D.I. Helen Grace: Eingeschlossen - Matthew J. Arlidge - E-Book

D.I. Helen Grace: Eingeschlossen E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Hinter Gittern. Unter Mördern. Angeklagt wegen mehrfachen Mordes wartet D.I. Helen Grace auf ihren Prozess: Jeder Möglichkeit beraubt, ihre Unschuld zu beweisen, ist Helen im Gefängnis Holloway Zielscheibe all derer, die sie bisher verfolgt hat. Und die Übergriffe werden brutaler. Ihre einzige Verbündete: Detective Sergeant Charlie Brooks, die felsenfest an Helens Unschuld glaubt. Charlie setzt alles daran, den wahren Täter zu finden. Erst recht, als in Holloway ein brutales Verbrechen geschieht. Alles deutet auf einen Serienmörder hin. Und für Helen beginnt ein Kampf ums nackte Überleben.

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Matthew J. Arlidge

D.I. Helen Grace Eingeschlossen

Ein Fall für Helen Grace

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Hinter Gittern. Unter Mördern.

 

Angeklagt wegen mehrfachen Mordes wartet D.I. Helen Grace auf ihren Prozess: Jeder Möglichkeit beraubt, ihre Unschuld zu beweisen, ist Helen im Gefängnis Holloway Zielscheibe all derer, die sie bisher verfolgt hat. Und die Übergriffe werden brutaler. Ihre einzige Verbündete: Detective Sergeant Charlie Brooks, die felsenfest an Helens Unschuld glaubt. Charlie setzt alles daran, den wahren Täter zu finden. Erst recht, als in Holloway ein brutales Verbrechen geschieht. Alles deutet auf einen Serienmörder hin. Und für Helen beginnt ein Kampf ums nackte Überleben.

Über Matthew J. Arlidge

Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit mehreren Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist. Der Auftakt der Helen-Grace-Reihe «Einer lebt, einer stirbt» war in England das erfolgreichste Debüt 2014, die Reihe erscheint in 30 Ländern.

1

Sie ging schnell, hielt den Kopf gesenkt. Der Korridor war an diesem Abend voller Menschen, sie drängte sich an ihnen vorbei, sah sich nicht um. Flüche und Beschimpfungen begleiteten ihren Weg, und als sie um die Ecke und in ihren Trakt einbog, fühlte sie eine Ladung Spucke auf ihrem Nacken aufklatschen. Normalerweise hätte sie sich umgedreht und die Übeltäterin gestellt – schließlich liebte sie es, Knochen zu brechen –, doch heute Abend kam dies nicht in Frage.

In fünfzehn Minuten war Einschluss, und Leah wusste, wenn sie es zurück in ihre Zelle schaffte, war sie in Sicherheit. Sie hatte sich in einem ungenutzten Lagerraum der Werkstatt versteckt gehalten, doch als die Sirene ertönte, musste sie sich in Bewegung setzen. Obwohl sie eigentlich mit Aberglauben nichts am Hut hatte, küsste sie dreimal ihr Kreuz, murmelte die Namen ihrer Söhne und betete um Glück. Sie ahnte, dass sie es brauchen würde.

Sie wussten Bescheid. Und sie waren hinter ihr her. Die Frage war nur, wann und wo sie ihr auflauern würden. Das Gefängnis von Holloway war ein Labyrinth aus engen, düsteren Gängen, die Unmengen von Angriffsmöglichkeiten boten. Leah kannte sich hier besser aus als die meisten – sie saß bereits seit fünf Jahren ein –, doch das garantierte keine Sicherheit. Nicht, wenn man von einer Meute gehetzt wurde.

Plötzlich von Angst überwältigt, beschleunigte Leah ihre Schritte. Sie hatte das deutliche Gefühl, hier drinnen sterben zu müssen, in Dreck und Elend. Sie sah sich selbst schon auf dem Boden verbluten, umringt von ihren Angreiferinnen, die Augen voller Hass …

«Reiß dich zusammen.»

Die Worte kamen als heiseres Flüstern, und Leah biss sich sofort auf die Zunge, wütend über ihre Schwäche und Dummheit. Sie steckte zwar richtig in der Scheiße, war aber fast am Ziel – es jetzt noch zu vermasseln, wäre irre. Sie holte tief Luft, trat aus dem Korridor heraus, überquerte die Galerie und nahm die Treppe hinauf zu Ebene 2. Um Lärm zu vermeiden, lief sie so leichtfüßig wie möglich, trotzdem verursachten ihre Schritte ein metallisch-dumpfes Dröhnen. Ihr Blick huschte von links nach rechts, jeden Moment rechnete sie mit einem Angriff, doch zu ihrer Überraschung war der Weg frei.

Eigentlich wirkte heute Abend alles ganz normal. Leah sah sich um und erblickte die üblichen Gesichter in ihrer Abteilung, die tratschten und lachten bis zur erzwungenen Trennung. Alle wirkten entspannt, fast vergnügt, und Leah verspürte auf einmal Hoffnung. Vielleicht war ihre Angst unnötig. Noch ein paar schnelle Schritte, und sie wäre sicher und unversehrt in ihrer Zelle.

Sie musste nur den richtigen Moment abpassen.

2

Es kam ihr vor, als würden die Blicke sie durchbohren.

So war es, seit sie hier angekommen war. In der Hackordnung eines Gefängnisses stehen Polizisten irgendwo zwischen Spitzeln und Kindsmördern, sind Objekt von Neugier und Verachtung. Also wurde sie von den Galerien, aus den Zellentüren und durch die Essensluken ständig beobachtet. Obwohl Detective Inspector Helen Grace ihre Gerichtsverhandlung noch vor sich hatte, war sie von ihren Mitinsassinnen bereits verurteilt und als perverse Mörderin abgestempelt worden, und damit wurde sie den traditionellen Holloway-Strafen unterzogen. Ganz vorne mit dabei waren einige Gewaltverbrecherinnen, die Helen selbst verhaftet hatte. Für sie war es gleichermaßen Pflicht und Freude, sich an der in Ungnade gefallenen Polizistin zu rächen.

Nur während der Arbeitszeit hörten die ständigen verbalen und körperlichen Angriffe auf, denn die Gefangenen wagten es nicht, den reibungslosen Ablauf des Gefängnisalltags zu gefährden. Doch auch dann gab es wenig Anlass zur Freude. Die Aufgaben wurden von den Vollzugsbeamten verteilt, und der für Helen verantwortliche Schließer, ein stämmiger Sadist namens Campbell, fand großes Vergnügen daran, ihr die unangenehmsten Pflichten zu übertragen. Toiletten und Duschen, Entsorgung von medizinischem Abfall und, das Schlimmste von allem, Kantinenreinigung.

Das war immer eine mühsame Arbeit, heute Abend wegen des von «Lucy» angerichteten Chaos umso mehr. Lucy war eine Frau, die mittlerweile als Mann lebte, doch da sie biologisch weiblich war, musste sie ihre Strafe in Holloway absitzen. Sie hasste es hier und focht einen langwierigen Rechtsstreit aus, um in ein Männergefängnis verlegt zu werden. Ihre Mitgefangenen wussten das und machten sich einen Spaß daraus, sie zu provozieren, indem sie sich weigerten, sie bei ihrem angenommenen Namen anzusprechen: Michael. Wie so häufig war es auch heute Abend wieder zu Streitigkeiten gekommen, und in der daraus entstehenden Rauferei wurde heftig zugeschlagen. Lucy war gefesselt worden und hatte sich übergeben, was Helens Putzaktion noch unangenehmer machte.

Sie war fast fertig, zögerte die letzten Minuten vor dem Einschluss heraus, da hörte sie, dass jemand sich näherte. Ohne den Kopf zu heben wusste sie, wer es war. Die Gefangenen waren alle schon in ihren Abteilungen, außerdem war der langsame, gemessene Gang unverwechselbar. Sie sah auf, Cameron Campbell kam auf sie zu, eine gleichmäßige Spur aus Fußabdrücken auf dem frisch gewischten Boden hinterlassend.

«Sie haben da was übersehen.» Campbell zeigte auf seine Fußabdrücke.

«Tut mir leid, Sir», erwiderte Helen. «Kommt nicht wieder vor.»

«Das will ich hoffen. Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es … Schlamperei.»

Bei diesen Worten stieß er mit dem rechten Fuß gegen Helens Eimer. Eine riesige Lache aus Wasser und Erbrochenem verteilte sich über den Fußboden. Helen sah Campbell wutentbrannt an.

«Machen Sie das wieder sauber», sagte Campbell lässig und drängte sich an ihr vorbei. «Für die Weihnachtsfeier will ich hier alles picobello haben.»

Bebend vor Zorn bückte sich Helen nach ihrem Wischmopp. In dem Moment bohrte sich ein scharfer Ellbogen in ihre Nieren, so überraschend und mit einer Heftigkeit, dass ihr die Luft wegblieb. Sie fiel auf die Knie und klammerte sich am Rand des Eimers fest. Campbell ging weiter, ohne sich nach ihr umzusehen, aber die Frauen auf den Galerien genossen das Spektakel außerordentlich.

«Schaut mal, die Sau hat die Schnauze im Trog!», rief ein Witzbold, andere stimmten ein.

Helen hob den Kopf, entschlossen, sich nicht kleinkriegen zu lassen, doch sie sah in Hunderte spöttischer Gesichter, die sich feixend über ihr Unglück lustig machten. In ihrem alten Leben als respektierte Polizistin hätte sie mit jemandem wie Campbell kurzen Prozess gemacht, doch jetzt war sie machtlos. Hier drinnen war sie nichts als ein leichtes Opfer, eine verlockende Trophäe für jeden Häftling, der sich traute, einen Angriff zu versuchen.

Bisher hatte sie überlebt, aber wie lange würde ihr das Glück hold bleiben? Sie war von lauter Frauen umgeben, die ihr liebend gerne die Kehle durchgeschnitten hätten, doch die Behörden schienen beschlossen zu haben, ihre Situation zu ignorieren. Es gab keine Zuflucht, kein Versteck, und Helen musste wachsam bleiben.

In Holloway lauerte bei jedem Herzschlag Gefahr.

3

Die Schritte stoppten plötzlich, Leah hob den Kopf. Sekunden später wurde die Zellentür zugeknallt, und das beruhigende Geräusch der einrastenden Riegel ertönte. Erschöpft und erleichtert ließ sie sich aufs Bett fallen.

Heute Abend hatte sie Glück gehabt. Sie hatte die Szene in der Kantine – Campbell, der sich wieder einmal auf Kosten ihrer Zellennachbarin amüsierte – genutzt, um in ihre Zelle zu huschen. Die dann folgenden zehn Minuten, in denen sie auf den Einschluss warten musste, waren die Hölle gewesen. Doch jetzt war alles gut.

Der Spion wurde aufgeschoben, ein Augenpaar erschien. Leah erkannte, welcher Schließer sie da gerade ausspähte. Campbells Augen waren grau und kalt, die von Sarah Bradshaw blassgrün und die von Mark Robins schokoladenbraun und freundlich. Heute Abend machte Letzterer den Rundgang. Leah lächelte, während sie lauschte, wie er die Reihe abging und die Mädels in ihre Zellen scheuchte.

Die meisten der Frauen hassten den Moment, wenn sie bei Einbruch der Nacht eingesperrt und sich selbst und ihren düsteren Gedanken überlassen wurden. Viele waren als Kinder vernachlässigt worden, manche misshandelt, und fast jede hatte sich irgendwann einmal selbst verletzt. Die Nacht brachte Erinnerungen an Verlassenheit und Einsamkeit zurück, und für manche der Frauen war das zu viel. Kein Wunder, dass die meisten Selbstmorde nachts geschahen.

Doch Leah machte es nichts aus, eingeschlossen zu sein. Tagsüber war sie ständig damit beschäftigt, Ärger aus dem Weg zu gehen, aber die Nacht gehörte ihr. Dann stellte sie sich vor, sie wäre zu Hause bei ihren Jungs, Dylan und Caleb. Würde normale Dinge tun. Wäre ein guter Mensch. Eine Mutter.

Wenn sie an die beiden dachte, musste sie oft weinen, aber die Tränen waren irgendwie auch wärmend. Als würde die Liebe der Jungs sie umhüllen. Davon ermuntert, nutzte sie die Zeit des Einschlusses, um die Zukunft zu planen, um zu überlegen, wie sie ihre Söhne öfter zu Gesicht bekommen könnte. Da sie eine lebenslange Haftstrafe absaß und die Besuchszeiten stark eingeschränkt waren, musste sie sich etwas einfallen lassen.

Sie ging ein großes Risiko ein, hatte aber keine Wahl. Wenn morgen ihre Mum und die Jungs kamen, würde sie im Besucherzentrum verlangen, die Gefängnisleiterin zu sprechen. Sie hatte die Verlegung in eine andere Abteilung wirklich verdient. Und von da käme sie vielleicht in den offenen Vollzug. Warum sollte sie nicht hoffen, eines Tages vorzeitig entlassen zu werden?

Sie lag auf dem Bett und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Die Sonne ging unter, was sie normalerweise immer beruhigte und entspannte. Doch heute Abend war sie nervös und kam nicht zur Ruhe. Immer wieder dachte sie an die Jungs. An Dylans lustiges Kichern, wenn man ihn kitzelte. An Calebs feine Haare. An das warme Gefühl, wenn die beiden morgens bei ihr im Bett lagen.

Es waren nur Erinnerungen, die immer schwächer wurden, aber mehr blieb ihr nicht. In ihre Decke eingekuschelt, verlor sie sich in der Vergangenheit und hoffte, der Schlaf würde sie schnell einholen.

Wie auf Stichwort ging plötzlich das Licht aus. Leah lag im Dunkeln.

4

Helen stand am Fenster und starrte den vollen und wunderschönen Mond an. Sein sanftes Licht erhellte ihre düstere Zelle, einen etwa drei mal vier Meter großen Raum, hellgrün gestrichen und ausgestattet mit einem Bett, einem Waschbecken und einer Toilette, alles am Boden angeschraubt. So sah ihre Welt jetzt aus.

Es war spät, der Nachteinschluss lange vorbei, doch Helen stand oft so da, sie zog das einsame Wachen der «Bequemlichkeit» der schmalen Pritsche vor. Die war alt, die Matratze klumpig, und wegen des Lärms konnte Helen sowieso nicht schlafen. Die Gefangenen riefen einander zu, riefen nach ihren Müttern, riefen Gott an. Das hörte nie auf und war zu erwarten. Irgendwann ging das Geschrei dann in Jammern über. Wenn das Jammern aufhörte, hörte man Weinen. Und wenn das Weinen aufhörte, kam das Ungeziefer.

In der ersten Nacht war eine große Ratte über Helens Bett gehuscht und in der Ziegelwand verschwunden. Eine von vielen, die im Knast freie Bahn hatten. Die Toilette wurde Tag und Nacht von Schmeißfliegen umschwärmt, sie teilten sich die winzige Zelle mit den Kakerlaken, die mit der Dunkelheit zum Vorschein kamen. Das erste Mal, als Helen diese Viecher über den Boden kriechen sah, war sie mit dem Fuß darauf getreten. Doch da jede platte Kakerlake sofort durch zwei neue ersetzt wurde, hatte sie bald aufgegeben. Auch das Ungeziefer war hier eingesperrt, daher hatte Helen beschlossen, zu leben und leben zu lassen.

Jetzt verbrachte sie die halbe Nacht damit, dem krabbelnden Treiben zuzusehen, bevor die schiere Erschöpfung sie schließlich ins Bett trieb. Die Stunden nach dem Einschluss waren die schlimmsten, dann wurde ihr das grauenhafte Ausmaß ihrer Lage richtig bewusst. Sie konnte immer noch nicht fassen, in Holloway gelandet zu sein – in dem Gefängnis, in dem ihre Schwester gelebt hatte, nachdem sie ihre Eltern umgebracht hatte. Einige der Lebenslänglichen erinnerten sich noch an Marianne, schwärmten von ihrer Intelligenz und ihrem Humor, weniger von den Gewaltausbrüchen, mit denen sie andere unterdrückt hatte. Ihr Sohn, Robert Stonehill, hatte drei Menschen ermordet, um Helen eine Falle zu stellen, und das war der Grund, warum sie ihre Tage jetzt unter Betrügerinnen, Diebinnen und Mörderinnen verbrachte.

Helen nahm ein Stück Kreide vom Fensterbrett, durchquerte den Raum und malte neben ihrem Bett einen Strich an die Wand. Er ergänzte eine schon recht lange Reihe – Helen hatte jeden Tag ihrer Gefangenschaft markiert. Bisher hatte sie sechsundvierzig Nächte hinter Gittern überstanden. Noch einmal fünfzig, dann hatte sie es bis zur Verhandlung geschafft. Das, und nur das, ließ sie durchhalten.

Vor Gericht, so hoffte sie, würde sie ihre Unschuld beweisen können, auch wenn es nicht leicht werden würde. Robert hatte seine Sache gründlich gemacht: ihre DNA an den Tatorten hinterlassen, die Morde zu Zeiten begangen, für die Helen kein Alibi hatte, und sie dazu gebracht, ihren Kollegen Lügen über ihre persönliche Verbindung zu den Opfern zu erzählen. Als diese Lügen aufflogen, war sie schnell in Ungnade gefallen. Da es in Hampshire kein Hochsicherheitsgefängnis für Frauen gab, war sie nach Holloway gebracht worden. Ihre letzte und einzige Verbündete, DS Charlie Brooks, tat alles für Helens Rehabilitation, aber wie standen die Chancen? Robert schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Jeden Tag ermahnte sich Helen, optimistisch zu bleiben, Vertrauen in das Rechtssystem zu haben. Doch jede Nacht brachte neue Zweifel, und langsam fürchtete sie, für immer in Holloway bleiben zu müssen. War solche Ungerechtigkeit denkbar? Konnten sich die Menschen so gründlich täuschen lassen?

Manchmal hatte sie das Gefühl, von der ganzen Welt verlassen zu sein. Sie war eine Aussätzige, die das Recht auf menschliche Gesellschaft und Mitgefühl verwirkt hatte. Obwohl Helen immer zurückgezogen gelebt hatte, empfand sie diese Isolation als vernichtend. Es gab niemanden, dem sie wirklich vertrauen, mit dem sie reden konnte, und, wie die nächtliche Parade der Ratten und Käfer zeigte, waren die einzigen Mitgefangenen, die noch Zeit mit ihr verbringen wollten, das Ungeziefer.

5

Leah wachte atemlos und verängstigt auf. Sie hatte wieder geträumt. Diesmal wurde sie durch einen scheinbar endlosen Korridor gejagt. Im Traum hatte sie weder gewusst, wo sie hin-, noch, vor wem sie weglief. Sie wusste nur, dass sie immer langsamer wurde, ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengte. Bei einem Blick nach unten hatte sie überrascht festgestellt, dass sie keine Beine hatte. Sie war ein schwebender Torso, der wild durch die Luft ruderte, verzweifelt bemüht, ihren Verfolgern zu entkommen.

Sie vergrub das Gesicht im Kissen und atmete aus. Der Albtraum war so real gewesen, dass ihr Herz raste und ihre Stirn schweißnass war. Sie versuchte, die dunklen Gedanken abzuschütteln, wickelte sich fester in ihre Decke ein und hoffte, vor Tagesanbruch noch einige Stunden Schlaf zu bekommen. Doch plötzlich erstarrte sie. Die Decke ließ sich nicht ziehen, und Leah begriff, dass die gleichmäßigen Atemzüge, die sie hörte, nicht von ihr kamen.

Jemand saß am Fußende des Bettes. Leah schloss die Augen, betete, dass die Vision sich in Luft auflösen würde, doch die Atemgeräusche verschwanden nicht. Ein, aus, ein, aus. Leah wollte schreien, verharrte aber reglos. Was sie in den nächsten Minuten tat, würde entscheiden, ob sie am Leben blieb oder starb.

Wenn sie sich schlafend stellte, konnte sie Zeit gewinnen. Als läge sie in unruhigem Halbschlaf, steckte sie den rechten Arm unter die Decke und schob langsam die Hand unter das Kissen. Dort bewahrte sie ihren «Zahnstocher» auf, ein selbstgebautes Messer aus einer Rasierklinge und dem Stiel einer Zahnbürste. Es hatte ihr schon mehr als einmal das Leben gerettet, und sie war froh, es zu haben.

Nur, dass es nicht da war. Sie schlug alle Vorsicht in den Wind, tastete hektisch danach, suchte jeden Zentimeter der Matratze unter dem Kopfkissen ab. Und während sie das tat, sagte eine ruhige Stimme:

«Suchst du das hier?»

Leah konnte nicht anders, sie musste sich umdrehen und herausfinden, wer da gesprochen hatte. Die verschlossene Zelle war düster und voller Schatten. Sie konnte die Gestalt, die am Bettende saß, nicht erkennen, doch sie sah ihr eigenes Messer aufblitzen, als würde die todbringende Klinge ihr im Mondlicht zuzwinkern.

6

«Wir haben einen Messerangriff mit Tötungsabsicht. Wer will das übernehmen?»

Die Stimme von Detective Inspector Sanderson schallte durch das Büro der Ermittlungsabteilung. Trotz der frühen Stunde war der Raum gut gefüllt, unter den bekannten auch neue Gesichter. Es gab eine kurze Pause – konnte jemand noch einen Fall gebrauchen? –, dann hob DC Lucas die Hand, gerade als Edwards sich ebenfalls melden wollte.

«Ich mache das», sagte sie fröhlich. «Irgendwas Ungewöhnliches daran?»

«Eine Auseinandersetzung in einem Döner-Laden. Der Täter plädiert auf Selbstverteidigung, aber für mich sieht es nach versuchtem Mord aus.»

«Als Vegetarierin ist das genau mein Fall.»

Lucas gab sich locker, doch das Tempo, mit dem sie zu ihrem Dienstausweis und ihrer Tasche griff, strafte ihren Tonfall Lügen. Im siebten Stock hatte sich seit Helen Graces Verhaftung einiges geändert. Das ganze Team, auch Sanderson, hatte zu seiner inspirierenden Anführerin aufgeschaut, und ihr Niedergang hatte sich auf alle ausgewirkt. Sie war so lange die Leiterin des Ermittlungsteams gewesen, dass es eine Weile gedauert hatte, sich an ein anderes Gesicht in ihrem Büro zu gewöhnen. Doch allmählich fühlte sich Sanderson in ihrer neuen Rolle wohl, und sie nahm Lucas’ Eifer, sich zu beweisen, als Zeichen des Fortschritts. Vielleicht war ein Leben nach Helen Grace möglich.

Sanderson war der Meinung, eine Beförderung mehr als verdient zu haben, nachdem sie die schwierige Ermittlung gegen ihre kriminell gewordene Vorgängerin mit Konsequenz und Taktgefühl geführt hatte. Trotzdem war es ein Schock gewesen, als Detective Superintendent Gardam sie zur neuen DI ernannte. Er hatte sie beruhigt und ermuntert, ihr Team ganz nach Gutdünken umzustrukturieren. Einerseits sollte sie dadurch unterstützt werden, aber es war auch ein bewusster Versuch, den durch Helens Verhaftung angerichteten Schaden teilweise auszumerzen. Der Ruf der Hampshire Police hatte darunter gelitten, dass eine der ihren eine Mörderin war, und Gardam schien entschlossen, ihn wiederherzustellen. Er wusste, Sanderson hielt sich an die Regeln, was sich zweifellos positiv auf ihre Beförderung ausgewirkt hatte.

Wie erwartet blieb Charlie Brooks das Haar in der Suppe. Sie stand unerschütterlich zu Helen, und die Tatsache, dass sich Robert Stonehill zur Zeit der berüchtigten Sadomaso-Morde in Southampton aufgehalten hatte, bestärkte ihren Glauben an Helens Unschuld. Zwar ließ sich überhaupt keine Verbindung zwischen ihm und den Mordopfern finden, doch das machte keinen Unterschied. Charlie war wie besessen, und Sanderson hatte sie mehr als einmal zur Rede stellen müssen, weil sie nicht bei der Sache war.

Sie sah sich um und stellte zu ihrem Leidwesen fest, dass Charlies Stuhl leer war. Sie hatte sich nicht krankgemeldet, hatte heute keinen anderen Auftrag und wusste genau, dass sie nicht einfach fernbleiben durfte.

Was die Frage aufwarf: Wo war sie?

7

«Sehen Sie sich das Bild gut an. Erkennen Sie ihn?»

Der ältliche Ladenbesitzer beugte sich über die Süßigkeitenauslage und nahm Charlie das Foto aus der Hand.

«Was hat er getan?»

«Tätlicher Überfall, Körperverletzung, Diebstahl. Den Besitzer eines Teppichgeschäfts hat er halb tot geprügelt, um an die Kasse zu kommen. Das hätte jeden treffen können, lassen Sie sich also bitte Zeit.»

Die Lüge war so oft geübt, dass sie Charlie mit Leichtigkeit über die Lippen ging.

«Fieser Typ, wie?»

«Das können Sie mir glauben», bestätigte Charlie. «Wir nehmen an, dass er in der Gegend wohnt, vielleicht hat er sich hier mal Zigaretten und Bier besorgt?»

Schweigend betrachtete der Ladenbetreiber das Foto. Charlie biss sich auf die Zunge. Zwar wartete sie ungeduldig auf seine Antwort, wollte aber seine Konzentration nicht stören. Er war ungefähr der fünfzigste Ladenbesitzer, den sie in den letzten Wochen befragt hatte, und langsam hatte sie das Gefühl, sich an Strohhalme zu klammern.

Der Mann auf dem Foto war real – Robert Stonehill –, das Verbrechen, für das er angeblich gesucht wurde, dagegen reine Fiktion. Es gab weder den Teppichverkäufer noch den Überfall, und Charlie war klar, dass sie durch das Erfinden einer Straftat jede Polizeiregel brach. Aber so konnte sie eine Akte anlegen und sich Zeit verschaffen, um weiter zu ermitteln. Die Täuschung würde nicht lange funktionieren, irgendwann würde sie auffliegen, aber eine andere Möglichkeit hatte sie nicht.

Ein Telefonat mit Helen hatte gereicht, um Charlie von ihrer Unschuld zu überzeugen. Seitdem tat sie alles, um Helen freizubekommen. Sie hatte die Western Docks abgesucht, wo sich Roberts Schaltzentrale befunden hatte, doch keine handfesten Beweise finden können. Das Ermittlerteam hatte in dem verlassenen Gebäude, in dem Helen verhaftet worden war, zwar tatsächlich einen Abdruck von Vans-Turnschuhen in Größe 44 entdeckt, ihn aber als irrelevant abgetan. Charlie dagegen war sicher, dass er von Stonehill stammte.

«Was meinen Sie? Ist er hier gewesen? Er ist etwa eins achtzig groß, ein eher ruhiger Typ, normale Kleidung, aber teure Turnschuhe …»

Stonehill hatte während seiner Mordserie unter dem Namen Aaron West in einer abgelegenen Filiale von Wilkinson’s gearbeitet. Charlie hatte alle Strecken von den Tatorten zu dem Gebäude in den Docks herausgefiltert und war seitdem, bewaffnet mit einem Foto und einer aktuellen Beschreibung, auf den Straßen unterwegs, graste die Mini-Märkte und Zeitungskioske ab. Stonehill war clever, aber auch nur ein Mensch. Er musste essen.

«Tut mir leid. Ich kenne ihn nicht.»

«Schauen Sie noch mal drauf. Es ist wirklich wicht–»

«Ich würde Ihnen gerne helfen, aber er war nicht hier.»

Obwohl sein Blick immer noch freundlich war, sprach er in scharfem Ton. Vermutlich spürte er Charlies Verzweiflung. Sie nahm das Foto, bedankte sich und ging. Noch drei weitere Läden standen auf ihrer Liste, die sie gerade noch schaffen konnte, bevor ihre Abwesenheit die Kollegen misstrauisch machen würde. Egal, wie die Konsequenzen aussahen und wie deprimierend diese Tür-zu-Tür-Befragung sein mochte, aufgeben kam für Charlie nicht in Frage.

Nicht, solange Helen unschuldig hinter Gittern saß.

8

«Dann kann die Party losgehen.»

Sarah Bradshaws Stimme war laut und deutlich. Sie öffnete die elektronische Verriegelung der Zellentür. Die Bolzen glitten beiseite, und sie zog die schwere Tür auf. Sie schenkte dem leisen Maulen aus der Zelle keine Beachtung, ging weiter und öffnete eine Tür nach der anderen. Langsam kamen die Gefangenen aus ihren Zellen. Zu müde, um zu streiten, schlurften sie auf den Gang und warteten stoisch auf die Anweisung, zum Frühstück zu gehen. Kein Wunder, dass die Morgenkontrolle zu Sarahs liebsten Pflichten gehörte.

«Nehmt Haltung an, meine Damen. Ein neuer Tag im Paradies …»

Lächelnd öffnete sie die letzte Zellentür und ging über die Mittelgalerie auf die Ostseite. Instinktiv sah sie sich um – dank der Personalkürzungen war sie heute Morgen als Einzige im Dienst, und sie wusste aus Erfahrung, dass man den Insassen besser nicht den Rücken zukehrte. Zufrieden stellte sie fest, dass heute alle brav waren. Grace war wie immer die Erste, die anderen kamen nach und nach aus ihren Zellen. Die Junkies, Schizos und Irren, die einem sonst gerne mal ins Gesicht spuckten, waren heute still wie Kirchenmäuse. Erstaunlich, was Hunger bewirkte.

Schief pfeifend setzte Sarah ihren Weg fort und schwenkte im Gehen den Schlüsselbund. Am Ende ihrer Runde drehte sie sich um, um ihr Reich in Augenschein zu nehmen. Und bemerkte die Lücke in der Reihe.

Alle standen auf Position, außer Leah Smith. Sie war zwischen Helen Grace und Rosie Haynes untergebracht, Letztere eine notorische Diebin und häufiger Gast in Holloway. Die beiden standen auf dem Gang und warteten geduldig auf Anweisungen, doch Leah war nicht zu sehen. Da sie nicht zu Aufsässigkeit neigte, dürfte ihr Fehlen eher Krankheit oder Unpässlichkeit bedeuten. Im allerschlimmsten Fall war es Code Black, die Gefängnisterminologie für versuchten Selbstmord.

«Raus aus der Zelle, Smith. Lassen Sie Ihre netten Kolleginnen nicht warten …»

Das sollte zuversichtlich klingen, doch in Sarahs Stimme lag Anspannung. Selbstmorde waren unschön, hatten Alarm und Einschluss zur Folge und regten die anderen Gefangenen immer auf.

«Zwingen Sie mich nicht, reinzukommen und Sie zu holen. Nicht, wenn Sie heute was essen wollen …»

Immer noch keine Reaktion. Sarah machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Westseite der Abteilung. Die anderen Gefangenen wurden munter und machten phantasievolle Vorschläge, wie man Sarah Leah aus ihrem Schlummer wecken sollte. Sarah ignorierte sie, ging schnell den Flur entlang, an Baylis vorbei, an Cooke und schließlich an Grace. Vor Leahs Zelle holte sie tief Luft, zog die Tür auf und trat ein.

Zu ihrer Erleichterung war alles still. Sie hatte mit zerrissener Bettwäsche, Blut auf dem Boden oder einer Überschwemmung gerechnet. Smith lag auf dem Bett, von Kopf bis Fuß in ihre Decke eingehüllt.

«Bewegen Sie Ihren Arsch, Smith, sonst schreibe ich einen Bericht.»

Leah rührte sich nicht. Jetzt mischte sich Angst unter Sarah Bradshaws Ärger. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht benennen konnte, hatte sie das deutliche Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Alles wirkte normal, aufgeräumt und sauber … doch die Stille schien ihr den Atem zu nehmen.

Sarah musste es wissen. Sie trat einen Schritt nach vorne, packte eine Ecke der Decke, zählte im Stillen bis drei und zog sie mit Schwung vom Bett.

9

Cathy Smith zog die Bettdecke zurück, unter der sich Dylan und Caleb versteckt hatten. Seit über einer halben Stunde schon versuchte sie die fünfjährigen Zwillinge zum Aufstehen zu bewegen, doch die beiden waren heute Morgen widerspenstig. Zwar hatte Cathy sie irgendwann aus dem Etagenbett vertrieben, doch sie waren erst in Cathys Schrank, dann in ihr Bett geflohen.

Diesmal gab es keine Gnade. Nachdem sie das Versteck gefunden hatte, zog sie die Decke weg und brachte die kichernden Ausreißer zum Vorschein. Einen neuerlichen Fluchtversuch unterband sie, indem sie die beiden packte, sich einen unter jeden Arm klemmte und sie aufs Bett zurückzerrte. Eine Minute lang wehrten die Jungs sich noch, protestierten und traten, dann sahen sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage ein, warfen sich auf Cathy und kitzelten sie nach Kräften durch. Cathy schimpfte – sie war eine äußerst kitzelige Großmutter –, doch insgeheim genoss sie jede Sekunde. Trotz ihrer schon früh belasteten Kindheit waren die beiden Jungs offen und liebevoll.

Als ihre Mutter zur Mörderin wurde, waren sie erst sechs Monate alt gewesen. Cathy dachte jeden Tag an jene Nacht, überlegte immer wieder, ob sie etwas hätte tun können. Wenn sie sich geweigert hätte, auf die Jungs aufzupassen, dann wäre Leah nicht in diesen Pub gegangen und nicht ihrem nichtsnutzigen Freund mit einer anderen Frau begegnet. War sie zu nachgiebig gewesen? Hatte sie die Launen ihrer Tochter, ihre Trinkerei, ihren Jähzorn zu oft hingenommen? Cathy warf sich ihre Fehler häufig vor, gab sich selbst die Schuld an der ganzen Tragödie. Dann wieder sagte sie sich, dass es einfach Pech gewesen war. Leah hatte das Mädchen nicht töten wollen, hatte nichts von deren Schwangerschaft geahnt …

So viele Leben in einem einzigen Moment des Wahnsinns zerstört. Die Eltern des Mädchens waren nie über den Verlust hinweggekommen, Leah saß eine lebenslange Haftstrafe ab, und Cathy erzog zwei kleine Jungen, ohne einen Mann im Haus oder ein festes Einkommen zu haben. Es war ein täglicher Kampf, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, trotzdem … jeder Tag brachte auch kleine Überraschungen, Momente der Freude, die sie für alles entschädigten. Cathy war erschöpft, machte aber den Jungs ihre Rolle als Ersatzmutter niemals zum Vorwurf. Wenn sie sie nicht aufgenommen hätte, wären sie in Pflegefamilien gelandet.

Cathy hielt die Familie zusammen. Eines Tages würde Leah entlassen werden, und dann würden sie alle wieder zusammenleben. Bis dahin meckerte und jammerte sie nicht. Sie tat, was getan werden musste, und machte das Beste aus den unregelmäßigen Besuchen in Holloway. Überall in der Wohnung standen und hingen Fotos von Leah, auch wenn sie den direkten Kontakt nicht ersetzen konnten.

Nach einem Blick auf die Uhr zog Cathy die Jungs an sich, küsste sie abwechselnd auf beide Wangen und sagte: «Frühstück, dann anziehen und Zähne putzen. Doppeltes Tempo, bitte.»

Die Jungs maulten, doch Cathy hatte ein Ass im Ärmel.

«Für brave Jungs, die machen, was man ihnen sagt, gibt es Coco Pops. Und wir wollen ja pünktlich bei Mummy sein, oder?»

Cathy lächelte, als die Jungs losstürmten. Sie wusste, dass diese kurzen Besuche Leah alles bedeuteten. Und ehrlich gesagt, ihr auch.

10

Helen schob sich durch eine Menschentraube und hielt nach einem Zufluchtsort Ausschau. So voll hatte sie die Kantine noch nie erlebt: Die aufgeregten Häftlinge hatten sich hier versammelt, weil die Menge Sicherheit bot. Kein einziger Sitzplatz war mehr frei. Helen wurde kaum jemals an einen Tisch eingeladen, fand aber normalerweise immer irgendwo einen einsamen Platz. Doch heute Morgen waren die Knastgangs und -cliquen vollzählig versammelt. Jene, die Helens Blick erwiderten, sandten Hass und Misstrauen aus, als wäre sie irgendwie schuld am Tod ihrer Zellennachbarin.

Mit dem Frühstückstablett in den Händen drehte Helen eine weitere Runde durch den Raum. Jeder Schritt wurde ihr schwergemacht, Ellbogen bohrten sich in ihre Rippen, doch schließlich hatte sie Glück. Jordi, eine fröhliche Ex-Prostituierte, sah sie und rutschte zur Seite, um Platz zu machen. Sie war Analphabetin, und seit Helen ihr vor kurzem bei einem Bewährungsantrag geholfen hatte – Jordi hatte Töchter im Teenageralter, die sie furchtbar vermisste –, gingen sie freundschaftlich miteinander um. Daher dieser Akt der Güte.

Helen setzte sich schnell und sah sich um. Am Tisch saßen Babs, eine siebzigjährige Lebenslängliche mit kaputter Hüfte, aber gutem Herzen, die Helen zunickte und Jordis Großmut schweigend billigte. Außerdem Noelle, eine übermütige Drogendealerin, die sich Helen gegenüber immer fair verhalten hatte und jetzt mit einem raschen Lächeln ihre Goldzähne entblößte, bevor sie sich wieder ihren Cornflakes widmete. Die anderen kannte Helen kaum, sie rechnete mit Ablehnung, doch die Stimmung war heute Morgen allgemein gedrückt. Die Feindseligkeiten schienen nach den schockierenden Ereignissen der vergangenen Nacht weitgehend eingestellt worden zu sein. Helen bemerkte, dass nicht einmal Lucy heute Morgen ihr Fett abbekam.

«Isst du nichts?», fragte Babs, da Helen nur mit ihrem Frühstück herumspielte.

«Vielleicht später.» In Wahrheit bekam sie nichts herunter.

«Iss lieber was. Bis zum Mittagessen kriegst du nichts mehr.»

Helen gab nach und nahm eine verbrannte Toastscheibe, doch bevor sie abbeißen konnte, mischte sich Jordi ein.

«Hast du gestern Nacht irgendwas gehört?»

«Verdammt noch mal, Jordi», ging Noelle dazwischen. «Lass die Frau doch in Ruhe essen.»

«Frag ja nur …»

«Nichts.»

Jordi wirkte über Helens Antwort enttäuscht.

«Ich war die halbe Nacht wach, trotzdem …»

«Und hast du irgendwas gesehen? Als Bradshaw rein ist?»

Wieder schüttelte Helen den Kopf. Bei der Morgenkontrolle stand man neben der Zelle und rührte sich nicht. Das gehörte zu der unumstößlichen Gefängnisroutine, die zu durchbrechen man besser nicht riskierte, doch inzwischen bereute Helen ihren Gehorsam. In dem Moment, als Sarah Bradshaw Leahs Zelle betreten hatte, war ihr klar gewesen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie hatte Bradshaws halb unterdrückten Schrei gehört, die raschen, gezischten Kraftausdrücke und das schrille Kreischen des Alarmsignals, das die panische Beamtin ausgelöst hatte. Campbell, Robins und die anderen waren angerannt gekommen. Die hungrigen Gefangenen wurden wieder eingesperrt, bis Leahs Zelle ordentlich versiegelt worden war, und so wusste Helen nicht, was wirklich passiert war.

Code Black. Den Gedanken hatten alle gehabt, doch im Knast verbreiteten sich Gerüchte schnell, und die Spekulationen klangen zunehmend düsterer. Es hieß, Leah Smith wäre ermordet worden.

Helen war keine große Freundin von Leah gewesen, die als misstrauisch, feindselig und gewalttätig bekannt gewesen war. Doch sie war auch der erste Mensch, dem Helen in Holloway begegnet war, und sie hatte es übernommen, sie einzuweisen. Dieser Großmut einer verhafteten Polizistin gegenüber hatte Helen überrascht, später allerdings hatte sie sich gefragt, ob Leah sich deswegen mit ihr abgab, weil sie bei allen unbeliebt war. Helen hatte nie herausgefunden, warum Leah so verhasst war. Wer Verbrechen an Kindern oder Babys begangen hatte, wurde natürlich besonders verachtet, doch bei Leah schien noch etwas anderes dahinterzustecken. Helen fragte sich, was das sein mochte, es fuchste sie, dass sie nichts über Leahs Vorgeschichte und Schicksal wusste. Draußen hätte sie die Antworten bekommen. Hier drinnen war sie so hilf- und ahnungslos wie der Rest.

«Wenn sie wirklich abgemurkst worden ist, dann gibt es jede Menge Verdächtige», sagte Noelle düster und warf einen Blick durch die Kantine.

«Ruhig, Noelle. Wirf bloß keinen Stein», warnte Babs sanft.

«Stimmt aber doch, oder? Jede Menge Leute mit schlechtem Gewissen hier.»

Jordi war an Noelles kriminalistischen Spekulationen nicht interessiert und erhob sich, um Nachschlag zu holen, doch Helen wollte hören, was Noelle zu sagen hatte – auch wenn die meisten «Fakten» eher unbewiesene Gerüchte waren. Leah hatte auf der schwarzen Liste gestanden und war zum Abschuss freigegeben. Obwohl sie sich in letzter Zeit bemüht hatte, clean zu werden, hatte sie regelmäßig Drogen und Alkohol konsumiert und war sowohl mit den Schließern als auch den Knastgangs aneinandergeraten. Außerdem war ihr Jähzorn allgemein bekannt. Erst vor kurzem hatte sie einer der Küchenhelferinnen, die ihr angeblich eine zu kleine Portion gegeben hatte, angedroht, ihr ein Auge auszustechen. So lief es im Knast.

Noelle plapperte weiter, aber es war schwer, etwas Konkretes aus ihr herauszubekommen. Babs hatte die «Golden Girls» angezapft – die kleine Gruppe von Frauen im Rentenalter, die ihr Lebensende in Holloway erwarteten –, hatte aber nichts in Erfahrung gebracht, und so waren alle überrascht, als schließlich Jordi atemlos und aufgeregt mit großen Neuigkeiten von der Essensausgabe zurückkam.

«Sandra kennt ein Mädel, die im Büro der Gefängnisleiterin arbeitet.» Sie zeigte auf die stämmige Köchin. «Die sagt, es ist eine Einheit von draußen hereingerufen worden.»

Dann war es also kein normaler Selbstmord. Helen sagte nichts, aber sie wusste, dass der «Prison and Probation Service», eine Spezialabteilung des Justizsystems, nur gerufen wurde, wenn ungewöhnliche oder verdächtige Umstände vorlagen.

«Es heißt, sie ist im Bett ermordet worden und dass … sie ziemlich zugerichtet war. Ihr Mund war zugenäht. Und ihre Augen.»

Helen starrte Jordi an und konnte kaum glauben, was sie da hörte.

«Die Augenlider waren an die Wangen angenäht worden. So wurde sie gefunden, die Augen zu, von Ohr zu Ohr grinsend …»

Noelle schwieg. Jordi begann zu weinen. Sogar Babs wirkte betroffen, und sie hatte mehr gesehen als die meisten. Helen hielt den Mund, doch ihre Gedanken rasten. Sie hatte einige makabre Geschichten über Knastjustiz gehört, doch das hier war etwas anderes. Bei dem Gedanken wurde ihr übel, und damit schien sie nicht allein zu sein: Als Sandras Bericht in der Kantine die Runde machte, veränderte sich die Atmosphäre dramatisch. Normalerweise ging es beim Essen laut und hitzig zu. Nicht so heute.

Heute herrschte nackte Angst.

11

Der Anblick war grauenvoll. Die Decke, von Sarah Bradshaw fallen gelassen, lag zerknittert neben dem schmalen Bett mit der verstümmelten Leiche von Leah Smith.

Celia Bassett leitete das Gefängnis von Holloway schon seit über fünf Jahren, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt. Leahs Gesicht war wächsern und blass, der Körper starr, Blut war nirgendwo zu sehen. Die im Leben so unbeherrschte Leah wirkte fast ruhig und friedvoll, wäre da nicht das verzerrte Grinsen auf ihrem verschandelten Gesicht gewesen.

Celia machte einen Schritt, die Plastiküberschuhe erzeugten auf dem Boden ein schlurfendes Geräusch. Sie zwang sich, alles genau zu betrachten. Sofort fiel ihr die Farbe des Baumwollfadens auf – ein hübsches Taubenblau –, außerdem die Sorgfalt, mit der die Naht ausgeführt worden war. Sie war nicht perfekt, wahrscheinlich in aller Hast und im Dunkeln entstanden, aber effektiv: Der Mund war fest vernäht und an den Winkeln zu einem Grinsen hochgezogen. Die Augenlider waren ähnlich sorgsam an Leahs Wangen angenäht.

«Immerhin ist sie mit einem Lächeln gestorben», sagte eine Stimme hinter ihr, Sarkasmus untermalte den singenden schottischen Tonfall.

«Halten Sie den Mund, Campbell, das ist nicht witzig.»

«Ob witzig oder nicht, es ist nicht länger unser Problem …»

Celia wandte sich um, um ihren Vollzugsdienstleiter zurechtzuweisen, doch der war schon halb aus der Tür. Seit sein Amtsvorgänger plötzlich gekündigt hatte, fungierte Campbell als Leiter der Sicherheit, doch diese Tragödie schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Celia war wütend – ganz abgesehen von den Zuständigkeiten war Leah Smith schließlich ein Mensch gewesen, verdammt noch mal –, aber über Campbells müden Zynismus nicht überrascht. Holloway würde am Jahresende schließen, und die wenigen Justizbeamten, die bis dahin die Stellung hielten, waren mehr als erschöpft, von Alltagsstress, Beschimpfungen und Gewalt zermürbt. Und ein solcher Zwischenfall war äußerst ungünstig, da er die Mitarbeiter möglicherweise in ein schlechtes Licht rückte und ihre Chancen auf eine anständige Versetzung schmälerte, wenn sich die Türen von Holloway endgültig schlossen.

Und natürlich hatte Campbell recht. Es lag nicht mehr in ihren Händen. Sie hatte den Prison and Probation Service verständigt, ein Ermittler war auf dem Weg, um die Aufklärung des Mordfalls zu übernehmen. Celia wusste aus Erfahrung, dass die Kollegen vom PPS keine Gnade kannten, sie arbeiteten gründlich und hartnäckig und kümmerten sich bei ihrer Jagd nach «Fakten» nur wenig um die Umstände. Das würde den Gefängnisalltag stören, Beamte und Gefangene gleichermaßen in Aufruhr versetzen und möglicherweise einige extrem unangenehme Wahrheiten ans Tageslicht bringen.

Celia sah noch einmal die Leiche an, und das Herz wurde ihr schwer. Leahs Leidensweg war vorüber. Für alle anderen begann der Albtraum erst.

12

«Warum können wir sie nicht sehen? Wo ist das Problem?»

Cathy Smith war sonst eine ruhige Frau, doch jetzt verlor sie langsam die Geduld. Die Fahrt nach Holloway in zwei Bussen und der U-Bahn war umständlich, und wenn man endlich ankam, lief nichts nach Plan. Sie hatte diverse Putzjobs und musste zwei kleine Jungs durchbringen, Zeit war Geld, aber das schien hier niemanden zu kümmern. Besuchszeiten, angeblich in Stein gemeißelt, wurden nur selten eingehalten, und wenn man versuchte herauszubekommen, was los war, erntete man nur leere Blicke. Es war, als wollten die Behörden auch die Verwandten der Missetäterinnen bestrafen, selbst wenn diese völlig unschuldig waren.

Cathy und die Kinder warteten schon seit über einer Stunde. Das Besucherzentrum bot den Zwillingen keine Ablenkung, nur der kleine Plastikweihnachtsbaum, den man aufgestellt hatte, hielt sie halbwegs bei Laune. Nach der langen Fahrt hatten sie bei dessen Anblick große Augen bekommen, gerührt hatte Cathy ihrer aufgeregten Diskussion gelauscht, was der Weihnachtsmann ihnen dieses Jahr vielleicht bringen würde. Doch als die Jungs herausfanden, dass die so interessant aussehenden Geschenke unter dem Baum in Wirklichkeit leere Kartons waren, begannen sie zu maulen. Sonst ließ Cathy sie immer mit ihrem Handy spielen, auch wenn das meist zu Streit führte, doch der Akku war alle. Heute schien alles schiefzugehen. Allmählich wütend, verlangte sie jetzt zum dritten Mal Auskunft von dem Beamten im Besucherzentrum.

«Ich habe das Büro der Gefängnisleitung gebeten, jemanden zu schicken, aber ehrlich gesagt tappe ich im Moment genauso im Dunkeln wie Sie. Am Telefon komme ich nicht durch …»

«Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut», murmelte Cathy und wartete nicht ab, ob noch mehr kam. Warum mussten die immer alles so kompliziert machen?

Sie überlegte gerade, was sie tun sollte, als Mark Robins ins Besucherzentrum kam. Dies war der kürzeste Weg nach draußen, und offensichtlich hatte Robins es eilig, doch Cathy stellte sich ihm in den Weg. Er war zu ihr und Leah immer nett gewesen, bei ihm konnte man hoffen, auf eine klare Frage eine klare Antwort zu bekommen.

Als Cathy ihn am Arm berührte, machte Robins einen Satz, als hätte er einen Stromschlag abbekommen. Der sonst so freundliche Beamte schien heute nicht zu wissen, was er sagen sollte, also kam Cathy ihm zuvor.

«Ich weiß, Sie haben es eilig, Mr. Robins, bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir wollen Leah besuchen, werden aber die ganze Zeit mit Ausreden hingehalten. Mir macht das Warten nichts aus, aber die Jungs …»

Anstatt irgendetwas Beruhigendes zu sagen, blieb Robins stumm.

«Wenn es nicht klappt, würde ich das einfach gerne wissen», fuhr Cathy schnell fort. «Die Jungs werden zwar enttäuscht sein, aber ich will hier nicht mit ihnen endlos rumhängen müssen. Wir können jederzeit wiederkommen.»

Cathys letzte Worte schienen etwas auszulösen, denn Robins machte den Mund auf.

«Hören Sie, Cathy, bleiben Sie besser hier. Ich sage oben Bescheid, dass jemand kommen und mit Ihnen sprechen soll.»

«Mit mir sprechen? Warum sollte jemand mit mir sprechen?»

«Das sollen die Ihnen alles sagen», wehrte Robins ab. «Ich muss jetzt los, aber ein Familienberater wird gleich bei Ihnen sein. Das verspreche ich Ihnen.»

«Ein Familienberater …?»

Das Wort erstarb auf ihren Lippen. Robins hatte sich bereits aus ihrem Griff befreit und war auf dem Weg zur Tür. Cathy sah ihm nach, plötzlich von Furcht erfüllt. Der sonst so hilfsbereite Robins wirkte überfordert, geradezu ängstlich. Was zum Teufel ging hier vor? Was war mit Leah passiert?

Im Hintergrund lachten die Jungs, sie spielten mit den Geschenken unter dem Baum Weihnachtsmann. Cathy schaffte es nicht, sich umzudrehen und sie anzusehen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass Weihnachten in diesem Jahr eine trübselige Angelegenheit werden würde.

13

Sie gingen im Gleichschritt hintereinander. Die Gefangenen standen nach Leahs brutaler Ermordung unter Schock, aber die betäubende Routine des Gefängnisalltags holte sie schnell wieder ein. Auf dem Programm standen Unterricht, Gemeinschaftsstunden, Sport und Telefonate, nach dem Frühstück wurden sie allerdings erst einmal in den Duschraum geschickt.

Für Helen war das morgendliche Duschen immer eine Qual. Sie hasste es, sich vor anderen zu entblößen, und musste sich taub stellen gegen den Hohn, der auf sie einprasselte, wenn ihre Mitgefangenen ihren vernarbten Körper sahen. Außerdem schockierten sie die Gerüche, Geräusche und Anblicke – Frauen, die von ihren Liebhaberinnen lautstark zum Orgasmus gebracht wurden, Lucy, die Transsexuelle, die nach einem weiteren «schmutzigen Streik» um sich tretend und schreiend unter die Dusche gezerrt wurde, und manchmal sogar ungeschickte, blutige Selbstmordversuche.

Heute jedoch verdrängte Helen ihren Widerwillen, sie hatte etwas zu erledigen. Sie duschte schnell, lief dann an den Kabinen entlang und spähte wie eine Spannerin durch den Dampf. Das brachte ihr Einladungen und Pfiffe ein, die sie allesamt ignorierte. Endlich fand sie, wen sie suchte. Rosie Haynes spülte gerade den Seifenschaum ab, als sie von Helen gepackt und in eine Ecke gezerrt wurde.

«Was geht ab?», fauchte Rosie, alles andere als begeistert darüber, mit der so unbeliebten Mitgefangenen zu tun zu haben.

«Nichts, ich will bloß kurz reden.»

Als andere sich zu ihnen umdrehten, stellte Helen die Dusche wieder an. Sofort stieg der Geräuschpegel wieder, die schrecklichen Ereignisse der Nacht waren immer noch das Top-Gesprächsthema.

«Worüber?», fragte Rosie schroff.

«Leah, natürlich.»

«Was soll ich sagen? Du kennst die Gerüchte.»

«Das meine ich nicht. Hast du gestern Nacht irgendwas gesehen oder gehört?»

Es war ein Schuss ins Blaue, aber Helen musste fragen. Der Gedanke, dass ihre Zellennachbarin auf brutale Weise ermordet und verstümmelt worden war, während sie nebenan geschlafen hatte, ließ ihr keine Ruhe. Rosies Zelle lag auf der anderen Seite neben Leahs, vielleicht hatte sie etwas mitbekommen.

«Ich bin gegen drei eingeschlafen und war kurz nach sechs wieder wach. Hast du in der Zeit dazwischen irgendwas gehört?», fragte Helen.

«Keinen Mucks.»

«Komm, Rosie, ich weiß, dass du nicht gut schläfst.»

«Gestern Nacht hatte ich Glück. Hab acht Stunden durchgepennt.»

Das klang fast triumphal und ärgerte Helen.

«Und ist dir sonst irgendwas zu Ohren gekommen?», fragte sie. «Weißt du, ob sie Probleme mit irgendwem hatte?»

«Ist das dein Ernst?», spie Rosie mit lauter Stimme zurück. «Die blöde Fotze hat ein Kind getötet. Hat dem Mädel ein Messer in den Bauch gestochen. Angeblich hat sie nicht gewusst, dass die schwanger war, aber alle denken, sie wusste ganz genau, was sie tat. Fast ein Wunder, dass sie hier drinnen so lange durchgehalten hat.»

«Das meinst du nicht so.»

«Ach ja? Wenn du mich fragst: Das Gefängnis ist zu gut für solche wie sie.»

«Warum setzt du dich eigentlich für sie ein?»

Überrascht, eine neue Stimme zu hören, drehte Helen sich um. Chantelle, ein bunt tätowiertes Gangmitglied, stand vor der Duschkabine.

«Weißt du was?», fragte sie misstrauisch.

«Natürlich nicht», erwiderte Helen. «Ich versuche nur, rauszufinden, was gestern Nacht passiert ist. Leah hat zwei kleine Söhne …»

«Sieh mal an, eine Schlampe kümmert sich um die andere», höhnte eine Frau, die dazugekommen war. «Schon komisch, dass sie euch beide zusammengelegt haben, wie?»

Helen war auf einmal von einer Gruppe halbnackter Frauen umstellt, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. Wie viele in Holloway hatte Leah Smith einen Haufen Probleme gehabt und eigentlich eher in die Psychiatrie als in den Knast gehört. Aber dafür gab es wenig Mitgefühl. In den Augen der anderen Knackis war Leah einfach eine Kindsmörderin gewesen, die ihr Recht zu leben verwirkt hatte.