D.I. Helen Grace: In Flammen - Matthew J. Arlidge - E-Book

D.I. Helen Grace: In Flammen E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Wenn es brennt in den Straßen. Und in den Herzen. Mitten in der Nacht lodern die Flammen in Southampton, mehrere Brände zerstören Leben. Die Ursache: kein tragisches Unglück, auch nicht das Werk eines typischen Brandstifters. Sondern viel erschreckender: In jedem der Fälle handelt es sich um sorgfältig geplanten Mord. Detective Inspector Helen Grace und ihr Team stehen vor zahlreichen Fragen: Warum wurden die Opfer ausgewählt? Was verbindet sie miteinander? Was treibt den Mörder an? Und: Wer wird der Nächste sein? Ein Pulverfass aus Angst und Verdächtigungen scheint geöffnet – und es braucht nur einen Funken, um es zur Explosion zu bringen. «Arlidges vierter Roman ist so gut, dass neue Leser der Helen-Grace-Reihe sofort die früheren Bände werden lesen wollen … Helen sticht als eine der unwiderstehlichsten Ermittlerinnen der Kriminalliteratur heraus.» (Publishers Weekly) «Rasend spannend.» (The Times)

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Matthew J. Arlidge

D.I. Helen Grace: In Flammen

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wenn es brennt in den Straßen. Und in den Herzen.

 

Mitten in der Nacht lodern die Flammen in Southampton, mehrere Brände zerstören Leben. Die Ursache: kein tragisches Unglück, auch nicht das Werk eines typischen Brandstifters. Sondern viel erschreckender: In jedem der Fälle handelt es sich um sorgfältig geplanten Mord.

Detective Inspector Helen Grace und ihr Team stehen vor zahlreichen Fragen: Warum wurden die Opfer ausgewählt? Was verbindet sie miteinander? Was treibt den Mörder an? Und: Wer wird der Nächste sein? Ein Pulverfass aus Angst und Verdächtigungen scheint geöffnet – und es braucht nur einen Funken, um es zur Explosion zu bringen.

 

«Arlidges vierter Roman ist so gut, dass neue Leser der Helen-Grace-Reihe sofort die früheren Bände werden lesen wollen … Helen sticht als eine der unwiderstehlichsten Ermittlerinnen der Kriminalliteratur heraus.» (Publishers Weekly)

 

«Rasend spannend.» (The Times)

Über Matthew J. Arlidge

Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit mehreren Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist. Der Auftakt der Helen-Grace-Reihe, «Einer lebt, einer stirbt», war in England das erfolgreichste Debüt 2014, die Reihe erscheint in 30 Ländern.

1

Luke kletterte durch das offene Fenster hinaus auf den schmalen Sims und hielt sich an der Plastikregenrinne über seinem Kopf fest. Die Rinne knackte bedrohlich und drohte jeden Moment nachzugeben, aber loslassen war noch gefährlicher, denn Luke war benommen, außer Atem und sehr, sehr verängstigt.

Eisiger Wind zerrte an ihm und ließ seine dünne Schlafanzughose flattern wie einen wildgewordenen Drachen. Schon jetzt spürte er seine Füße kaum noch, die Kälte des rauen Fenstersimses kroch in seinen Körper. Der Sechzehnjährige wusste: Wenn er sein Leben retten wollte, musste er schnell handeln.

Vorsichtig beugte er sich vor und spähte in den Abgrund. Autos und Menschen wirkten erschreckend klein, das harte Straßenpflaster schien weit weg. Luke hasste Höhen und zuckte instinktiv zurück. Am liebsten wäre er wieder ins Zimmer geklettert. Aber er blieb, wo er war. Er konnte kaum fassen, was er da tat, aber da ihm keine Wahl blieb, schob er seine Zehen über die Kante und machte sich bereit für den Sprung. Im Kopf zählte er rückwärts: Drei, zwei, eins …

Plötzlich verlor er die Nerven und wich hastig von der Kante zurück. Sein Rücken stieß gegen den Fensterrahmen, er lehnte sich einen Moment lang an und kniff fest die Augen zusammen, um die aufsteigende Panik zu verdrängen. Wenn er sprang, würde er bestimmt sterben. Gab es keinen anderen Weg? Luke drehte sich um und blickte in das tosende Inferno hinter dem Fenster.

Sein Dachzimmer stand in Flammen. Es war alles so schnell gegangen, dass er immer noch nicht ganz verstanden hatte, was eigentlich passiert war. Er war um die übliche Zeit ins Bett gegangen, um wenig später von einem Chor aus Rauchmeldern geweckt zu werden. Verwirrt und verschlafen war er aufgestanden und hatte vergeblich versucht, den Rauch im Zimmer zu vertreiben, indem er wild die Arme hin und her schwenkte. Dann war er zur Tür gestolpert, aber es war zu spät gewesen. Der enge Treppenaufgang zu seinem Zimmer hatte lichterloh gebrannt, riesige Flammen tanzten auf die offene Tür zu.

Jetzt konnte er nur zitternd zusehen, wie sich sein Leben in Schutt und Asche verwandelte. Seine Schulbücher, seine Fußballsachen, seine geliebten FC-Southampton-Poster – alles fiel den Flammen zum Opfer. Mit jeder Sekunde stieg die Temperatur im Raum, heißer Rauch und Gase sammelten sich als tödliche Wolke unter der Decke.

Luke schob das Fenster ganz zu, kurz wurde es kühler. Aber ihm war klar, dass die Atempause nicht von Dauer war. Wenn die Hitze im Zimmer zu groß wurde, würde die Scheibe zerplatzen und ihn in die Tiefe befördern. Er hatte keine Wahl. Er musste es wagen, also wandte er sich um, rief laut nach seiner Mutter und sprang in den Abgrund.

2

Es war fast Mitternacht. Auf dem verlassenen Friedhof bahnte sich eine einsame Gestalt einen Weg zwischen den Grabsteinen hindurch. Einfache Holzkreuze standen neben aufwendigen Familiengruften, viele mit Statuen und Gravuren verziert. Die verwitterten Cherubim und Gnadenengel wirkten im Mondlicht leblos und unheimlich, und Helen Grace wickelte den Schal fester um ihre Schultern und eilte schnell weiter. Sie hatte ihn von ihrer Kollegin Charlie Brooks zu Weihnachten bekommen. In einer dunklen und kalten Friedhofsnacht wie dieser war er ein Gottesgeschenk.

Es hatte sich Frost gebildet, und unter Helens Schritten knirschte leise das Gras, als sie den Hauptpfad verließ und eine entlegene Ecke des Friedhofs ansteuerte. Wenig später stand sie vor einem einfachen Grabstein, auf dem weder Name noch Lebensdaten standen, nur die Worte: «In ewigem Gedenken». Es gab keinen Hinweis auf die Identität, das Alter oder auch nur das Geschlecht des Toten. So hatte Helen es gewollt – so musste es sein –, denn dies war die letzte Ruhestätte ihrer Schwester Marianne.

Kriminelle werden nach ihrem Tod von ihren Angehörigen oft vergessen. Manche werden schnell verbrannt und die Asche in alle Winde verstreut, um ihr Andenken auszulöschen. Andere werden auf abgelegenen Gefängnisfriedhöfen verscharrt, aber das hätte Helen bei ihrer Schwester nie zugelassen. Sie fühlte sich für Mariannes Tod verantwortlich und hätte sie niemals verleugnet.

Angesichts des einfachen Grabes plagten Helen immer noch Schuldgefühle. Die Anonymität der Grabstätte bedrückte sie. Sie meinte zu spüren, wie ihre Schwester anklagend mit dem Finger auf sie zeigte und ihr vorwarf, sich für ihr eigen Fleisch und Blut zu schämen. Das stimmte nicht, Helen hatte Marianne geliebt, aber die Verbrechen ihrer Schwester hatten so viel Aufsehen erregt, dass sie heimlich hatte beerdigt werden müssen, um die Neugier der Presse und den Zorn der Opferfamilien nicht weiter zu schüren. Und man konnte nie wissen, ob sich nicht jemand an der letzten Ruhestätte dieser mehrfachen Mörderin vergreifen würde.

Helen war der einzige Trauergast auf der Beerdigung gewesen. Mariannes Sohn wurde immer noch vermisst, und da niemand von der Existenz des Grabs wusste, blieb es Helen überlassen, das Unkraut zu zupfen und Mariannes Gedenken so gut wie möglich zu ehren. Je nach Schichtdienst und Arbeitspensum kam sie ein oder zwei Mal in der Woche hierher, immer spät in der Nacht, damit niemand ihr folgen und sie überraschen würde. Eine einsame, schmerzliche Pflicht, bei der sie kein Publikum wollte.

Nachdem sie die Blumen in der Vase ausgetauscht hatte, beugte sie sich vor und küsste den Grabstein. Dann richtete sie sich auf, sagte noch ein paar liebevolle Worte, wandte sich um und eilte davon. Sie war gerne hergekommen, Ausreden galten nicht, aber der Wind war heute Nacht arktisch, und wenn sie länger bliebe, würde sich das rächen. Sie konnte es sich nicht leisten, krank zu werden, dafür war einfach keine Zeit, und die Vorstellung, zu Hause gemütlich auf dem Sofa zu liegen, erschien außerordentlich verlockend. Sie kletterte über das verschlossene Tor und ging zum Parkplatz, der bis auf ihre Kawasaki völlig leer war.

Am Motorrad blieb sie kurz stehen und betrachtete die Aussicht. Der Blick über Southampton munterte sie jedes Mal auf, vor allem nachts, wenn die Lichter der Stadt, die schon so lange ihr Zuhause war, verlockend und geheimnisvoll flimmerten und funkelten.

Doch diesmal stockte ihr der Atem. Deutlich erkannte sie ein, zwei, nein, drei große Brände im Häusergewirr, riesige hellrote Flammen, die in den dunklen Himmel flackerten.

Southampton stand in Flammen.

3

Thomas Simms hupte und fluchte wild. Trotz der späten Stunde war der Verkehr um den Flughafen herum dank eines Lastwagens, der seine Ladung verloren hatte, die Hölle gewesen. Und als er diesem Stau endlich entronnen war und der Nachhauseweg nach Millbrook offen vor ihm zu liegen schien, war er direkt in den nächsten geraten. Inzwischen war es nach Mitternacht – wo zum Teufel kamen all die Autos her?

Auf der Suche nach Verkehrsmeldungen zappte er durch die lokalen Radiosender, fand aber nichts als nächtliche Anrufsendungen. Genervt stellte er das Radio wieder aus. Was tun? Vor ihm lag eine Abkürzung, die allerdings durch das Gewerbegebiet an der Empress Road führte, was ihm angesichts der dort um diese Zeit auf Freier wartenden Prostituierten unangenehm war. Der Anblick der halbnackten und frierenden Frauen deprimierte ihn immer, und wenn er an roten Ampeln von Luden und Huren beäugt wurde, fühlte er sich unwohl. Die Hauptstraßen waren ihm deswegen eigentlich lieber, aber als er Sirenen hörte, entschied er sich um. Ein Feuerwehrfahrzeug und ein Krankenwagen drängten sich mühsam durch den Verkehr in seinem Rücken. Das bedeutete, dass der Ärger vor ihm lag.

Thomas legte den ersten Gang ein, fuhr vorsichtig auf den Bordstein und bog nach etwa zwanzig Metern links in eine dunkle Einbahnstraße ab. Als er plötzlich wieder freie Bahn hatte, fuhr er viel zu schnell, rauschte an einem Tempo-30-Schild vorbei, als würde es nicht existieren, riss sich dann zusammen und drosselte das Tempo. Mit etwas Glück wäre er in fünf Minuten zu Hause, würde seiner Frau und den Kindern einen Gutenachtkuss geben und könnte ins Bett fallen. Es wäre dumm, so kurz vor dem Ziel noch von der Polizei angehalten zu werden.

Nach sechzehn Stunden Arbeit in seiner Importfirma am Flughafen hatte er zwar Sehnsucht nach seiner Familie, aber er war ja nicht blöd. Er hätte die rote Ampel an der Empress Road gern ignoriert, um der unerwünschten Aufmerksamkeit einer abgehalfterten Drogenabhängigen in Hot Pants zu entgehen, wartete aber geduldig auf Grün und lenkte sich von dem unerfreulichen Spektakel mit dem Gedanken an sein warmes Bett ab, das ihn gleich erwartete.

Er fuhr durch die Innenstadt, dann die West Quay Road entlang und war endlich auf der Zielgeraden. Millbrook war kein vornehmes Viertel, aber die Häuser stammten aus der viktorianischen Zeit, die Nachbarn waren nett, und vor allem war es ruhig. Zumindest normalerweise. Heute Abend schienen jede Menge Menschen unterwegs zu sein, die meisten liefen in Richtung Hillside Crescent – seiner Straße.

Bitte, Gott, bloß keine Party irgendwo. Einige der teureren Häuser waren kürzlich besetzt worden, die Anwohner wurden seitdem nachts oft wach gehalten. Aber in der letzten Zeit hatte sich die Lage beruhigt, außerdem waren das keine Partygänger, die da auf Hillside Crescent zu rannten, sondern normale Familienmütter und -väter, einige kannte er aus der Schule seiner Kinder.

Der Ausdruck auf ihren Gesichtern beunruhigte ihn, und als er in seine Straße einbog, wusste er, was die Menschen aus ihren Häusern getrieben hatte. Eine riesige Rauchsäule stieg gen Himmel, angeleuchtet von schummrigen Straßenlaternen. Irgendein Haus brannte.

Kein Wunder, dass alle so aufgeregt waren, die Häuser in der Umgebung hatten alle sorgfältig renovierte Holzböden und -treppen. Falls das Feuer von einem Haus auf das nächste überspränge, wo würde das enden? Als er die Straße entlangfuhr und hupend Gaffer aus dem Weg scheuchte, packte ihn die Angst. Was, wenn das Feuer in der Nähe seines Hauses ausgebrochen war? Er verdrängte seine Befürchtungen und mahnte sich, nicht albern zu sein. Wenn es Grund zur Sorge gäbe, hätte Karen ihn angerufen.

Die Straße war jetzt durch Fußgänger blockiert, Thomas hielt am Rand und stieg aus. Er schloss den Wagen ab und lief zu Fuß weiter. Das Feuer brannte tatsächlich in der Nähe seines Hauses. Er sah es an der Rauchsäule und den vielen Menschen, die am Ende der Straße versammelt standen. Er stieß überraschte Gaffer aus dem Weg und rannte, so schnell er konnte.

Als er aus der Menge auftauchte, stand er direkt vor seiner Auffahrt. Der Anblick nahm ihm den Atem. Sein gesamtes Haus brannte, aus jedem Fenster schlugen Flammen. Das war kein Feuer, es war die Hölle.

Er wollte losstürmen, wurde aber von einer Nachbarin zurückgehalten und vom Haus weggeführt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war grauenhaft – eine Mischung aus Entsetzen und Mitleid – und ging ihm durch Mark und Bein. Warum sah sie ihn so an?

Dann verstand er. Sein Sohn, sein geliebter Sohn Luke lag im Vorgarten auf dem Rasen, halb unter einem Maulbeerbaum, den Kopf im Schoß einer anderen Nachbarin, die tröstend auf ihn einsprach. Ein rührender Anblick, wären da nicht Lukes Beine gewesen, die in einem unmöglichen Winkel abgeknickt waren, und das Blut auf seinem Gesicht und an den Händen.

«Der Krankenwagen ist auf dem Weg. Er wird wieder gesund.»

Thomas wusste nicht, ob die Nachbarin ihn anlog oder nicht, aber er wollte ihr glauben. Egal, welche Verletzungen sein Sohn erlitten hatte, die Hauptsache war, er überlebte.

«Alles ist gut, mein Junge. Dad ist hier.» Er kniete sich neben seinen Sohn.

Um Luke herum lagen Blätter und Zweige des Maulbeerbaums verstreut, und Thomas begriff, was passiert war. Sein Sohn musste aus dem Fenster gesprungen und im Baum gelandet sein, der den Fall abgedämpft und ihm vielleicht sogar das Leben gerettet hatte. Aber warum war er überhaupt gesprungen?

«Wo ist Mum? Und Alice? Luke, wo sind die beiden?»

Der Junge gab keine Antwort, der Schmerz schien ihm alle Kraft zu rauben.

«Habt ihr sie gesehen?», rief Thomas. Seine Stimme überschlug sich. «Wo zum Teufel sind sie?»

Er sah wieder seinen Sohn an, der sich trotz seiner Verletzungen versuchte aufzurichten.

«Was ist, Luke?»

Thomas beugte sich dicht über ihn. Luke rang nach Luft, dann flüsterte er mit zusammengebissenen Zähnen:

«Sie sind noch drin.»

4

Helen Grace hielt ihren Dienstausweis in die Höhe, schlüpfte unter dem Polizeiband hindurch und lief schnell auf das Zentrum der Katastrophe zu. Vor Travell’s Timber Yard standen drei Feuerwehrwagen, über ein Dutzend Feuerwehrleute bekämpften einen Brand von monumentalem Ausmaß. Sogar aus der Entfernung spürte Helen die enorme Hitze, die über sie hinwegrollte, sich auf Haare, Augen, Kehle legte und Chaos und Zerstörung brachte.

Travell’s Timber Yard war einer der größten Holzhandel in Southampton, ein florierender Familienbetrieb, der Handwerker und Bauleute in ganz Hampshire mit Holz versorgte. Doch diese Nacht bedeutete für das erfolgreiche Unternehmen das Ende. Die Familie hatte bescheiden angefangen, den Betrieb Jahr für Jahr vergrößert und schließlich ein riesiges Lager gebaut, in dem Holz in jeder Art, Form und Größe zu finden war. Dieses Lager ging gerade vor Helens Augen in Rauch auf, das Metallskelett kreischte in der Hitze, die Fenster zerbarsten, und Funken regneten wie Konfetti von dem in sich zusammenfallenden Dach.

«Wer zum Henker sind Sie? Sie haben hier nichts zu suchen.»

Helen wandte sich um und sah einen Feuerwehrmann des Hampshire Fire and Rescue Service auf sich zukommen. Sein Gesicht war von Schmutz und Schweiß verklebt.

«DI Helen Grace, Sonderermittlungen, und ich habe tatsächlich jedes Recht –»

«Und wenn Sie Sherlock Holmes höchstpersönlich sind. Das Dach da bricht jeden Moment ein, und wenn es so weit ist, will ich niemanden in der Nähe stehen haben.»

Helen blickte hinüber. Das Dach wellte sich, vom Feuer aufgerissen, das nach neuer Nahrung und Sauerstoff gierte. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück.

«Verschwinden Sie. Hier gibt es für Sie nichts zu tun.»

«Wer hat hier das Sagen?»

«Sergeant Carter, aber der ist gerade ziemlich beschäftigt.»

«Wer ist der diensthabende Brandermittler?»

«Keine Ahnung.»

Er ging auf die Löschfahrzeuge zu, von denen sich zwei gerade zur Abfahrt bereit machten.

«Sie fahren weg?», fragte Helen ungläubig.

«Wir können nichts tun, außer es unter Kontrolle halten. Deswegen werden wir woanders hingeschickt.»

«Womit haben wir es hier zu tun? Könnte es Zufall oder Versehen gewesen sein? Ein Kurzschluss? Eine weggeworfene Zigarette?»

Der erschöpfte Feuerwehrmann warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

«Drei Großfeuer in ein und derselben Nacht. Alle innerhalb von einer Stunde ausgebrochen. Das war kein Zufall.» Er sah sie müde an. «Irgendjemand hat hier seinen Spaß gehabt.»

Das erste Feuerwehrfahrzeug hielt kurz an, um den Kollegen einsteigen zu lassen. Er sah sich nicht nach Helen um – sie war vergessen, er und sein Team besprachen bereits den nächsten Einsatz. Helen sah den Blaulichtern nach, bis sie am Ende der Straße verschwanden, und wandte sich dann wieder der Feuersbrunst zu.

Sekunden später brach das Dach ein und schob eine riesige Wolke aus heißem Rauch und Asche in ihre Richtung.

5

Thomas hob schützend den Arm vors Gesicht und stürmte ins Haus. Sofort füllten sich sein Mund und seine Lunge mit zähem Ruß, er musste würgen. Der Rauch hatte sich in einer dichten Wolke unter der Decke gesammelt und nahm ihm die Sicht. Da das Kohlenmonoxid den Sauerstoff immer mehr verdrängte, bekam er nach nur wenigen Schritten weiche Knie.

Keuchend sank er zu Boden. Der Teppich war bereits ausgebrannt, die Berührung tat zwar weh, aber hier unten fiel das Atmen leichter. Er krabbelte auf die Treppe zu. Das Schlafzimmer lag im ersten Stock, Alices Kinderzimmer rechts daneben. Er musste irgendwie nach oben kommen. Karen war heute Abend mit den Kindern alleine und wäre niemals ohne Luke aus dem Haus geflohen. Irgendwo im Haus mussten sie sein.

An seinen Händen bildeten sich Blasen, seine Kleidung begann zu schmoren und zu zischen, aber er kroch weiter, bis er gegen etwas Hartes stieß: die unterste Treppenstufe. Oder was davon übrig war. Die Treppe hatte zwar noch ihre Form, ihr Aussehen aber war völlig verändert: Statt mattbraun zu glänzen, glühten die Stufen in leuchtendem Orange, das brennende Holz sprühte Funken und knisterte.

«Karen?» Seine Stimme war heiser und schwach. Die Hitze verbrannte ihm Mund und Kehle, doch er rief erneut, lauter.

«Karen? Alice? Wo seid ihr?»

Keine Antwort.

«Bitte, Liebling. Sag was. Daddy ist da –»

Er brach abrupt ab, tiefe Angst überwältigte ihn. Wieder musste er husten, diesmal heftiger. Die Zeit lief ihm davon. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und betrat die Treppe. Sein Fuß brach durch die Stufe, als wäre sie aus Staub, er taumelte, fand das Gleichgewicht wieder und versuchte es mit der nächsten, aber auch die fiel in sich zusammen. Lieber Gott, das konnte doch nicht wahr sein.

Er versuchte es wieder, fand aber nirgends Halt.

«Karen?»

Seine Stimme war leise und mutlos. Erschöpft ließ er den Kopf sinken, vor seinen Augen drehte sich alles. Plötzlich stieg ihm ein neuer Geruch in die Nase: nach verbranntem Leder. Überrascht stellte Thomas fest, dass seine Schuhe Feuer gefangen hatten. Ebenso seine Hose. Und seine Jacke. Er war eine lebende Fackel.

Er drehte sich um und stolperte in Richtung Haustür. Er würde sich nie vergeben, seine Frau und seine kleine Tochter im Stich gelassen zu haben, aber wenn er nur einen Moment länger bliebe, würde er sterben. Um Lukes willen musste er hier raus.

Er stürzte ins Freie und brach auf dem weichen Rasen zusammen. Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er wieder und wieder um die eigene Achse gedreht, Dutzende Hände rollten ihn über den Rasen, um die Flammen zu löschen. Als er auf dem Rücken zu liegen kam, sah er Löschzüge und Krankenwagen eintreffen. Feuerwehrmänner rannten an ihm vorbei, dann half ihm eine Notärztin, sich aufzurichten.

«Mein Sohn», flüsterte Thomas. «Gehen Sie zu meinem Sohn.»

Die Notärztin erwiderte etwas, aber Thomas konnte sie nicht hören. Die ganze Welt klang seltsam gedämpft, ob es am Schock lag oder an seinen Verletzungen, konnte Thomas nicht sagen. Die Ärztin leuchtete ihm mit einer Taschenlampe erst in die Augen, dann in den Hals. Thomas war völlig egal, was aus ihm wurde – wäre da nicht Luke gewesen, er wäre lieber auf der Stelle gestorben, als sich eine Zukunft ohne seine beiden Mädels vorzustellen. Sein Leben hatte jeglichen Wert verloren. Trotzdem überraschte ihn der Anblick seines Arms, den die Ärztin hielt, um den Puls zu messen. Seine Jacke war ihm vom Körper gebrannt, seine Armbanduhr verschwunden, und als die Ärztin sein mit Blasen überzogenes Handgelenk berührte, blieb geschmolzene Haut an ihrem Handschuh hängen.

6

Die Axt traf den Fensterrahmen mit Wucht, Glasscherben regneten ins Haus. Da der Zugang über die zerstörte Treppe nicht möglich war, drangen James Ward und sein Kollege Danny Grant durch ein Schlafzimmerfenster im ersten Stock ins Haus ein, während ihre Kollegen durch ein anderes hektoliterweise Wasser pumpten. Die Zeit war knapp, bald würde das Haus nicht mehr zu betreten sein.

James drückte die letzten Glasscherben aus dem Rahmen und kletterte ins Haus. Die verkohlten Dielen ächzten unter seinem Gewicht und drohten nachzugeben. Er zögerte, hielt sich am Fensterrahmen fest und versuchte es mit einer anderen Stelle. Als es hier weniger laut ächzte, tastete er sich schrittweise voran. Danny wartete kurz ab, bevor er ihm folgte. Die Regel lautete: Besser einen Mann verlieren als zwei.

Die Hitze war selbst mit Schutzanzug unerträglich. James fühlte Schweißtropfen über seinen Rücken laufen. Doch er behielt die Ruhe. Dies war sein Job. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass irgendwer überlebt hatte, mussten sie nachsehen. Die Frau und das Mädchen hatten sich vermutlich in diesem Stockwerk aufgehalten, denn hier lagen die Schlafzimmer. James warf einen Blick in das Elternschlafzimmer, sah kein Lebenszeichen und setzte die Suche fort. Beim nächsten Schritt brach sein Fuß durch den Dielenboden. Instinktiv sprang er zurück und schaffte es, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Vor ihm klaffte ein großes Loch im Boden, durch das er ins Erdgeschoss sehen konnte, eine schwelende Masse aus verbrannten Möbeln und bröckelnden Wänden. Er atmete ein, sprang über das Loch hinweg und landete auf dem Treppenabsatz. Einen Moment lang taumelte er gefährlich nahe an der Kante, dann fand er die Balance und ging weiter.

Als Nächstes erreichte er das Kinderzimmer des Mädchens. An der Tür klebten Buchstaben – A-L-I-C-E –, merkwürdig unversehrt von der Feuersbrunst. James schob die Tür auf, ein schmales Bett, ein paar Möbel, auf dem Boden ein Teddybär, aber keine Spur von Karen und Alice Simms. Er wollte gerade in das Zimmer hineingehen, als ihn etwas zögern ließ. Ein gleichmäßiges Geräusch, das aus dem Badezimmer nebenan kam. Es war schwer zu beschreiben, klang nach einem Zischen. Doch nicht das Zischen von brennenden Möbeln oder einem schwelenden Feuer. Anders.

James bewegte sich vorsichtig auf das Geräusch zu und gab Danny durch ein Zeichen zu verstehen, dass er im Badezimmer nachsehen wollte. Danny tippte auf sein Handgelenk, ihnen blieben höchstens noch ein oder zwei Minuten. Die Struktur des Hauses nahm mit jeder Sekunde mehr Schaden. James nickte.

Er stieß die Tür auf und tastete sich vorwärts, denn sehen konnte er nicht viel. Überrascht stellte er fest, dass die Dusche lief. Das Wasser verdampfte in der Hitze, was den Dunst erklärte. Er ließ sich auf alle viere fallen und kroch schnell vorwärts.

Karen Simms und ihre sechsjährige Tochter lagen zusammengekrümmt auf dem Boden der Dusche. Die Kabinentür war geschlossen, Wasser prasselte auf sie herab – so hatten sie sich vor dem Verbrennungstod schützen wollen. James machte sich keine großen Hoffnungen. Wahrscheinlich waren sie bereits an einer Rauchvergiftung gestorben. Dass sie mit dem Gesicht nach unten in der Dusche lagen, war kein gutes Zeichen.

Er tastete nach dem Griff der Tür und zog sie auf. Ein kleiner Wasserfall strömte heraus, der zischend zu Dampf wurde. James beugte sich über die beiden und sah überrascht, dass sie mit den Mündern über dem Abfluss zu liegen schienen. Dann verstand er: Sie atmeten durch das Rohr.

Er drehte Karen um und sah ihr in die Augen. Sie war bewusstlos, aber wo Leben war, gab es Hoffnung. Als er sie an Danny weiterreichte, regte sich das kleine Mädchen. Eine winzige Bewegung, genug, um James das Adrenalin durch die Adern schießen zu lassen. Vielleicht hatten die beiden doch noch eine Chance.

Er hob das Mädchen auf, wandte sich um und folgte seinem Kollegen. Noch bestand eine Chance. Das Gebäude fiel um sie herum zusammen, und das Extragewicht in ihren Armen verringerte ihre eigenen Überlebenschancen, aber sie mussten es versuchen.

Jetzt oder nie.

7

«Wie geht es ihr?»

Charlie drehte sich um und sah Steves Silhouette im Türrahmen stehen. Jessica, die Charlie trotz ihrer immerhin schon sechzehn Monate noch immer «mein Baby» nannte, litt unter einer schweren Erkältung. Sie hatte schmerzhaft verstopfte Nebenhöhlen und war kreuzunglücklich. Die Medikamente hatten bisher kaum Wirkung gezeigt. Wie alle kleinen Kinder hatte sie ihren Eltern ihr Leid deutlich kundgetan und Charlie bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten.

Charlie legte den Zeigefinger an die Lippen und scheuchte Steve aus dem Zimmer. Zwei Stunden des Kuschelns und Tröstens hatten sich endlich bezahlt gemacht, Jessica war eingeschlafen. Bevor Charlie ihm folgte, warf sie noch einen Blick auf ihre Tochter. Es gab für sie nichts Schöneres als ihr kleines Mädchen zufrieden schlummern zu sehen, umgeben von Stofftieren und ihrer alten Babydecke. Sie hätte sie stundenlang ansehen können, aber die Vernunft siegte. Besser jetzt gehen, solange Frieden herrschte, also schlich sie sich unter Umgehung quietschender Dielen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.

«Willst du ein Glas Wasser?»

Steve war auf dem Weg in die Küche.

«Vielleicht eher was Heißes», erwiderte Charlie und folgte ihm die Treppe hinunter. Sie war hellwach und musste sich trotz der späten Stunde erst ein wenig entspannen, bevor sie wieder ins Bett gehen konnte. Irre, wie anstrengend es war, ein krankes Kleinkind davon zu überzeugen, dass Schlaf das Beste für es war.

Während sie wartete, dass das Wasser kochte, stellte sie den Fernseher an. Sofort legte ein Nachrichtensender mit dem Neuesten vom Tage los – eher Steves Ding, sie stand mehr auf die Serien bei Sky Atlantic. Sie wollte gerade zu etwas weniger Realem umschalten, als sie innehielt, von den über den Bildschirm flackernden Bildern überrascht und beunruhigt: eine Liveschaltung zu einem Antiquitätengeschäft in der Grosvenor Road. Charlie kannte den Laden gut, sie hatte dort schon öfter Schnickschnack gekauft. Doch jetzt stand er in Flammen, und die Feuerwehr schien den riesigen Brand nicht unter Kontrolle zu bekommen. Am rechten Rand des Bildschirms wurden kleinere Bilder von zwei weiteren Bränden gezeigt: Der eine etwa genauso groß, der andere sah nach einem Hausfeuer aus. Und alle in Southampton.

Das schrille Klingeln ihres Handys ließ Charlie aufschrecken. Sie warf Steve, der sich zu ihr gesellt hatte, einen Blick zu und nahm das Handy.

«Hi, Charlie, hier ist DC Lucas.»

«Hi, Sarah.»

«Tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht störe, aber du wirst gebraucht. DI Grace hat alle einbestellt. Wir haben drei Großfeuer in der Innenstadt.»

«Ich sehe es gerade im Fernsehen.»

«In einer halben Stunde?»

Kurz darauf stand Charlie wieder in Jessicas Zimmer, jetzt ordentlich angezogen und mit zurückgebundenem Haar, um der Professionalität zumindest ansatzweise Genüge zu tun. Obwohl sie damit Steves Zorn riskierte, beugte sie sich zu ihrer Tochter hinunter und gab ihr einen zärtlichen Gutenachtkuss. So versuchte sie das schlechte Gewissen zu besänftigen, das immer an ihr nagte, wenn sie zur Arbeit ging, weil sie ihr Baby alleine ließ, weil Steve so viele häusliche Pflichten alleine tragen musste. Oft war ihr regelrecht schlecht, wenn sie das Haus verließ, aber es half nichts. Für berufstätige Mütter galt eine einfache Regel: Du musst härter und länger arbeiten als alle anderen, um überhaupt ernst genommen zu werden. Das war weder fair noch richtig, aber so lief es nun mal, deswegen gab Charlie auch Steve einen Kuss, öffnete die Haustür und trat hinaus in die Nacht.

8

Detective Superintendent Jonathan Gardam stand regungslos vor Bertrand’s Antiques Emporium. Er war neu in der Stadt, erst vor wenigen Monaten zum Revierchef von Southampton Central ernannt worden und musste sich, wenn er ehrlich war, immer noch zurechtfinden. Bis zu seiner Beförderung war er als DCI in London an vorderster Front im Einsatz gewesen, und es lag ihm nicht, den ganzen Tag in Besprechungen zu hocken. Zwar gehörte das in seiner Position nun mal dazu, aber insgeheim freute er sich über jede Gelegenheit, sich wieder ins Getümmel werfen zu können.

Er ging auf seine DI zu, die energisch die Truppen befehligte. Helen Grace eilte der beeindruckende Ruf voraus, sowohl genial als auch eigensinnig zu sein, aber bisher hatte Gardam sie vor allem als angenehm und professionell erlebt. Sie hatte Führungsqualitäten und konnte Entscheidungen treffen, gute Voraussetzungen für die große Ermittlung, die sich hier abzuzeichnen begann. Sie bemerkte ihn und kam auf ihn zu.

«Gibt es Opfer?», fragte Gardam.

«Keine Todesopfer. Bei dem Hausfeuer in Millbrook hat es vier Verletzte gegeben, drei davon schwer. Weder hier noch in dem Holzlager haben sich Personen aufgehalten, wenn also die Feuerwehr nicht noch mit unangenehmen Überraschungen aufwartet, müsste da alles okay sein.»

«Und es war definitiv Brandstiftung?»

«Sieht so aus.»

«Irgendeine Ahnung, warum diese Orte ausgesucht wurden?»

«Wir werden mit den Besitzern reden und auch mit der Familie in Millbrook, sobald das möglich ist, aber auf den ersten Blick scheint es kein Motiv zu geben. Zwei Gewerbegebäude, ein Wohnhaus, alle in unterschiedlichen Stadtteilen … Wir können nicht mal sagen, ob die Brände von derselben Person gelegt wurden, da sie fast zeitgleich ausgebrochen sind. Haben Sie so was schon mal erlebt, Sir?»

«Nicht in diesem Ausmaß», erwiderte Gardam zurückhaltend. «Es wirkt so … organisiert.»

Helen nickte. Bei ihrem Eintreffen hatte sie das gleiche ungute Gefühl beschlichen. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt, bis das Gebäude einfach in Flammen aufgegangen war.

«Der erste Brand ist bei Travell’s ausgebrochen?»

Helen nickte.

«Die ersten Notrufe kamen um 23 Uhr 15 rein. Danach ging es hier los, die Anrufe kamen gegen 23 Uhr 25. Und das Haus in Millbrook etwa fünfzehn Minuten später.»

«Wenn die Feuer tatsächlich von ein und derselben Person gelegt wurden, ist das eine interessante Eskalation», bemerkte Gardam. «Die ersten beiden Brände sind groß und beeindruckend, der dritte viel kleiner, ein Wohnhaus, aber möglicherweise viel tödlicher. Wer auch immer das Feuer gelegt hat, musste davon ausgehen, dass im Haus Menschen schlafen –»

«Was darauf hinweisen könnte, dass sie das eigentliche Ziel waren», unterbrach ihn Helen. «Und was wäre dann einfacher, als die Einsatzkräfte durch zwei andere Brände in der Stadt auf Trab zu halten? In den USA hat es so etwas schon gegeben …»

Schon während sie es aussprach, dachte Helen weiter. Es ergab Sinn und würde das eigentliche Tatmotiv verdecken. Natürlich mussten alles Spuren der heutigen Nacht erst noch gesammelt, gesichtet und ausgewertet werden, doch ihr Bauchgefühl sagte Helen, dass es sich hier um kein normales Verbrechen handelte. In den sechzehn Monaten seit Ben Frasers Tod war ihr Leben angenehm ereignislos verlaufen. Damit war es vorbei.

Wieder einmal bekam sie es mit dem Albtraum eines anderen zu tun.

9

Die Türen des South Hants Hospital wurden aufgestoßen, und die Rettungssanitäter rannten mit drei Krankenbahren hindurch. Die bei dem Hausbrand in Millbrook verletzte Familie war bereits angekündigt, das Team der Notaufnahme stand bereit.

Die erste Patientin war Karen Simms, die einen Herzstillstand erlitten hatte. Gehirn und Körper waren zu lange ohne ausreichende Sauerstoffversorgung gewesen und reagierten jetzt. Die Sanitäter hatten es im Krankenwagen bereits mit dem Defibrillator versucht, aber keinen Erfolg gehabt, daher wurde sie in Windeseile in die Kardiologie durchgeschoben. Ihr Leben hing am seidenen Faden, jede Sekunde zählte.

Als Nächste kam ihre Tochter Alice. Auch sie hatte großflächige Verbrennungen ersten und zweiten Grades abbekommen und litt unter grauenhaften Schmerzen, aber zumindest war sie bei Bewusstsein. Ihr junges Herz schien mit der Rauchvergiftung besser fertigzuwerden. Anscheinend waren am Brandherd keine giftigen Dämpfe ausgetreten, wenn sie also die nächsten Tage überstand, hatte sie eine gute Chance. Während die Bahre mit ihrer Mutter nach links gerollt wurde, brachte man Alice direkt zu den Aufzügen. Das Verbrennungszentrum lag im dritten Stock, wo sie bereits erwartet wurde.

Danach kam Luke, der nur leichte Verbrennungen, aber durch den Sprung zwei gebrochene Beine und Verletzungen am Oberkörper und im Gesicht hatte. Er wurde direkt zum Röntgen und dann in den OP gebracht. Sollte es zu inneren Blutungen oder Hirnverletzungen gekommen sein, hätte er kaum eine Chance. Knochenbrüche würden heilen. Er war als Einziger von den dreien einigermaßen verschont geblieben.

Als Letzter kam, gestützt von Sanitätern, Thomas Simms. Er sah, wie seine Frau, seine Tochter und sein Sohn in verschiedene Richtungen geschoben wurden, und stand wie gelähmt da, in Zeit und Raum eingefroren, unfähig, irgendeine Entscheidung zu treffen. Wen sollte er begleiten? Wer brauchte ihn am meisten? Das schreckliche Dilemma ließ seine Gedanken rasen, doch die Füße blieben wie festgewachsen stehen. Er konnte es nur falsch machen.

In dem Moment begriff Thomas, dass sein Leben sich für immer verändert hatte. Nie würde es wieder werden wie früher, vor ihnen lagen nichts als Schmerz und Trauer. Er hatte keine Ahnung, wie sie da durchkommen würden oder was jetzt zu tun war. Er war völlig verloren. Und dann packte ihn die Angst, dass er keinen aus seiner Familie je wiedersehen würde, und setzte sich in ihm fest.

10

Das imposante viktorianische Haus war nur noch eine Ruine. Die Fenster waren zerschmettert, schwarzer Ruß verunstaltete die Ziegelwände, das Gebäude wirkte tot, gespenstisch und geschändet. Das Familienheim war zu einer Sehenswürdigkeit des Grauens geworden, die Nachbarn zogen in Scharen vorbei, Schaulustige und Journalisten eilten heran, um sich an der Zerstörung zu weiden. Helen Grace bemühte sich, den Gedanken zu verdrängen, dass hier eine Familie zufrieden und nichtsahnend ins Bett gegangen und in einem Inferno aufgewacht war.

Die Feuerwehr hatte den Brandort abgesichert, ein Brandermittler war auf dem Weg. Da es immer noch zu gefährlich war, das Haus zu betreten, begnügte sich Helen mit einem Rundgang, begleitet von DS Sanderson. Sandersons Vorgänger, DS Lloyd Fortune, war vor ein paar Monaten versetzt worden, sodass Helen ihre loyale und fähige Mitarbeiterin hatte befördern können. Sanderson war jetzt nach ihr die Ranghöchste, und Helen war froh, sie an ihrer Seite zu haben.

«Wir suchen nach Einbruchsspuren. Alles Auffällige, das erklären könnte, was hier passiert ist.»

Die beiden Frauen gingen schweigend nebeneinander her, das ausgebrannte Haus warf seinen Schatten über sie und drückte auf ihre Stimmung. Der Boden war in der Nacht gefroren gewesen, sodass nur wenig Aussicht auf verwertbare Fußabdrücke oder Spuren bestand. Und wenn wirklich jemand den Brand vorsätzlich gelegt hatte, dann hatte er sich natürlich alle Mühe gegeben, vorsichtig zu sein und nichts zurückzulassen, das einen Hinweis darauf gegeben hätte, wie er vorgegangen war.

Eines fiel ihnen aber doch auf: eine Tür in der Gartenmauer auf der rückwärtigen Seite, die auf einen kleinen Weg hinausführte und nicht abgeschlossen war. Jemand hätte also ungesehen in den Garten gelangen können. Außerdem war in der Hintertür des Hauses ein kleines Fenster zerbrochen. Es war nicht im Feuer kaputtgegangen, die Flammen hatten hier hinten weniger Schaden angerichtet als im Rest des Hauses. Nein, es musste absichtlich und von außen eingeschlagen worden sein, denn die Scherben lagen im Haus. Das Loch war groß genug, um eine Hand hindurchzustecken. Helen zog Latexhandschuhe über und war nicht überrascht, die Tür unverschlossen zu finden.

«Ich setze sofort die Spurensicherung darauf an», sagte Sanderson, die ihr Funkgerät schon aus der Tasche gezogen hatte.

Während Sanderson mit den Kollegen sprach, ging Helen zur Vorderseite des Hauses zurück. Die Menschenmenge war um einiges angewachsen. Obwohl es mitten in der Nacht war, hatten sich einige hundert Schaulustige eingefunden. Helen winkte Detective Constable Edwards herbei.

«Greifen Sie sich ein paar Beamte in Zivil, sie sollen sich unter die Menge mischen und mit Kameras aufnehmen, was sie können, Ausschau halten nach verdächtigem Verhalten, ob jemand Fotos oder Videos vom Brandort macht. Und ich will wissen, ob eventuell jemand masturbiert.»

«Wie bitte?»

«Wenn jemand masturbiert oder übermäßiges Interesse zeigt. Verstanden?»

DC Edwards eilte davon, um die Kollegen zu verständigen. Helen sah ihm nach, sein Unbehagen belustigte sie. Aber es war ihr ernst. Brandstiftung gehörte zu den Verbrechen, bei denen die Täter den Tatort nach der Tat aufsuchen und sich an ihrem Werk ergötzen konnten. Helen fragte sich, ob der Brandstifter sie vielleicht gerade in diesem Moment beobachtete.

Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. DS Sanderson kam mit blasser Miene auf sie zu.

«Wir haben gerade einen Anruf aus dem South Hants Hospital bekommen», sagte sie. «Karen Simms ist kurz vor zwei gestorben. Herzstillstand und multiples Organversagen.»

«Ist jemand vor Ort?»

«DC Brooks ist da.»

«Rufen Sie sie an. Sie soll bei Thomas Simms bleiben und ihn so gut es geht unterstützen.»

Sanderson zog das Handy aus der Tasche und eilte davon. Während Helen ihr nachsah, überkam sie ein Gefühl des Grauens. Es ging nicht länger nur um Brandstiftung.

Jetzt war es Mord.

11

Das Krankenhaus glich einem Labyrinth, mit jedem falschen Abbiegen stieg Charlies Beklemmung. Sie hasste Krankenhäuser. Der Geruch allein reichte, um sie depressiv werden zu lassen – das Vermächtnis der vielen Wochen, die sie nach ihrer Entführung vor drei Jahren hier hatte verbringen müssen. Eigentlich müsste sie das South Hants in- und auswendig kennen, trotzdem kam ihr jeder Gang wie der andere vor.

Sie war zuerst zu dem Feuer bei Travell’s gefahren, was sich allerdings als Zeitverschwendung erwiesen hatte. Niemand hatte gesehen, wie das Feuer ausgebrochen war, die Überwachungskameras waren schon länger nicht mehr aktiv, und die Auswertung möglicher Spuren durch die Kriminaltechnik würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Nachdem sie sich also noch einmal gründlich, aber vergeblich umgesehen hatte, war sie ins Krankenhaus gefahren, um sich nach den Simms zu erkundigen.

Je näher sie dem Verbrennungszentrum kam, desto langsamer ging sie. Sie wusste bereits, dass Karen Simms im OP gestorben war und dass Alice, die sechsjährige Tochter, um ihr Leben kämpfte. Solche Nachrichten hätten Charlie schon früher belastet, doch seit Jessicas Geburt war es schlimmer geworden, sie ertrug nicht einmal mehr Zeitungsartikel oder Fernsehnachrichten über verletzte Kinder. Als Polizistin brauchte man starke Nerven und musste seine Gefühle unter Kontrolle halten können, aber wenn sie ehrlich war, konnte Charlie dafür nicht mehr garantieren – sie reagierte inzwischen instinktiv heftig.

Vor der Tür zum Verbrennungszentrum blieb sie stehen und redete sich gut zu. Wie konnte sie über ihre eigenen Gefühle nachgrübeln, wenn diese Familie durch die Hölle ging? Es war ihr Job, den Simms zu helfen, anstatt sich mit den eigenen Ängsten zu beschäftigen.

«Reiß dich zusammen, Charlie», ermahnte sie sich leise, dann öffnete sie die Tür und ging hinein.

 

«DC Charlie Brooks. Mein Beileid.»

Charlie streckte Thomas Simms die Hand entgegen und war sich der Absurdität und Sinnlosigkeit der Geste bewusst. Er blickte auf, schüttelte ihre Hand und wandte sich wieder Alice zu, die isoliert hinter Glas lag. Ihr ganzer Körper war mit Wundverbänden umwickelt, über Mund und Nase lag eine Sauerstoffmaske.

«Ich kann nicht glauben, dass das Alice ist», sagte er plötzlich.

Es sah tatsächlich nicht nach ihr aus. Die Fotos, die bereits durch die Presse und die sozialen Medien geisterten, zeigten ein lächelndes, fröhliches Mädchen, das sich für Sport und Tanzen begeisterte. Die bandagierte Gestalt vor ihnen schien damit nichts zu tun zu haben.

«Wie geht es ihr?»

Thomas zuckte die Achseln.

«Sie hält durch. Sie ist eine Kämpferin.»

Das wurde mit einem Lächeln gesagt, aber dann übermannte ihn die Verzweiflung über das Grauen dieser Nacht, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

«Von Luke gibt es gute Nachrichten. Die Ärzte meinen, er kommt bald aus dem OP raus. Er ist ein tapferer Junge», versuchte Charlie zu trösten.

Thomas nickte, aber das Lächeln war verschwunden. Sie schwiegen lange. Charlie wollte Thomas gerade anbieten, Tee zu holen, da sagte er plötzlich:

«Wie soll ich ihnen das bloß sagen? Das mit ihrer Mutter?»

Er sah Charlie völlig verloren an. Sie setzte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. Sie hätte ihn gerne getröstet, ihm Halt gegeben, aber wie?

«Die Wahrheit. Mehr können Sie nicht machen. Sie müssen ihnen die Wahrheit sagen.»

«Genau davor habe ich Angst», erwiderte er trostlos und wandte sich wieder seiner Tochter zu.

Charlie ließ ihren Arm auf seiner Schulter und überlegte, was sie sagen könnte. Aber es gab nichts zu sagen. Natürlich würde sie ihm helfen, so gut sie konnte, würde versuchen, auch Luke und Alice zu unterstützen. Aber wie überbrachte man so eine Nachricht? Wie sagt man einem Kind, dass seine Mutter tot ist?

12

Um vier Uhr morgens kehrte Helen schließlich in ihre Wohnung zurück. Ihre Kleidung stank nach Rauch, und ihr Gesicht war mit einer feinen Ascheschicht verklebt. Noch nie war sie am allerersten Tag einer Ermittlung schon so erschöpft gewesen.

Die Qualen, die die Familie erlitten hatten, plagten sie ebenso wie der Gedanke, dass der Täter nicht einmal hatte mitansehen müssen, was er da angerichtet hatte. Ein kaltblütiges und sorgfältig geplantes Verbrechen, das auf ein schwer begreifliches Ausmaß an Wut und Grausamkeit hindeutete. Wer tat so etwas? Und warum?

Helen zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Sie hatte das Bedürfnis, alle Spuren der furchtbaren Nacht von sich abzuwaschen. Das Wasser strömte über ihren Körper, sie wusch sich das lange Haar einmal, zweimal, dreimal, doch die Dusche erfrischte sie zwar, konnte aber ihre Erschöpfung nicht vertreiben.

Danach setzte sie sich in ein dickes Handtuch eingewickelt auf die Fensterbank in ihrem Schlafzimmer und blickte auf Southampton hinab. Die Dämmerung kündigte den Beginn eines Tages an, an dem sich das ganze schreckliche Ausmaß der Katastrophe erst wirklich zeigen würde. Während sie auf die ersten Sonnenstrahlen wartete, kam sich Helen plötzlich sehr einsam vor. Wenn sich früher ihre dunklen Gedanken zu einer Wolke zusammengezogen hatten, war sie zu ihrem Dominator, Jake, geflüchtet, aber das ging nicht mehr. Er hatte sich in sie verliebt, und sie hatte die Verbindung beendet, bevor alles noch komplizierter wurde. Eine eigene Familie hatte sie nicht, und Charlie wollte sie auch nicht behelligen, die hatte selber genug um die Ohren.

Helen hatte ein paarmal überlegt, sich einen anderen Dominator zu suchen. Immer schon hatte sie ihre Gefühle durch Schmerzen kontrolliert, wie die Narben auf Oberkörper und Armen bezeugten, und sie vermisste die Besuche bei Jake. Nichts konnte ihre dunklen Gedanken besser vertreiben als eine Session mit ihm. Irgendwann hatte sie einen seiner Konkurrenten angerufen – der sich den albernen Namen Max Paine gegeben hatte –, aber schon beim Klingeln aufgelegt, weil sie plötzlich nicht mehr gewusst hatte, was sie sagen sollte. Bei Jake konnte sie sie selbst sein, nackt und ungeschminkt. Es würde lange dauern, bis sie sich einem anderen wieder so offen zeigen konnte.

Helen blickte in die Nacht hinaus und überlegte, wie die Zukunft aussehen würde – die der Stadt und ihrer Bewohner, ihre eigene. Ein düsterer Gedanke löste den nächsten ab. Als Silhouette in der Dunkelheit vor dem Panoramafenster war sie geradezu ein Inbild stiller Einsamkeit.

Sie blieb noch ein paar Minuten sitzen. Irgendwann begann sie sich über ihr Selbstmitleid zu ärgern, rutschte von der Fensterbank, ging zum Schrank und suchte frische Kleidung heraus. Sie hatte beschlossen, trotz der frühen Stunde ins Revier zu fahren und sich über die neuesten Entwicklungen zu informieren.

Heute Nacht gab es keinen Schlaf mehr.

13

Blog von erstepersonsingular Mittwoch, 9. Dezember, 07:00 Uhr

Winter ist scheiße, oder?

Ist damit nicht alles gesagt?

Okay, noch ein paar Anmerkungen. Ich will versuchen, es euch zu erklären.

Alle sind am Stöhnen. Sobald die Weihnachtsdeko in den Läden auftaucht, fangen alle an zu jammern: über die Kälte, die Dunkelheit, über ihre Verwandten, ihre Partner, über die Scheißweihnachtszeit. Aber das sind Lügen. Eigentlich lieben sie Weihnachten. Sonst wüssten sie ja nicht, worüber sie reden oder was sie tun sollten. Sie tun bloß so – das ist so vorhersehbar wie falsch. Sie haben keine Ahnung, was Winter wirklich bedeutet. Für Menschen wie mich.

Stellt euch vor, ihr steht an einem Strand und seht eine große schwarze Wolke auf euch zukommen. So eine dunkle Wolke habt ihr noch nie gesehen, sie ist riesig, und sie treibt auf euch zu. Nicht schnell, denn ihr sollt sie kommen sehen, den Horror erwarten, aber sie bewegt sich. Meter um Meter, Meile um Meile. Und sie wird dich einholen.

Du siehst die Sonne hinter den Sturmwolken verschwinden. Kurz darauf fühlst du die ersten Regentropfen, und der Wind wird stärker und zerrt an dir. Dir ist kalt, bis in die Knochen. Es fühlt sich an, als wären die schönen, guten, warmen Dinge auf der Welt für immer verloren. Und jetzt steht die Wolke über dir, umhüllt dich, nimmt dich mit. Es gibt keinen Ausweg mehr. Selbst wenn du noch wegrennen wolltest, du wüsstest nicht, wohin. Du bist machtlos. Kannst dich nicht mehr bewegen. Also bleibst du sitzen. Tust nichts. Hoffst auf nichts.

Sie krallt sich an dir fest, nimmt dir Licht, Hoffnung, Wärme. Tag um Tag. Aber du gewöhnst dich nie daran. Tag und Nacht lassen sich kaum noch unterscheiden. Das Leben scheint sich ewig vor dir auszudehnen – und ist absolut sinnlos. Du willst dich umbringen, hast aber keine Energie dazu. Du bist auf ewig verloren, streifst durch die Gegend und kommst immer wieder am selben Punkt an. Und keiner ist bei dir, keiner bringt dich in Sicherheit. Du bist allein. DU BIST VERLOREN.

SO fühlt sich der Winter für mich an.

Aber dieser wird anders. Viel schlimmer und viel besser. Dieses Jahr nehme ich das Leben in die Hand. Und die Engel sind auf meiner Seite. Ich habe gesehen, was im Internet über das Feuer in Millbrook gesagt wurde, alle fanden es grauenhaft, hässlich, abscheulich. Ich nicht. Ich fand es wunderschön.

14

«Alle sind da, fangen wir an.»

Erst acht Uhr, aber die Ermittlungszentrale war voll besetzt. Tatortfotos der drei Brände hingen an den Wänden, Datenspezialisten waren damit beschäftigt, die vielen Stunden Filmmaterial –  sowohl von der Polizei als auch von Passanten – zu sichten und zu ordnen. Die meisten der Anwesenden waren die halbe Nacht auf den Beinen gewesen, trotzdem hatten sich alle, wie von Helen erbeten, pünktlich eingefunden.

«Ich habe noch keine genaueren kriminaltechnischen Ergebnisse für euch», fuhr Helen fort, «aber wir gehen in allen drei Fällen von Brandstiftung aus. Im Erdgeschoss der Simms’ und in der Holzhandlung roch es stark nach Petroleum. Sowohl Thomas Simms als auch Dominic Travell haben bestätigt, dass sie kein Petroleum gelagert haben. Das gilt vermutlich auch für Bertrand’s Antiques Emporium, und damit lässt sich schlussfolgern, dass alle drei Brände von einer oder mehreren Personen absichtlich gelegt wurden. Bei Travell’s waren die Überwachungskameras abgeschaltet, bei Bertrand’s und natürlich auch in dem Wohnhaus in Millbrook gibt es keine. Wir werden noch sehen, ob die öffentlichen Kameras irgendetwas aufgezeichnet haben, aber um die Zeit war einiges los, weil die Pubs gerade zumachten. Da das Feuer heftig und lange gewütet hat, sind eventuell vom Täter zurückgelassene Spuren – DNA, Fasern – wahrscheinlich alle zerstört worden, außerdem war der Boden gefroren, sodass wir keine Reifenspuren oder Fußabdrücke finden konnten. Was bedeutet, wir müssen auf altbewährte Detektivmethoden zurückgreifen. Ich werde so viele Streifenbeamte wie möglich anfordern, die die gesamte Umgebung abklappern sollen. Vielleicht ist irgendwem etwas Verdächtiges aufgefallen. DC Edwards, können Sie das für mich organisieren?»

«Ja, Ma’am.»

«Falls sich etwas ergibt, sagen Sie sofort Bescheid. Irgendwer hat gestern Nacht drei Großbrände gelegt und ist entwischt. Der Tod von Karen Simms könnte ein Schock für den Täter sein, vielleicht fühlt er sich aber auch übermächtig und ist aufgedreht. Er soll auf jeden Fall wissen, dass wir auf der Suche nach ihm die ganze Stadt auseinandernehmen. Also zeigt euch und macht Lärm.»

«Wir tun unser Bestes.»

«DC Lucas, Sie übernehmen bitte die Datenbank. Schauen Sie nach, ob in letzter Zeit Brandstifter aktiv gewesen sind.»

«Wird gemacht.»

Helen legte die Akte beiseite.

«Brandstiftung. Welche möglichen Motive gibt es?»

«Ein anderes Verbrechen soll verdeckt werden?», schlug Charlie vor.

«Gut. Was noch?»

«Versicherungsbetrug», meldete sich DC Edwards zu Wort.

«Weiter?»

«Rache. An einem Ex oder einem untreuen Partner.»

«Oder der Nervenkitzel beim Anblick des Feuers?», sagte Sanderson.

«Es gibt Menschen, die durch Feuer sexuell erregt werden, sie empfinden ein Gefühl von Macht. Also müssen wir auch Pyromanie auf die Liste setzen», erwiderte Helen.

«Was ist, wenn es was mit Southampton zu tun hat? Wenn sich jemand irgendwie im Stich gelassen fühlt? Von den Menschen oder der Stadt?»

Helen nickte, aber bevor sie antworten konnte, meldete sich DC McAndrew zu Wort:

«Könnte es ein finanzielles Motiv sein? Es sind zwei Gewerbegebäude abgebrannt. Und Thomas Simms hat eine Import-Export-Firma. Kann es da eine Verbindung geben?»

«Das ist sicherlich möglich. Da uns im Moment noch konkrete Hinweise auf das Motiv fehlen, müssen wir uns erst mal auf die Opfer konzentrieren», erwiderte Helen. «Warum wurden sie ausgewählt? Was verbindet die drei Anschläge? Nehmt die Opfer unter die Lupe, ihre Partner, Angehörigen, Kollegen, Liebhaber. Schaut euch die Geschäftslage an, die Konten, Erfolge oder Misserfolge. McAndrew, das koordinieren Sie bitte, und widmen Sie den Simms besondere Aufmerksamkeit. Möglicherweise waren sie das eigentliche Ziel.»

Helen hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr.

«Dreht jeden Stein um. Es gibt einen Grund, warum diese drei Orte ausgesucht wurden. Es ist euer Job, ihn zu finden.»

15

Die Ruine dessen, was bis gestern das Zuhause der Simms gewesen war, wirkte bei Tageslicht noch düsterer. Eine leere Hülle, ein Schädel – ohne Augen, Haut und Fleisch. Als Helen eintraf, war Deborah Parks, die Brandermittlerin, schon bei der Arbeit. Helen kannte Deborah schon lange als fähige und clevere Kollegin. Hoffentlich konnte sie ihnen irgendeinen Hinweis geben in diesem mit Spuren alles andere als gesegneten Fall.

Deborah war eine attraktive, intelligente Brünette, aber in ihrem Anzug, mit Schutzbrille und Maske ausstaffiert, ähnelte sie eher einem Cyborg. Mit größter Sorgfalt durchsuchte sie die Trümmer und durchsiebte die Asche nach möglichen Beweisen. Helen zog sich ebenfalls einen Schutzanzug an, dann gingen sie, an der Hintertür beginnend, gemeinsam den Brandort ab.

«Ich denke auch, dass der Täter durch diese Tür ins Haus gekommen ist», sagte Deborah auf ihre übliche direkte Art. «Das Loch im Glas ist nicht durch das Feuer verursacht worden. Hat Meredith schon irgendwas Nützliches an der Außenseite der Tür gefunden?»

«Bisher nicht. Wir hatten auf einen Fingerabdruck oder so was gehofft, aber …»

«Ich bin fast durch, sie kann also gerne drinnen ihr Glück versuchen. Das Haus ist jetzt abgestützt und sicher.»

«Ich sag’s ihr.»

«Ich würde vermuten», fuhr Deborah fort, «dass unser Brandstifter als Nächstes hierhergegangen ist.»

Sie standen vor der zerstörten Treppe, und Deborah zeigte auf etwas, das darunterstand und einst ein kleiner Schrank gewesen sein mochte. Als Helen sich bückte, stieg ihr sofort der strenge Geruch von Petroleum in die Nase.

«Das Feuer ist direkt unter der Treppe ausgebrochen. Sonst sind im ganzen Haus keine Spuren von Petroleum zu finden, und sieh dir das mal an.»

Helen folgte mit dem Blick Deborahs ausgestrecktem Zeigefinger bis zu einer kleinen, schwarzen, zerknüllten Schachtel, die in der Asche auf dem Boden lag.

«Das ist eine verkohlte Zigarettenpackung. Damit wurde das Feuer entzündet, danach hat es sich nach oben ausgebreitet, wie Feuer es immer tut, weswegen die Packung zwar verbrannt ist, aber nicht zerstört wurde.»

«Warum benutzt man eine Zigarettenschachtel und kein Streichholz oder Feuerzeug?», erwiderte Helen.

«Sieh genauer hin. Die Schachtel wurde mit etwas umwickelt, das in der Hitze geschmolzen und jetzt eingebrannt ist. Ich tippe auf ein Gummiband. Ein typischer Brandstiftertrick. Man legt den Brandbeschleuniger aus, dann nimmt man eine Zigarette und befestigt sie mit einem Gummiband an der Schachtel, zur Sicherheit klemmt man auch noch ein paar Streichhölzer fest. Man legt die Schachtel auf den Brandbeschleuniger und zündet die Zigarette an. Die brennt bis zu den Streichhölzern runter und löst eine Flamme aus –»

«Die den Brandbeschleuniger entzündet.»

«Genau.»

«Und wie lange dauert es, bis eine Zigarette bis zu den Streichhölzern runtergebrannt ist?»

«Zehn bis fünfzehn Minuten.»

«Was unserem Brandstifter jede Menge Zeit gibt zu verschwinden, bevor das Feuer ausbricht.»

Deborah nickte. Helen dachte über diese Informationen nach, die Sorgfalt und Intelligenz des Täters machten ihr zu schaffen. Deborah fuhr fort:

«Im Schrank lagen alte Pappkartons, ein paar Besen und anderer Müll – idealer Brennstoff. Wenn die Schranktür geschlossen war, dann ist die Temperatur innen schnell angestiegen. Über den Flammen sind heiße Gase entstanden, die sich bei einer bestimmten Temperatur ebenfalls entzündet und einen Feuersprung ausgelöst haben. Die Treppe ist aus über hundertfünfzig Jahre altem Holz …»

«Und hat gebrannt wie Zunder. Und bevor irgendwer etwas mitbekommen hatte, war der Fluchtweg abgeschnitten.»

Der Fall nahm immer unschönere Züge an. Die Simms waren vorsätzlich in Todesgefahr gebracht worden.

«Gibt es noch andere Möglichkeiten?» Helen hoffte eher darauf, als dass sie welche erwartete.

«Nein. Unter der Treppe laufen keine elektrischen Leitungen, und das Petroleum ist eindeutig auf dem Boden ausgeschüttet worden. Das war weder ein Unfall noch Vandalismus, das war Mord.»

Helen nickte. «Was könnte hinter einem solch kalkulierten Mordversuch stehen? Deiner Erfahrung nach?»

«Na ja, wenn es nach Unfall hätte aussehen sollen, dann hätte man das Feuer vielleicht am Sicherungskasten oder in der Küche ausbrechen lassen, da finden sich haufenweise Dinge, die in Brand geraten können. Aber das interessiert den Täter nicht. Er oder sie will alle wissen lassen, dass es sich um Brandstiftung handelt. Vielleicht geht es ihm genau darum.»

«Also ist es eine Tat aus Hass? Rache für irgendwas?»

«Könnte sein. Wenn ich eine Wette abschließen müsste, würde ich sagen, die Familie kannte den Brandstifter. War mit ihm aneinandergeraten, hat ihm vielleicht irgendwann mal unrecht getan.»

Deborah Parks hielt kurz inne und führte ihren Gedanken dann zu Ende.

«Das ist was Persönliches.»

16

Luke Simms wirkte völlig gebrochen. Seinem Vater zuliebe riss er sich zusammen und beantwortete geduldig und höflich Charlies Fragen, aber sein Blick sprach eine andere Sprache. Er lag mit eingegipsten Beinen im Bett und schien an Charlie vorbei irgendeinen Punkt an der Wand anzustarren, als könnte er immer noch nicht begreifen, was eigentlich passiert war.

Luke wurde allgemein als intelligenter, vielversprechender Junge beschrieben. Er besuchte die St. Michael’s Secondary, eine angesehene Privatschule in Millbrook. Dort bereitete er sich auf seine A-Levels in Mathematik, Biologie und Sportwissenschaft vor, doch sein Traum war es, Fußballspieler zu werden. Er trainierte fünf Mal die Woche und war Stammspieler in einem halbprofessionellen Team. Schon zwei Mal war er bei den Scouts zum Probetraining gewesen und hegte wie viele Jungen aus der Gegend die Hoffnung, eines Tages für den FC Southampton zu spielen. Aber mit diesem Traum schien es vorbei zu sein.