D.I. Grace: Schwarzes Herz - Matthew J. Arlidge - E-Book
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D.I. Grace: Schwarzes Herz E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Der Schein trügt Die ganze Nacht hat Eileen Matthews auf ihren Mann gewartet. Vergeblich. Mit wachsender Sorge. Denn Alan – ein liebevoller Vater, in der Kirche aktiv, allseits geschätzt – ist noch nie fortgeblieben. Als es frühmorgens endlich klingelt, liegt nur ein Päckchen vor der Haustür. Es enthält ein menschliches Herz. Alans Herz. D.I. Helen Grace und ihr Team finden seine verstümmelte Leiche in einem leer stehenden Haus in Southamptons Rotlichtbezirk. Doch was wollte Alan dort? Als ein weiterer Mann ermordet aufgefunden wird, das Herz herausgerissen, wird Helen klar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hat. Und dass die toten Männer vielleicht nicht ganz so unbescholten waren, wie es nach außen den Anschein hatte … «Helen Grace ist eine der großartigsten Heldinnen seit Jahren.» (Jeffery Deaver)

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Seitenzahl: 412

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M. J. Arlidge

D.I. Grace Schwarzes Herz

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Der Schein trügt

Die ganze Nacht hat Eileen Matthews auf ihren Mann gewartet. Vergeblich. Mit wachsender Sorge. Denn Alan – ein liebevoller Vater, in der Kirche aktiv, allseits geschätzt – ist noch nie fortgeblieben. Als es früh morgens endlich klingelt, liegt nur ein Päckchen vor der Haustür. Es enthält ein menschliches Herz. Alans Herz.

D.I. Helen Grace und ihr Team finden seine verstümmelte Leiche in einem leer stehenden Haus in Southamptons Rotlichtbezirk. Doch was wollte Alan dort? Als ein weiterer Mann ermordet aufgefunden wird, das Herz herausgerissen, wird Helen kar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hat. Und dass die toten Männer vielleicht nicht ganz so unbescholten waren, wie es nach außen den Anschein hatte …

«Helen Grace ist eine der großartigsten Heldinnen seit Jahren.» (Jeffery Deaver)

Über M. J. Arlidge

M.J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit einigen Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist.

 

Weitere Veröffentlichungen

D.I. Grace: Einer lebt. Einer stirbt

D.I. Grace: Kalter Ort

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel102. Kapitel103. Kapitel104. Kapitel105. Kapitel106. Kapitel107. Kapitel108. Kapitel109. Kapitel110. Kapitel111. Kapitel112. Kapitel113. Kapitel114. Kapitel115. Kapitel116. Kapitel117. Kapitel118. Kapitel119. KapitelEpilog120. Kapitel121. KapitelLeseprobe1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelPressestimmen zur Helen-Grace-Reihe: ...

1

Der Nebel kroch vom Meer herein und legte sich über die Stadt. Wie eine einfallende Armee rollte er heran, verschlang Orientierungspunkte, vertrieb das Mondlicht, machte Southampton zu einem seltsamen und unheimlichen Ort.

Im Gewerbegebiet Empress Road war es still wie im Grab. Die Werkstätten hatten geschlossen, die Mechaniker und Supermarktangestellten waren gegangen, jetzt war die Stunde der Strichmädchen. Bekleidet nur mit kurzen Röcken und engen Tops, sogen sie zur Abwehr der Eiseskälte die größtmögliche Wärme aus ihren Zigaretten. Stelzten auf und ab und gaben ihr Bestes, um sich an den Mann zu bringen. Doch in der Düsternis erinnerten sie eher an gespenstische Skelette als an Objekte der Begierde.

Der Mann fuhr langsam, suchte die Reihe dieser halbnackten Junkies ab. Begutachtete die Ware – gelegentlich gab es einen kurzen Moment des Wiedererkennens – und entschied sich dagegen. Was er suchte, war nicht im Angebot. Heute Abend stand ihm der Sinn nach etwas Besonderem.

Hoffnung mischte sich mit Angst und Frustration. Tagelang hatte er an nichts anderes gedacht. Er war so dicht davor, aber was, wenn alles nur eine Lüge wäre? Ein urbaner Mythos? Er schlug hart gegen das Lenkrad. Sie musste da sein.

Nichts. Nichts. Ni–

Da war sie. Stand allein an eine graffitibeschmierte Wand gelehnt. Der Mann war plötzlich ganz aufgeregt. Die war wirklich anders. Sie starrte nicht auf ihre Nägel, auch rauchte sie nicht oder tratschte. Sie wartete einfach nur. Wartete auf das, was kommen würde.

Er bog von der Straße ab und parkte das Auto außer Sichtweite neben einem Maschendrahtzaun. Er musste vorsichtig sein, durfte nichts dem Zufall überlassen. Blickte die Straße hinunter, aber der Nebel hatte alles Leben ausgesperrt. Es war, als gäbe es auf der Welt nur noch sie und ihn.

Er ging auf sie zu, zügelte sich, verlangsamte seine Schritte. Bloß nichts überstürzen, das hier galt es zu genießen und auszukosten. Manchmal war die Vorfreude besser als der Akt selbst, wie die Erfahrung ihn gelehrt hatte. Er würde sich Zeit lassen. In den kommenden Tagen würde er sich an seinen Erinnerungen erfreuen, die so detailliert sein sollten wie möglich.

Sie stand vor einer Reihe leerer Häuser. Niemand wollte in diesen verlassenen und verfallenen Gebäuden noch wohnen. Crackhöhlen und Pennerbuden, in denen dreckige Nadeln und noch dreckigere Matratzen verstreut lagen. Als er die Straße überquerte, sah das Mädchen auf, betrachtete ihn durch einen dicken Pony. Wortlos stieß sie sich von der Wand ab, deutete mit einem Kopfnicken auf das nächststehende Haus und ging hinein. Keine Verhandlung, kein Geplänkel. Als wäre sie ihrem Schicksal ergeben. Als wüsste sie es.

Der Mann beeilte sich, ihr zu folgen, sog ihren Hintern, ihre Beine, ihre Absätze mit Blicken ein, seine Erregung wuchs mit jedem Schritt. Als sie in der Dunkelheit verschwand, ging er schneller. Er konnte nicht länger warten.

Als er das Haus betrat, knarrten laut die Dielen. Alles war genau so, wie er es sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte. Ein übermächtiger Geruch von Feuchtigkeit stieg ihm in die Nase – überall Fäule. Er eilte ins Wohnzimmer, jetzt eine Müllkippe für abgelegte Stringtangas und benutzte Kondome. Sie war nicht zu sehen. Aha, sie will also Verstecken spielen, ja?

Die Küche. Leer. Er wandte sich um und stieg die Treppe hoch. Bei jedem Schritt sah er sich nach allen Seiten um, suchte seine Beute.

Oben ging er ins vordere Schlafzimmer. Ein verschimmeltes Bett, ein kaputtes Fenster, eine tote Taube. Aber keine Spur von dem Mädchen.

Jetzt mischte sich Wut in sein Verlangen. Was bildete die sich ein, so ein Spielchen mit ihm zu treiben? Sie war eine gewöhnliche Nutte. Hundescheiße unter seinem Schuh. Sie würde dafür leiden müssen, ihn so zu behandeln.

Er stieß die Badezimmertür auf – nichts –, drehte sich um und ging ins zweite Schlafzimmer. Er würde ihr die blöde Fresse einschla–

Plötzlich wurde sein Kopf zurückgerissen. Schmerz durchfuhr ihn, sein Haar wurde mit aller Kraft gepackt, der Kopf zurückgezogen, zurück, zurück. Er bekam keine Luft mehr, auf Mund und Nase war ein Lappen gepresst. Ein scharfer, beißender Geruch fuhr ihm in die Nase, und viel zu spät schaltete sich sein Instinkt ein. Er kämpfte um sein Leben, verlor aber bereits das Bewusstsein. Alles wurde schwarz.

2

Sie blickten sie gebannt an. Hingen an ihren Lippen.

«Die Leiche einer weißen Frau im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren. Sie wurde gestern Morgen von jemandem vom Ordnungsamt im Kofferraum eines verlassenen Wagens in Greenwood gefunden.»

Die Stimme von Detective Inspector Helen Grace war klar und fest, trotz des Knotens der Anspannung in ihrem Magen. Im siebten Stock der Southampton Central Police Station informierte sie ihr Ermittlerteam.

«Wie ihr auf den Bildern sehen könnt, wurden ihr die Zähne eingeschlagen, vermutlich mit einem Hammer, und beide Hände abgetrennt. Sie ist stark tätowiert, was bei der Identifizierung helfen könnte, und ihr solltet euch zunächst auf Drogen und Prostitution konzentrieren. Das sieht nach einer Hinrichtung im Bandenmilieu aus, nicht nach einem Nullachtfünfzehn-Mord. DS Bridges wird in diesem Fall die Leitung übernehmen und euch über Personen informieren, denen unser besonderes Interesse gilt. Tony?»

«Danke, Ma’am. Als Allererstes möchte ich mir Vergleichsfälle ansehen …»

Während Bridges seine Arbeit aufnahm, entwischte Helen. Sie ertrug es immer noch nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, des Klatsches und der Neugier zu stehen. Fast ein Jahr war vergangen, seit sie Mariannes grauenhafter Mordserie ein Ende gesetzt hatte, aber das Interesse an Helen hatte nicht nachgelassen. Eine Serienmörderin zu fassen, war beeindruckend genug, aber dabei die eigene Schwester zu erschießen, war ein richtig dickes Ding. In den Wochen und Monaten danach hatten Freunde, Kollegen, Journalisten und Fremde Mitgefühl gezeigt und Unterstützung angeboten. Aber das meiste davon war nicht echt – eigentlich wollten alle nur die schrecklichen Einzelheiten hören. Wollten Helen aufbrechen und ihr Inneres auseinanderfleddern. Wie fühlt es sich an, die eigene Schwester zu erschießen? Hat Ihr Vater Sie missbraucht? Fühlen Sie sich schuldig an all den Todesfällen? Fühlen Sie sich verantwortlich?

Helen hatte ihr gesamtes Erwachsenenleben lang eine hohe Mauer um sich herum errichtet – sogar der Name Helen Grace war erfunden –, aber dank Marianne war diese Mauer für alle Zeiten zerstört. Zuerst hatte Helen an Flucht gedacht – man hatte ihr Beurlaubung, Versetzung, sogar Frühpensionierung angeboten –, aber irgendwie hatte sie sich in den Griff bekommen und, sobald sie durfte, ihren Dienst am Southampton Central wieder aufgenommen. Sie wusste, dass die Blicke der Welt ihr immer folgen würden. Es war besser, das auf heimischem Grund und Boden über sich ergehen zu lassen, wo das Leben viele Jahre lang gut zu ihr gewesen war.

So weit die Theorie, aber es war alles andere als einfach gewesen. Es gab hier so viele Erinnerungen – an Mark, an Charlie – und so viele Menschen, die sie auf die Probe stellten, wild spekulierten oder über das Erlittene sogar Witze rissen. Selbst jetzt noch, Monate nach ihrer Rückkehr, musste sie manchmal einfach weg.

«Gute Nacht, Ma’am.»

Helen schreckte auf, wäre in Gedanken versunken fast an dem diensthabenden Polizisten vorbeigelaufen.

«Gute Nacht, Harry. Hoffentlich denken die Saints heute Abend daran, für Sie zu gewinnen.»

Ihr Tonfall war fröhlich, aber die Worte klangen seltsam, als würde die erzwungene Heiterkeit sie überfordern. Sie eilte nach draußen zu ihrer Kawasaki, gab Gas und fuhr die West Quay Road entlang. Der Seenebel, der vorhin herangerollt war, hing immer noch in der Stadt, und Helen verschwand darin.

Mit hoher, konstanter Geschwindigkeit glitt sie an dem in Richtung St. Mary’s-Stadion kriechenden Verkehr vorbei. Hinter den Vororten der Stadt bog sie auf die Autobahn ab. Aus alter Gewohnheit sah sie immer wieder in die Rückspiegel, aber niemand folgte ihr. Als der Verkehr nachließ, drückte sie aufs Gas. Bei 80 Meilen in der Stunde wartete sie kurz, erhöhte dann auf 90. Immer wenn sie schnell fuhr, fühlte sie sich leicht und frei.

Die Orte flogen vorbei. Winchester, Farnborough, schließlich kam Aldershot in Sicht. Noch ein schneller Blick in die Spiegel und hinein ins Stadtzentrum. Sie stellte das Motorrad im Parkway NCP ab, wich einer Gruppe betrunkener Soldaten aus und huschte im Schutz der Schatten davon. Auch wenn niemand sie hier kannte, durfte sie kein Risiko eingehen.

Sie lief am Bahnhof vorbei und erreichte wenig später die Cole Avenue. Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat, aber es zog sie immer wieder hierher. Im Gebüsch am Straßenrand nahm sie ihren üblichen Beobachtungsposten ein.

Die Zeit schien stillzustehen. Helen knurrte der Magen, ihr fiel ein, dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Wirklich dämlich, sie wurde jeden Tag dünner. Was wollte sie sich beweisen? Es gab bessere Arten der Buße, als sich zu Tode zu hungern.

Plötzlich Bewegung. Ein «Tschüss», dann fiel die Tür von Nummer 14 ins Schloss. Helen duckte sich. Sie ließ den jungen Mann nicht aus den Augen, der jetzt die Straße entlanglief und auf seinem Handy herumtippte. In weniger als drei Metern Entfernung kam er an Helen vorbei, ohne von ihr zu ahnen, und verschwand um die Ecke. Helen zählte bis fünfzehn, dann verließ sie ihr Versteck und nahm die Verfolgung auf.

Der Mann – ein jungenhafter Mittzwanziger – sah gut aus, hatte dichtes, dunkles Haar und ein rundes Gesicht. Lässig angezogen, die Jeans auf dem Hintern hängend, sah er aus wie so viele junge Männer, die unbedingt cool und desinteressiert rüberkommen wollten. Die Lässigkeit wirkte so einstudiert, dass Helen grinsen musste. Vor der Railway Tavern kam ein Rudel lärmender Jungs in Sicht. 2 Pfund das Pint, 50 Pence der Shot und Billard umsonst, ein Paradies für alle, die jung, pleite oder zwielichtig waren. Der ältliche Betreiber versorgte bereitwillig jeden, der auch nur halbwegs die Pubertät erreicht hatte, daher war es immer brechend voll, und die Gäste standen bis hinaus auf die Straße. Helen war froh über den Auflauf, schlüpfte in die Menge und setzte ihre Beobachtungen unbemerkt fort. Das Rudel begrüßte den jungen Mann jubelnd, als er mit einem 20-Pfund-Schein wedelte. Sie drängten in den Pub, Helen folgte ihnen. Geduldig in der Schlange an der Bar wartend, war sie für sie unsichtbar – in ihrer Welt existierte keiner über dreißig.

Einige Drinks später verließ die Gruppe den Pub und machte sich auf den Weg zu einem Kinderspielplatz in der Nähe. Der schäbige Stadtpark lag verlassen da, und Helen folgte den Männern mit Vorsicht. Jede Frau, die nachts alleine in einem Park unterwegs ist, fällt zwangsläufig auf, also blieb Helen ein Stück zurück. Sie fand eine alte, von eingeritzten Liebesschwüren schwer beschädigte Eiche und hielt sich in ihrem Schatten. Von hier aus konnte sie den jungen Männern ungestört beim Kiffen zusehen, die trotz der Kälte glücklich und sorglos wirkten.

Helen hatte ihr ganzes Leben lang unter Beobachtung gestanden, aber hier war sie unsichtbar. Nach Mariannes Tod war ihr Leben auseinandergepflückt, dem öffentlichen Interesse preisgegeben worden. Und jetzt glaubten die Leute, sie würden sie in- und auswendig kennen.

Aber eines wussten sie nicht. Ein Geheimnis hatte sie sich bewahrt.

Und das stand jetzt fünfzehn Meter von ihr entfernt und ahnte nichts von ihrer Existenz.

3

Er blinzelte, konnte aber nichts sehen.

Flüssigkeit lief ihm über die Wangen, während die Augäpfel sich vergeblich in den Höhlen drehten. Jedes Geräusch war schrecklich gedämpft, als hätte man ihm Watte in die Ohren gestopft. Der Mann kämpfte um sein Bewusstsein und fühlte, wie ein schrecklicher Schmerz ihm Kehle und Nase zerriss. Ein starkes Brennen, als hielte jemand eine Flamme an seinen Kehlkopf. Er wollte niesen, würgen, ausspucken, was immer ihm diese Qualen bereitete. Aber er war geknebelt, sein Mund fest mit Isolierband verklebt, und so blieb ihm nur, den Schmerz herunterzuschlucken.

Schließlich ebbte der Tränenfluss ab, und seine Augen nahmen widerstrebend die Umgebung wahr. Er befand sich immer noch in dem verfallenen Haus, aber jetzt im vorderen Schlafzimmer, lag ausgestreckt auf dem schmutzigen Bett. Seine Nerven spielten verrückt, er kämpfte heftig, er musste hier weg, aber Arme und Beine waren fest an das eiserne Bettgestell gefesselt. Sosehr er zerrte, zog und sich wand, das Nylonseil hielt.

Erst jetzt merkte er, dass er nackt war. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. Würde man ihn hier so liegen lassen? Sollte er erfrieren? Seine Haut war bereits in Verteidigungsstellung gegangen – eine Gänsehaut vor Kälte und Todesangst.

Er schrie um sein Leben – und brachte nur ein dumpfes, brummendes Stöhnen heraus. Wenn er nur mit ihnen reden könnte, vernünftig reden … Er könnte ihnen Geld besorgen, dann würden sie ihn laufenlassen. Sie konnten ihn doch nicht einfach so hier liegen lassen. Scham mischte sich mit Angst, als er seinen aufgedunsenen, nicht mehr jungen Körper ausgestreckt auf dem verdreckten Bett betrachtete.

Er lauschte angestrengt, hoffte wider alle Vernunft, dass er nicht allein wäre. Aber er hörte nichts. Sie hatten ihn zurückgelassen. Wie lange würde er hier liegen müssen? Bis sie seine Konten geplündert hatten? Bis sie geflohen waren? Der Mann zitterte, fürchtete, mit einem Junkie oder einer Nutte um seine Freiheit feilschen zu müssen. Was sollte er tun, wenn er wieder frei war? Was sollte er seiner Familie sagen? Der Polizei? Er verfluchte sich dafür, so ein bescheuerter Idi–

Eine Diele knarrte. Also war er doch nicht allein. Hoffnung kam in ihm auf – vielleicht konnte er jetzt herausfinden, was sie wollten. Er verrenkte den Hals, um mit seinen Angreifern Blickkontakt aufzunehmen, aber sie kamen von hinten und blieben außer Sicht. Ihm fiel plötzlich auf, dass das Bett, auf dem er lag, mitten in den Raum geschoben worden war, wie auf einer Bühne. Niemand würde so auf dem Ding schlafen wollen, warum also …?

Ein Schatten fiel auf ihn. Bevor er reagieren konnte, wurde ihm etwas über die Augen, die Nase, den Mund gezogen. Irgendeine Haube. Er fühlte den weichen Stoff auf dem Gesicht, das Straffen der Kordel. Sofort japste er nach Luft, der dicke Samtstoff legte sich schwer auf seine Nasenlöcher. Der Mann drehte wild den Kopf hin und her, versuchte verzweifelt, sich eine kleine Falte zum Atmen zu erkämpfen. Er erwartete jede Sekunde, dass die Kordel noch straffer gezogen werden würde, aber zu seiner Überraschung geschah das nicht.

Was jetzt? Alles war wieder still, bis auf seine eigenen keuchenden Atemzüge. Unter der Haube wurde es warm. Kam Luft durch das Gewebe? Er zwang sich, langsam zu atmen. Wenn er jetzt in Panik verfiel, würde er nur hyperventilieren, und dann …

Plötzlich zuckte er zusammen, seine Nerven rissen fast. Etwas Kaltes hatte sich auf sein Bein gelegt. Etwas Hartes. Etwas Metallisches? Ein Messer? Jetzt rutschte es an seinem Bein hoch, in Richtung … Der Mann bäumte sich wild auf, zerrte sich die Muskeln, als er an seinen Fesseln riss. Er wusste jetzt, dass es um Leben und Tod ging.

Er schrie mit aller Kraft. Aber das Klebeband hielt. Die Fesseln gaben nicht nach. Und es war niemand da, der seine Schreie hörte.

4

«Arbeit oder Vergnügen?»

Helen fuhr herum, ihr Herz klopfte wild. Sie hatte gedacht, in dem dunklen Treppenhaus allein zu sein. Die Irritation mischte sich mit einem kurzen Aufflackern von Angst … aber es war nur James, der in seiner Wohnungstür stand. Er war vor drei Monaten in die Wohnung unter ihr eingezogen und als leitende Pflegekraft am South Hants Hospital mit Schichtdienst zu den seltsamsten Zeiten anzutreffen.

«Arbeit», log Helen. «Und du?»

«Arbeit, von der ich annahm, sie würde zum Vergnügen werden. Aber … sie hat gerade ein Taxi genommen.»

«Schade.»

James zuckte die Schultern und zeigte sein schiefes Lächeln. Er war Ende dreißig, auf verlotterte Weise gutaussehend und versprühte einen lockeren Charme, der bei jüngeren Krankenschwestern ankam.

«Geschmack lässt sich nicht ändern», fuhr er fort. «Ich dachte, sie mag mich, aber ich konnte die Signale noch nie deuten.»

«Ach was?», sagte Helen und glaubte ihm kein Wort.

«Na ja, hast du Lust auf Gesellschaft? Ich habe eine Flasche Wein, die … Tee, ich habe Tee …», sagte er, gerade noch die Kurve kriegend.

Bis zu dem Moment wäre Helen fast versucht gewesen. Aber jetzt ärgerte sie sich. James war wie all die anderen – er wusste, dass sie nicht trank, dass sie Tee lieber als Kaffee mochte, dass sie eine Mörderin war. Noch ein Voyeur, der das Drama ihres Lebens begaffen wollte.

«Eigentlich gerne», log sie wieder, «aber ich muss vor der nächsten Schicht noch einen Haufen Akten durchackern.»

James lächelte und verbeugte sich, aber er wusste, was los war. Und er wusste auch, dass es besser war, keinen Druck zu machen. Mit unverhohlener Neugier sah er Helen nach, als sie die letzten Stufen zu ihrer Wohnung hochsprang. Unmissverständlich schloss sich die Tür hinter ihr.

 

Die Uhr zeigte fünf Uhr morgens. Auf ihrem Sofa zusammengerollt, trank Helen einen Schluck Tee und fuhr den Laptop hoch. Die Müdigkeit machte sich langsam bemerkbar, aber bevor sie schlafen konnte, hatte Helen noch einiges zu tun. Ihr Computer war aufwendig gesichert – eine undurchdringliche Wand um die Reste ihres Privatlebens –, und Helen ließ sich Zeit, genoss den komplizierten Prozess, Passwörter einzugeben und digitale Schlösser zu entsperren.

Sie öffnete die Datei «Robert Stonehill». Der junge Mann, den sie beschattete, ahnte nichts von ihrer Existenz, aber sie wusste alles über ihn. Helen fing an zu tippen, gab dem langsam wachsenden Profil Fleisch, fügte kleine Details über Roberts Charakter und Persönlichkeit hinzu, die sie aus der letzten Überwachung gewonnen hatte. Der Junge war intelligent – das merkte man sofort. Er hatte Humor, zwar war jedes zweite Wort ein Schimpfwort, doch er verfügte über Witz und ein gewinnendes Lächeln. Er schaffte es immer, dass andere das taten, was er wollte. Nie stellte er sich in der Schlange an der Bar an – immer bekam er es hin, dass irgendwer anders ihm einen Drink besorgte, während er mit Davey herumalberte, dem untersetzten Anführer der Gruppe.

Robert schien immer genug Geld zu haben, was bei seinem Job als Regalpacker in einem Supermarkt seltsam war. Woher bekam er das Geld? Diebstahl? Schlimmeres? Oder verwöhnten ihn seine Eltern? Er war das einzige Kind von Monica und Adam, der Mittelpunkt ihres Lebens, und Helen wusste, dass er sie um den kleinen Finger wickeln konnte. Steckten sie ihm immer wieder Geld zu?

Und ständig wimmelten Mädchen um ihn herum. Er war attraktiv, aber er hatte keine feste Freundin. Das interessierte Helen am meisten. War er hetero oder schwul? Vertrauensvoll oder misstrauisch? Wen ließ er an sich heran? Auf diese Fragen kannte Helen die Antworten noch nicht, war aber sicher, sie noch herauszufinden. Langsam und methodisch drang sie in jede Nische von Roberts Leben ein.

Helen gähnte. Sie musste bald wieder im Revier sein, aber noch war Zeit für ein paar Stunden Schlaf, wenn sie jetzt ins Bett ging. Routiniert ließ sie die Verschlüsselungsprogramme des Computers ablaufen, sicherte die Dateien und änderte das Masterpasswort. Das machte sie jetzt jedes Mal, wenn sie den Computer benutzte. Sie wusste, es war übertrieben, sie war paranoid, aber sie wollte nichts dem Zufall überlassen. Robert gehörte ihr, ihr allein. Und so sollte es bleiben.

5

Es dämmerte schon, er musste schnell machen. In ein, zwei Stunden würde die Sonne den dichten Nebel vertrieben haben und die entlarven, die sich darin verborgen hatten. Seine Hände zitterten, seine Gelenke schmerzten, aber er zwang sich weiter.

Das Brecheisen hatte er in einem Werkzeugladen an der Elm Street gestohlen. Der Betreiber des Ladens, ein Inder, war in ein Kricketspiel versunken gewesen, das er auf seinem Tablet schaute, und hatte nicht mitbekommen, wie er die Stange unter seinen langen Mantel gleiten ließ. Das feste, kalte Metall lag gut in der Hand, und er bearbeitete damit mit aller Kraft die rostigen Eisenstangen, die das Fenster schützten. Die erste Stange brach sofort weg, die zweite erforderte größere Mühe, aber schon bald war genug Platz, um sich hindurchzuzwängen. Es wäre einfacher gewesen, sich vorne Eintritt zu verschaffen, aber er wollte nicht riskieren, auf der Straße gesehen zu werden. Er schuldete zu vielen Leuten Geld – Leuten, die ihn einfach nur zum Spaß auseinandergenommen hätten. Also blieb er im Schatten, wie alle Geschöpfe der Nacht.

Er versicherte sich noch einmal, dass die Luft rein war, dann donnerte er das Brecheisen gegen das Fenster, das mit einem befriedigenden Splittern zerbrach. Er wickelte sich ein altes Handtuch um die Hand und drückte den Rest der Scheibe ein, stemmte sich hoch auf das Fensterbrett und schwang sich hinein.

Er landete geschmeidig und hielt inne. Man konnte nie wissen, was einen an solchen Orten erwartete. Alles war still, aber Vorsicht zahlte sich bekanntlich aus, und als er sich vorwärtswagte, hielt er das Brecheisen fest in den Händen. In der Küche war nichts Brauchbares zu finden, also schlich er weiter in die anderen Räume.

Hier sah es schon vielversprechender aus. Liegengelassene Matratzen, alte Kondome und ihre ständigen Begleiter, benutzte Spritzen. Hoffnung mischte sich mit Aufregung. Lieber Gott, lass genug darin übrig sein für einen anständigen Schuss. Schon war er auf Händen und Knien, zog die Kolben heraus, steckte den kleinen Finger in die Kanülen und drehte ihn hastig hin und her, um den letzten Rest Heroin abzuwischen, sein Leiden zu lindern. Nichts in der ersten, nichts in der zweiten – verdammte Scheiße – und ein Fingernagel voll in der dritten. Die ganze Mühe für ein Fingernagel. Gierig verrieb er den Stoff auf seinem Gaumen – das würde erst mal reichen müssen.

Er ließ sich auf die dreckige Matratze sinken und wartete, dass die Betäubung einsetzte. Seine Nerven waren seit Stunden zum Zerreißen angespannt, sein Kopf dröhnte, er wollte –  brauchte – ein bisschen Ruhe. Er schloss die Augen und atmete langsam aus, lockerte seine Muskeln.

Aber irgendwas stimmte nicht. Irgendwas ließ ihn nicht entspannen. Irgendwas war …

Tropf. Das war es. Ein Geräusch. Ein langsames, aber gleichmäßiges Geräusch, das die Stille brach wie ein warnender Trommelschlag.

Tropf. Wo kam das her? Sein Blick flackerte unruhig durch den Raum.

Irgendwas tropfte da hinten in der Zimmerecke. Irgendein Leck? Er schüttelte seine Benommenheit ab und kam mühsam auf die Beine. Es war einen Blick wert, vielleicht sprang ein Kupferrohr dabei raus.

Er ging hinüber, blieb wie angewurzelt stehen. Da war kein Leck. Und kein Wasser. Es war Blut. Tropf, tropf, tropfte es durch die Decke. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon – der Scheiß geht mich doch nichts an –, aber in der Küche hielt er inne. Vielleicht machte er sich zu schnell davon. Schließlich war er bewaffnet, und von oben war kein Lebenszeichen zu hören. Da konnte alles passiert sein. Vielleicht hatte sich jemand umgebracht oder war überfallen, getötet worden, was auch immer. Aber vielleicht konnte er auch Beute machen, und so eine Gelegenheit sollte man nicht verpassen.

Nach kurzem Zögern wandte sich der Dieb um und durchquerte wieder den Raum, schob sich an der gerinnenden Blutlache vorbei auf den Flur zu. Er streckte den Kopf um die Ecke, das Brecheisen erhoben und bereit zuzuschlagen.

Aber es war niemand da. Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf.

Quietsch. Quietsch. Quietsch.

Jeder Schritt kündigte ihn an, er fluchte leise. Sollte doch jemand da sein, wusste der jetzt, dass er im Anmarsch war. Als er oben ankam, packte er das Brecheisen noch etwas fester. Vorsicht ist besser als Nachsicht, deswegen spähte er ins Badezimmer und ins hintere Schlafzimmer hinein – nur ein Amateur lässt den Rücken ungeschützt.

Als er sicher war, dass von hinten kein plötzlicher Angriff zu erwarten war, wandte er sich dem vorderen Schlafzimmer zu. Was immer geschehen war, was immer da sein mochte, war dadrin. Der Dieb atmete tief durch und betrat das dunkle Zimmer.

6

Sie tauchte tiefer und tiefer, das Brackwasser drang in Ohren und Nase. Sie war weit unter der Wasseroberfläche, hatte fast keine Luft mehr, schwamm aber weiter. Seltsame Lichter erleuchteten den Grund des Sees, ließen ihn wunderschön transparent leuchten, lockten sie weiter in die Tiefe.

Sie kämpfte sich durch die wuchernden dicken Algen. Die Sicht war schlecht, das Fortkommen schwer, ihre Lungen am Zerplatzen. Sie hatten doch gesagt, er wäre hier, wo also war er? Da lagen ein verrosteter Kinderwagen, ein alter Einkaufswagen, sogar ein Ölfass, aber keine Spur von …

Plötzlich wusste sie, dass man sie hereingelegt hatte. Er war nicht hier. Sie wandte sich nach oben zur Oberfläche. Aber sie kam nicht weg. Drehte den Kopf und sah, dass ihr linkes Bein in den Algen festhing. Trat und strampelte mit aller Kraft, aber die Algen gaben nicht nach. Schon wurde sie schwächer, konnte nicht viel länger durchhalten, doch sie entspannte ihre Muskeln und ließ sich zu Boden sinken. Lieber mit Ruhe versuchen, sich loszumachen, als sich durch hektische Treterei noch mehr zu verheddern. Sie drückte den Kopf nach unten, wühlte sich durch die klammernden Algen, zog kräftig. Dann hielt sie inne. Und schrie – das letzte bisschen Atemluft entströmte ihrem Mund. Nicht Algen hielten sie unten. Sondern eine menschliche Hand.

 

Keuchend fuhr Charlie im Bett hoch. Sie sah sich panisch um, versuchte, die merkwürdige Diskrepanz zwischen den Algen, die sie festgehalten hatten, und dem gemütlichen Schlafzimmer, in dem sie sich befand, zu verstehen. Tastete sich ab, ihr Schlafanzug müsste doch klatschnass sein, aber er war trocken, nur auf der Stirn stand ihr der Schweiß. Als sie sich langsam beruhigte, begriff sie, dass es nur ein Albtraum gewesen war, ein blöder Albtraum.

Sie atmete tief durch und drehte sich zu Steve um. Er schlief immer wie ein Stein, und sie war froh, ihn leise schnarchen zu hören. Sie schlüpfte aus dem Bett, nahm ihren Bademantel und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Den Flur entlang und auf die Treppe zu. Hastig huschte sie an der Tür zum zweiten Schlafzimmer vorbei, schalt sich dafür. Als Charlie und Steve von der Schwangerschaft erfuhren, hatten sie gleich Pläne für das Kinderzimmer gemacht – das Gästebett sollte durch ein Kinderbett und einen Stillstuhl ersetzt, die weißen Wände mit einer fröhlichen gelben Tapete überklebt, der harte Holzboden mit dicken Läufern ausgelegt werden. Doch dazu war es nie gekommen.

Das Kind war in Charlies Bauch gestorben, während sie mit Mark zusammen eingesperrt gewesen war. Schon bevor man sie ins Krankenhaus brachte, hatte sie es gewusst, aber trotzdem gehofft, dass die Ärzte ihre schlimmsten Befürchtungen nicht bestätigen würden. Doch das war nicht der Fall gewesen. Steve hatte geweint, als sie es ihm sagte. Das erste Mal, dass Charlie ihn weinen sah, und nicht das letzte Mal. In den vergangenen Monaten hatte Charlie immer wieder geglaubt, alles im Griff zu haben, das Schreckliche irgendwie verarbeiten zu können, dann gemerkt, dass sie das zweite Schlafzimmer nicht betreten konnte, aus Angst, den Schatten des gemeinsam geplanten Kinderzimmers zu sehen, und gewusst, dass die Wunden noch frisch waren.

Sie ging nach unten in die Küche und stellte den Wasserkocher an. In letzter Zeit träumte sie viel. Seit ihre Rückkehr zur Arbeit bevorstand, hatte ihre Angst sich in Albträumen manifestiert. Sie hatte sie für sich behalten, wollte Steve nicht noch weitere Argumente liefern.

«Du kannst nicht schlafen?»

Steve kam in die Küche getapst und sah sie an. Charlie schüttelte den Kopf.

«Nervös?»

«Was glaubst du?», erwiderte Charlie, um einen lockeren Tonfall bemüht.

«Komm her.»

Er breitete die Arme aus, und sie schmiegte sich dankbar an ihn.

«Immer ein Tag nach dem anderen», fuhr er fort. «Ich weiß, dass du es super machen wirst, dass du es schaffen wirst … Aber wenn du das Gefühl hast, es wird dir zu viel oder es ist nicht das Richtige, dann denken wir neu nach. Niemand wird dich deswegen schief ansehen. Okay?»

Charlie nickte. Sie war dankbar, dass er sie unterstützte und ihr vergeben konnte, aber seine Überzeugung, dass sie ihren Job besser aufgeben sollte, ärgerte sie. Sie konnte seinen Hass auf die Polizei, ihre Arbeit, das Böse da draußen in der Welt verstehen und hatte oft daran gedacht, seinem Rat zu folgen und zu kündigen. Aber was dann? Ihr Leben lang würde sie denken, sie hätte aufgegeben. Wäre bezwungen worden. Gebrochen. Die Tatsache, dass Helen Grace nur einen Monat nach Mariannes Tod in den Dienst zurückgekehrt war, schüttete nur noch mehr Öl ins Feuer.

Also war Charlie entschlossen geblieben, hatte darauf bestanden, nach ihrer Krankschreibung wieder zur Arbeit zu gehen. Die Hampshire Police hatte sich großzügig gezeigt, sie in allem unterstützt, und jetzt war sie an der Reihe, etwas zurückzugeben.

Sie löste sich von Steve und machte ihnen beiden einen Kaffee – es war sinnlos, wieder ins Bett zu gehen. Das kochende Wasser spritzte in alle Richtungen, schwappte über den Tassenrand. Wütend und vorwurfsvoll starrte Charlie den Kocher an, aber schuld war ihre rechte Hand. Erschrocken sah sie, wie stark sie zitterte. Sie stellte den Kessel ab und hoffte, Steve hätte nichts gemerkt.

«Ich trinke heute mal keinen Kaffee. Ich gehe nur laufen und dusche dann.»

Sie wollte nach oben gehen, aber Steve hielt sie auf, nahm sie noch einmal in den Arm.

«Bist du dir ganz sicher, Charlie?», fragte er und sah sie prüfend an.

Eine kurze Pause, dann sagte Charlie:

«Ja, völlig.»

Damit ging sie. Als sie die Treppe hochlief, war ihr jedoch vor allem völlig klar, dass ihr tapferer Optimismus niemanden täuschen konnte. Am wenigsten sie selbst.

7

«Ich will sie nicht.»

«Wir haben das schon diskutiert, Helen. Die Entscheidung ist gefallen.»

«Dann nehmen Sie sie zurück. Ich kann es nicht noch deutlicher sagen, ich will sie hier nicht haben.»

Helens Tonfall war hart und unbeugsam. Normalerweise würde sie ihrer Vorgesetzten gegenüber nicht so aggressiv auftreten, aber in diesem Fall waren ihre Gefühle zu stark, um nachzugeben.

«Da draußen laufen haufenweise gute DCs herum, nehmen Sie einen von denen. Dann habe ich ein komplettes Team, und Charlie kann nach Portsmouth oder Bournemouth oder wohin auch immer gehen. Ein Ortswechsel tut ihr vielleicht gut.»

«Ich weiß und verstehe, wie schwer das für Sie ist, aber Charlie hat genau so ein Recht, hier zu sein, wie Sie. Arbeiten Sie mit ihr – sie ist eine gute Polizistin.»

Helen schluckte ihre spontane Entgegnung herunter – sich von Marianne entführen zu lassen, hatte nicht zu Charlies Glanzleistungen gezählt – und überdachte den nächsten Schritt. Detective Superintendent Ceri Harwood hatte den in Ungnade gefallenen Whittaker ersetzt und ließ die Muskeln spielen. Sie war eine andere Art Chef als Whittaker. Während der jähzornig, aggressiv, aber oft auch witzig sein konnte, war sie aalglatt, eine geborene Strippenzieherin und größtenteils humorlos. Hochgewachsen, elegant und gutaussehend, galt sie als sichere Bank und hatte auf all ihren früheren Positionen hervorragend abgeschnitten. Sie schien beliebt zu sein, aber Helen wurde nur schwer mit ihr warm, nicht nur weil sie so unterschiedlich waren – Harwood war verheiratet und hatte Kinder –, sondern weil sie nichts verband. Whittaker war lange in Southampton gewesen, hatte Helen immer protegiert und ihre Karriere gefördert. Von Harwood war solche Nachsicht nicht zu erwarten. Sie blieb generell nicht lange an einem Ort und war außerdem nicht der Typ, der irgendjemanden bevorzugte. Ihre Stärke lag darin, alles schön ruhig am Laufen zu halten. Helen war klar, dass sie genau deswegen hierherversetzt worden war. Ein unehrenhaft entlassener Detective Superintendent, eine DI, die eine Hauptverdächtige erschossen hatte, ein DS, der sich selbst getötet hatte, um seine Kollegin vor dem Hungertod zu retten – es war eine schmutzige Geschichte, die die Presse erwartungsgemäß ausgeschlachtet hatte. Emilia Garanita von den Southampton Evening News hatte sich wochenlang daran gelabt, ebenso die überregionalen Medien. Unter diesen Umständen war es mehr als unwahrscheinlich gewesen, dass Helen in Whittakers Fußstapfen treten würde. Immerhin hatte sie ihren Job behalten dürfen, was der Police Commissioner für den Gipfel der Großzügigkeit zu halten schien. Helen konnte all das nachvollziehen, trotzdem brachte es ihr Blut zum Kochen. Diese Leute wussten, was sie hatte tun müssen. Sie wussten, dass sie ihre eigene Schwester getötet hatte, um die Mordserie zu beenden, und trotzdem behandelten sie sie wie ein trotziges Schulmädchen.

«Lassen Sie mich wenigstens mit ihr reden», setzte Helen nach. «Wenn wir das Gefühl haben, zusammenarbeiten zu können, dann können wir vielleicht ein–»

«Helen, ich möchte wirklich, dass wir Freunde werden», unterbrach Harwood energisch, «und es ist eigentlich noch zu früh in unserer Arbeitsbeziehung, um Ihnen einen Befehl zu erteilen, daher bitte ich Sie freundlichst, nachzugeben. Ich weiß, dass Sie und Charlie einiges aus dem Weg zu räumen haben – ich weiß, dass Sie DS Fuller nahestanden –, aber Sie müssen das große Ganze sehen. Der normale Bürger hält Sie und Charlie für Heldinnen, weil Sie Marianne gestoppt haben. In meinen Augen auch zu Recht, und ich werde nichts unternehmen, das diese Sichtweise untergräbt. Wir hätten sie beide nach der Schießerei suspendieren, versetzen oder entlassen können, aber das wäre nicht richtig gewesen. Und es wäre auch nicht richtig, dieses Erfolgsteam zu trennen, wenn Charlie gerade so weit ist, dass sie den Dienst wiederaufnehmen kann. Das wäre das völlig falsche Signal. Nein, am besten heißen wir Charlie willkommen, applaudieren Ihnen beiden für das, was Sie zusammen geleistet haben, und lassen Sie wieder an die Arbeit gehen.»

Helen sah, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter zu sträuben. Wortgewandt hatte Harwood Helen daran erinnert, wie nahe sie der Entlassung gewesen war. In der öffentlichen Untersuchung, die auf die ersten Ermittlungen der unabhängigen Beschwerdestelle der Polizei folgte, hatten viele genau das verlangt. Weil sie Marianne im Alleingang verfolgt hatte, weil sie Polizeikollegen absichtlich in die Irre geführt hatte, weil sie eine Verdächtige ohne Vorwarnung erschossen hatte – die Liste war immer länger geworden. Das hätte für Helens berufliche Laufbahn das Ende bedeuten können, und Helen war überrascht und dankbar gewesen, dass es nicht so gekommen war. Aber sie wusste, dass sie nur auf Bewährung wieder im Dienst war. Die «Anklagepunkte» standen immer noch in ihrer Akte. Ab jetzt würde sie sich gut überlegen müssen, mit wem sie sich anlegte.

Helen gab so würdevoll klein bei, wie sie konnte, und verließ Harwoods Büro. Sie wusste, dass sie Charlie gegenüber unfair war, dass sie sie unterstützen sollte, aber in Wahrheit wollte sie Charlie nie wiedersehen. Das wäre, als würde Mark wieder vor ihr stehen. Oder Marianne. Und das konnte Helen, all ihrer Stärke in den letzten Monaten zum Trotz, nicht ertragen.

 

Als sie zum Ermittlerteam stieß, spürte sie sofort die Aufregung im Raum. Es war noch früh am Morgen, aber voller als sonst. Das Team hatte auf sie gewartet, und DC Fortune rannte auf sie zu, um ihr das Neueste mitzuteilen.

«Sie müssen rüber zur Empress Road, Ma’am.»

Helen hatte ihren Mantel schon in der Hand.

«Was ist passiert?»

«Ein Mord – vor etwa einer Stunde hat ein Junkie angerufen. Die Streife ist da, aber ich glaube, Sie sehen sich das besser selber an.»

Helens Nerven vibrierten bereits. In der Stimme des DC lag etwas, das sie seit der Sache mit Marianne nicht mehr gehört hatte.

Angst.

8

Helen ließ das Motorrad stehen und fuhr mit DS Tony Bridges im Wagen zum Tatort. Sie mochte Tony – ein gewissenhafter, engagierter Polizist, dem sie vertrauen konnte. Jeder, der Marks Nachfolge als DS antrat, hätte einiges tun müssen, um das Team für sich zu gewinnen, und Tony hatte es geschafft. Er hatte sich aufrichtig verhalten und die unangenehme Tatsache, von Marks Tod profitiert zu haben, nicht geleugnet. Seine Bescheidenheit und Sensibilität hatten ihm die Wertschätzung aller eingebracht, und inzwischen füllte er seine Rolle ziemlich gut aus.

Seine Beziehung zu Helen war komplizierter. Nicht nur wegen ihrer Gefühle für Mark, sondern auch, weil Tony miterlebt hatte, wie Helen auf ihre Schwester geschossen hatte. Er hatte alles gesehen – wie Marianne zu Boden fiel, Helens vergebliche Wiederbelebungsversuche. Er hatte seine Chefin nackt und verwundbar gesehen. Und das würde immer ein Quell des Unbehagens zwischen ihnen bleiben. Andererseits hatte Tony vor dem Untersuchungsausschuss der Beschwerdebehörde eindeutig ausgesagt, dass Helen gar keine andere Wahl gehabt hatte, als Marianne zu erschießen, und damit erheblich dazu beigetragen, sie vor Degradierung oder Entlassung zu bewahren. Helen hatte ihm damals gedankt, und die Schuld, in der sie stand, wurde nie wieder erwähnt. Man musste sie verdrängen und weitermachen, sonst würde die Befehlskette zerfallen. Im Großen und Ganzen funktionierten sie jetzt wie ein ganz normales Team aus DI und DS, aber zwischen ihnen bestand außerdem eine im Einsatz entstandene Verbundenheit.

Sie rasten mit Blaulicht am Krankenhaus vorbei, kürzten durch eine enge Seitenstraße ab und fuhren in das Gewerbegebiet Empress Road hinein. Ihr Ziel war nicht zu verfehlen. Der Eingang zu dem verfallenen Haus war abgesperrt, davor hatte sich bereits ein Schwung Neugieriger angesammelt. Helen drängte sich mit erhobenem Dienstausweis hindurch, gefolgt von Tony. Ein kurzer Wortwechsel mit dem Streifenpolizisten vor der Tür, während sie sich Schutzanzüge überstreiften, dann traten sie ein.

Helen nahm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal. Egal, was man schon erlebt hatte, an Gewalt gewöhnte man sich nie. Helen gefiel der Ausdruck auf den Gesichtern der anwesenden Polizisten gar nicht – als wären ihnen auf brutale Weise die Augen geöffnet worden – und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

In dem schäbigen Schlafzimmer drängte sich das Spurensicherungsteam, und Helen bat die Kollegen, eine Pause zu machen, damit sie und Tony einen Blick auf das Opfer werfen konnten. Auf einen solchen Moment stellte man sich im Voraus besser mental ein, schluckte schon mal den Ekel herunter, weil man sonst nie in der Lage wäre, alles aufzunehmen und wertvolle erste Eindrücke zu sammeln. Das Opfer war männlich, weiß, wahrscheinlich Ende vierzig, Anfang fünfzig. Der Mann war nackt, Kleidung oder andere persönliche Gegenstände waren nirgends zu sehen. Seine Arme und Beine waren mit einem Kletterseil aus Nylon an das eiserne Bettgestell gefesselt, über den Kopf war eine Haube gezogen. Die war nicht zu diesem Zweck angefertigt worden – sah eher aus wie ein Säckchen, das man zu teuren Schuhen und Luxusgütern bekommt –, aber sie musste einen Grund haben. Um ihn zu ersticken? Oder seine Identität zu verbergen? Auf jeden Fall war auf furchtbare Weise offenkundig, dass die Haube nicht zum Tod geführt hatte.

Sein Oberkörper war vom Bauchnabel bis zur Kehle in der Mitte aufgeschlitzt und die Schnittränder dann mit Gewalt zurückgezogen worden, um die inneren Organe freizulegen. Oder was von ihnen übrig war. Helen musste schlucken, als ihr klarwurde, dass zumindest ein Organ entfernt worden war. Sie drehte sich zu Tony um, der aschfahl war und die blutige Grube anstarrte, die einst der Brustkorb des Opfers gewesen war. Das Opfer war nicht nur getötet, es war vernichtet worden. Helen wehrte ihre aufkommende Panik ab. Sie zog einen Stift aus der Tasche, beugte sich über das Opfer und hob vorsichtig den Saum der Haube an, um das Gesicht des Mannes zu sehen.

Glücklicherweise war es unberührt und wirkte merkwürdig friedlich, trotz der toten Augen, die verloren die Innenseite der Hülle anstarrten. Helen erkannte ihn nicht, zog den Stift weg und ließ den Stoff zurücksinken. Wandte ihre Aufmerksamkeit dem Körper zu, betrachtete die fleckige Decke, das gerinnende Blut auf dem Fußboden, auf dem Weg zur Tür. Die Wunden des Mannes sahen frisch aus, keinen Tag alt. Wenn der Mörder also Spuren hinterlassen hatte, dann würden auch sie frisch sein. Aber es war nichts zu sehen, zumindest nicht auf den ersten Blick.

Sie ging um das Bett herum, wobei sie über eine tote Taube hinwegsteigen musste. Am anderen Ende des Zimmers befand sich ein Fenster, das verrammelt worden war, den rostigen Nägeln nach schon vor einer ganzen Weile. Ein verlassenes Haus in einem vergessenen Teil von Southampton, ohne einsehbare Fenster – der perfekte Ort, um jemanden zu töten. War er zuvor gefoltert worden? Das war es, was Helen beunruhigte. Die Wunden des Opfers waren so ungewöhnlich und extrem, dass jemand damit etwas demonstrieren wollte. Oder schlimmer, das Ganze einfach genoss. Was hatte denjenigen dazu getrieben? Wovon war er besessen?

Das würde warten müssen. Das Wichtigste war jetzt, dem Opfer einen Namen zu geben, seine Würde im Tod wiederherzustellen. Helen rief die Spurensicherung zurück. Jetzt war es Zeit, Fotos zu machen und die Ermittlungen einzuleiten.

Es war Zeit herauszufinden, wer der arme Mann war.

9

Im Haus der Matthews ging alles seinen gewohnten Gang. Die Porridgeschüsseln waren geleert und gesäubert, die Schulranzen standen im Flur aufgereiht, und die Zwillinge zogen ihre Schuluniformen an. Ihre Mutter Eileen scheuchte sie wie jeden Morgen – es war erstaunlich, wie lange die Jungs den Prozess des Anziehens ausdehnen konnten. Als sie noch klein waren, waren sie über den Status, den ihnen die schicke Schuluniform verlieh, begeistert gewesen und hatten sie nur zu gerne getragen, um bloß ja so erwachsen und wichtig wie ihre älteren Schwestern zu wirken. Aber jetzt waren die Mädchen aus dem Haus und die Zwillinge Teenager, die die Schule nur noch nervte und die das Unausweichliche so lange wie möglich herauszögerten. Bei ihrem Vater hätten sie pariert, aber wenn nur Eileen mit ihnen schimpfte, nahmen sie sie auf den Arm. Dieser Tage half gerade noch angedrohter Taschengeldentzug, um sie zu irgendetwas zu bewegen.

«Fünf Minuten, Jungs. Fünf Minuten, dann müssen wir aus dem Haus sein.»

Die Uhr tickte. In Kingswood, der Privatschule, die die Jungs besuchten, würde gleich die Anwesenheit geprüft werden, und Zuspätkommen kam nicht in Frage. Die Schule legte großen Wert auf Disziplin und verschickte strenge Briefe an nachlässige Eltern. Eileen lebte in ständiger Furcht vor diesen Mitteilungen, obwohl sie noch nie eine erhalten hatte. Infolgedessen war der Morgen genau durchgetaktet, und normalerweise wären sie schon aus der Tür, aber heute war Eileen durch den Wind. Sie trieb die Jungen eher aus Gewohnheit als aus Überzeugung an.

Alan war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Eileen machte sich immer Sorgen, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs war. Natürlich war es für einen guten Zweck, er sah es als seine Pflicht an, den Bedürftigen zu helfen, aber man wusste ja nie, wer – oder was – ihm dabei über den Weg laufen würde. Da draußen gab es schlechte Menschen – man musste ja nur mal die Zeitungen lesen.

Normalerweise kam er gegen vier Uhr morgens zurück. Eileen tat dann so, als schliefe sie, denn Alan mochte es nicht, wenn sie auf ihn wartete. Aber in Wirklichkeit bekam sie kein Auge zu, bis er wohlbehalten wieder zu Hause war. Heute hatte sie es um sechs Uhr nicht länger ausgehalten, war aufgestanden und hatte Alan auf dem Handy angerufen, doch es war nur die Mailbox angegangen. Sie hatte überlegt, eine Nachricht zu hinterlassen, sich aber dagegen entschieden. Er würde sicher bald zurück sein und ihr vorwerfen, sie hätte Aufhebens gemacht. Sie bereitete das Frühstück vor, bekam aber keinen Bissen herunter, es blieb unberührt stehen. Wo war er?

Die Jungs waren fertig und starrten sie an. Sie sahen, dass sie Angst hatte, und wussten nicht, ob sie sich lustig machen oder besorgt sein sollten. Mit vierzehn waren sie die typische Mischung aus Mann und Kind, wollten unabhängig, erwachsen, cool sein, hingen aber an der Routine und den Regeln, die ihre Eltern vorgaben. Sie warteten darauf zu gehen, aber Eileen zögerte noch. Ihr Bauchgefühl riet ihr zu bleiben, auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten.

Es klingelte an der Tür, und Eileen rannte in den Flur. Der Dummkopf hatte seinen Schlüssel vergessen. Vielleicht war er ausgeraubt worden. Es wäre typisch für ihn, irgendeinem Tunichtgut zu helfen und sich dabei die Brieftasche stehlen zu lassen. Sie riss sich zusammen und öffnete ruhig die Tür, das Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen.

Aber es war niemand da. Sie sah sich suchend nach Alan um – nach irgendwem –, aber die Straße war leer. Machten da Kinder Klingelstreiche?

«Dass ihr nichts Besseres zu tun habt!», rief sie laut und schimpfte im Stillen auf die ungezogenen Kinder, die am ärmeren Ende der Straße wohnten. Gerade wollte sie die Tür wieder zumachen, da sah sie die Schachtel. Auf der Türmatte stand die Pappschachtel eines Kurierdienstes. Obendrauf ein weißer Aufkleber, auf dem «Für Familie Matthews» und die Adresse geschrieben standen – in krakeliger Handschrift und falsch. Es sah wie ein Geschenk aus, aber niemand hatte heute Geburtstag. Eileen reckte noch einmal den Hals und hielt nach Simon, dem Briefträger, oder einem Kurierwagen Ausschau. Doch nichts und niemand war zu sehen.

Die Jungs fielen über sie her, wollten die Schachtel sofort aufmachen, aber Eileen blieb standhaft. Sie würde die Schachtel öffnen und dann entscheiden, ob der Inhalt für die Kinder geeignet wäre. Sie hatten eigentlich keine Zeit mehr – schon zwanzig vor neun, um Himmels willen –, aber es war besser, die Schachtel gleich zu öffnen, die Jungs von ihrer Neugier zu erlösen und dann den Tag anzugehen. Eileen ärgerte sich über sich selber und beschloss, jetzt schnell zu machen. Mit ein bisschen Glück würden sie es vielleicht noch rechtzeitig zur Schule schaffen.

Sie holte eine Schere aus der Küchenschublade und schlitzte das Klebeband auf, das die Schachtel zusammenhielt. Dabei verzog sie die Nase – aus dem Inneren entwich ein starker Geruch. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber er war unangenehm. Chemie? Ein Tier? Am liebsten hätte sie das Päckchen wieder zugeklebt und auf Alan gewartet, aber die Jungs drängten … Also öffnete sie mit zusammengebissenen Zähnen den Deckel.

Und schrie. Konnte nicht mehr aufhören zu schreien, obwohl die Jungs dadurch völlig in Panik gerieten. Mit Tränen in den Augen stürzten sie auf sie zu, aber sie schob sie heftig weg. Als sie nicht nachgaben, sie anflehten, ihnen zu sagen, was los sei, packte sie beide am Kragen und zerrte sie unsanft aus dem Zimmer, dabei schrie sie die ganze Zeit um Hilfe.

Die Schachtel blieb allein im Zimmer zurück. Der Deckel schlug langsam nach hinten um und enthüllte auf der Innenseite in dunklem Rot das Wort «Bööse». Es war die perfekte Einstimmung auf den grauenhaften Inhalt. In einem Nest aus dreckigem Zeitungspapier lag ein menschliches Herz.

10

«Wo sind die anderen?»

Charlie hielt eine Fallakte umklammert und sah sich im Büro des Ermittlerteams um. Es war seltsam, wieder hier zu sein, und noch seltsamer war, dass fast niemand da war.

«Mord an der Empress Road. DI Grace hat den Großteil des Teams mitgenommen», erwiderte DC Fortune und verbarg nur mit Mühe seinen Unmut darüber, zurückgelassen worden zu sein. Er war ein intelligenter, pflichtbewusster Polizist und einer der wenigen schwarzen Beamten in Southampton Central. Er war zu Höherem berufen, und Charlie wusste, dass er stinksauer war, hier festzusitzen und sie bei ihrer Rückkehr in den Dienst bemuttern zu müssen. Mit zittrigen Beinen hatte sie vor einer halben Stunde das Gebäude betreten, und der kühle Empfang machte es nur noch schlimmer. War die kalte Schulter beabsichtigt? Sollte sie wissen, dass sie hier nicht erwünscht war?

«Was wissen wir darüber?», fragte Charlie, um Professionalität bemüht.

«Strichmädchen, wurde in einem Kofferraum gefunden. Die Mörder hatten sich an ihr ausgetobt, was die Identifizierung erst mal ein bisschen schwierig machte, aber die DNA hat’s gebracht. Sie war in der Datenbank, ihre Polizeiakte ist auf Seite drei.»