No Way Back - Matthew J. Arlidge - E-Book

No Way Back E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Sie ist Southamptons erfolgreichste Ermittlerin und Leiterin der Mordkommission: D.I. Helen Grace. In zwei Short Storys erzählt Bestsellerautor Matthew J. Arlidge, wie Helen Grace wurde, wer sie ist.

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Matthew J. Arlidge

No Way Back

D.I. Helen Grace: Zwei Short Storys

Thriller

Aus dem Englischen von Stefan Lux

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sie ist Southamptons erfolgreichste Ermittlerin und Leiterin der Mordkommission: D.I. Helen Grace. In zwei Short Storys erzählt Bestsellerautor Matthew J. Arlidge, wie Helen Grace wurde, wer sie ist.

Über Matthew J. Arlidge

Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit mehreren Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist. Der Auftakt der Helen-Grace-Reihe «Einer lebt, einer stirbt» war in England das erfolgreichste Debüt 2014, die Reihe erscheint in 30 Ländern.

No Way Back

1

«Mein Name ist Jodie Haynes.»

Sie wissen, wer ich bin, zwingen mich aber, es laut auszusprechen. Mit gesenktem Kopf murmele ich meinen Namen und spüre, wie ich rot anlaufe. Ich habe alles an mir verändert – meine Frisur, meine Kleidung, sogar die Art, wie ich rede –, aber diese eine Sache kann ich nicht ändern.

Sie füllen die Formulare aus, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Dies ist das dritte Heim, in das man mich steckt, und jedes Mal bin ich wie eine Art interessanter Freak aufgenommen worden. Vor zwei Jahren hat meine Schwester unsere Eltern ermordet, wodurch meine Familie ziemlich berühmt wurde. Sie war sechzehn, als sie es tat, und sitzt jetzt zweimal lebenslänglich in Holloway ab. Meine Situation ist nicht wesentlich besser – ich war damals dreizehn und bin jetzt fünfzehn –, und auch wenn mein Name aus den Zeitungen herausgehalten wurde, kennen die Sozialarbeiter und das Heimpersonal meine Geschichte. Man kann es in ihren Augen lesen, in ihren geflüsterten Kommentaren hören. Jede Wette, dass die Nachricht von meiner Ankunft bereits die Runde macht – jedes kaputte Kind im Haus macht sich in diesem Moment Gedanken, ob es sich lieber mit mir anfreunden sollte, mir aus dem Weg gehen oder mich fertigmachen will.

Ich wuchs in South London auf, doch weil die Kollegen meines Dads nach wie vor in der Gegend wohnen, wurde beschlossen, mich woandershin zu schicken. Nach Surrey, Sussex und jetzt nach Hampshire. Ins Grove-Street-Kinderheim in Basingstoke. Ich bin zum ersten Mal in Basingstoke. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal genau, wo es liegt.

Die Heimleiterin – Carole – nimmt meine Tasche und legt mir einen Arm um die Schulter. Es mag so aussehen, als wolle sie mich trösten, doch in Wirklichkeit «hilft» sie mir durch die Tür. Jedes Kind erlebt diesen Moment bei der Ankunft in einem neuen Heim – die Füße verweigern den Dienst, man bekommt keine Luft –, und ich spüre, wie ich durch den Gang geschoben werde. Ich versuche, geradeaus zu schauen und die Tränen zurückzuhalten, aber es gelingt mir nicht besonders gut. Es sind immer die Geräusche, die mir an die Nieren gehen – das Rufen, Streiten und Lachen der gesichtslosen, fremden Mädchen. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind. Oder was ich von ihnen zu erwarten habe.

«Ruhe jetzt! Unser Neuankömmling soll uns doch nicht für unzivilisiert halten, oder?», brüllt Carole mit heiserer Stimme, als wir den Schlafsaal betreten. Gleichzeitig knipst sie das Licht aus.

Die Mädchen murren und legen ihre Exemplare von Just Seventeen und Smash Hits auf den Boden. In der Dunkelheit kann ich sechs Betten, vier Wände und eine Heizung erkennen. Keine Nachttische, keine Stühle, nichts, was nicht im Boden verankert wäre. Sofort muss ich an Marianne denken: Ist ihre Gefängniszelle besser als das hier? Dann werde ich zu dem leeren Bett links von mir gestoßen. Das ist es also. Mein neues Zuhause.

Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und krieche ins Bett. Carole bleibt noch einen Moment stehen, dann verschwindet sie. Niemand sagt etwas oder zeigt irgendein Interesse an mir, allerdings bemerke ich, dass das Mädchen im Bett gegenüber mich anstarrt. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe mir die Decke über den Kopf und tue so, als ob ich schlafe. Doch meine Sinne sind hellwach: Ich rieche die Ausdünstungen frischer Farbe und billiges Deodorant. Auch meine Augen bleiben weit offen. Irgendwann schlafe ich ein, schrecke aber sofort auf, als ich merke, wie sich mein Bett bewegt. Ich richte mich auf und sehe, dass ein Mädchen meine Tasche durchwühlt.

«Hey!»

Das Mädchen schaut nicht mal auf, also greife ich nach der Tasche. Sie versetzt mir einen kräftigen Stoß, und jetzt bemerke ich, wie groß sie ist. Um die eins achtzig, und ziemlich kräftig gebaut. Ich überlege, ob ich mich mit ihr anlegen soll – alles Wertvolle ist längst verschwunden, aber in meiner Tasche befinden sich ein paar Fotos von Marianne, die niemand in die Finger bekommen soll.

«So sieht sie also aus?»

Mit einem hämischen Grinsen legt sie ihren schmutzigen Finger auf Mariannes Gesicht. Sie hält das Foto von uns beiden in der Hand, das Sparky vor Merrimans Laden gemacht hat.

«Also?»

Sie verpasst mir einen Stoß in die Rippen und wedelt mit dem Bild vor meinem Gesicht herum. Dann ist das Foto plötzlich aus ihrer Hand verschwunden. Das Mädchen aus dem Bett gegenüber hat es genommen und hinter ihrem Rücken in Sicherheit gebracht. Das größere Mädchen tritt auf sie zu, bleibt aber plötzlich zögernd stehen. Meine Bettnachbarin hält eine Eisenstange in der Hand. Einen kurzen Moment scheint ihre Kontrahentin trotzdem auf sie losgehen zu wollen, doch die Stange ist schwer und läuft am Ende spitz zu. Also besinnt sie sich und begnügt sich damit, beim Hinausgehen auf mein Bett zu spucken, ehe sie in ihren eigenen Schlafsaal verschwindet.

«Typisch Jaz», sagt meine Beschützerin, setzt sich auf mein Bett und gibt mir das Foto zurück. «Sie glaubt, der Laden gehört ihr. Wenn du ihr nicht die Stirn bietest, bist du hier mehr oder weniger am Ende.»

Ich nicke, sage aber nichts.

«Ich bin Gemma.»

«Jodie.»

«Ich weiß, wer du bist», fährt sie fort und streckt mir die Hand entgegen. Ich schüttele sie, und es fühlt sich warm an. «Und ich schätze, du machst dir jetzt ziemlich in die Hose. Aber keine Sorge – so schlimm ist es hier nicht. Alles wird gut.»

Ich ziehe meine Hand zurück und ringe mir ein Lächeln ab. Ich möchte ihr wirklich glauben.

2

In den nächsten Tagen rettet Gemma mir mehrfach den Arsch. Jedes Heim hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Regeln, und man muss sehr genau hinschauen, wem vom Personal man besser aus dem Weg geht, um welche Mädchen man einen Bogen macht und wie man sich klitzekleine Vorteile bei der Hausarbeit, der Nachtruhe und den Essenszeiten verschafft. Wenn die Köche einen mögen, ist das Leben erträglich – es gibt nie genug Essen für alle, und irgendein armes Schwein geht am Ende immer leer aus. Doch Gemma steckt den Köchen Zigaretten zu, sodass auf sie achtgegeben wird. Als ihre neue Freundin profitiere auch ich davon.

Jaz weicht mir inzwischen aus. Die häuslichen Pflichten und Unterrichtsstunden sind erträglich, und ich erkenne bald, dass Gemma hier einen besonderen Status genießt. Sie hat ihr komplettes Leben in Heimen verbracht, seit ihre Junkie-Mutter sie mit zwei Jahren auf dem Krankhausparkplatz ausgesetzt hat. Und scheinbar hat sie das System durchschaut. Die anderen Mädchen halten sich von ihr fern, und Carole lässt ihr alles durchgehen, solange sie damit nicht vor den anderen prahlt.

An meinem dritten Tag schleichen wir uns in den Keller. Überall verlaufen Rohre, es gibt zerschlissene Sofas und ein ramponiertes Tapedeck. Gemma legt ihre Musik auf und rollt total dreist einen Joint. Wir sitzen da und rauchen, als hätten wir ein völlig sorgenfreies Leben. In einer Endlosschleife hören wir ihre Lieblings-Acid-House-Hymnen – Adonis, Jesse Saunders, Sleezy D. Später stolpern wir in unsere Betten, plappernd und kichernd wie die Idioten. Die anderen Mädchen im Schlafsaal brüllen uns an, endlich Ruhe zu geben, doch wir können einfach nicht aufhören. Zum ersten Mal seit Jahren lache ich beim Einschlafen in mein Kissen.

Als ich wach werde, läuft in meinem Kopf immer noch «No Way Back» von Adonis, und obwohl ich Durst habe und mich ein bisschen benebelt fühle, lächle ich gleich wieder. So geht es auch Gemma – wir können den ganzen Tag nicht damit aufhören. Wir reden kaum ein Wort miteinander, das ist nicht nötig.

 

Der Kellerraum wird bald unser besonderer Ort. So oft wie möglich – selbst abends, wenn schon die Lichter gelöscht sind – gehen wir nach unten und genießen unsere Freiheit. Ich begreife nicht, wie Gemma damit durchkommt, aber bei unserem vierten oder fünften Besuch wird es mir klar. Während sie mir die Wodkaflasche reicht, fragt Gemma mich, ob ich schon mal eine Freundin hatte. Ich sage, sie soll bloß aufhören, und rattere eine Liste von Namen herunter, auch wenn es sich in Wirklichkeit eher um Mariannes Freundinnen handelt als um meine. Gemma wirkt heute traurig, trotz des Alkohols und der Zigaretten, die wir heruntergeschmuggelt haben. Mir wird klar, dass sie nie jemanden gehabt hat, dem sie etwas bedeutete. Sie fragt mich über mein Leben aus. Ich glaube, sie will heute Abend von schönen Dingen hören, also erzähle ich ihr von meiner Großmutter Helen, die uns Süßigkeiten, Schokolade und Geld zugesteckt hat, wenn ihr Scheißkerl von Ehemann nicht hinguckte. Und ich erzähle von Marianne, die selbst in ihrer schlimmsten Stunde versucht hat, mich zu beschützen. An der Stelle weint Gemma, und ich strecke den Arm aus, um sie zu trösten, doch sie schüttelt mich ab. Behauptet, sie hätte etwas viel Besseres als Süßigkeiten, zieht ein Tütchen mit Pillen aus ihrer Tasche und bietet mir eine an. Ich zögere, dann nehme ich zwei. Sie schmecken süß auf meiner Zunge.

3

Zuerst weiß ich nicht, wo ich bin. Ich war auf einem Trip – mit Engeln und Sonnenuntergängen und einem Mann, der versucht hat, einen riesigen Stein zu bewegen – und muss das Bewusstsein verloren haben. Als ich zu mir komme, ist es dunkel und riecht streng nach abgestandenem Rauch, alten Sofas und Schweiß. Dann realisiere ich, dass ich noch in unserer Höhle bin, aber Gemma ist verschwunden. An der Wand steht Carole, und zuerst rechne ich damit, dass sie mir gehörig die Leviten liest. Dann aber merke ich, dass sie mich beobachtet.

Auf mir ist ein Mann. Ich kenne ihn nicht. Er ist alt, unrasiert und stinkt nach billigem Rasierwasser. Er zerrt an meiner Kleidung, schiebt seine Hand unter mein Oberteil. Ich spüre, wie er meine Brüste drückt, dann krallt er sich in meinen Rock. Zuerst kann ich mich nicht bewegen, keine Ahnung, ob es an den Drogen oder an der Angst liegt. Doch dann spüre ich seine heißen Hände auf meinen Oberschenkeln, und plötzlich trete, zappele und schreie ich. Er schlägt mich. Mein Kopf wird nach hinten geschleudert, prallt aber vom Sofa ab und schießt auf ihn zu. Ich gehe auf ihn los, öffne den Mund und will ihm ins Gesicht beißen. Er zuckt zurück. Aus dem Gleichgewicht gebracht, fallen wir beide auf den harten Fußboden. Ich komme vor ihm auf die Beine. Carole will mich packen, doch ich ducke mich unter ihren Armen weg und renne zur Tür. Dort steht ein anderer Typ, der allerdings nicht versucht, mich aufzuhalten. Er lächelt bloß über das ganze Durcheinander. Ich renne durch die Tür und auf dem schnellsten Weg nach oben.

Es ist schon sehr spät, und ich werde sofort aufgegriffen, als ich schreiend und weinend durch den dunklen Gang renne. Jemand packt meinen Arm und versucht, mit mir zu reden. Doch die Worte rauschen an mir vorbei. Mein Blick verschwimmt. Ich fühle mich benommen, und mir ist übel. Jetzt taucht auch Carole auf. Ich versuche abzuhauen, doch sie schlägt mich zweimal fest ins Gesicht und bricht meinen Widerstand. Meine Beine geben nach, und jemand fängt mich auf. Carole ordnet an, mich zum Bestrafungsraum zu bringen. Ich merke, dass die Mitarbeiter sich am liebsten weigern würden. Aber letztlich fügen sie sich und bringen mich zu einem Schrank am Ende des Gangs. Ich werde auf die blanken Bodenbretter gedrückt, dann wird die Tür fest hinter mir verschlossen. Plötzlich bin ich allein.

4

Sie lassen mich achtundvierzig Stunden im Schrank. Tagsüber ist es erträglich – ich höre das Leben draußen und versuche, den Stimmen die entsprechenden Gesichter zuzuordnen. Doch die Nächte sind schrecklich. Ich trage nur ein T-Shirt und einen Slip. Und obwohl ich um eine Decke, um Essen, um einen Eimer bettele, bekomme ich nichts davon. Also sitze ich da, zittere und vergrabe die Nase in meinem T-Shirt, um den Gestank des Urins nicht riechen zu müssen.

Ich denke an Gemma. Die Freundin, die mich verraten hat. Und ich denke an Marianne. Die Schwester, die ich verraten habe. Alle meinten, es wäre richtig gewesen, die Polizei anzurufen, nachdem sie Mum und Dad getötet hatte. Aber so sieht Marianne es nicht. Sie hasst mich und denkt wahrscheinlich, dass es mir umgekehrt genauso geht. Doch so ist es nicht, so war es nie. Die Wahrheit ist, dass ich meine große Schwester vermisse. Und wenn ich allein bin und Angst habe, denke ich oft an sie.

Sie ist jetzt achtzehn. Eine Frau, kein Kind mehr. Wie mag sie sich fühlen? Ist sie in Sicherheit? Hat sie Angst? Hat sie Schmerzen? Nach ihrer Verurteilung wollte ich sie in Holloway besuchen. Um zu sehen, ob es ihr einigermaßen gutging. Und um sie um Verzeihung zu bitten. Die Sozialarbeiter allerdings hielten das für keine gute Idee, und Marianne schickte mir keinen Besuchsschein. Also kann ich mir ihr Leben bloß ausmalen und das Beste für sie hoffen.

Ich wünschte, sie wäre hier bei mir. Sie hätte alles getan, um auf mich aufzupassen. Aber dieser Teil meines Lebens existiert nicht mehr, und ich habe keine einzige Freundin auf der Welt. Man hat mir versprochen, dass ich hier sicher wäre, aber ich hatte noch nie im Leben solche Angst.

5

Als sie mich endlich rauslassen, habe ich Fieber, aber das kümmert niemanden. Der Schrank ist nur die Strafe gewesen, jetzt muss ich noch Buße tun. Carole erwartet mich mit Wischmopp, Eimer und einem dünnen Lächeln. Sie hat entschieden, mir für meinen «Ungehorsam» all die beschissenen Aufgaben aufzubrummen, die niemand will. Auf absehbare Zeit werde ich das Aschenputtel der Grove Street sein.

Der Keller wird mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen erhalte ich eine Lektion dafür, dass ich während der Nachtruhe im Haus unterwegs, laut, ungehorsam und aggressiv gewesen bin. Ich suche in den Gesichtern des übrigen Personals nach Anzeichen des Widerspruchs, suche jemanden, mit dem ich reden könnte. Doch alle weichen meinen Blicken aus. Ist es möglich, dass neulich Nacht einfach … vergessen wird? Sie geben sich alle Mühe mit der Betreuung der anderen Kinder – von den Psychotikern bis hin zu den Katatonikern –, doch mich meiden sie wie die Pest.

Mit den Mädchen läuft es nicht besser. Und jetzt begreife ich, warum Gemma keine Freundinnen hatte. Wussten die anderen, wie sie ist? Hatten sie dieselben Erfahrungen gemacht? Ich verfluche meine Naivität und Dummheit. Wie oft muss ich auf die Nase fallen, bis ich klarsehen kann? Man kann sich nur auf sich selbst verlassen. Das hat Marianne mir beigebracht.

Gemma und ich existieren in derselben Welt, begegnen uns im Speisesaal und im Schlafsaal. Doch wir reden nicht miteinander. Im Gegenteil: Jedes Mal, wenn ich ihr in die Augen schaue, wendet sie sich ab. Hat sie ein schlechtes Gewissen? Oder ist sie sauer, weil ich ihr Probleme bereitet habe? Ich sehe die Blutergüsse an ihrem Hals und den Oberarmen. Ich frage mich, wann sie sich diese Verletzungen zugezogen hat. Und wie.

Jaz weidet sich an meinem Unglück. Ich bin ihren Sticheleien nun wehrlos ausgeliefert. Sie verteilt Hundescheiße auf meinen frisch gewischten Böden und lässt ihre benutzten Tampons dort herumliegen, wo ich sie finden muss. Und wenn niemand hinsieht, geht sie auf mich los. Sie ist erfahren genug, um keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen. Stattdessen teilt sie feste Schläge in den Magen, die Leiste und einmal sogar in die Niere aus. Bei dieser Attacke hörte ich sie nicht kommen und fand mich plötzlich auf Händen und Knien wieder, keuchend und atemlos. Ich war überzeugt, dass der tödliche Schlag jeden Moment folgen würde, doch das tat er natürlich nicht. Sie will, dass ich leide.

Das Schlimmste sind die Toiletten. Ich scheine ganze Tage dort zu arbeiten und den Job nie wirklich zu Ende zu bringen, ehe schon das nächste Teenager-Mädchen mit starkem Drang und schwachem Hygienebewusstsein auftaucht. Irgendwie scheinen inzwischen alle mitzumachen, als hätte das ganze Haus Spaß an meinem Elend, selbst die kleine graue Maus Alexis. Die Einzige, die mich nicht quält, ist ausgerechnet Gemma.

Eines Tages finde ich sie auf der Toilette. Um genau zu sein: Ich höre sie. Sie kotzt sich die Seele aus dem Leib und verbringt den halben Vormittag dort. Als sie am Waschbecken steht und sich Wasser ins graue Gesicht spritzt, weicht sie meinem Blick aus. Am Ende kann ich mich nicht zurückhalten. Ich gehe zu ihr hinüber und packe sie am Arm. Ich weiß nicht, ob ich ihr den Kopf abreißen oder sie fragen will, was mit ihr los ist. Ich muss mich nicht entscheiden, denn bevor ich den Mund aufmachen kann, schaut sie zu mir auf und sagt:

«Ich bin schwanger, Jodie.»

6

Falls ich etwas im Leben gelernt habe, dann das: Es gibt immer jemanden, der noch schlechter dran ist als man selbst. In meiner Angst und Wut hatte ich versucht, Gemma als böse abzutun, doch jetzt komme ich mir deswegen dumm vor. Wer weiß, welcher Druck auf sie ausgeübt wurde? Welche Drohungen ausgesprochen wurden? Ich begreife jetzt, dass ihr unbekümmertes Selbstvertrauen und die Freiheit, die sie an diesem schrecklichen Ort genossen hat, nur Show waren. Sie steckt tiefer in der Scheiße als ich. Sie ist schwanger von einem Mann, der sie vergewaltigt hat.

«Du musst zur Polizei gehen, Gemma. Um Himmels willen, du bist erst fünfzehn.»

«Die werden mir nicht glauben.»

«Natürlich werden sie das.»

«Ich bin aktenkundig, okay? Als Lügnerin, Diebin, Ausreißerin. Ich bin ein böses Mädchen.»

«Aber du bist schwanger. Das können sie doch wohl nicht ignorieren, oder?»

«Lass es einfach gut sein.»

Später erzählt sie mir, dass sie es behalten will, es auf einen One-Night-Stand schieben und versuchen will, durch das Baby hier raus- und an irgendeinen besseren Ort zu kommen. Als sie das sagt, weine ich. Was für ein schrecklicher Preis, den sie zu zahlen hat.

Mir ist schon klar, dass wir die anderen Mädchen wahnsinnig machen. Erst sind wir Busenfreundinnen. Dann Todfeindinnen. Und jetzt steige ich nachts zu ihr ins Bett, wenn ich sie weinen höre, und bleibe manchmal bis zum Sonnenaufgang. Die anderen machen sich darüber lustig, doch das ist mir egal. Sie braucht mich. Abgesehen davon hab ich schon schlimmere Beleidigungen gehört als «Lesbe».

Eines Nachts windet sie sich aus meinem Arm, um aufs Klo zu gehen. Ich lasse sie los und schlafe wieder ein. Doch als ich irgendwann kurz aufwache, bemerke ich, dass sie nicht zurückgekommen ist. Es ist bitterkalt, dunkel und strengstens verboten, sich nach neun außerhalb des Betts aufzuhalten. Trotzdem bin ich sofort auf den Beinen und gehe zur Tür. Ich glaube am Ende des Gangs Stimmen zu hören, aber bis ich dort bin, ist alles ruhig. Reglos verharre ich einige Minuten, dann höre ich draußen plötzlich einen lauten Knall.