D.I. Helen Grace: Letzter Schmerz - Matthew J. Arlidge - E-Book

D.I. Helen Grace: Letzter Schmerz E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Schlimmer als der Tod Ihr neuer Fall trifft D.I. Helen Grace bis ins Mark: Sie kannte den Mann, der in Southamptons legendärem Club «The Torture Rooms» qualvoll zu Tode kam. Vor allem kannte er sie. Helen setzt alles daran, ihre persönliche Beziehung zum Opfer geheim zu halten, ist besessen davon, den Täter zu finden. Als der Killer erneut zuschlägt, steht sie vor einer schweren Entscheidung: die Wahrheit zu sagen und den Fall abgeben zu müssen. Oder eine Lüge zu leben, um ihre dunkelsten Geheimnisse zu wahren. Was Helen nicht weiß: Der Killer wird erst aufhören, wenn sie alles verloren hat. Wenn sie begriffen hat, dass es etwas Schlimmeres gibt als den Tod. «Eine Krimireihe mit Suchtpotenzial.» (Neue Presse)

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Seitenzahl: 368

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Matthew J. Arlidge

D.I. Helen Grace Letzter Schmerz

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Schlimmer als der Tod

 

Über Matthew J. Arlidge

1

Er sah aus wie ein gefallener Engel. Der muskulöse Körper, nackt bis auf ein Paar silberner Flügel, hing in der Luft und drehte sich an einer schweren, in der Decke verankerten Eisenkette. Seine Finger streckten sich nach dem befreienden Schlüssel, der aber außer Reichweite war. Er war der Gnade seiner Peinigerin ausgeliefert, die ihn jetzt einmal umrundete und zum nächsten Schlag ausholte. Auf seine Brust? Seine Genitalien? Seine Fußsohlen?

Viele Zuschauer hatten sich versammelt, aber er hatte das Spektakel schon so oft miterlebt, dass es ihn langweilte. Er hatte den Jahresball, Höhepunkt des SM-Kalenders an der Südküste, bisher nie ausgelassen, doch nächstes Jahr würde er es sich überlegen. Nicht weil er immer wieder Exfreunden begegnete, die er lieber nicht sehen wollte, eher weil er die ganze Szene inzwischen in- und auswendig kannte. Was ihm früher wild und aufregend erschienen war, wirkte jetzt fade und angestrengt. Dieselben Leute buhlten mit den immer selben alten Aktionen um Aufmerksamkeit.

Vielleicht war er einfach nicht in der richtigen Stimmung. Seit der Trennung von David war er dermaßen mies drauf, dass er sich über gar nichts mehr freuen konnte. Er war eher aus Hoffnung als mit Erwartungen zum Ball gekommen, doch schon jetzt war er enttäuscht und angewidert. Alle anderen schienen Spaß zu haben, an eindeutigen Angeboten mangelte es auch nicht – was war los mit ihm? Warum machte ihm das Alleinsein so zu schaffen?

Er drängte sich zur Bar durch, bestellte einen doppelten Jameson’s und warf einen Blick in die Runde, während der Barmann einschenkte. Männer, Frauen und Zwischenwesen zogen auf den Tanzflächen und Podesten ihre Show ab. Eine pulsierende Menschenmasse, eingezwängt zwischen bröckligen Clubwänden. Dies war ihre Nacht der Nächte, und alle hatten sich in Schale geworfen: Dominatoren mit Gumminoppen, Jungfrauen mit Keuschheitsgürteln, in Schwäne verwandelte hässliche Entlein und natürlich die obligatorischen Ledersklaven. Alle bemüht, ihr Bestes zu geben.

Genervt drehte er sich wieder zur Bar um. Und sah ihn. Er wirkte in der ausgelassenen Menge wie ein Fixstern, ein Inbild absoluten Stillstands inmitten des Chaos, und betrachtete kühl die tanzenden Clubbesucher. War es ein «er»? Schwer zu sagen. Die schwarze Ledermaske ließ nur die Augen frei, der dazu passende Anzug zeigte eine schlanke, androgyne Figur. Auf einmal merkte er, dass das Objekt seiner Aufmerksamkeit ihn direkt ansah. Verlegen wandte er sich ab. Sekunden später jedoch siegte die Neugier, und er wagte noch einen Blick.

Der andere starrte ihn immer noch an. Ihre Blicke trafen sich sekundenlang, dann drehte sich die Gestalt abrupt um und ging in den dunkleren, diskreteren Bereich des Clubs.

Er zögerte nicht, folgte ihm an der Bar, der Tanzfläche, dem angeketteten Engel vorbei zu den Hinterräumen, die heute Abend für private, leidenschaftliche Stelldicheins heiß begehrt waren. Er ließ seinen Blick über das Objekt seiner Begierde gleiten, und seine Aufregung wuchs. War es Einbildung, oder kam ihm die Gestalt irgendwie bekannt vor? Hatte er sie irgendwann schon mal getroffen? Oder war es ein Fremder, der ihn einfach so auserwählt hatte?

Die Gestalt stand jetzt allein in einem kleinen, schmuddeligen Raum und wartete. In jeder anderen Situation hätte er Vorsicht walten lassen. Doch nicht heute Abend. Er betrat den Raum, schloss die Tür hinter sich und ging auf die wartende Gestalt zu.

2

Der Schrei war markerschütternd, lang und laut. Aus dem Augenwinkel sah sie eine rasche Bewegung, es war eine aufgeschreckte Füchsin, die sich ins Unterholz rettete.

Mit brennenden Lungen und schmerzenden Muskeln lief Helen weiter, duckte sich unter tiefhängenden Ästen hindurch, setzte über umgefallene Baumstämme hinweg und betete, dass sie nicht stolpern würde. Es war fast Mitternacht und keine Menschenseele weit und breit, aber sie hatte ihr Ziel fast erreicht.

Vor ihr lichtete sich der Wald, und Sekunden später brach sie aus dem Dickicht heraus – eine schlanke Gestalt im Kapuzenpulli, die über die riesige Fläche des Southampton Common rannte. Als sie sich dem Friedhof am westlichen Rand des Parks näherte, zog sie noch einmal das Tempo an. Sekunden später schlug sie mit der Hand gegen das Friedhofstor, zog den Ärmel hoch und hielt ihre Stoppuhr an. Achtundvierzig Minuten und fünfzehn Sekunden – ihre neue Bestzeit.

Schwer atmend zog Helen Grace sich die Kapuze vom Kopf. Es war fast Vollmond, der Himmel wolkenlos, eine leichte, kühle Brise wehte über ihr schweißnasses Gesicht. Sie lächelte, froh darüber, eine halbe Minute schneller gewesen zu sein und diesen Triumph zumindest mit dem Mond teilen zu können. Sie hatte alles gegeben, und es hatte sich gelohnt.

Sie begann mit ihren Dehnübungen. Bestimmt bot sie einen seltsamen Anblick: eine Frau, die sich einsam im Dunkel eines halbzerfallenen Friedhofs verdrehte und verrenkte. Wahrscheinlich hatten die wenigsten Verständnis dafür, dass sie so spät alleine unterwegs war. Aber das gehörte zu ihrer Alltagsroutine, und sie hatte hier oben noch nie Angst gehabt. Sie genoss die Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Es war, als würde dieser Ort ihr gehören.

Ihr Leben war so anstrengend und schwierig, so voller Rückschläge und Gefahren, dass sie nur selten wirklichen Frieden empfand. Doch hier, als winzige, anonyme Gestalt in der Weite des verlassenen, dunklen Common war sie entspannt und glücklich. Mehr als das: Sie fühlte sich frei.

3

Er konnte keinen Muskel bewegen.

Sie hatten nur wenig geredet und waren gleich zur Sache gekommen. Hatten einen Stuhl in die Mitte des Raums gezogen, auf den ihn die Gestalt grob hinuntergedrückt hatte. Er sagte nichts, das Geheimnisvolle, Anonyme, Verschwiegene machte den Reiz solcher Begegnungen aus. Geplapper verdarb die Stimmung und war in diesem Fall überflüssig. Alles fühlte sich genau richtig an.

Er lehnte sich zurück und ließ sich fesseln. Sein Peiniger war vorbereitet, wand dicke Bänder um seine Fußknöchel und befestigte sie an den Stuhlbeinen. Das Material lag weich und anschmiegsam auf seiner Haut. Er atmete tief aus. Normalerweise war immer er derjenige, der die Kontrolle übernahm, alles plante, durchdachte, ausführte, da war es schön, sich mal zurücklehnen zu können. Es war lange her, dass jemand ihn sich vorgenommen hatte, und die Aussicht auf das Kommende erregte ihn sehr.

Als Nächstes waren seine Arme an der Reihe, die sanft hinter seinen Rücken gebogen und mit Lederbändern an den Stuhl gefesselt wurden. Er roch gegerbte Tierhaut, ein Geruch, der ihn seit seiner Kindheit faszinierte und ihm angenehm vertraut war. Er schloss die Augen. Nicht sehen zu können, was auf einen zukam, steigerte den Reiz. Er war bereit.

Der nächste Schritt war komplizierter, wurde aber genauso sanft ausgeführt. Nasse Tücher, sogenannte Wet Sheets, wurden auseinandergefaltet und aufgelegt, von den Fußknöcheln aufwärts. Innerhalb von Minuten verdampfte die Feuchtigkeit, die Tücher zogen sich zusammen und legten sich eng um ihn. Schon bald konnte er sich unterhalb der Taille nicht mehr rühren: ein merkwürdiges, aber kein unangenehmes Gefühl. Wenig später war er bis zur Brust eingewickelt. Der Peiniger klebte das oberste Tuch sorgfältig mit breitem silbernen Isolierband fest, das er ihm immer wieder um die Schultern wickelte, bis er kurz unter dem Adamsapfel innehielt.

Er öffnete die Augen und sah seinen Peiniger an. Die Atmosphäre im Raum war verheißungsvoll, das Spiel konnte diesen oder jenen Verlauf nehmen, einvernehmlich oder nicht. Es hatte alles seinen Reiz, und er fragte sich, welchen Weg er – oder sie – wählen würde.

Keiner sprach. Die Stille wurde nur durch den dumpfen, rhythmischen Europop gebrochen, der in ohrenbetäubender Lautstärke auf der Tanzfläche lief und aus einem anderen Universum zu kommen schien.

Sein Peiniger machte immer noch keine Anstalten, das Spiel zu beginnen. Er war langsam frustriert – auch Vorfreude hat ihre Grenzen. Er spürte eine wachsende Erektion, die sich gegen das Tuch stemmte und die er nicht verschwenden wollte.

Er schloss erneut die Augen. Was würde zuerst kommen? Ein Schlag? Eine Liebkosung? Zunächst passierte gar nichts, dann spürte er plötzlich etwas über seine Wange streichen. Sein Liebhaber stand dicht neben ihm, er fühlte den Atem auf seinem Gesicht, hörte, wie die Lippen sich öffneten.

«Hier geht’s nicht um Liebe», flüsterte sein Peiniger. «Sondern um Hass.»

Er riss die Augen auf, aber es war zu spät. Das Isolierband legte sich auf seinen Mund … Er versuchte zu schreien, aber seine Zunge war hinter dem bitteren Klebeband eingesperrt, das jetzt seine Wangen bedeckte, seine Nase platt drückte. Sekunden später wurden ihm die Augen zugeklebt, und alles war schwarz.

4

Helen starrte in die Dunkelheit. Sie war zurück in ihrer Wohnung, hatte geduscht und saß in ein Handtuch gewickelt vor dem Flügelfenster, das zur Straße ging. Das Adrenalin und die Endorphine des Laufens waren entspannter, ruhiger Zufriedenheit gewichen. Helen wollte diesen Zustand auskosten und hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster eingenommen, um auf die Welt hinabzusehen.

In solchen Momenten meinte sie, ihr Leben endlich im Griff zu haben. Die alten Dämonen lauerten noch in ihr, aber der Drang, sie durch Schmerz zu bändigen, war in letzter Zeit schwächer geworden. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle und ihren Körper auf andere Art zu kontrollieren. Noch war sie nicht ganz am Ziel, würde vielleicht nie dahin kommen, aber sie war auf einem guten Weg. Manchmal verdrängte sie die Hoffnung, um nicht wieder enttäuscht zu werden, manchmal aber gab sie sich ihr hin. Jetzt war einer der Momente, in denen sie es sich erlaubte, glücklich zu sein.

Mit einer Tasse Tee in den Händen blickte sie auf die nächtliche Straße hinab. Sie liebte diese Zeit, wenn die Welt still und zugleich geheimnisvoll und verlockend war – die Dunkelheit vor der Dämmerung. Da sie weit oben wohnte, bekam niemand mit, wenn sie andere Nachtschwärmer beobachtete. Southampton war eine lebendige, pulsierende Stadt, deren Straßen sich um Mitternacht herum, wenn die Pubs zugemacht hatten, mit Arbeitern, Studierenden, Matrosen und Touristen füllten. Helen sah gerne den menschlichen Dramen zu, die sich dort unten abspielten: Pärchen, die sich stritten und versöhnten, Freunde, die sich in den Armen lagen, eine in Tränen aufgelöste Frau mit ihrem Handy am Ohr, ein älteres Ehepaar, das Hand in Hand nach Hause ging. Helen versuchte, in die Leben der anderen zu schlüpfen, sich vorzustellen, welche Höhen und Tiefen ihnen bevorstanden.

Und noch später, wenn die Straßen sich geleert hatten, sah man die wirklich dramatischen Dinge: die Nachtgestalten, die in der tiefsten Dunkelheit herumgeisterten. Manchmal hatte man Mitleid mit ihnen – mit den obdachlosen, den verletzlichen, den elenden Betrunkenen, die ihre einsamen Bahnen durch die Stadt zogen. Manchmal wurde man wachsam, bei Prügeleien zwischen betrunkenen Jungs; wenn man sah, wie ein Junkie um das verlassene Gebäude gegenüber schlich, oder wenn eine häusliche Auseinandersetzung lautstark auf die Straße hinausgetragen wurde. Und manchmal musste Helen auch lachen, wenn sich Erstsemester gegenseitig in «geliehenen» Einkaufswagen durch die Stadt schoben und ganz offensichtlich keine Ahnung hatten, wo sie waren und wie sie wieder in ihre Wohnheime zurückfinden sollten.

Das Leben der Menschen trieb an ihr vorüber. Helen sog alles auf und genoss das Gefühl stiller Allmacht, auch wenn ihr der Voyeurismus manchmal peinlich war. Gelegentlich überlegte sie, ob die Nachtgestalten ahnten, dass sie beobachtet wurden, und ob es ihnen etwas ausmachen würde. Und noch seltener, in ihren dunkleren, paranoiden Momenten, fragte sie sich, ob auch sie beobachtet wurde.

5

Die Schere lag auf dem Boden. Sie war kräftig genug, um Stoff, Klebeband, sogar Leder durchschneiden zu können, doch heute Abend würde sie keine Erlösung bringen.

Der Stuhl kippte um, als sein Opfer versuchte, sich von den Fesseln zu befreien. Ein seltsamer Anblick, wie es sich auf dem Boden wand, immer mehr in Panik geriet und ihm langsam die Luft ausging. Die Fesseln gaben keinen Millimeter nach, das Ende würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Was würde wohl die eigentliche Todesursache sein: Überhitzung? Ersticken? Herzstillstand? Schwer zu sagen und fast erregend.

Als sich die Bewegungen seines Opfers verlangsamten, wandte sich der Peiniger ab. Der Anblick war kein Genuss, und jeden Moment konnte irgendein aufgegeilter Freak hereingestürmt kommen. Die Arbeit war getan.

Er ging zur Tür. Würden sie’s kapieren? Würden sie begreifen, womit sie es zu tun hatten? Auf jeden Fall würden die Polizei, die Öffentlichkeit und die Freaks da draußen die liebevoll gefesselte Gestalt, die zuckend auf dem Boden lag, bis sie im Tod zur Ruhe kam, nicht ignorieren können.

6

Wo war er?

Die Frage kreiste schon seit Stunden in Sallys Kopf. Sie hatte vergeblich zu schlafen versucht, erst das Radio angestellt und später Licht gemacht, um zu lesen. Aber nichts blieb hängen, und schließlich hatte sie das Buch wieder weggelegt und das Licht ausgeknipst, um mit weit geöffneten Augen im Dunkeln zu liegen. Sie wusste, dass sie sich meistens zu viele Sorgen machte und immer das Schlimmste annahm. Aber wie sollte sie auch nicht? Paul «arbeitete» mal wieder spät.

Noch vor wenigen Wochen wäre das kein Grund zur Sorge gewesen. Paul war ehrgeizig und arbeitete hart und viel. Im Laufe ihrer zwanzigjährigen Ehe war er oft erst nach Hause gekommen, wenn das Essen schon kalt war. Doch vor etwa drei Wochen hatte sie ihn nach einem Anruf seiner Mutter dringend erreichen müssen. Nachdem er nicht ans Handy gegangen war, hatte sie seine Assistentin angerufen und erfahren, dass er das Büro bereits um 17 Uhr verlassen hatte. Als sie geschockt auflegte, hatten die Zeiger der Küchenuhr wie zum Hohn auf 20 Uhr gestanden. Sofort waren ihr verschiedene Szenarien in den Sinn gekommen – ein Unfall, eine Affäre –, doch sie hatte sich bemüht, ihre Unruhe zu unterdrücken. Und nichts gesagt, als er später gesund und munter nach Hause gekommen war.

Aber das nächste Mal, als er anrief, um zu sagen, es würde später werden, hatte sie ihren Mut zusammengenommen und ihm einen Besuch abgestattet. Sie hatte sein Büro unter einem erfundenen Vorwand aufgesucht – den sie nicht vorbringen musste, denn Paul war nicht da. Wieder war er früh gegangen. Hatte die Assistentin ihre Bestürzung bemerkt? Vielleicht nicht. Aber vielleicht wusste sie ja auch Bescheid. Angeblich merkt die Ehefrau es ja immer als Letzte.

War Paul der Typ Mann, der eine Affäre anfängt? Eigentlich traute Sally ihm das nicht zu. Er war ein Katholik vom alten Schlag, dem die Ehe heilig war. Ihr Familienleben war immer glücklich gewesen. Außerdem hatte Sally sich nach der Schwangerschaft mit den Zwillingen wieder in Form gebracht und war sicher, dass Paul sie nach wie vor attraktiv fand, auch wenn ihr Sexleben inzwischen eher sporadisch stattfand. Nein, sie glaubte nicht, dass er eine andere liebte. Aber glaubte das nicht jede betrogene Ehefrau, bis das Gegenteil bewiesen war?

Die Minuten krochen dahin. Wo trieb er sich so spät noch herum? Bei wem war er? Sie hatte in den letzten Tagen immer wieder beschlossen, ihn zu fragen, aber nie die richtigen Worte gefunden. Was, wenn sie sich irrte? Vielleicht plante Paul ja eine Überraschung für sie? Dann wäre er sicherlich beleidigt, wenn sie ihm vorwerfen würde, sie zu betrügen.

In Wahrheit hatte Sally einfach Angst. Eine Frage kann ein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Während sie wach lag und nach der richtigen Taktik suchte, wurde ihr klar, dass sie die Frage nie stellen würde. Nicht weil sie nicht Bescheid wissen wollte. Sondern weil sie die Konsequenzen der Antwort fürchtete.

7

Es war fast zwei Uhr morgens, im siebten Stock herrschte Grabesstille. DS Charlie Brooks unterdrückte ein Gähnen. Sie blätterte Akten von alten, ungelösten Fällen durch und war völlig erledigt: Die Doppelbelastung durch Karriere und Mutterdasein forderte ihren Tribut. Trotzdem war sie entschlossen, den alten Fällen die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Es waren ungelöste Morde aus den letzten zehn bis fünfzehn Jahren – schon kälter als kalt –, doch die Opfer waren Töchter, Mütter, Väter oder Söhne, und ihre Hinterbliebenen suchten immer noch verzweifelt nach Antworten. Meist war so viel los, dass Charlie sich nur nachts, wenn im Southampton Central endlich Ruhe eingekehrt war, mit diesen Fällen beschäftigen konnte. Das war eine ihrer neuen Pflichten, seit sie den Sprung vom Detective Constable zum Detective Sergeant gemacht hatte. Sie würde sie auf keinen Fall vernachlässigen.

Ihren Aufstieg hatte sie Helen Grace zu verdanken. Obwohl bereits DS Sanderson ihr Deputy war, hatte Helen nach dem Ethan-Harris-Fall darauf bestanden, dass auch Charlie befördert wurde. Das hatte Widerstand hervorgerufen, weil es die Hierarchie schwierig machte, doch am Ende hatte Helen ihren Willen durchgesetzt und genügend Vorgesetzte davon überzeugt, dass Charlie die Beförderung verdient hatte.

Aus DC Charlie Brooks war somit DS Charlene Brooks geworden. Natürlich würde sie für alle im Southampton Central immer Charlie bleiben, aber es war ein schönes Gefühl gewesen, als bei der Ernennung ihr voller Name vorgelesen wurde. Helen hatte Charlie zugezwinkert, als sie zu ihrem Platz unter den anderen Neubeförderten zurückgekehrt war und versucht hatte, ein breites Grinsen zu unterdrücken.

Danach wollte Charlie Helen als Dank zum Essen einladen, aber Helen hatte nichts davon hören wollen und sie in den Crown and Two Chairmen zum traditionellen «Begießen» der neuen Sergeantin geschleppt. Hatte sie damit den Vorwurf der Begünstigung vermeiden wollen, oder war ihr Charlies Dankbarkeit bloß unangenehm? Das Besäufnis war jedenfalls ein Erfolg gewesen. Das gesamte Team war gekommen, und alle, Sanderson vielleicht ausgenommen, hatten Charlie versichert, wie sehr sie sich für sie freuten. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war Charlie zutiefst dankbar für das Vertrauen, das ihr an dem Abend entgegengebracht worden war.

Charlie war so in ihren Erinnerungen versunken, in denen auch Bilder einer sehr betrunkenen, mitternächtlichen Karaoke-Session mit DC McAndrew auftauchten, dass sie zusammenzuckte, als plötzlich der diensthabende Sergeant vor ihr stand.

«Tut mir leid, ich war gerade ganz woanders», entschuldigte sie sich und riss sich zusammen.

«Die Gerechtigkeit schläft nie, wie?», erwiderte er mit einem Augenzwinkern. «Das ist gerade reingekommen. Ich dachte, Sie wollen das gleich sehen.»

Der Zettel, den er ihr gab, enthielt wenige Details: Verdacht auf Mord, Opfer unbekannt, keine namentlich genannten Zeugen. Eins jedoch erregte Charlies Aufmerksamkeit: Ganz oben stand der Name des Tatorts – das Etablissement war berühmt-berüchtigt in ganz Southampton, auch wenn Charlie selber noch nie dort gewesen war.

Die Torture Rooms.

8

Vor Helen tobte das Chaos. Der Club war rappelvoll gewesen, jetzt wurden die Partygäste von überforderten Türstehern auf die Straße hinausgeschoben. Ein unvergesslicher Anblick: Ein Dutzend Polizisten in Warnwesten ertranken in einem Meer aus Gummi, Kettenhemden und nackter Haut. Unter anderen Umständen hätte Helen gegrinst, aber die Angst auf den Gesichtern ließ nicht daran denken. Obwohl die Partygäste aufgefordert wurden weiterzugehen, blieben viele draußen stehen und diskutierten aufgeregt die Ereignisse.

Mit ihrem Dienstausweis in der Hand drängte sich Helen zum Eingang vor. Der dort postierte Polizist nickte ihr verlegen zu; es schien ihm peinlich zu sein, vor einem stadtbekannten SM-Club Wache stehen zu müssen. Er drückte die schwere Ledertür auf, die die Mitglieder vor neugierigen Blicken schützte. Helen war noch nie in den Torture Rooms gewesen und beim Anblick der breiten Treppe, die direkt hinter der Tür nach unten führte, erst einmal überrascht. Dunkles Purpur vom Boden bis zur Decke, die Wände mit diversen Folterutensilien bestückt: wie das Tor zur Hölle.

Helen lief schnell die Treppe hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt, da die Stufen uneben, klebrig und dunkel waren. Helen betrat den größten Raum des Clubs, der aus mehreren Ziegelsteingewölben bestand. Vor einer Stunde hatte hier wilde Ausgelassenheit geherrscht, jetzt war der Raum bis auf Charlie, DC McAndrew und ein paar Kollegen menschenleer. Nur der Geruch war geblieben: Schweiß, verschüttetes Bier, Parfüm und noch etwas anderes – ein süßer, durchdringender Duft, der nicht zu der gruftähnlichen Atmosphäre passte.

«Tut mir leid, dass ich dich so spät angerufen habe. Oder so früh. Trifft vielleicht eher zu.»

«Kein Problem», erwiderte Helen. «Was haben wir hier?»

«Der Loverboy da drüben hat die Leiche gefunden.» Charlie zeigte auf einen bleichen, blonden Jungen, der DC McAndrew gerade seine Aussage machte. Die Decke, die man ihm gegeben hatte, konnte seine knappe LAPD-Uniform nicht ganz verdecken. Nervös zupfte er daran herum, in der Anwesenheit echter Polizisten schien sie ihm peinlich zu sein.

«Er und ein Freund waren auf der Suche nach einem ruhigen Ort für ein Stelldichein. In einem der Hinterräume haben sie das Opfer gefunden. Wir haben sie getrennt vernommen, aber ihre Aussagen stimmen überein. Sie schwören Stein und Bein, den Raum nicht betreten zu haben. Meredith hat Proben von ihnen genommen, um sie abzugleichen.»

«Gut. Was ist mit dem Manager?»

«DC Edwards ist mit Mr. Blakeman im Büro.»

«Okay. Bringen wir’s hinter uns.»

Charlie führte Helen in den hinteren Bereich des Clubs.

«Sonst irgendwelche Zeugen?», wollte Helen wissen.

«Es besteht kein Mangel an Leuten, die was sagen wollen, aber ich würde sie nicht als Zeugen bezeichnen. Es war dunkel, laut und voll. Die Hälfte der Gäste trug Kostüme oder Masken. Wir können von Glück reden, wenn wir irgendwas Brauchbares erfahren, und etwas ‹Ungewöhnliches› hat sowieso niemand gesehen. Laut den Türstehern haben ein paar Gäste beim Eintreffen der Polizei die Flucht ergriffen. Um sie vielleicht noch zu finden, haben wir Blakeman um die komplette Mitgliederliste gebeten, aber –»

«Wahrscheinlich haben sie nicht ihre echten Namen angegeben», unterbrach Helen. «Und ich glaube kaum, dass sie sich freiwillig bei uns melden werden. Aber bleib auf jeden Fall dran, man kann nie wissen.»

Charlie nickte, aber Helen wusste, dass auch sie bereits an die Herausforderungen dachte, die dieser Fall mit sich bringen würde. Ohne Augenzeugen würden sie sich auf forensische Beweise, Aufnahmen von Sicherheitskameras und Obduktionsergebnisse verlassen müssen, um irgendwie voranzukommen.

Helen ging weiter nach hinten und erblickte die Kollegen der Spurensicherung. Sie hatten den Tatort erreicht. Helen zog sich Überzieher über die Straßenschuhe, nickte Charlie zu, wappnete sich und betrat den Raum.

9

Der kleine Raum war voller Menschen. Meredith Walker, die leitende Kriminaltechnikerin des Southampton Central, suchte auf allen vieren den Fußboden ab. Die Clubbetreiber schienen auf Sauberkeit keinen Wert zu legen, und Meredith und ihrem Team stand eine Mammutaufgabe bevor. Der Raum wurde offensichtlich stark frequentiert. Wahrscheinlich würde es einfacher sein, herauszufinden, welche Clubmitglieder ihn nicht betreten hatten, als andersherum. Was die Ermittlungen nicht leichter machte.

Als Helen merkte, dass Charlie sie ansah, schob sie die düsteren Gedanken beiseite. Das Opfer lag mitten im Raum und war mit Klebeband und Wet Sheets an einen Metallstuhl gefesselt. Helen nahm an, dass es sich um einen Mann handelte. Der Kopf des Opfers war mit silbernem Klebeband umwickelt, kein einziges Haar und kein Stück Haut schauten heraus. Die Tücher klebten an ihm; Helen konnte sich vorstellen, wie hilflos das Opfer gewesen sein musste. Ein grausamer Tod.

Natürlich gab es immer mal wieder Todesfälle in der SM-Szene, wenn Autoerotik- oder Sexspiele schiefgingen. Doch das hier war etwas anderes. Neben der Leiche lag eine kräftige Schere auf dem Boden, von Merediths Team mit Kreide markiert und zur Untersuchung mit einem Etikett versehen. Der Täter hätte also die Möglichkeit gehabt, das Opfer zu befreien. Stattdessen war er oder sie aus dem Raum gegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen und sich aus dem Staub gemacht. Das war kein Unfall. Sondern vorsätzlicher, planvoller Mord.

Der Polizeifotograf nickte Helen zu. Sie schob eine behandschuhte Hand unter das Opfer und richtete es auf. Der Stuhl wackelte ein wenig und kam zum Stehen. Der Kopf der Leiche sackte langsam auf die Brust.

«Könnt ihr uns ein paar Minuten allein lassen, Leute?», bat Helen leise, aber bestimmt.

Meredith und ihr Team zogen sich zurück. Es war Zeit, das Opfer zu enthüllen und zu identifizieren – eine Aufgabe, bei der Zuschauer unangebracht waren.

Helen trennte mit einer sterilen Schere die Tücher um Beine und Oberkörper auf. Die Füße würden ihr die Identität zwar kaum verraten, aber wenn sie erst die Arme und Beine des Opfers befreite, würde sich das Klebeband um Brust und Kopf herum leichter entfernen lassen. Sie musste vermeiden, dem Toten durch blindes Herumschneiden nachträgliche Verletzungen zuzufügen, und widerstand dem Drang, zuerst Augen, Nase und Mund freizulegen.

Geduldig arbeitete sie sich durch die steifen Tücher hindurch und erlöste den Körper aus ihrer todbringenden Umarmung. Der Stoff fiel ab und gab das Seil frei, mit dem die Fußgelenke an den Stuhl gefesselt waren. Helen löste es und steckte es zusammen mit den Tüchern in Beweismitteltüten. Der Körper blieb völlig unbeweglich. Die Leichenstarre hatte eingesetzt, das Opfer sah aus wie eingefroren.

Als Letztes zog Helen die oberen Tücher ab und reichte sie der ziemlich blassen Charlie. Dann schob sie eine Klinge der Schere unter das Klebeband auf der Brust, ohne das Leder des Anzugs zu beschädigen, den der Tote trug. Langsam und vorsichtig schnitt sie das Silberband zum Hals hin auseinander. Jeder blaue Fleck, jedes Mal am Körper konnte ein wichtiger Hinweis sein, und Helen wollte die Ermittlung auf keinen Fall durch menschliches Versagen beeinträchtigen.

Um den Hals herum ließ sich das Klebeband leicht lösen. Nun blieb nur noch der Kopf. Helen legte die Schere beiseite und tastete den Kopf nach dem abgeschnittenen Ende des silbernen Tapes ab. Mit ein bisschen Ziehen löste es sich.

Der Moment der Wahrheit war gekommen. Helen begann, das Band abzuwickeln, erst langsam, dann schneller und mutiger.

Der Anblick ließ sie erstarren. Nicht weil das wächserne, leblose Gesicht des Toten sie entsetzte, sondern weil sie ihn erkannte. Dieser arme Mensch war ihr Freund. Ihr Dominator.

Es war Jake.

10

Helen stürmte die Treppe hinauf. Sie spürte, wie ihr die Galle hochkam, hielt sich die Hand vor den Mund und wollte nur noch raus aus dieser unterirdischen Hölle. Über ihr leuchtete das grüne Exit-Schild, sie nahm die letzten Stufen mit einem Satz und rannte hinaus in die Nacht.

Die erschreckten Blicke der draußen postierten Polizisten ignorierend, klammerte sie sich an den Maschendrahtzaun, der den Parkplatz des Clubs begrenzte. Sie keuchte, ihr Herz raste, und Übelkeit brach in Wellen über sie hinein. In tiefen Zügen sog sie die Nachtluft ein, wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen, aber es half nicht. Sie übergab sich lautstark und heftig, wieder und wieder krampfte sich ihr Magen zusammen, bis nichts mehr kam.

Da niemand sich um sie kümmerte, blieb sie vornübergebeugt stehen und starrte den Boden an. Sie fühlte sich völlig leer. Das konnte nicht Jake sein. Halb drängte es sie, an den Tatort zurückzukehren, um sich zu beweisen, dass sie sich geirrt hatte. Doch tief im Inneren wusste sie, dass er es war. Sein Gesicht war eindeutig zu erkennen gewesen, und die Tätowierung am Hals beseitigte jeden Zweifel. Der Mann, für dessen Gesellschaft sie viele Jahre lang bezahlt hatte, der ihr in ihren SM-Sessions so oft die dunklen Gedanken aus der Seele geprügelt hatte, war tot. Jake war der einzige Mensch, der die wahre Helen kannte. Sein plötzlicher Tod warf sie völlig aus der Bahn.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte er glücklich und zufrieden gewirkt. Er hatte einen neuen Freund gehabt, war nicht länger in Helen verliebt und schien sein Leben im Griff zu haben. Was war schiefgelaufen, dass er hier geendet hatte? In diesem schäbigen Club in die Fänge eines brutalen Mörders geraten war? Helen hätte alles dafür gegeben, die Zeit zurückdrehen und in den Raum stürmen zu können, um den Täter unschädlich zu machen.

«Helen, was hast du?»

Sie blickte auf. Charlie stand neben ihr in der Dunkelheit. Niemand sonst hätte so vertraulich und warmherzig mit ihr gesprochen, und es traf sie tief. Normalerweise hätte sie irgendeine raubeinige Antwort gegeben, aber dafür hatten Charlie und sie schon viel zu viel zusammen durchgemacht. Helen war kurz davor zu gestehen, dass sie das Opfer kannte, dass er ein Freund gewesen war. Doch als sie den Mund aufmachte, versagte ihr die Stimme.

«Was hast du, Helen? Was ist los mit dir?», fragte Charlie noch einmal.

Helen schwieg. Wenn sie zugab, das Opfer gekannt zu haben, müsste sie auch sagen, wie sie sich getroffen hatten. Und davor schreckte sie zurück. Erstens, um Jake nicht zu verraten, und zweitens, weil sie ihren Kollegen nicht mehr in die Augen sehen könnte, wenn diese Details aus ihrem Privatleben bekannt wären. Sie wäre Hohn und Spott ausgesetzt. Ihre Sessions mit Jake waren immer etwas Privates, Diskretes und Besonderes gewesen – ein Rückzugsraum, in dem sie ihre alten Wunden zeigen und sich ihren Schuldgefühlen stellen konnte. Wenn sie jetzt die Wahrheit sagte, wäre sie bloßgestellt und gedemütigt und würde aller Wahrscheinlichkeit nach vom Fall abgezogen werden. Ein Risiko, das Helen nicht eingehen wollte.

«Alles okay. Es war nur der Schock», erwiderte sie schließlich und richtete sich auf.

«Kein schöner Anblick, wie? Soll ich hier übernehmen?»

«Nein, schon gut. Ich bin wieder okay», sagte Helen rasch. «Bringen wir’s hinter uns, ja?»

Ihr munterer Ton klang gezwungen, aber Charlie sagte nichts dazu. Helen schluckte die nächste Woge der Übelkeit hinunter und ging festen Schrittes auf den Eingang des Clubs zu, um ihre schreckliche Pflicht zu tun.

11

Er schlüpfte ins Bett und drehte sich zur Wand. Er wusste, dass Sally nur so tat, als würde sie schlafen. Was mochte sie denken? Konnte sie hören, dass sein Herz wie verrückt hämmerte? Spürte sie seine Aufregung?

Er hatte sich Zeit gelassen für den Heimweg, um sich so weit wie möglich wieder zu beruhigen. Doch das Adrenalin strömte noch immer durch seinen Körper, und auch ausgiebiges Duschen hatte das Gefühl, befleckt zu sein, nicht wegwaschen können.

Manchmal, wenn Sally und er nebeneinanderlagen, meinte er zu spüren, dass sie etwas sagen wollte. Dass sie seinen Rückzug aus ihrem gemeinsamen Leben wahrgenommen hatte, dass ihre Geduld am Ende war. Tief im Inneren wünschte er sich, sie würde fragen. Nicht nur, weil er sich dann entschuldigen und seine mieses Verhalten ihr gegenüber wiedergutmachen könnte. Auch, weil er ihr alles erklären wollte, seine fahrlässigen, selbstzerstörerischen Taten verständlich machen wollte. Er spielte mit dem Feuer, setzte alles und alle, die ihm lieb und teuer waren, aufs Spiel und hätte diese Last gern mit ihr geteilt.

Sollte er die Initiative ergreifen? Er verdrängte den Gedanken sofort. Wo sollte er anfangen? Was würde er sagen? Sally war kein Fußabtreter, sondern eine intelligente, energische Frau. Warum konfrontierte sie ihn nicht, verlangte nicht nach einer Erklärung für sein Verhalten?

Natürlich würde sie das nicht tun. Das Schweigen hielt ihre Ehe zusammen. Also würde sich nichts ändern, während sich mit jeder Nacht, die verging, doch alles änderte. Er wurde langsam zu einem anderen Menschen: neu und unbekannt. Das war so aufregend wie beängstigend, denn seine Obsession wurde immer stärker. Und deswegen wollte er, dass jemand mit ihm redete, sich ihm entgegenstellte. Weil er wusste, dass er sonst nie wieder aufhören würde.

12

Erst sieben Uhr, doch Emilia Garanita war schon seit Stunden auf den Beinen. Journalisten arbeiten häufig zu seltsamen Zeiten, und Kriminalreporter haben es besonders schlecht getroffen: Mörder, Vergewaltiger und Kidnapper nehmen einfach keine Rücksicht auf die Menschen, die über sie berichten. Emilia war daran gewöhnt und genoss, wenn sie ehrlich war, diesen Lebensstil sogar. Zwar lag sie genauso gern im warmen Bett wie jeder andere, doch wenn mitten in der Nacht ihr Handy klingelte, kündigte das immer etwas Aufregendes und Neues an.

Um vier Uhr hatte sie einen Anruf von PC Alan Stark bekommen, einem handzahmen Polizisten, der bereitwillig Informationen gegen Geld tauschte. Es hatte einen Mord gegeben, und zwar einen ziemlich ungewöhnlichen. Und deswegen saß Emilia ihm jetzt vor einem Baconsandwich in einem Fernfahrercafé nahe den Torture Rooms gegenüber.

«Haben Sie die Leiche gesehen?», fragte Emilia, ohne sich mit Formalitäten aufzuhalten.

«Nein, aber ich hab mit einem Kumpel von der Kriminaltechnik gesprochen, der hat mir alles im Detail erzählt. Der Club ist echt speziell.»

«Will heißen?»

«Es ist ein Fetischladen, heute Nacht haben sie ihren ‹Jahresball› abgehalten. Das ganze Aufgebot: Schwuchteln, Lesben, Ledersklaven, Teufel, Engel –»

«Haben Sie irgendwen erkannt?»

«Bestimmt waren alle da.» Er lachte grimmig. «Stadträte, BBC-Leute, Priester … aber Sie können Ihren Arsch drauf wetten, dass die sich alle aus dem Staub gemacht hatten, bevor die Polizei eintraf. Die, die noch da waren, trugen alle Masken und Helme und so Zeug, deswegen –»

«War irgendwer mit Vorstrafen darunter?»

«Das prüfen wir noch.»

«Und wem gehört der Club?»

«Keine Ahnung. Aber der Manager – wenn man das so nennen will – redet gerade mit den Ermittlern. Sean Blakeman.»

Emilia schrieb sich den Namen auf.

«Wer ist das Opfer?»

«Ein Weißer Anfang vierzig. An einen Stuhl gefesselt, dann wurde sein Kopf bis zu den Haarspitzen mit Klebeband eingewickelt. Ich schätze, der arme Kerl ist erstickt.»

Er beschrieb den Tatort, das Opfer und den Club in allen Einzelheiten. Emilia hörte nur halb zu, stenographierte mit und war in Gedanken schon bei der Story, die sie daraus machen würde. Sex, Mord, Folter, Lust, Nervenkitzel – der Fall war höchstgradig frivol und würde bei ihrem Herausgeber Seufzer der Begeisterung auslösen. Die Zierkirsche auf dem Ganzen war Starks Bestätigung, dass Emilias einstige Freundin und jetzige Erzfeindin den Fall übernehmen würde.

DI Helen Grace.

13

Helen ging schnell den Korridor entlang, bei jedem Schritt verlor sie mehr den Mut. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und vom Tatort sofort in die Ermittlungszentrale gefahren. Insgeheim hatte sie auf schnelle Fortschritte gehofft, aber sie wusste, dass es dafür zu früh war. Die Besonderheiten dieses Falls erforderten Geduld. Augenzeugenberichte waren dünn gesät, und da der Club über keine Sicherheitskameras verfügte, konnten sie den zeitlichen Ablauf nur mit Hilfe von Amateuraufnahmen und Handyfotos zusammenstückeln. Vielleicht kam dabei ja etwas heraus, außerdem arbeiteten Meredith und ihr Team mit vollem Einsatz an den forensischen Spuren. Und ein wichtiges Beweisstück musste erst noch untersucht werden: Jakes Leiche.

Helen erreichte die Tür der Leichenhalle und gab schnell den Türcode ein. Sie durfte auf keinen Fall zögern, sonst würde sie die Nerven verlieren und umkehren. Jim Grieves, der Rechtsmediziner, kam auf sie zu, hielt die Begrüßung aber knapp. Helen war froh darüber. Sie hatte weder den Kopf noch die Nerven für Smalltalk. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen.

«Ein männlicher Weißer, Ende dreißig bis Anfang vierzig, mit einem Faible für Body-Art, Piercings und Masochismus. Viele der alten Wunden sind durch Fesseln entstanden, darunter auch ein vor einigen Jahren gebrochenes Handgelenk und ein verrenktes Fußgelenk, das nie richtig ausgeheilt ist. Daneben Hinweise auf Geschlechtskrankheiten, und an seiner Kleidung habe ich altes Sperma gefunden – nicht von ihm.»

Helen nickte und schwieg. Es fiel ihr schwer, sich anzuhören, wie ihr Freund auf so kalte, klinische Weise seziert wurde.

«Wir haben erste Blutuntersuchungen gemacht: Alkohol, Ketamin und eine geringe Menge Kokain, aber das hat ihn nicht umgebracht. Er ist erstickt. Das sieht man an den flohstichartigen Einblutungen an Wangen und Augenlidern und an der Zyanose, deswegen ist sein Gesicht so blau verfärbt. Am Oberkörper sind keine Wunden oder Hämatome zu finden, wir können also davon ausgehen, dass das Klebeband um den Kopf herum so dicht saß, dass die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wurde. Der Mörder musste keine Gewalt an Kehle oder Hals anwenden. Das Blut an den Lippen lässt vermuten, dass das Opfer versucht hat, das Klebeband durchzubeißen, bevor es ohnmächtig wurde.»

Helen schloss die Augen. Die Vorstellung, welche Qualen Jake erlitten haben musste, war zu viel für sie.

«Aufgrund des rapiden Anstiegs der Körpertemperatur ist er extrem dehydriert, was schließlich zu Herzstillstand geführt hat, aber davon wird er nicht mehr viel mitbekommen haben. Sein Gehirn hatte keinen Sauerstoff mehr, das hat ihn am ehesten erledigt, weniger das, was danach noch kam.»

«Wie lange?»

Helens Stimme klang gepresst und brüchig.

«Vier bis fünf Minuten bis zur Bewusstlosigkeit, ein bisschen länger bis zum Tod.»

«Hat er mitbekommen, was passierte?»

«Bis er ohnmächtig wurde. Vielleicht ging es darum. Obwohl er dem Mörder ausgeliefert war, hat der ihn nicht gefoltert oder verletzt. Was darauf hindeuten könnte, dass das Opfer die Tat bewusst miterleben und seine Hilflosigkeit bis zum letzten Moment mitbekommen sollte.»

Helen nickte. Grieves’ Schilderung des brutalen Mordes brachte ihre Emotionen zum Kochen: Wut, Verzweiflung, Entsetzen. Hatte der Mörder wirklich dabei zugesehen, wie Jake starb? War es ihm wichtig, den Tod mitzuerleben? Ein neues Gefühl mischte sich unter Helens Wut: Angst. Angst, dass sich die Dunkelheit wieder über sie legen würde.

«Noch irgendwas? Wir haben im Moment nicht viel in der Hand», sagte sie.

«Angesichts der Umgebung, in der er gefunden wurde, ist seine Kleidung überraschend sauber. Ich habe frischen Speichel auf der Wange und am Ohr gefunden, bezweifle aber genau deswegen, dass es seiner ist.»

«Können wir die Analyse beschleunigen?», fragte Helen rasch. «Wir brauchen dringend etwas Konkretes.»

«Ich gebe mein Bestes, aber ich habe noch drei weitere Leichen auf dem Tisch, und alle wollen immer alles schon gestern erledigt haben», grummelte Grieves.

«Danke, Jim. So schnell du kannst, bitte.»

Helen drückte seinen Arm und wandte sich zum Gehen. Grieves wollte noch protestieren, aber Helen war schon weg.

14

Helen ging gedankenverloren zu ihrer Kawasaki. Sie war Jake nur ein- oder zweimal privat begegnet. Sonst hatten sie sich immer in seiner Wohnung getroffen, wo das Licht gedimmt war und die Kommunikation sich auf das Wesentlichste beschränkt hatte. Im Laufe der Zeit hatten sie sich besser kennengelernt, aber in ihren Sessions hatten sie immer ihre jeweiligen Rollen eingenommen, und Helen merkte jetzt, wie wenig sie von Jake gewusst hatte. So wie heute Morgen hatte sie ihn nie gesehen: nackt und ungeschminkt.

Von der Adlerkopftätowierung auf seinem Hals hatte sie gewusst, ihn aber nie nach der Bewandtnis gefragt. Sie wusste auch, dass er keinen Kontakt zu seinen Eltern hatte, hatte aber nie gefragt, wer sie waren und wo Jake aufgewachsen war. Und sie wusste, dass er auf Männer und Frauen stand, aber nicht, ob er eins der beiden Geschlechter bevorzugte und ob er sich nach denselben Dingen sehnte wie alle anderen: Bindung, Sicherheit, Familie. Sie wünschte sich, sie hätte mehr gewusst von einem Menschen, der für sie ein echter Freund gewesen war.

Er hatte in ihr eine Zeitlang mehr als das gesehen, war so verliebt in sie gewesen, dass er ihr während der Ermittlung im Fall Ben Fraser sogar nachgestellt hatte. Helen hatte dem ein Ende gesetzt und ihre Verbindung beendet. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte es funktioniert. Bei ihrer letzten zufälligen Begegnung in einer Bar hatte er gerade einen neuen Freund gehabt und glücklich und gefestigt gewirkt. Als er ihr einige Monate später eine SMS geschickt und gefragt hatte, ob sie die Sessions wiederaufnehmen wollte, war sie ernsthaft versucht gewesen. Doch am Ende hatte die Vorsicht gesiegt, und Helen hatte sich anderweitig arrangiert, um emotionales Chaos zu vermeiden. Aber sie hatte noch oft an Jake gedacht.

Konnte sein Freund damit zu tun haben? Sie musste auf jeden Fall herausfinden, wie es um die Beziehung bestellt gewesen war und ob der Freund ebenfalls die Torture Rooms besucht hatte. War die Romanze nur das Vorspiel zu diesem grauenhaften Mord gewesen? Die Versuchung war groß, sofort in Jakes Wohnung zu fahren und sie nach irgendwelchen Hinweisen zu durchsuchen, aber vor der offiziellen Identifizierung wäre das der Gipfel der Dämlichkeit. Das Warten fiel ihr schwer, als würde sie den Mörder absichtlich laufenlassen, aber Helen wusste, dass Jake schon einmal wegen eines Drogendelikts aufgegriffen worden war. Sobald seine DNA-Proben analysiert waren, würde die Identifizierung nicht lange auf sich warten lassen.

Und dann konnte die Ermittlung richtig losgehen. Ein Gedanke, der Helen aufmunterte und zugleich erschreckte. Das Team würde auf der Jagd nach dem Mörder jeden Stein umdrehen, und was würde das für sie bedeuten? Hatte Jake irgendwelche Aufzeichnungen ihrer Treffen? Befand sich in der Wohnung etwas, das ihr gehörte? Hatte sie irgendetwas hinterlassen? Ihr letzter Besuch bei ihm war über zwei Jahre her, trotzdem war es möglich, dass sie bei dem Versuch, Jake Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, selbst auf der Strecke blieb.