D.I. Helen Grace: Blinder Hass - Matthew J. Arlidge - E-Book

D.I. Helen Grace: Blinder Hass E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Zeit zu sterben. Jeden kann es treffen. Morgens um sieben entdeckt D.I. Helen Grace eine tote Frau auf der Straße. Doch sie ist kein Unfallopfer: Die junge Mutter wurde aus nächster Nähe erschossen. Zwei Stunden später wird ein Ladenbesitzer mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sein Geschäft zu schließen. Noch bevor die Polizei ihm zu Hilfe eilen kann, fallen Schüsse. Ein Rachefeldzug? Zwei junge Mörder terrorisieren Southampton, und sie scheinen wahllos zu töten. D.I. Helen Grace muss herausfinden, was die Killer antreibt, um weitere Opfer zu verhindern.

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Seitenzahl: 352

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Matthew J. Arlidge

D.I. Helen Grace: Blinder Hass

Ein Fall für Helen Grace

Thriller

Aus dem Englischen von Stefan Lux

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zeit zu sterben. Jeden kann es treffen.

 

Morgens um sieben entdeckt D.I. Helen Grace eine tote Frau auf der Straße. Doch sie ist kein Unfallopfer: Die junge Mutter wurde aus nächster Nähe erschossen.

Zwei Stunden später wird ein Ladenbesitzer mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sein Geschäft zu schließen. Noch bevor die Polizei ihm zu Hilfe eilen kann, fallen Schüsse.

Ein Rachefeldzug? Zwei junge Mörder terrorisieren Southampton, und sie scheinen wahllos zu töten. D.I. Helen Grace muss herausfinden, was die Killer antreibt, um weitere Opfer zu verhindern.

Über Matthew J. Arlidge

Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit mehreren Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die vor allem auf Krimiserien spezialisiert ist. Der Auftakt der Helen-Grace-Reihe «Einer lebt, einer stirbt» war in England das erfolgreichste Debüt 2014, die Reihe erscheint in 30 Ländern.

1

07:05 Uhr

Der Himmel über Southampton leuchtete blutrot. Es war ein frischer Herbstmorgen. Unter den Schritten knirschte noch der Frost, doch als die Sonne sich über den Horizont erhob, tauchte sie die Stadt in ein warmes Licht. Es war ein atemberaubend schöner Anblick, der Sonia Smalling auf ihrer Fahrt über die stille Landstraße ein Lächeln entlockte. An Tagen wie diesem war man einfach froh, am Leben zu sein.

Sonia arbeitete nun seit fast zehn Jahren in Southampton, hatte sich aber nie überwinden können, dorthin zu ziehen. Sie bevorzugte den ruhigen, gelassenen Rhythmus des Dorflebens am Rand des New Forest und liebte nichts mehr, als ihre Hunde im ersten Licht der Morgendämmerung auszuführen. Oft war ihr Ehemann Thomas mit von der Partie und manchmal auch die Jungs, wenn sie sich rechtzeitig aus dem Bett scheuchen ließen. Heute wäre ein perfekter Tag gewesen, um mit den beiden Irish Red Settern über die schmalen, baumgesäumten Pfade zu wandern, doch ausnahmsweise musste Sonia auf dieses Vergnügen verzichten. Sie hatte den ersten Tag mit einer ganzen Reihe neuer Jugendlicher vor sich und wollte auf jeden Fall pünktlich im Büro sein, um sicherzugehen, dass alles glatt lief.

Ihr Weg zur Arbeit war unkompliziert, abgesehen von dem unvermeidlichen Hochbetrieb auf der A336 in die Stadt hinein. Wenn Sonia wie jetzt über menschenleere Landstraßen dahinfliegen konnte, war sie glücklich und zufrieden. Im Radio lief ihr Lieblingssender, die Heizung war voll aufgedreht, und sie genoss das satte Motorengeräusch ihres neuen Audis. Sie hatte sich – ganz untypisch – diesmal nicht für das Basismodell entschieden, sondern ihre Ersparnisse geplündert und sich die sportliche Variante gegönnt. «Ein bisschen leben», hatte sie die Investition zur Verwunderung ihres Mannes begründet.

Die Straße war frei, also trat sie das Gaspedal durch. Trotz des gefrorenen Bodens fanden die Reifen Halt, und das Auto kam auf Touren. Sie senkte den Blick zum Armaturenbrett – 7 Uhr 5 – und rechnete sich aus, dass sie noch früher als üblich im Büro ankommen würde.

Dann hob sie den Blick und erstarrte. Auf der Straße stand eine Frau, direkt vor ihr. Sie rief etwas und wedelte mit den Armen. Instinktiv trat Sonia auf die Bremse. Doch sie wusste, dass es bereits zu spät war – sie würde die Frau anfahren, und es wäre ihre Schuld, weil sie zu schnell gefahren war. In diesen wenigen, kostbaren Sekunden sah sie alles vor sich: den schrecklichen Aufprall, den zerschmetterten Körper. Doch zu ihrer Überraschung kam der Wagen nur wenige Zentimeter vor der verängstigten Frau schlingernd zum Stehen.

Sonia saß reglos, mit rasendem Herzen und hämmerndem Schädel. Die Frau trug einen Motorradhelm, eine Armeehose und einen Trenchcoat. Durch das offene Visier sah Sonia eine schmale Blutspur ihre Schläfe hinabrinnen.

«Mein Freund, er bewegt sich nicht …»

Sonia warf einen Blick auf die Straße und erlitt den zweiten Schock an diesem Tag. Da lag ein verbeultes Motorrad und mitten auf der Straße eine reglose Gestalt.

Die Frau weinte und zitterte vor Verzweiflung. Also bedeutete Sonia ihr, vom Wagen zurückzutreten. Sie löste ihren Sicherheitsgurt und stieg aus. Sonia fühlte sich selbst noch ziemlich zittrig, doch da sie ein Erste-Hilfe-Training absolviert hatte, war es ihre Pflicht zu helfen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass die Straße frei war, und lief hinüber zu dem Mann. Im Stillen betete sie, dass er nicht schwer verletzt war. Sie hatte in ihrem Leben schon vieles erlebt, aber noch nie jemanden sterben sehen.

«Können Sie mich hören?»

Sie kniete sich auf den kalten Asphalt und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. In seinem Visier entdeckte sie einen Riss, seine Augen waren geschlossen, und Sonia fürchtete bereits das Schlimmste.

«Ist alles in Ordnung? Steht er es durch?»

Sonia ignorierte die aufgeregt schnatternde Freundin und hob den Kopf des Mannes vom Boden. Der Nacken fühlte sich noch warm an, wenigstens etwas, aber der Mann reagierte nicht.

«Alles wird gut», sagte sie zu dem Verletzten. «Aber Sie müssen mit mir reden.»

Noch immer keine Antwort. Sonia versuchte, sein Visier hochzuklappen, doch es ließ sich nicht bewegen.

«Verstehen Sie, was ich sage?»

Wieder nichts, also wiederholte sie ihre Worte noch einmal lauter:

«Verstehen Sie, was ich Ih…»

Er riss die Augen auf und begegnete ihrem Blick.

«Klar und deutlich, Schätzchen.»

Dann hieb er ihr die Faust ins Gesicht.

2

07:08 Uhr

In der Tiefgarage war es dunkel und ungemütlich. Bald würde es hier von jungen Berufstätigen wimmeln, die zu ihren Autos eilten, doch zu dieser Stunde wirkte das Parkdeck ausgestorben und abweisend. Nur die flackernden Neonröhren spendeten ein wenig Licht, in dem sich einsam die Silhouette von Helen Grace abzeichnete. Auf ihrer ledernen Motorradkluft tanzte das fluoreszierende Licht.

Über den ölverschmierten Boden marschierte sie zu ihrem neuen Motorrad, das stolz auf Stellplatz 26 wartete. Für Extravaganzen hatte Helen ansonsten nicht viel übrig, doch nach der schweren Zeit, die sie durchgemacht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, sich etwas Besonderes zu gönnen. Nach ihrer ungerechtfertigten Festnahme und der Zeit im Gefängnis hatte sie als Entschädigung eine beträchtliche Summe erhalten und beschlossen, diese gleich wieder auszugeben. Den Großteil des Geldes hatte sie einer örtlichen Wohlfahrtseinrichtung für Kinder gespendet und den Rest für eine einzige Anschaffung verbraten – eine neue Kawasaki Ninja.

Heute Morgen freute sie sich auf die neue Maschine. Das Gefängnis hatte sie nicht gebrochen, aber tiefe Spuren hinterlassen. Sie schlief zurzeit schlecht ein, fand die Stille in ihrer Wohnung im obersten Stockwerk erdrückend, und wenn sie dann doch irgendwann eindöste, wurde sie von schrecklichen Albträumen geplagt. In diesen Träumen war sie wieder in ihrer Zelle, allein und verängstigt. Manchmal marschierten die Geister von Holloway vor ihr auf – die ermordeten Insassinnen, die Helen Vorwürfe machten, weil sie es nicht geschafft hatte, sie zu retten. In anderen Nächten war es ihre Schwester Marianne, die zu ihr kam und Helen aufforderte, ihr im Tod Gesellschaft zu leisten. Scheußlicherweise erschien ihr Marianne nicht so, wie Helen sie gern in Erinnerung behalten hätte, sondern wie sie ganz am Ende gewesen war – mit dem feucht glänzenden Einschussloch in ihrer Stirn.

Aus diesen Träumen erwachte Helen desorientiert und schwitzend. Ihre Angst hielt noch lange an, auch wenn die schrecklichen Visionen längst verschwunden waren. Sie hatte ihre kleine Wohnung immer geliebt, doch neun Monate nach ihrer Entlassung kam sie ihr oft winzig, wenn nicht gar beklemmend vor. Helen war klar, dass sich all das nur in ihrem Kopf abspielte, dass ihr gemütliches Zuhause immer ihr Zufluchtsort gewesen war, doch ihr flaches Atmen und das wütende Hämmern ihres Herzen nach diesen fiebrigen Träumen ließen sich nicht leugnen. Bisher hatte Helen keine richtige Panikattacke gehabt, doch sie spürte, dass sie nicht weit davon entfernt war. Deshalb ergriff sie jedes Mal, wenn sie ihren Angstpegel ansteigen fühlte, die Flucht. Runter in die Tiefgarage und rauf auf die Maschine. Erst auf dem Motorradsattel ließen die dunklen Gefühle langsam von ihr ab.

Sie war keine Gefangene mehr und musste doch manchmal einfach raus. Und so freute sie sich auf die Morgendämmerung, auf den neuen Tag, der gelebt werden wollte. Helen klappte den Ständer hoch und wartete, bis das Tor sich gehoben hatte. Dann gab sie Gas und fuhr dröhnend hinaus ins Licht.

3

07:09 Uhr

Sie kroch, so schnell sie konnte, rückwärts über den Asphalt. Ihre Beine waren aufgeschürft, ihre Nägel abgebrochen, doch Sonia wich weiter vor ihrem Angreifer zurück. Sie war völlig durcheinander, in ihren Augen standen Tränen, und sie spürte, dass Blut von ihrem Kinn tropfte. Am liebsten hätte sie sich einfach hingelegt und geweint, doch ihr Instinkt trieb sie weiter. Sie musste ihm entkommen.

Als er die Augen geöffnet hatte, war das ein solcher Schock gewesen, dass sie seine Faust gar nicht kommen gesehen hatte. Zu spät hatte sie die Bedrohung erkannt, dann war sie schon hintenübergefallen. Ihre Nase musste gebrochen sein, und ihr Hinterkopf fühlte sich dort, wo sie auf die Straße gestürzt war, klebrig an. Ihr wurde schlecht, und sie spürte das Erbrochene in ihre Kehle hochsteigen. Doch sie zwang es wieder nach unten und konzentrierte sich auf ihre Flucht.

Als sie versuchte, sich umzudrehen und auf allen vieren zu krabbeln, ließ ein schmerzhafter Tritt gegen den Oberkörper sie gleich wieder auf den Rücken fallen. Sofort kroch sie weiter, doch ihr Kopf füllte sich plötzlich mit Bildern dessen, was er ihr auf dieser menschenleeren Landstraße antun konnte. Sie hatte in den Zeitungen von solchen Fällen gelesen und auch bei ihrer Arbeit hin und wieder davon gehört. So viele Opfer hatte sie kennengelernt, aber nie geglaubt, selbst ein Opfer werden zu können.

Er lachte. Und die Frau ebenfalls. Hass durchströmte Sonias ganzen Körper. Sie hatten kein Recht, ihr das anzutun. Sie aus ihrem Wagen zu locken. Sie zu schlagen. Sie derart zu schikanieren. Sie war eine erwachsene Frau mit einem verantwortungsvollen Beruf. Und sie war eine Ehefrau, eine Mutter …

Plötzlich stieß ihr Hinterkopf irgendwo an, was Sonia aus ihren bitteren Gedanken riss. Sie drehte sich um und registrierte, dass sie gegen ihr eigenes Auto geprallt war, das nun ihren Fluchtweg blockierte. Verängstigt wandte sie sich wieder dem Angreifer zu, der keinen Meter von ihr entfernt stehen blieb. Er wirkte völlig ruhig, entspannt sogar. Sonia war starr vor Schreck. Seine Gemütsruhe ließ sie das Schlimmste befürchten.

«Ich kann Ihnen Geld geben», hörte sie sich plötzlich sagen. «Ich habe Bargeld, Kreditkarten … Nehmen Sie das Auto, wenn Sie wollen …»

Mit einem schwachen, flehentlichen Lächeln deutete sie auf den Audi hinter ihr. Doch der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Er starrte sie nur unverwandt an.

«Ich habe Schmuck, einen Diamantring, eine Halskette. Nehmen Sie das, und verkaufen Sie es, bitte … Bitte, lassen Sie mich einfach gehen …»

Der Mann betrachtete sie einen Moment, ehe er langsam den Kopf schüttelte. «Das geht nicht, fürchte ich.»

Noch während er sprach, zog er etwas aus seiner Jacke hervor und streckte es ihr entgegen. Zu ihrem Entsetzen begriff Sonia, dass sie in die Läufe einer abgesägten Schrotflinte schaute. Sie versuchte zu sprechen, bekam aber keine Luft und konnte nur hilflos seine nächsten Worte anhören:

«Hier ist der Weg zu Ende, Schätzchen.»

4

07:17 Uhr

Der Wind fegte über sie hinweg und stieß ihren Körper hin und her. Helen hatte die zulässige Höchstgeschwindigkeit längst überschritten, nahm ihr Tempo aber nicht zurück. Die Straße war frei, und sie hatte die Kontrolle – über ihre Maschine, über sich selbst.

Ihr Leben war so kompliziert, ihr Job so fordernd, dass diese Augenblicke so früh am Tag die einzigen waren, die sie für sich allein hatte. Ihr früherer Chef, Detective Superintendent Jonathan Gardam, hatte den Dienst bald nach Helens Entlassung aus dem Gefängnis quittiert. Helen war unglaublich erleichtert gewesen, weil sie keine Lust verspürt hatte, ihm noch einmal zu begegnen. Allerdings hatte sie die daraus resultierenden Konsequenzen nicht vorhergesehen. Neun Monate nach seinem Abschied hatten die hohen Tiere noch immer keinen Nachfolger bestimmt, sodass Helen den Job kommissarisch neben ihrer eigentlichen Arbeit übernehmen musste.

Früher hätte sie einfach die Achseln gezuckt und sich darauf verlassen, dass ihre Untergebenen ihr einen Teil der Last abnahmen. Helen war immer beliebt und eine effiziente Teamleiterin gewesen. Doch seit ihrem Gefängnisaufenthalt hatte sich alles verändert. Vor einem Jahr hatte ihr eigenes Team unter der Leitung von DS Sanderson gegen Helen ermittelt und sie am Ende wegen dreifachen Mordes verhaftet. Vielleicht hatten nur die besten Absichten dahintergesteckt. Trotzdem hatte der Vorfall Helen bis ins Mark erschüttert. Ihr Team – die Menschen, die sie inspiriert, ermutigt und in einigen Fällen auch gefördert hatte – hatte sich gegen sie gewandt. Viele von ihnen arbeiteten noch immer im Southampton Central, wichen nun aber ihrem Blick aus. Charlie Brooks war die rühmliche Ausnahme. Ihr Glaube an ihre Freundin war nie ins Wanken geraten. Die Arbeit mit dem übrigen Team dagegen fand Helen ausgesprochen schwierig. Sie verhielten sich pflichtbewusst, kommunikativ, sogar loyal. Und doch fiel es Helen schwer, ihnen zu vertrauen, das Gefühl des Verrats beiseitezuschieben. Vielleicht hätte sie woanders neu anfangen sollen, doch Southampton war ihr Zuhause, sodass sie sich entschlossen hatte zu bleiben. Inzwischen fragte sie sich immer häufiger, ob diese Entscheidung wirklich klug gewesen war.

Momente wie dieser hier halfen ihr, das innere Gleichgewicht zu halten. Wenn sie über die stillen Landstraßen rasen konnte, wenn nur sie und die Elemente zählten. Die Geschwindigkeit war ihr immer eine Freundin gewesen. Sie schien die Welt um sie herum zu verändern, ihre eigene Bedeutung schrumpfen zu lassen. Helen liebte das Gefühl, das das Motorradfahren ihr gab, als würde sie über–

Er kam aus dem Nichts. Der schwarze Kombi raste auf sie zu und schien nicht die Absicht zu haben, sein Tempo zu drosseln. Helen blieb nur eine Sekunde Reaktionszeit. Indem sie sich möglichst klein machte und den Lenker nach rechts riss, konnte sie einen Zusammenstoß um Haaresbreite vermeiden. Das Auto rauschte vorbei, und sein Fahrtwind erschwerte Helen die Balance noch zusätzlich. Ihr Motorrad schlingerte auf den schmalen Randstreifen zu. Sie bremste und rammte gleichzeitig den linken Fuß auf den Boden, mehr in verzweifelter Hoffnung als in der Erwartung, einen Sturz noch vermeiden zu können. Das Motorrad bockte und zitterte, die Reifen glitten quietschend über den Asphalt. Und tatsächlich kam sie unmittelbar vor dem Grünstreifen zum Stehen.

Helen warf dem sich entfernenden Wagen einen wütenden Blick hinterher. Den Fahrer schien der Beinahe-Unfall nicht im Geringsten zu interessieren. Helen wendete ihr Motorrad und wollte dem Auto schon folgen, um den Fahrer zur Verantwortung zu ziehen. Doch im letzten Moment hielt sie inne. Am Rand ihres Blickfelds bemerkte sie, dass ein Stück weiter auf der Straße etwas lag. Im ersten Moment glaubte sie, es handele sich um einen Dachs oder einen Fuchs, den der rücksichtslose Raser über den Haufen gefahren hatte. Dann aber schaute sie genauer hin und entdeckte dort mitten auf der Straße eine auf dem Rücken liegende Frau.

Ohne zu zögern wendete Helen abermals und fuhr los. Binnen Sekunden erreichte sie die Frau und sprang von ihrer Maschine. Sie nahm den Helm ab, um sich um die Verletzte zu kümmern, deren Gesicht über und über mit Blut verschmiert war.

«Ich bin Polizistin. Ich will Ihnen helfen», sagte Helen leise. Mit einer Hand hob sie den Kopf der Frau, mit der anderen griff sie nach ihrem Funkgerät.

Die Frau wollte antworten, doch stattdessen strömte Blut aus ihrem Mund. Sie würgte, und Helen versuchte ihren Oberkörper ein Stück anzuheben, um ihre Atemwege zu entlasten. Plötzlich schlug Helens Herz schneller. Als sie die Verletzungen der Frau genauer betrachtete, entdeckte sie ein riesiges Loch in ihrem Brustkorb. Das war kein Verkehrsunfall.

Die Frau weiterhin vorsichtig haltend, forderte Helen über Funk einen Rettungswagen an, obwohl ihr klar war, dass keine Hoffnung mehr bestand. Die Verletzungen waren zu schwerwiegend. Die Frau klammerte sich an ihr Leben und versuchte, Helen etwas zuzuflüstern. Sie hob den Kopf, und ihre blutigen Lippen formten ein atemloses, unverständliches Wort. Dann plötzlich fiel sie zurück und sackte in sich zusammen. Helen hielt sie immer noch fest, doch der Kampf war vorbei.

Die Frau war tot.

5

07:21 Uhr

Ihr Kaffee war abgekühlt und ihre Karriere erst recht. Emilia Garanita saß über ihren Schreibtisch gebeugt und starrte auf den Bildschirm. Sie brachte nicht die Energie auf, den öden Artikel, an dem sie gerade arbeitete, fertig zu schreiben. Es war noch früh, doch das Büro der Southampton Evening News füllte sich schnell. Als die versammelten Journalisten ihre Arbeit aufnahmen, stieg der Lärmpegel weiter an. Die meisten hier fanden die Atmosphäre angenehm, sogar aufregend. Für Emilia galt das nicht. Hätte ihr vor einem halben Jahr jemand erzählt, dass sie hierher zurückkehren würde, dann hätte sie denjenigen vermutlich ausgelacht. Nach ihrer Knallerstory über die berüchtigten Sadomaso-Morde, die geradewegs zu Helens Verhaftung geführt hatte, war sie nach London gegangen, um sich dort einen Namen zu machen. Eine glanzvolle Zukunft hatte vor ihr gelegen … bis sich herausstellte, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Manchmal wünschte Emilia sich ernsthaft, dieser unverwüstlichen Polizistin nie begegnet zu sein.

Zuerst waren die Aufträge für die Qualitätsblätter weniger geworden, und kurz danach hatten auch die Boulevardzeitungen genug von ihr gehabt. Solange sie Berichte über Helen Grace und ihr Leben im Gefängnis bieten konnte, hatten die Zeitungen gierig alles gedruckt, das den guten Namen von Grace in den Dreck zog. Als sich dann aber herausgestellt hatte, dass die Polizistin komplett unschuldig war, konnten die Redakteure Emilia nicht schnell genug loswerden.

Sie hatte in der Hauptstadt so lange durchgehalten, wie ihre Mittel es erlaubten, doch da ihre zahlreichen Geschwister weiterhin in Southampton wohnten und auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen waren, hatte sie sich gezwungen gesehen, zurückzukommen und bei ihrem früheren Herausgeber um ihren alten Job zu betteln.

«Wie kommst du mit dem Artikel voran?»

Emilia drehte sich um und sah ihren Chef in der Tür zu seinem Büro stehen.

«Bin fast so weit», erwiderte Emilia und verfluchte im Stillen seine Boshaftigkeit.

Natürlich hatte er ihr nicht die alte Stelle zurückgegeben, die inzwischen wieder besetzt war. Aber er hatte etwas anderes für sie gefunden – einen besseren Volontärsjob – und konnte sich nun an ihrem Absturz ergötzen. Ihr Nachfolger bekam all die interessanten Verbrechensstorys, während sie sich mit Artikeln über Nachbarschaftskomitees oder Demonstrationen für mehr Sicherheit in Wohnvierteln begnügen musste. Gerade arbeitete sie an einem Bericht über die derzeitige Graffiti-Plage in Southampton – kein Thema, das den Puls ihrer Leser oder ihren eigenen nach oben jagte.

Theatralisch auf seine Armbanduhr klopfend, zog ihr Chef sich in sein Büro zurück. Er wusste, dass sie sich mit ihrem Artikel schwertat, und wollte ihr einfach demonstrieren, dass er es wusste. Sie wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, und steckte sich die Ohrhörer wieder ein. Diese dienten nicht nur dazu, die Gesprächsversuche ihrer Kollegen abzublocken. Vor allem ging sie damit ihrem privaten Vergnügen nach: Kürzlich hatte sie die Frequenz des lokalen Polizeifunks entdeckt, den sie nun zum Zeitvertreib abhörte, während sie nach Worten für ihre langweiligen Artikel suchte. Letztlich nützte es ihr nicht viel, da sie den spannenden Hinweisen, die sie aufschnappte, doch nicht nachgehen durfte. Immerhin konnte sie ihren Nachfolger hin und wieder in Verwirrung stürzen, wenn sie ganz nebenbei Bemerkungen über brandneue Storys fallen ließ, von denen er noch nicht das Geringste wusste.

Heute Morgen war der Funkverkehr praktisch tot. In letzter Zeit schien Southampton in eine Art Koma gefallen zu sein. Emilia überlegte gerade, ob sie sich eine dritte Tasse Kaffee holen sollte, als sie doch noch etwas hörte, das sie auf der Stelle innehalten ließ.

«Alle Einheiten zur Barton Lane. Schüsse mit Todesfolge. Unbekannter Täter auf der Flucht …»

Emilia schaltete den Funk gar nicht erst aus. Sie schleuderte ihre Ohrhörer auf den Schreibtisch und rannte los.

6

07:44 Uhr

«Sie ist verheiratet.»

DS Charlie Brooks starrte auf die übel zugerichtete Leiche. Sie war quer durch die Stadt gerast, um Helen zu unterstützen, und hatte sich gleich darangemacht, den Fundort der Leiche abzusperren. Durch nachlässige Polizeiarbeit konnten Beweise zerstört werden, sodass Charlie ihren Weg zu der Toten mit Bedacht gewählt hatte. Sofort war ihr Blick auf den breiten goldenen Ring an ihrem Finger gefallen.

«Sie heißt Sonia Smalling.»

Helen war neben Charlie getreten und reichte ihr einen durchsichtigen Beweismittelbeutel. Darin befanden sich ein Portemonnaie, ein Smartphone und ihr Dienstausweis an einem Umhängeband.

«Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Bewährungshelferin in Totton.»

Ein Bild ihrer eigenen Tochter Jessica – bereits ein ziemlich eigenwilliges Kleinkind – tauchte sofort vor ihrem inneren Auge auf. Doch Charlie schob es beiseite. Der Anblick der Leiche dieser armen Frau hatte sie tief erschüttert, doch nun musste sie sich auf die unmittelbar zu erledigenden Dinge konzentrieren.

«Wie ist sie hierhergekommen?»

«Laut Kraftfahrzeugstelle besitzt sie einen schwarzen Audi A3. Er ist nicht hier, und ich wäre beinahe mit einem zusammengestoßen, der mir in hohem Tempo entgegenkam. Ich habe das zum Einsatzraum durchgegeben. Mal sehen, was sie herausfinden.»

«Wo wohnt sie?»

«Ashurst.»

«Dann könnte sie auf dem Weg zur Arbeit gewesen sein», erwiderte Charlie, die sich den Straßenplan ins Gedächtnis rief.

«Wahrscheinlich.»

«Und was zum Teufel ist dann passiert?»

Helen wandte sich um, ging einige Schritte und gab Charlie ein Zeichen, ihr zu folgen. Diese starrte noch einen Moment auf die Leiche, dann setzte sie sich in Bewegung. Helen deutete auf ein Team von Kriminaltechnikern, die mit einem Motorrad beschäftigt waren, das am Straßenrand lag.

«Es wurde letzte Nacht im Zentrum von Southampton gestohlen und macht einen ziemlich ramponierten Eindruck.»

«Und, was denkst du? Ein Unfall? Und anschließend ein aus dem Ruder gelaufener Streit?»

«Vielleicht …», erwiderte Helen, ohne wirklich überzeugt zu klingen.

«Also eher ein Raub?»

«Wenn ja, dann ein ziemlich amateurhafter. Ihr Geld ist noch da. Und auch ihr Handy, ihre Kreditkarten …»

«Ein gewaltsamer Autodiebstahl?»

Die beiden Frauen sahen sich an. Diese Erklärung klang am plausibelsten, doch war etwas Derartiges in Southampton noch nie vorgekommen.

«Vielleicht war es auch ein gezielter Angriff», fuhr Charlie fort. «Wenn sie als Bewährungshelferin arbeitet …»

«Möglich wäre es, aber sie kümmert sich um Ladendiebe und Schulverweigerer, nicht um Mörder.»

Charlie wandte sich um, um die Tote noch einmal zu betrachten, so als könne Sonia Smalling selbst die Antworten liefern. Doch das Opfer war ihrem Blick durch ein hastig aufgebautes Zelt entzogen. Auch die Gründe für diesen grausamen Mord lagen im Verborgenen. Ein solch brutales Verbrechen an einer ruhigen Landstraße schien der Logik und Erfahrung zu widersprechen. Und es stellte Charlie und das restliche Team vor beunruhigende Fragen.

Wie war der Mörder an die Waffe gelangt? Was war sein Motiv? Und vor allem: Wo war er jetzt?

7

07:59 Uhr

Während er an der roten Ampel wartete, trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad. In Richtung Southampton waren sie gut vorangekommen, doch jetzt waren sie in die morgendliche Rushhour geraten und standen mit Büroangestellten und jungen Müttern im Stau vor dem Kreisverkehr am Charlotte Place. Er trug Handschuhe und genoss das Gefühl von Leder auf Leder, wenn seine Finger den handgenähten Bezug des Lenkrads berührten. Trotzdem wollte er weg hier. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen.

«Schau dir diese Freaks an.»

Ein riesiger silberner SUV war neben ihnen aufgetaucht. Eine slawisch aussehende Frau, gerade mal aus dem Teenageralter heraus, saß am Steuer. Ihre Schützlinge auf dem Rücksitz, zwei kleine Jungen, schauten auf Bildschirme und hatten Kopfhörer aufgesetzt.

«Verdammte Zombies.»

Als spüre er den Widerwillen des Mannes, drehte sich einer der Jungen um und schaute ihm direkt ins Gesicht. Er starrte zurück, woraufhin der Junge sich, erschreckt von seiner feindseligen Miene, sofort wieder abwandte. Mit leisem Lachen konzentrierte der Mann sich auf die anderen im Stau. Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen, gestresste Mütter, Kindermädchen, denen alles egal war – sie alle steckten in der Mühle des Alltags und nahmen ihre Umgebung kaum wahr. Was würden sie denken, wenn sie sehen könnten, was er sah? Zwei im Fußraum liegende Schrotflinten, fachmännisch abgesägt und einsatzbereit. Würden sie schreien? Würden sie weglaufen? Oder würden sie um ein Selfie bitten?

«Vollidioten», stimmte seine Begleiterin zu. Sie wühlte im Handschuhfach und förderte ein halbleeres Päckchen Fruchtgummis und eine abgegriffene Straßenkarte zutage. Dann öffnete sie das Fenster und warf beides hinaus auf die Straße, zum offensichtlichen Missfallen des Rentners im Auto neben ihr.

Die Aufmerksamkeit des Mannes wurde nun von etwas in Anspruch genommen, das er am Straßenrand entdeckt hatte. An einen Laternenmast war eine Überwachungskamera montiert, die diesen vielbefahrenen Straßenabschnitt im Blick hatte. Sie schien direkt auf ihn gerichtet zu sein, als begreife sie allein, wer hier so geduldig im Stau wartete. Der Mann starrte unverwandt auf die Kamera und fragte sich, was genau sie aufzeichnen mochte. Befand er sich tatsächlich im Blickfeld? Konnte die Kamera ihn sehen? Wie gut arbeiteten diese Dinger tatsächlich?

Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich ins Scheinwerferlicht drängten. Er wusste, dass viele so waren, Mädchen vor allem. Doch das war nie sein Ding gewesen. In der Vergangenheit war er nur dann auf dem Radar anderer Menschen aufgetaucht, wenn etwas schiefgelaufen war, wenn er wegen irgendeiner Sache vor Gericht stand. Jetzt allerdings, zum ersten Mal überhaupt, genoss er die Aufmerksamkeit.

Er beugte sich nach vorn und schaute direkt in die Kamera. Dann hob er langsam den Arm und streckte den Mittelfinger hoch, sodass er direkt auf die Linse zeigte. Er hatte so lange im Schatten gelebt, von einer abgestumpften, bornierten Welt ignoriert. Doch das würde sich nun ändern.

Bald würde jeder seinen Namen kennen.

8

08:01 Uhr

«Haben wir schon irgendwas?»

DS Sandersons Stimme schallte durch den Einsatzraum und ließ DC Edwards von seinem Bildschirm aufblicken.

«Bis jetzt nicht», antwortete er trübselig.

«Und die Verkehrspolizei?»

«Sie haben eine Menge Audis gesehen, aber nicht unseren Wagen. Wissen wir denn sicher, dass der Täter in die Stadt gefahren ist? Er hat den Wagen nicht vielleicht irgendwo abgestellt und die Flucht zu Fuß fortgesetzt?»

«Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen», erwiderte Sanderson und ging hinüber zu Helens Büro.

Der Anruf von Helen war um 7 Uhr 20 gekommen. Sanderson war noch in ihrer Wohnung gewesen, hatte es aber in Rekordzeit zum Southampton Central geschafft. Helen war bereits am Tatort, und Charlie war ihr gleich gefolgt. Damit war Sanderson im Augenblick die ranghöchste Beamtin der Sonderermittlungsgruppe im Revier. Nach ihrem Eintreffen war sie in Windeseile in den siebten Stock gefahren und hatte einen Einsatzraum vorbereitet. Das war das übliche Vorgehen bei einem Verbrechen dieser Größenordnung.

Neben Edwards war McAndrew bereits eingetroffen, und weitere Beamte mussten jeden Moment zur Arbeit erscheinen. Alle spürten, dass sie es hier mit einer großen Sache zu tun hatten – schon allein deshalb, weil der Täter sich noch auf freiem Fuß befand. Helen und die anderen Beamten vor Ort würden sich um die Spurensicherung, die Zeugenaussagen und die örtlichen Überwachungskameras kümmern. Sandersons Aufgabe war es, den Flüchtigen aufzuspüren, was zunächst einmal bedeutete, den vermissten Audi zu finden.

Als Erstes hatte sie eine Suche per automatischer Nummernschilderkennung auf den Weg gebracht. Sobald eine Verkehrskamera das Kennzeichen des Audis entdeckte, würde ein Signal auf ihrem Bildschirm erscheinen. Leider war das System nicht idiotensicher, weil es grundsätzlich zu einer leichten Verzögerung kam. Wenn das gesuchte Fahrzeug schnell unterwegs war, konnte es schwierig werden, den exakten Standort zu bestimmen. Aber immerhin wüssten sie grob, wo es sich befand und in welche Richtung es fuhr. Mit diesem Wissen ließen sich gezielt Beamte am Boden einsetzen, dazu der Hubschrauber und Sondereinsatzkommandos, um den Flüchtigen festzunehmen.

Soweit die Theorie. Bisher allerdings war das Fluchtfahrzeug weder gesehen noch von den Kameras aufgespürt worden. Sanderson hatte gefragt, ob sie nicht eine öffentliche Fahndung in die Wege leiten sollten, doch Helen hatte den Vorschlag mit dem Argument abgeschmettert, dass sie angesichts des Bedrohungsniveaus keine Zivilisten hineinziehen wollte. Natürlich war diese Begründung nachvollziehbar; der Nachdruck, mit dem sie geäußert wurde, hatte Sanderson allerdings verunsichert.

Die Wahrheit war, dass ihr Verhältnis seit Helens Entlassung aus dem Gefängnis angespannt war. Sanderson hatte eine wesentliche Rolle gespielt, als es Charlie gelungen war, Helens Neffen zur Rechenschaft zu ziehen und dadurch ihre Entlassung zu bewirken. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich ihre Chefin zuvor als kaltblütige Mörderin hatte vorstellen können. Während der Ermittlungen im Fall der Sadomaso-Morde war der Verdacht auf Helen gefallen. Sanderson hatte sich diesen Verdacht zu eigen gemacht und nicht begriffen, dass ihrer Chefin etwas angehängt werden sollte. Unwissentlich hatte sie dazu beigetragen, eine unschuldige Frau für drei Monate der Hölle des Holloway-Gefängnisses auszusetzen. Sie hatte gewissenhaft und professionell ermittelt und wurde zu allem Überfluss anschließend sogar befördert, was ihr vorübergehend Helens frühere Stellung einbrachte. Letztlich aber implizierte ihr Vorgehen einen grundlegenden Mangel an Vertrauen gegenüber Helen, und diese Erinnerung ließ sich nur schwer wieder auslöschen.

Ein CID-Team ist eine eingeschworene Truppe. Rein logisch betrachtet, hätte Helen ihrer Untergebenen gratulieren sollen, weil sie konsequent der Beweislage gefolgt war. Unter emotionalen Gesichtspunkten war alles etwas komplizierter. In Sandersons Augen klammerte Helen sich noch enger als zuvor an Charlie, bis zu dem Punkt, wo andere sich ausgeschlossen fühlten, allen voran sie selbst. Sanderson neigte nicht zur Paranoia und glaubte, sich die ständigen Kränkungen und die offensichtliche Geringschätzung ihrer Fähigkeiten nicht einzubilden. Sie wurde außen vor gehalten und damit für ihre mangelnde Loyalität bestraft.

Das Team schien völlig auf die anstehenden Aufgaben konzentriert, sodass Sanderson unbemerkt in Helens Büro schlüpfen konnte. Für einige Monate war es ihr Büro gewesen, doch nun gehörte es wieder Helen, und alles, was an Sandersons kurzfristige Inbesitznahme hätte erinnern können, war entfernt worden. Sanderson hatte das Gefühl, dass über kurz oder lang auch sie entfernt werden könnte – aus dem Team, wenn nicht gar aus der Polizei von Hampshire. Deshalb zog sie nun einen Umschlag aus ihrer Jacke und legte ihn vorsichtig in Helens Posteingang. Sie mochte das Team hier, sie mochte Southampton, und noch vor wenigen Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, jemals ein formelles Gesuch um Versetzung einzureichen. Doch die Umstände hatten sich geändert, und ihr war klar, dass sie ihr geliebtes Revier Southampton Central verlassen musste, um wieder Freude an ihrer Arbeit zu haben. Es war nicht das, was sie wollte, aber leider nicht zu ändern. Schweren Herzens wandte sie sich um, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.

9

08:13 Uhr

«Ich will keine Sonderbehandlung. Ich brauche nur fünf Minu…»

«Doch, genau das wollen Sie. Und Sie werden es nicht bekommen.»

«Ich bin ganz diskret. Bloß ein paar Fotos vom Tatort, dann –»

«Sind Sie verrückt geworden? Haben Sie gesehen, wie viele Beamte dort herumlaufen? Die legen Ihnen Handschellen an, ehe Sie auch nur in die Nähe kommen.»

«Lassen Sie das meine Sorge sein.»

«Und nachher fällt alles auf mich zurück? Nein, besten Dank.»

Emilia verkniff sich einen finsteren Blick und setzte stattdessen ein falsches Lächeln auf. Als sie die Polizeiabsperrung erreicht hatte, war sie froh gewesen, dass PC Alan Stark Dienst hatte. Er war ihr bei früheren Ermittlungen eine große Hilfe gewesen, stets bereit, sie gegen Bargeld mit Informationen zu versorgen. Heute allerdings verhielt er sich überraschend unkooperativ.

«Darauf können wir noch zurückkommen», fuhr Emilia fröhlich fort. «Lassen Sie uns im Moment nur die grundlegenden Fakten klären. Ich weiß, dass wir einen Todesfall haben, dass jemand erschossen wurde …»

«Woher zum Teufel wissen Sie das?»

«Was ich nicht habe, ist ein Name.»

«Um die Familie anzurufen, was? Und zu kondolieren?»

Emilia starrte ihn an. Sein verächtlicher Unterton gefiel ihr überhaupt nicht. So hatte er sich ihr gegenüber früher nie verhalten. Der Umstand, dass sie tatsächlich an einen Anruf bei der Familie gedacht hatte, tat im Moment nichts zur Sache.

«Hören Sie, Alan, wir reden über ein notwendiges Übel. Lassen Sie es uns nicht komplizierter machen, als es ist. Ich habe Bargeld und kann – nur dieses eine Mal – Ihren üblichen Satz aufstocken. Damit profitieren wir beide.»

«Ich will Ihr Geld nicht.»

«Wirklich? Hatten Sie eine Glückssträhne? Haben die Pferdchen Ihnen endlich den Gefallen getan?»

«Ich hab damit aufgehört.»

Ausnahmsweise war Emilia sprachlos. Alan Stark war ein unverbesserlicher Spieler, der ständig bei den Buchmachern in der Kreide stand. Emilias Geld hatte ihm schon mehrfach aus heiklen Situationen herausgeholfen.

«Kommen Sie, Alan, ich weiß, dass wir längere Zeit nichts miteinander zu tun hatten, aber deswegen müssen Sie doch nicht so ein Theater machen. Wie viel wollen Sie – zweihundert, dreihundert? Ich brauche diesen Namen.»

Emilia suchte in der Handtasche nach ihrem Portemonnaie, doch Stark packte ihr Handgelenk und zog sie dicht an sich heran.

«Warum hören Sie mir nicht zu?», flüsterte er scharf. Seine Stimme zitterte vor Erregung. «Ich mache das nicht mehr. Ich habe es versprochen … meiner Frau, meiner Tochter … Und ich werde mein Wort nicht brechen, weder Ihretwegen noch wegen irgendjemand sonst. Warum verschwinden Sie also nicht einfach und lassen mich in Ruhe?»

Mit diesen Worten schob er sie grob von sich. Emilia sah die Tränen in seinen Augen und begriff plötzlich, wie falsch sie die Situation eingeschätzt hatte, wie verzweifelt entschlossen er war, seine Sucht zu besiegen. Kapitulierend hob sie die Hände und ging weiter an der Absperrung entlang, bis er sie in der ständig anwachsenden Menge der Journalisten, Autofahrer und Gaffer nicht mehr sehen konnte.

Sie starrte die Straße hinunter, genervt, weil der Tatort knapp außerhalb ihres Blickfelds lag, und frustriert, weil sie einfach nicht vorankam. Von dieser Geschichte hatte sie sich eine Menge erhofft, doch wegen Starks Unnachgiebigkeit musste sie nun mit leeren Händen abziehen. Seine persönlichen Umstände hatten sich eindeutig geändert – so wie ihre. Früher, als sie der aufgehende Stern unter den Kriminalreportern war, hatten die Beamten sich nur allzu gern von ihr schmieren lassen. Heute, als besserer Volontärin, verrieten sie ihr nicht mal die Uhrzeit.

Für den Augenblick war sie außen vor.

10

08:20 Uhr

Helen schloss die Zeltklappe und hielt die Welt auf Abstand. Draußen wimmelte es inzwischen von Kriminaltechnikern, die den Straßenrand und die nähere Umgebung nach Beweisstücken absuchten, die Reifenprofile der Bremsspuren untersuchten und auf diese Weise versuchten, den Verlauf der schrecklichen Ereignisse am frühen Morgen zu rekonstruieren. Im Zelt war es ruhiger. Hier hatten die Kriminaltechniker ihre gründliche Suche im unmittelbaren Umfeld der Leiche beendet und packten gerade ihre Funde zusammen. Nur Meredith Walker, ihre Chefin, blieb noch im Zelt zurück.

Helen trat zu Meredith, die ihr zwei Patronenhülsen in einem Beweismittelbeutel zeigte.

«Sie stammen von einer Webley-Schrotflinte Kaliber .12», erklärte sie, als Helen ihr den Beutel abnahm.

«Wie verbreitet ist diese Waffe?», fragte Helen und fürchtete, die Antwort schon zu kennen.

«Ziemlich. Sie wird von Bauern benutzt, bei der Jagd, in Schützenvereinen. Es ist ein zuverlässiges britisches Fabrikat und nicht allzu teuer. Allein in Hampshire dürften über zwanzigtausend registriert sein.»

«Na gut», erwiderte Helen und gab sich Mühe, nicht niedergeschlagen zu klingen.

«Wenn Sie mir die Waffe besorgen, könnte ich ihr die benutzten Patronenhülsen eventuell zuordnen», bot Meredith an. «Aber ich fürchte, die Hülsen allein helfen uns nicht weiter.»

«Haben Sie Fingerabdrücke darauf gefunden?»

«Bisher nicht. Aber wir überprüfen das im Labor noch mal.»

«Was können Sie mir über die Verletzungen sagen?»

Meredith drehte sich um und schaute noch einmal auf die gekrümmt am Boden liegende Leiche.

«Zwei Schüsse aus nächster Nähe. Der Täter stand höchstens anderthalb Meter von ihr entfernt.» Meredith stellte sich vor der Leiche in Positur, hob die Arme und zielte damit in Richtung des Opfers, als feuerte sie eine Schrotflinte ab.

«Er hat direkt auf sie geschossen und traf sie zweimal in die Brust, mehr oder weniger an derselben Stelle. Die Wucht der Geschosse muss enorm gewesen sein. Wenn sie nicht am Schock gestorben ist, dann an inneren Blutungen. Es ist jedenfalls schnell gegangen.»

Falls sie Helen damit beruhigen wollte, hatte sie keinen Erfolg. Helen bedankte sich bei Meredith, verließ das Zelt und ging Richtung Straße. Hier konnte sie nicht mehr viel tun. Es war Zeit, ins Revier zurückzukehren, doch sie zögerte noch. Die Sonne strahlte über Southampton, und der Glanz des herbstlichen Laubs im warmen Licht hätte eigentlich einen schönen, friedlichen Anblick bieten sollen. Stattdessen war dieser ruhige Fleck Schauplatz von … was eigentlich geworden? Hatten sie es mit einem willkürlichen Überfall zu tun? Einem Hinterhalt? Der entlegene Ort, die Verwendung einer Schrotflinte … Helen fühlte sich an Verbrechen aus alten Zeiten erinnert. Ein Wegelagerer, der an einer einsamen Straße lauerte. Aber war so etwas im 21. Jahrhundert denkbar? Und außerdem: Wenn das Motiv Raub gewesen war, warum hatte der Täter dann das Geld und den Schmuck dagelassen? Hatte Sonia Smalling vielleicht etwas gesehen oder gehört, dessentwegen sie zum Schweigen gebracht werden musste? Aber andererseits: Wenn tatsächlich persönliche Motive dahintersteckten – irgendeine Art von Rache –, warum hätte der Täter ihr Auto stehlen sollen? Ein Fahrzeug, das unvermeidlich Spuren hinterließ?

So viele Fragen blieben unbeantwortet, doch eine davon stand für Helen ganz oben. Hatte der Mörder heute Morgen wirklich den Vorsatz gehabt, Sonia Smalling zu töten, oder hatte er es nur getan, weil sich die Möglichkeit ergeben hatte? Dieses brutale Verbrechen kam Helen wie eine Exekution vor und ging ihr spürbar an die Nieren. In Southampton war es in letzter Zeit ruhig gewesen. Als sie nun allein auf dieser noch vor kurzem so friedlichen Landstraße stand, hatte Helen das sichere Gefühl, dass diese Ruhe auf noch schlimmere Weise erschüttert werden würde.

11

08:46 Uhr

Das Radio lief noch, als sie den Wagen im Stadtzentrum parkten. Die frühere Besitzerin des Audis hatte eindeutig eine Vorliebe für Oldies – der Sender, den sie eingestellt hatte, spielte in endloser Folge «Klassiker» der Siebziger und Achtziger. Bob Geldofs Stimme dröhnte durch den Wagen: I Don’t Like Mondays. Der Fahrer hörte noch einen Moment zu und betrachtete die im Takt der Musik wippende Beifahrerin. Dann schaltete er die Musik abrupt aus.

«Mir hat’s gefallen», nörgelte sie.

Der Fahrer schüttelte gutmütig den Kopf, stieß die Tür auf und stieg aus. Auf dem Weg zum Heck des Wagens musterte er die Passanten. Die Sonne stieg, und der Tag, der ziemlich kühl begonnen hatte, wurde spürbar wärmer. Die meisten Leute trugen bloß noch Daunenwesten oder Strickjacken, sodass seine Begleiterin und er in ihren langen, schweren Mänteln auffallen mussten. Er verlor also keine weitere Zeit und öffnete den Kofferraum. Wortlos stellte sich seine Begleiterin neben ihn. Sie spürte seine veränderte Stimmung.

Er schaute kurz nach links und rechts, um sicherzugehen, dass niemand in unmittelbarer Nähe war. Dann zog er die Decke beiseite, die den Inhalt des Kofferraums verbarg, und warf sie nachlässig auf den Boden. Er nahm eine Handvoll Patronen und steckte sie in die Tasche. Die Frau tat es ihm nach, bis nur noch ein großes Jagdmesser im Kofferraum lag. Er schnappte es sich hastig, schnallte es sich um die Brust und knöpfte dann den Mantel zu, sodass die Waffe nicht mehr zu sehen war.

«Du sieht aus wie eine Figur aus deinen Videospielen», sagte sie und versuchte, wie eine Amerikanerin zu klingen, aber ihr lokaler Akzent schimmerte durch.

Er zuckte die Schultern, freute sich aber über das Kompliment. Er hatte sich immer gern vorgestellt, ein Krieger zu sein, und nun sah er aus wie einer. Er warf die Autoschlüssel in den Kofferraum, schloss den Deckel und drehte sich zu ihr um.

«Fertig?»

Langsam schüttelte sie den Kopf.

«Da ist vorher noch eine Sache …», erklärte sie neckisch und zog eine kleine Flasche aus ihrer Manteltasche.

Sie schraubte den Deckel ab, schüttete zwei Amphetaminpillen in seine Handfläche und sah zu, wie er sie lässig in den Mund warf. Sie tat es ihm nach und nahm sich eine dritte Tablette aus der halbvollen Flasche.

«Noch eine als Glücksbringer.»

Vorsichtig legte sie sich die kleine weiße Pille auf die Zungenspitze, schlang die Arme um ihren Begleiter und zog ihn zu sich herunter. Gehorsam öffnete er den Mund, und sie fuhr mit ihrer Zunge hinein. Dann küssten sie sich lange und leidenschaftlich, wobei die Tablette sich auflöste. Sie spürten bereits die beglückende Wirkung der beiden ersten und hielten sich weiter fest in den Armen. Schließlich riss er sich widerstrebend los, schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, fuhr mit einem Finger ihre Nase entlang, wandte sich um und klopfte mit den Fingerknöcheln zum Abschied auf den Kofferraum des Wagens.

«Komm, Babe, wir haben was zu erledigen.»

Er ging bereits mit großen Schritten voraus, voller Energie und Tatendrang. Sie blieb einen Moment stehen, um ihn zu beobachten, dann entfernte auch sie sich von dem Wagen und folgte ihrem Geliebten, der auf die Ladenzeile zuschritt.

12

08:57 Uhr

Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, doch auf keinen Fall das.

Die Fotos, die man ihr gerade in die Hand gedrückt hatte, zeigten eine Frau, die nackt auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl lag. Keine alltäglichen Schnappschüsse also, aber doch Bilder, wie Emilia sie dank ihrer sorgfältig gepflegten Kontakte zur Rechtsmedizin von Southampton häufiger zu sehen bekam. Und doch war hier etwas anders. Die Haut der Frau war bleich, ihre Augen geschlossen, und das Bild hätte beinahe friedlich gewirkt, wäre da nicht dieses riesige, dunkelrote Loch mitten in ihrem Oberkörper gewesen. Es sah aus, als hätte man sie nicht einfach ermordet, sondern für eine Operation aufgeschnitten.

«Schrotflinte?», fragte Emilia.

David Spivack nickte. Er war dünn, kahl und trug einen Arztkittel. Als Assistent des Leitenden Pathologen Jim Grieves hatte er unbeschränkten Zugang zu den hier gelagerten Leichen – genau genommen hatte er die meisten von ihnen aufgeschnitten. Allerdings verfügte er kaum über die moralische Integrität und die Diskretion seines Chefs.

«Aus nächster Nähe», erklärte er schließlich und warf einen Blick über die Schulter zum Notausgang der Rechtsmedizin. Zusammen mit der Journalistin stand er auf der Feuertreppe, und auch wenn sie hier außer Sichtweite der Kollegen waren, war er sich nicht sicher, ob ihr Gespräch belauscht werden konnte.

«Ein Schuss oder zwei?»

«Zwei. Sie hätten fast ein Loch mitten durch die Frau gerissen.»

Emilia lächelte. Spivack hielt sich nicht mit überflüssigen Gefühlsäußerungen auf. Sie war sich nicht sicher, ob er herzlos war oder es einfach eilig hatte.

«Irgendwelche postmortalen Misshandlungen oder sexuellen Übergriffe?»

«Das lässt sich noch nicht sagen.»

«War die Leiche bekleidet?»

«Klar. Und der Täter hat den Ehering und andere Wertgegenstände zurückgelassen.»

«Wer hat sie gefunden?»

«DI Grace. Offenbar ist der Mörder ihr auf der Straße direkt entgegengekommen.»

Noch ein bemerkenswertes Detail, aus dem Emilia hoffentlich etwas machen konnte.

«Und wissen wir, wer sie ist?»

Spivack nannte ihr schnell die Details, wobei Emilia ihn hin und wieder unterbrach, um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Eine Ehefrau und Mutter in einem Beruf mit hoher sozialer Verantwortung, getötet auf einer abgelegenen Landstraße. Wenn irgendetwas den braven Bürgern von Southampton Angst einjagen konnte, dann das hier. Und was noch besser war: Der Täter lief noch frei herum.

«Das ist alles, was ich weiß», schloss Spivack. «Aber ich kann Ihnen Einzelheiten über die Angehörigen liefern, wenn es Sie interessiert.»

Sein Blick fiel auf ihr Portemonnaie, und Emilia zögerte nicht, es erneut zu öffnen. Sie hatte eine dermaßen lange