schlich sich Ungeduld in Helens Stimme.

«Vor zwei Stunden musste ich Sams Mutter sagen, dass ihr Sohn erschossen wurde. Für sie und Sams jüngere Geschwister ist es jetzt wichtig, dass jemand dafür zur Verantwortung gezogen wird. Und im Moment sind Sie der einzige Mensch, der dafür in Frage kommt. Also hören Sie auf, Unsinn zu erzählen, und sagen Sie endlich die Wahrheit. Warum haben Sie es getan, Amy? Warum?»

Es folgte langes Schweigen, dann hob Amy den Kopf, ihr Blick gleichzeitig wütend und tränenverschleiert. «Sie hat mich dazu gezwungen.»

8

«Was denkst du, Chefin?»

Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Helen keine Antwort. Ja oder nein, schuldig oder nicht schuldig, Helen Grace hatte immer eine Antwort. Aber diesmal nicht. Dieser Fall war anders. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass Amy log. Die Entführungsgeschichte war schon verrückt genug, aber dass der Täter eine einzelne Frau sein sollte, war einfach zu viel. Frauen töten ihre Ehemänner, Kinder oder Menschen in ihrer Obhut. Sie entführen keine Fremden und neigen auch nicht zu hochriskanten Szenarien, bei denen ihre Opfer in der Überzahl sind. Und selbst wenn es tatsächlich so wäre, woher hatte sie die Kraft, zwei Erwachsene aus einem Lieferwagen zu zerren und in ein leeres Schwimmbecken zu verfrachten? Helen war mehr als versucht, Amy über ihre Rechte zu belehren. Mit einer Mordanklage konfrontiert, würde sie vielleicht endlich mit der Wahrheit herausrücken.

Dennoch, warum sollte sie eine solche Geschichte erfinden? Amy war eine intelligente, rationale junge Frau ohne psychische Probleme. Ihre Zeugenaussage war klar und ohne Widersprüche. Sie hatte die «Entführerin» präzise beschrieben – straßenköterblonde kurze Haare, Sonnenbrille, schmutzige Fingernägel – und war nicht davon abgewichen. Nicht einmal bei den kleinen Details, beispielsweise hatte die Frau in den niedrigen Gängen immer den Motor des Lieferwagens hochgejagt. Und ganz eindeutig hatte Amy Sam geliebt, wirklich geliebt, und war angesichts seines Todes am Boden zerstört. Die beiden wurden allgemein als unzertrennlich beschrieben, als zwei Hälften eines Ganzen. Sie hatten sich an der Uni in Bristol kennengelernt und dann gemeinsam für einen Masterstudiengang in Warwick beworben, um eine mögliche Trennung hinauszuschieben. Sie hatten nicht viel Geld, waren aber zusammen per Anhalter kreuz und quer durchs Land gereist und hatten fast immer gemeinsam Urlaub gemacht.

Amy hatte Sam erschossen, das ergab die kriminaltechnische Analyse eindeutig, und sie bestätigte auch die Geschichte über die Gefangenschaft. Der körperliche Zustand der beiden – Haare, Nägel – und die menschlichen Ausscheidungen im Becken wiesen darauf hin, dass beide mindestens zwei Wochen dort verbracht hatten, bevor Amy Sam tötete. Hatten sie die Hoffnung aufgegeben und gelost? Einen Deal gemacht?

«Warum er, nicht Sie?» Amy war wieder zusammengebrochen, aber Helen wiederholte die Frage. Schließlich stieß Amy ein paar Worte hervor.

«Weil er mich darum gebeten hat.»

Also ein Akt der Liebe. Er hatte sich aufgeopfert. Was für eine Gewissenslast … wenn es denn stimmte. Das nagte an Helen – die Tatsache, dass Amy von dem Erlebten vollkommen vernichtet war. Nicht bloß traumatisiert. Sie war zerstört, unter der Last der Schuld zusammengebrochen. Dieses Gefühl kannte Helen nur zu gut, und der Situation zum Trotz empfand sie Mitleid mit Amy. Vielleicht war sie mit der verletzlichen jungen Frau zu hart umgegangen.

Aber es konnte nicht wahr sein. Warum sollte jemand so etwas tun? Was um alles in der Welt wollte «sie» damit bezwecken? Laut Amy hatte sie nicht einmal zugesehen, was also steckte dahinter? Es konnte nicht wahr sein, doch als Helen jetzt auf Marks typisch direkte Frage antwortete, war sie von ihren eigenen Worten überrascht:

«Ich glaube, sie sagt die Wahrheit.»

9

Ben Holland hasste die wöchentliche Fahrt nach Bournemouth. Für ihn war es ein verlorener Tag. Aber die Firma legte Wert auf den direkten Kontakt zwischen den verschiedenen Büros, also aßen Ben und Peter (Portsmouth) einmal die Woche mit Malcolm und Eleanor (Bournemouth) und Hellie und Sarah (London) zu Mittag, diskutierten die Feinheiten des Seerechts, des Bankenrechts und des internationalen Erbschaftsrechts und lästerten über ihre Mandanten. Manchmal war das halbwegs informativ, sogar lustig, aber wenn man die Fahrt von und nach Bournemouth mit einrechnete, war es irrsinnige Zeitverschwendung.

Und diesmal war es noch schlimmer als sonst. Wie immer hatte Ben Peter nach Bournemouth mitgenommen – damit der ältere Kollege sich mittags ein paar Drinks genehmigen konnte. Peter war bekannt für schnelles Denken und gute Ergebnisse. Aber er war auch ein Flegel, wiederholte sich ständig und roch unangenehm. Es war schlimm genug, mit ihm in einem Konferenzraum zu sitzen. Und nun waren sie zwei Stunden lang zusammen in einem Auto eingepfercht. Zumindest wäre es so gewesen, wäre ihnen nicht das Benzin ausgegangen.

Leise fluchend zog Ben sein Handy hervor. Sah aufs Display und sagte resigniert:

«Kein Netz.»

«Was?», sagte Peter.

«Kein Netz. Bei dir?»

Peter sah auf sein Handy.

«Nichts.»

Stille.

Ben bemühte sich, seine Wut im Zaum zu halten. Womit hatte er es bloß verdient, hier am späten Abend mitten im New Forest mit Peter liegenzubleiben? Ben hatte kurz hinter Bournemouth an der Esso-Tankstelle vollgetankt, die war am billigsten. Und nicht mal eine Stunde später war der Tank leer. Er hatte der aufleuchtenden Benzinwarnleuchte keinen Glauben geschenkt und war überzeugt gewesen, es zumindest bis Southampton zu schaffen. Aber nur wenige Augenblicke, nachdem die Warnlampe angegangen war, kam der Wagen auch schon stotternd zum Stehen. Manchmal verpasste das Leben einem echt einen Tritt. Mussten sie jetzt zu einer Tankstelle laufen? Die Nacht zusammen verbringen?

«Goldkarte beim Automobilclub, und was hat man davon?», sagte Peter düster.

Ben starrte auf die verlassene Landstraße. Peter sagte nichts, aber es war Bens Idee gewesen, durch den New Forest zu fahren. Er machte das immer so, vermied die M27 um Southampton herum und fuhr stattdessen quer durch den Wald bis Calmore, doch heute war das zum Eigentor geworden. Ben ahnte, dass das noch Thema werden würde, wenn das Ganze erst einmal überstanden war. Peter würde es für seine Zwecke nutzen. Er wartete nur auf die richtige Gelegenheit.

«Gehst du, oder soll ich?», fragte Peter.

Eine rhetorische Frage. Dienstalter ging vor, außerdem hatte Peter «kaputte Knie». Also war es an Ben. Ein Blick auf die Karte zeigte, dass etwa eine Meile entfernt ein paar Ferienhäuser lagen. Wenn er sich beeilte, konnte er es vielleicht dorthin schaffen, bevor es ganz dunkel wurde. Zum Schutz gegen die Kälte klappte er den Kragen hoch, nickte Peter zu und machte sich auf den Weg.

«We’ll meet again …», sang Peter. Idiot, dachte Ben.

Doch anscheinend hatten sie Glück im Unglück. Ben machte in der Dämmerung zwei winzige Lichtpunkte aus. Kniff die Augen zusammen. Ja, kein Zweifel. Scheinwerfer. Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte er sich. Es gab doch einen Gott. Er winkte wild mit den Armen, aber der Lieferwagen hatte das Tempo bereits verlangsamt.

Gott sei Dank, dachte Ben. Die Rettung.

10

Diane Anderson hatte ihre Tochter seit mehr als zwei Wochen nicht gesehen. Und genau genommen sah sie sie immer noch nicht, obwohl sie in ihren Armen lag. Im Krankenhaus hatte man Amy versorgt, sie geduscht und ihr die Haare gewaschen, aber wiederzuerkennen war sie immer noch nicht.

Die hübsche Polizeibeamtin – Charlie – hatte sie nach Hause begleitet. Angeblich zu Amys Unterstützung, damit sie sich bei den ersten Schritten in der Außenwelt sicher fühlte, aber eigentlich war sie ein Spion. Da war sich Diane sicher. Charlie sollte bleiben, beobachten und berichten. Ihre Tochter war noch nicht vom Haken. Das wurde auch durch die Anwesenheit der beiden uniformierten Beamten vor der Haustür deutlich. Sollten sie Amy beschützen oder an der Flucht hindern? Wenigstens schreckten sie die Presse ab. Eine Journalistin vom örtlichen Käseblatt hatte sich angewöhnt, durch den Briefschlitz zu brüllen und mit den denkbar krudesten Worten zu fragen, warum Amy ihren Freund ermordet hatte. Ausgerechnet eine Frau – was kam den Leuten nur in den Sinn?

«Amy hat Sam erschossen.» So hatte die strenge Beamtin, Detective Inspector Grace, es ausgedrückt. Es ergab keinen Sinn. Amy würde nie jemanden erschießen, schon gar nicht Sam. Sie hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. England war nicht Amerika.

Diane hatte sich zu ihrem Mann Richard umgewandt, in der Erwartung, er würde der Polizei gegenüber alles richtigstellen, alles klären, aber sein Gesichtsausdruck hatte ihren gespiegelt – blankes Entsetzen. Einen Moment lang flackerte Ärger in ihr auf – nie war Richard da, wenn man ihn brauchte. Dann riss sie sich zusammen und sah der bitteren Realität ins Auge. Amy liebte Sam. Diane hatte sich insgeheim manchmal ausgemalt, wie es sein würde, wenn die beiden heirateten. Sie hatte immer angenommen, Amy würde es wie alle modernen Frauen machen und ohne Trauschein mit Sam zusammenleben. Doch Amy hatte ihr überraschend anvertraut, dass sie auf jeden Fall heiraten wollte, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Allerdings wollte sie es auf ihre eigene Weise tun, typisch Amy. Ein weißes Kleid kam nicht in Frage, und Diane sollte sie zum Altar führen, nicht ihr Vater. Würde Richard das hinnehmen? Würden andere Leute das gut oder merkwürdig finden? Als Diane sich ihrer Tagträume bewusst wurde, schreckte sie auf. Diese Hochzeit würde nie stattfinden.

Nichts ergab einen Sinn. Sam war weder gewalttätig noch aggressiv gewesen, also konnte es sich nicht um Notwehr gehandelt haben. DI Grace hatte sich irritierend bedeckt darüber gehalten, was geschehen war – «Es ist besser, wenn Amy Ihnen das selbst erzählt». Aber Amy hatte nichts gesagt. Sie blieb stumm. Diane versuchte alles, um an sie heranzukommen, machte ihr heißen Kakao, holte Petit Fours, die sie als Kind geliebt hatte, staffierte das Zimmer, in dem sie jetzt zusammen schlafen würden, mit Spielsachen und Schnickschnack von früher aus. Aber nichts half. Und so saßen sie zu dritt steif da. Charlie kauerte auf der Sofakante und bemühte sich, den Tee nicht zu verkleckern. Diane teilte weiter ungewollte Kuchenstücke aus, und Amy starrte in die Luft, nur noch die Hülle des fröhlichen Mädchens, das sie einst gewesen war.

11

Es war ein Hinterhalt. Die Frau lag auf der Lauer und warf sich Helen in den Weg, als diese aus dem Auto stieg.

«Haben Sie kurz Zeit, Inspector?»

Helen seufzte. Es ging also schon los.

«Schön, Sie zu sehen, Emilia, aber wie Sie verstehen werden, habe ich viel zu tun.»

Helen wollte gehen, wurde aber am Arm gepackt und festgehalten. Wütend funkelte sie die Frau an – war das ihr Ernst? –, und die andere verstand den Blick und lockerte langsam den Griff, grinste aber völlig ungeniert. Emilia Garanita war eine beeindruckende Person: jugendlich und schlank, aber gleichzeitig kaputt und entstellt. Als Teenager hatte sie unzählige Herzen gebrochen, bis sie mit achtzehn Jahren einer Säureattacke zum Opfer gefallen war. Von links gesehen, war ihr Profil hübsch und attraktiv. Von rechts war es nichts als mitleiderregend – mit verzerrten Gesichtszügen und einer leblosen Augenprothese. Sie trug den Spitznamen «die Schöne und das Biest» und war Gerichtsreporterin bei den Southampton Evening News.

«Der Fall Amy Anderson. Wir wissen, dass sie ihn umgebracht hat, aber nicht, warum. Was hat er ihr angetan?»

Helen bemühte sich, ihre Verachtung nicht zu zeigen – mit Sicherheit war es Emilia gewesen, die bei den Andersons durch den Briefschlitz gebrüllt hatte, aber es war nicht klug, die Presse schon am Anfang der Ermittlungen vor den Kopf zu stoßen.

«War es was Sexuelles? Hat er sie verprügelt? Suchen Sie noch nach jemand anderem?», fuhr Emilia fort.

«Sie kennen den Ablauf, Emilia, sobald wir etwas mitzuteilen haben, wird die Presseabteilung sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Und wenn Sie mich jetzt entschul–»

«Ich bin nur neugierig, weil Sie sie haben gehen lassen. Und nicht mal gegen Kaution. Normalerweise lasst ihr sie doch gerne mal länger schwitzen, oder?»

«Wir lassen niemanden schwitzen, Emilia. Ich halte mich an die Vorschriften, das wissen Sie doch. Und deswegen wird die Kommunikation mit den Medien über die üblichen Kanäle laufen, klar?»

Helen lächelte ihr strahlendstes Lächeln und setzte ihren Weg fort. Der erste Punkt in diesem voraussichtlich zähen Kampf ging an sie. Emilia lag das Verbrechen im Blut. Als ältestes von sechs Kindern hatte sie Berühmtheit erlangt, als ihr mit Drogen handelnder Vater zu achtzehn Jahren Haft verurteilt worden war, weil er seine Kinder als Kuriere eingesetzt hatte. Schon in frühester Kindheit hatte er Emilia und ihre fünf Geschwister gezwungen, Kondome voller Kokain zu schlucken, bevor sie sich von einer ihrer vielen Karibikreisen zurück auf den Weg zu den Docks von Southampton machten. Als ihr portugiesischstämmiger Vater im Knast gelandet war, hatten seine Bosse versucht, Emilia auch weiterhin einzusetzen, um den Verlust wettzumachen. Sie weigerte sich und wurde umgehend bestraft – mit zwei gebrochenen Fußgelenken und einem halben Liter Schwefelsäure im Gesicht. Darüber hatte sie ein Buch geschrieben, das sie zum Journalismus brachte. Zwar humpelte sie immer noch, hatte aber vor nichts und niemandem mehr Angst und biss sich an jeder vielversprechenden Geschichte fest.

«Wir sehen uns», rief Emilia Helen nach, die gerade am Eingang der Pathologie klingelte.

Helen wusste, dass ihr Leben gerade ein bisschen schwieriger geworden war. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

Sie hatte eine Verabredung mit einer Leiche.

12

Er sah aus wie ein Geist. Das strahlende, gutaussehende Gesicht auf seiner Facebook-Seite hatte keine Ähnlichkeit mit der eingesunkenen Totenmaske, auf die Helen jetzt blickte. Vor ihr auf dem Seziertisch lag Sams ausgemergelter Körper, ein Zerrbild des lebensfrohen, optimistischen Menschen, der er gewesen war. Und ein zutiefst schmerzhafter Anblick.

Helen wandte sich ab und ließ sich von der Geschäftigkeit des Pathologen ablenken. Auch nach dreißig Berufsjahren brauchte Jim Grieves eine Ewigkeit, um sich für eine Obduktion vorzubereiten. Das endlose Händewaschen ließ einen an eine moderne Lady Macbeth denken (wenn auch eine mit Übergewicht), und wenn man miterlebte, wie er unbeholfen versuchte, sterile Handschuhe überzustreifen, wollte man ihm unwillkürlich zu Hilfe kommen. Manche hatten das tatsächlich getan. Andere hielten ihn für zu alt, aber Helen wusste es besser und drängelte nicht. Das Warten lohnte sich, außerdem war die langsame Verwandlung dieses dicken, rundherum tätowierten Trampels in den präzise arbeitenden, hochprofessionellen Pathologen, der Helen schon bei vielen Fällen hatte helfen können, etwas Wundersames.

«Weil ich schon wieder gehetzt wurde, steht das, was ich sage, wie üblich unter Vorbehalt …»

Helen lächelte, sie war Jims Murren gewohnt und ließ ihn reden. Sie trieb ihn wirklich zur Eile an, hatte aber keine andere Wahl. Es war schrecklich gewesen, Sams Mutter über den Tod ihres Sohnes zu informieren, auch weil Helen ihr kaum etwas Konkretes dazu sagen konnte. Olivia Fisher war seit einigen Jahren verwitwet und hatte keinen Partner, der sie unterstützte. Jetzt musste sie ihren Kindern ganz allein über den Tod des geliebten älteren Bruders hinweghelfen, und Helen wollte ihr das so weit wie möglich erleichtern. Amys Geschichte musste bestätigt oder widerlegt werden, und das schnell.

Jim hatte fertig gemurrt, wandte sich Sams Leiche zu und begann:

«Eine Schusswunde im Rücken. Das Projektil ist unterhalb des rechten Schulterblatts eingedrungen und im Thorax stecken geblieben. Ich verwende Fachausdrücke, sag also, wenn du was nicht verstehst, ja?»