D.I. Helen Grace: Kalter Ort - Matthew J. Arlidge - E-Book

D.I. Helen Grace: Kalter Ort E-Book

Matthew J. Arlidge

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Beschreibung

Kein Spiel. Kein Entkommen. Als Ruby aufwacht, weiß sie sofort, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett liegt. Doch das ist nur Beginn ihres Albtraums. Jemand hält sie gefangen, in einem Zimmer, das an ein Puppenhaus erinnert. Am anderen Ende der Stadt, Familienidylle, ein Tag am Strand. Bis eines der Kinder beim Spielen etwas entdeckt: eine Frauenleiche, tief vergraben im Sand. Vor Ort birgt die Polizei weitere Opfer. Allerdings hat niemand sie als vermisst gemeldet, weder Familie noch Freunde. Für D.I. Helen Grace Beweis genug, dass sie es mit einem Täter zu tun hat, der extrem klug und vorsichtig agiert. Und plötzlich begreift sie, dass für jemanden die Uhr ticken könnte, der noch am Leben ist.

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Seitenzahl: 388

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Matthew J. Arlidge

D.I. Helen Grace: Kalter Ort

Ein Fall für Helen Grace

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Kein Spiel. Kein Entkommen.

Als Ruby aufwacht, weiß sie sofort, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett liegt. Doch das ist nur Beginn ihres Albtraums. Jemand hält sie gefangen, in einem Zimmer, das an ein Puppenhaus erinnert.

Am anderen Ende der Stadt, Familienidylle, ein Tag am Strand. Bis eines der Kinder beim Spielen etwas entdeckt: eine Frauenleiche, tief vergraben im Sand. Vor Ort birgt die Polizei weitere Opfer. Allerdings hat niemand sie als vermisst gemeldet, weder Familie noch Freunde. Für D.I. Helen Grace Beweis genug, dass sie es mit einem Täter zu tun hat, der extrem klug und vorsichtig agiert. Und plötzlich begreift sie, dass für jemanden die Uhr ticken könnte, der noch am Leben ist.

Über Matthew J. Arlidge

Matthew J. Arlidge hat fünfzehn Jahre lang als Drehbuchautor für die BBC gearbeitet. Seit einigen Jahren betreibt er eine eigene unabhängige Produktionsfirma, die auf Krimiserien spezialisiert ist.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel102. Kapitel103. Kapitel104. Kapitel105. Kapitel106. Kapitel107. Kapitel108. Kapitel109. Kapitel110. Kapitel111. Kapitel112. Kapitel113. Kapitel114. Kapitel115. Kapitel116. Kapitel117. Kapitel118. Kapitel119. Kapitel120. Kapitel121. Kapitel122. Kapitel123. Kapitel124. Kapitel125. Kapitel126. Kapitel127. Kapitel128. Kapitel129. Kapitel130. Kapitel131. Kapitel132. Kapitel133. Kapitel134. Kapitel135. Kapitel136. Kapitel137. Kapitel138. Kapitel139. Kapitel140. Kapitel141. Kapitel142. KapitelLeseprobe1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelPressestimmen zur D.I.-Helen-Grace-Reihe

1

Ruby warf sich im Bett unruhig hin und her. Sie hatte schlecht geschlafen, war immer wieder in eine Art Dämmerzustand verfallen – nicht ganz wach, aber auch nicht im Tiefschlaf. Wilde Angstträume wechselten sich mit dem seltsamen Gefühl ab, von ihrer Mutter ins Bett getragen zu werden. Das war tröstlich gewesen, aber höchst unwahrscheinlich. Ruby wohnte allein, und ihre Eltern hatten so etwas seit über fünfzehn Jahren nicht mehr getan.

Mit Reue dachte sie an den gestrigen Abend im Revolution zurück. Unzufrieden mit dem Leben an sich, hatte sie sich in den Abgrund gestürzt und die Drinks, die ihr irgendwelche Typen in der Hoffnung auf mehr spendiert hatten, nicht ablehnen können oder wollen. Pillen und Kokain waren auch mit im Spiel gewesen. In ihrem Kopf herrschte Nebel. Aber hatte sie wirklich so viel getrunken und genommen, um sich so schlecht zu fühlen?

Sie wälzte sich herum und vergrub ihren schmerzenden Schädel in der Decke. Heute war ein wichtiger Tag – bald würde ihre Mutter kommen –, aber Ruby war plötzlich alles zu viel. Am liebsten hätte sie sich verkrochen und ihren Kater gepflegt, unbehelligt von Familie, Verantwortung, Streit und Tränen. Sie wünschte sich, ihr Leben würde verschwinden, wenigstens für ein paar Stunden.

Sie steckte den Kopf unter das Kissen und stöhnte leise. Hier war es überraschend kühl, kühler als sonst. Irgendwie erfrischend und beruhigend. Das wäre ein gutes Versteck für ein klei…

Irgendwas stimmte nicht. Der Geruch. Was war mit der Bettwäsche los? Sie roch … falsch.

Unruhe drängte sich durch den Kater. Ihre Bettwäsche roch immer nach Zitrone. Sie benutzte den gleichen Weichspüler wie ihre Mutter. Wieso also roch das Kissen plötzlich nach Lavendel?

Ruby kniff die Augen zusammen und klammerte sich am Kissen fest. Mit schmerzendem Kopf ließ sie die Ereignisse der letzten Nacht vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Sie hatte mit irgendwem rumgeknutscht, mit ein paar anderen geflirtet … Aber sie war mit niemandem mitgegangen, oder doch? Nein, sie war allein nach Hause gekommen. Sie erinnerte sich, die Schlüssel auf den Tisch geworfen, Wasser direkt aus dem Hahn in der Küche getrunken und ein paar Kopfschmerztabletten eingeworfen zu haben, bevor sie ins Bett gegangen war. Das war doch letzte Nacht gewesen, oder?

Sie spürte ihren Atem flacher werden, ihre Brust zog sich zusammen. Sie brauchte ihren Inhalator. Mit ausgestrecktem Arm tastete sie nach dem Nachttisch. Egal, wie betrunken sie war, ihr Inhalator lag immer in Reichweite. Diesmal nicht. Sie tastete weiter. Nichts. Verdammt, nicht mal der Tisch war da. Ihre Hand stieß gegen eine Wand. Rauer Backstein. So war ihre Wand ni–

Ruby zog das Kissen weg und richtete sich auf. Ihr Mund stand offen, aber sie brachte nur ein schwaches Keuchen hervor. Atemlose Panik ließ sie erstarren. Sie war in ihrem weichen, gemütlichen Bett eingeschlafen. Aber in einem kalten, dunklen Keller aufgewacht.

2

Die Sonne stand hoch am Himmel, und der wunderschöne, goldene Sandstrand von Carsholt erstreckte sich bis zum sanft schwappenden Wasser des Solent hin. Andy Baker gratulierte sich im Stillen. Da Carsholt buchstäblich am Ende der Welt lag, kam trotz der Schönheit der Natur kaum jemand hierher. Cathy, er und die Kinder hatten den Strand für sich allein und alles für einen perfekten Samstag am Meer dabei. Ein Picknick, ein bisschen Frisbeespielen, ein paar Bier – der Stress der Arbeitswoche schmolz nur so dahin.

Während die Zwillinge damit beschäftigt waren, eine Grube auszuheben – das Vorspiel für lautstarke Raufereien zwischen den beiden lebhaften Jungs –, spazierte Andy allein zum Wasser hinunter. Woran lag es, dass er hier so zur Ruhe kommen konnte? An der Abgeschiedenheit? Am Ausblick? Am Plätschern der Wellen? Andy ließ sich das Wasser über die Zehen strudeln. Schon als Kind war er oft hier gewesen. Später hatte er seine Frau – seine erste Frau – und die Jungs mitgenommen. Die Ehe hatte zwar unschön geendet, aber wenn er jetzt Cathy mit Tom und Jimbo buddeln und lachen sah, fühlte er sich wieder vom Glück verwöhnt.

Dieser Ort war seine Zuflucht, und er hatte sich die ganze Woche darauf gefreut. Chef einer Securityfirma, das klang erst mal gut, brachte aber rund um die Uhr Ärger. Früher hatte man noch gute Leute bekommen, doch damit war es vorbei. Ob es an den vielen Ausländern oder einfach nur an der heutigen Zeit lag, jeder dritte Angestellte schien ein Drogenproblem zu haben oder den Mädchen nachzustellen. Letzten Monat hatte ihn ein Nachtclubbetreiber verklagt, nachdem er einen von Andys Mitarbeitern dabei erwischt hatte, wie er auf der Clubtoilette Ketamin vertickt hatte. Andy wurde langsam zu alt für so was. Vielleicht war es Zeit, an die Rente zu denken.

Ein Geräusch schreckte ihn auf. Die Jungs. Sie riefen. Nein, sie schrien.

Als Andy über den Strand rannte, drohte ihm das Herz in der Brust zu zerspringen. Hatte ihnen jemand weh getan? Cathy sah er, aber wo waren die Jungs?

«Cathy?»

Sie blickte ihn nicht an.

«CATHY?»

Jetzt hob sie den Kopf. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie wollte etwas sagen, aber in dem Moment kamen die Jungs angerannt und warfen sich auf sie, klammerten sich an sie, als ginge es um ihr Leben.

Andy starrte sie entsetzt und voller Angst an. Cathy hielt die Jungs fest und ließ die Grube nicht aus den Augen. War etwas dadrin, das sie in solche Panik versetzt hatte? Ein totes Tier oder …

Andy näherte sich der Grube. Er ahnte, was er finden würde. Konnte es fast vor sich sehen. Dennoch blieb ihm fast das Herz stehen, als er in das Loch blickte. Die Seiten waren steil, die Grube tief – bestimmt einen Meter –, und unten am Boden, vom nassen Sand perfekt eingerahmt, schimmerte das bleiche Gesicht einer jungen Frau.

3

Schneeblindheit nahm ihr die Sicht, ihre Brust zog sich noch enger zusammen. Ruby wurde von einem schweren Asthmaanfall geschüttelt und konnte vor Angst nur rasch und unregelmäßig atmen. Sie spürte ihr Herz rasen und hämmern, als würde es gleich explodieren. Was zum Teufel war hier los? Passierte das wirklich?

Sie biss sich in den Arm. Der Schmerz ließ sie kurz zusammenzucken, sie lockerte den Kiefer und versuchte, einzuatmen. Es war real. Das hätte ihr schon wegen der verdammten Kälte klar sein müssen. Sie streckte sich zitternd auf dem Bett aus und versuchte, sich zu beruhigen. Dass ihr Inhalator nicht in Reichweite war, versetzte sie in Panik, aber wenn sie ihre Angst nicht unter Kontrolle bekam, würde sie ohnmächtig werden. Und das durfte nicht passieren. Schon gar nicht hier.

Ruhig. Versuch, die Ruhe zu bewahren. Denk an was Schönes. Denk an Mum. Und Dad. Und Cassie. Und Conor. Denk an Wiesen. Und Flüsse. Und die Sonne. Denk daran, wie es früher war, als Kind. An die Spielplätze. An die Sommer im Garten. Durch den Rasensprenger zu laufen. Denk an was Schönes.

Ihre Brust hob und senkte sich jetzt weniger heftig, das Atmen fiel leichter. Ruhe bewahren. Alles wird gut. Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung. Sie stützte sich auf die Kissen, atmete tief durch und rief:

«Hallo?»

Ihre Stimme klang seltsam, das Wort prallte dumpf von den nackten Ziegelsteinwänden ab. Bis auf einen Lichtstrahl, der unter der Tür hindurchdrang und ihre Umgebung erahnen ließ, war es dunkel im Raum. Der schien ungefähr vier mal vier Meter groß zu sein und wirkte fast wie ein normales möbliertes Zimmer – ein Bett, Tisch und Stühle, Herd und Wasserkessel, ein paar Bücherregale. Nur hatte er keine Fenster. Die niedrige Decke bestand aus Holzbrettern, aber merkwürdigerweise fiel kein Licht durch die Ritzen.

«Hallo?» Ihre Stimme zitterte, wieder musste sie die aufsteigende Panik unterdrücken. Keine Antwort, kein Lebenszeichen.

Abrupt sprang sie auf. Sie durfte nicht rumhocken und sich schreckliche Dinge ausmalen. Sie rüttelte am Griff der schweren Metalltür, die abgeschlossen war. Verzweifelt suchte sie den kleinen Raum nach einem Fluchtweg ab, fand aber nichts.

Sie zitterte, fürchtete sich fast zu Tode und war bis auf die Knochen durchgefroren. Ihr Blick fiel auf den Herd. Ein alter Gasherd mit Grill, Ofen und vier Kochringen. Wenn sie ihn anmachte, würden die vier Ringe das Zimmer aufwärmen und ein wenig Licht bringen. Sie drehte einen Knopf und drückte auf den Zünder. Nichts. Sie probierte es mit dem nächsten, dem übernächsten. Nichts.

Sie tastete die Rückseite des Herds ab. Zwar hatte sie überhaupt keine Ahnung von solchen Dingen, aber vielleicht war es ja was Offensichtliches?

Er war nicht angeschlossen. Hinten am Herd befand sich kein Gashahn. Er stand einfach nutzlos da. Ruby sackte in sich zusammen. Tränen rannen ihr übers Gesicht, und unter ihre Angst mischte sich Verwirrung.

Wo war sie hier? Und warum? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf, sie begriff einfach nicht, was passiert war. Dunkle Verzweiflung überfiel sie, und Tränen tropften von ihren Wangen auf den Boden.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch.

Was war das? Kam es von oben oder von hier unten?

Da, wieder. Schritte. Ganz sicher Schritte. Die sich näherten. Vor der Tür zum Stehen kamen. Ruby sprang auf, sie spürte die Gefahr.

Stille. Dann wurde eine Luke in der Tür geöffnet, dahinter erschien ein Augenpaar. Ruby stolperte rückwärts in die hinterste Ecke des Raums, so weit weg von der Tür wie nur möglich.

Riegel wurden beiseitegeschoben.

«HILFE!», schrie Ruby.

Weiter kam sie nicht. Die Tür schwang auf, und grelles Licht flutete das Zimmer. Ruby kniff die Augen zusammen. Langsam, vorsichtig, öffnete sie sie einen Spalt.

Im Türrahmen stand ein großer Mann. Da das Licht von hinten kam, konnte Ruby sein Gesicht nicht sehen. Er war nur ein Schatten, der lauerte, wartete.

So plötzlich, wie sie aufgegangen war, schloss sich die schwere Tür wieder. Jetzt waren sie zusammen in der Dunkelheit.

Ruby schlug die Hände vors Gesicht und flehte einen Gott, an den sie nicht glaubte, um Erbarmen an. Aber das konnte nicht die Schritte übertönen, die auf sie zukamen.

4

Der Wind zerrte an DI Helen Grace, als sie auf ihrem Motorrad über die Küstenstraße jagte. Sie war zum ersten Mal in dieser Gegend, und was sie sah, gefiel ihr. Die Unberührtheit und Abgeschiedenheit waren ganz nach ihrem Geschmack. Die Straße lag offen vor ihr, sie drückte aufs Gas und stemmte sich gegen den heftigen Wind.

Kurz darauf kam der Tatort in Sicht, und Helen verringerte das Tempo ihrer Kawasaki auf brave 50 Stundenkilometer. Detective Sergeant Lloyd Fortune wartete am flatternden Absperrband auf sie. Jung, intelligent, das Aushängeschild für ethnische Minderheiten bei der Polizei: Lloyd hatte eine strahlende Zukunft vor sich. Helen mochte und schätzte ihn, trotzdem war es seltsam, ihn an ihrer Seite zu haben. Charlies Beförderung zum DS während der Jagd nach Ella Matthews war immer ein temporärer Karriereschritt geblieben, erst recht als sie ihre Schwangerschaft bekanntgegeben hatte – sie würde auf absehbare Zeit Detective Constable bleiben. Fair war das nicht, aber so lief es nun mal, arbeitende Mütter hatten es schwer.

Das alte Team war im Begriff, auseinanderzubrechen. Tony Bridges hatte die Polizei ganz verlassen, DC Grounds würde in Kürze in Pension gehen, und Charlie war im Mutterschutz, bis zur Geburt blieben nur noch wenige Wochen. Lloyd war der neue DS, und es waren zwei neue DCs dazugekommen – die Atmosphäre im Ermittlungsteam hatte sich verändert. Helen war nicht wohl dabei. Sie wusste noch nicht recht, woran sie bei den Neuen war, und das Team musste erst wieder seinen Rhythmus finden. Der beste Weg dahin war eine gemeinsame Feuerprobe.

«Was haben Sie für mich, Lloyd?»

Sie liefen über den Strand auf die Grube zu.

«Jung, weiblich. Etwa einen Meter tief vergraben. Von ein paar Kindern vor ungefähr einer Stunde gefunden. Die beiden sind da drüben, bei den Eltern.»

Lloyd zeigte auf vier in Polizeidecken eingehüllte Gestalten, die einem Constable ihre Aussagen zu Protokoll gaben.

«Irgendeine Verbindung zum Opfer?»

«Nein, die Familie kommt oft am Wochenende her. Für gewöhnlich sind sie hier ganz allein.»

«Wohnt irgendwer in der Nähe?»

«Nein. Die nächsten Häuser stehen drei Meilen weit weg.»

«Kommt nachts Licht vom Leuchtturm hier rüber?»

«Der ist zu weit weg.»

«Was dies zu einem ziemlich guten Entsorgungsort macht.»

Schweigend traten sie an den Rand der Grube. Meredith Walker, die leitende Kriminaltechnikerin am Southampton Central, stand unten und legte behutsam die Leiche frei. Sie beugte sich über eine Frau, die trotz des nassen Sandes an Haaren, Augen und Lippen wirkte, als hätte sie ihren Frieden gefunden.

Gesicht, Schultern, Oberkörper und Arme waren bereits freigelegt. Die Gliedmaßen wirkten entsetzlich mager, die Haut war sehr blass, was die Tätowierung auf ihrer Schulter noch auffälliger machte. Trotz der partiellen Verwesung war ihre Schönheit zu erkennen, schwarzes Haar umrahmte leuchtend blaue Augen. Helen fühlte sich an Märchen erinnert, an Jungfrauen, die auf die wahre Liebe warteten.

«Wie lange liegt sie in etwa da unten?», fragte Helen.

«Schwer zu sagen», erwiderte Meredith. «In dieser Tiefe ist der Sand kalt und nass, da wird ein Körper gut konserviert. Und ist vor Tieren und Insekten geschützt. Aber schon eine ganze Weile. Dem Grad der Verwesung nach zu urteilen, würde ich auf zwei, drei Jahre tippen. Jim Grieves kann Ihnen mehr sagen, wenn er sie in der Leichenhalle hat.»

«Ich brauche die Tatortfotos noch heute Abend, wenn möglich», sagte Helen.

«In Ordnung. Obwohl ich nicht weiß, ob die viel nützen werden. Wer immer das getan hat, war sehr umsichtig. Ihre Ohrringe und Nasenstecker sind entfernt worden. Die Fingernägel geschnitten. Und Sie können sich denken, was die Zeit und die Gezeiten mit den restlichen Spuren gemacht haben.»

Helen dankte Meredith und ging ans Wasser hinunter, um einen besseren Blick auf den Tatort zu haben. Ihre Nerven kribbelten bereits. Die Leiche war mit Vorsicht und Sorgfalt beseitigt worden, und zwar von jemandem, der genau wusste, was er tat. Das war nicht das Werk eines Amateurs. Was Helen stark vermuten ließ, dass der Täter dies nicht zum ersten Mal getan hatte.

5

«Bleiben Sie, wo Sie sind. Kommen Sie mir nicht zu nahe.»

Ruby hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen. Sie streckte abwehrend die Hände aus, eine leere Geste.

Klick. Der kräftige Strahl einer Taschenlampe traf sie in die Augen. Ihr Herz raste, als der Lichtkegel über ihren Körper strich, von ihrem Gesicht über die Brust zu den Oberschenkeln und Füßen. Ihre Entschlossenheit und Stärke schmolzen dahin, sie begann zu schluchzen.

«Hab keine Angst.»

Seine Stimme war bedächtig und ruhig. Ruby erkannte sie nicht, allerdings war ihm deutlich anzuhören, dass er aus Southampton stammte.

«Bitte lassen Sie mich gehen», stieß sie unter Tränen hervor. «Ich werd’s keinem sagen. Ich –»

«Ist dir kalt?»

«Bitte. Ich will nur nach Hause.»

«Wenn dir kalt ist, kann ich dir eine zweite Decke holen. Du sollst es gemütlich haben.»

Sein ruhiger Pragmatismus war grauenhaft. Er redete, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Als wäre das alles normal.

«Hast du Hunger?»

«Ich will nach Hause, Sie Scheißkerl. Hören Sie auf … hören Sie auf, mit mir zu reden. Lassen Sie mich einfach nach Hause. Die Polizei wird nach mir suchen –»

«Niemand sucht dich, Ruby.»

«Meine Eltern warten auf mich. Meine Mutter kommt heute …»

«Deine Eltern lieben dich nicht.»

«Was?»

«Sie haben dich nie geliebt.»

«Was reden Sie da?»

«Ich weiß, wie sie dich behandeln. Was sie hinter deinem Rücken über dich sagen. Sie wollen dich los sein.»

«Das ist nicht wahr.»

«Wirklich? Du bist von zu Hause weggelaufen, oder nicht? Warum sollten sie also nach dir suchen?»

Die schreckliche Logik verschlug Ruby die Sprache.

«Nein … nein. Das stimmt nicht. Sie lügen. Wenn Sie Geld wollen, sie haben –»

«Ich sage nur die Wahrheit. Sie wollen dich nicht. Ich schon.»

Ruby schluchzte lauter. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

«Ich will nach Hause», wimmerte sie.

Der Lichtstrahl kam näher. Der Mann stand jetzt neben ihr. Ruby kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Als er ihr übers Haar strich, zuckte sie zusammen.

«Das höre ich gern, Liebes.»

Seine Stimme war ein warmes Flüstern.

«Weil dies jetzt dein Zuhause ist.»

6

Alison Sprackling war wütend. Um elf war sie mit ihrer Tochter verabredet gewesen, jetzt war es fast eins. Wo zum Teufel steckte sie?

Als auf ihr Klingeln keine Reaktion erfolgt war, hatte Alison selbst aufgeschlossen. Ruby wohnte in einer winzigen, heruntergekommenen Wohnung. Sie war ein richtiges Partygirl und freitagabends meistens unterwegs, da kam es nicht selten vor, dass sie sich am nächsten Morgen unter der Decke verkroch, ihren Kater ausschlief und sich völlig von der Welt abschottete. Natürlich war es auch immer möglich, dass sie jemanden mit nach Hause gebracht hatte – woran Alison angesichts der vergangenen Liebschaften ihrer Tochter lieber nicht denken wollte –, aber es hing so viel von diesem Treffen ab, dass Zurückhaltung fehl am Platze war.

Es hatte lange gedauert, alle in der Familie so weit zu bringen, dass eine Aussöhnung möglich schien. Alison war nicht gewillt, diese Chance verstreichen zu lassen, egal, wie unzuverlässig und halsstarrig Ruby sein mochte. Nach Monaten der Diplomatie schien Rubys Rückkehr in den Schoß der Familie machbar – und heute hatten sie den Vermieter informieren und eine Umzugsfirma beauftragen wollen. Ein Feiertag, der den hart erkämpften Sieg der Vernunft über die seelischen Verletzungen besiegeln sollte.

Mehr wollte Alison nicht. Nur die Rückkehr zur Normalität als glücklich vereinte Familie. Wo also war Ruby? Wo konnte sie ausgerechnet heute stecken? Sollte sie Jonathan anrufen? Ihn herbitten? Nein, es war besser, ihm keine weitere Munition zu liefern, der Waffenstillstand war zu zerbrechlich.

Rubys selbstgewähltes Exil hatte fast ein Jahr gedauert und war für die Familie schrecklich gewesen. Nicht nur wegen der bitteren Vorwürfe, der Tränen und Drohungen, auch weil ihre älteste Tochter einfach überall fehlte, bei Familienfeiern, Urlaubsfahrten, Grillabenden. Alle, auch Ruby, hatten unter der Trennung gelitten, die sich so falsch anfühlte, als würden sie absichtlich ein brennendes Gebäude oder einen ertrinkenden Schwimmer ignorieren.

Wieder streifte Alison durch die Wohnung, vom Schlafzimmer ins Bad und ins Wohnzimmer. Was war hier los? Sollte das ein weiterer Akt der Rebellion sein? Eine Warnung, dass Ruby immer noch unabhängig war und bleiben würde? Oder steckte etwas Ernsteres dahinter? Wollte sie die Abmachung brechen? Die Ungewissheit machte Alison nervös.

Plötzlich Vogelzwitschern – Alisons Handy meldete einen neuen Tweet. Ruby twitterte leidenschaftlich gern, für Alison eine Chance, mit dem Leben ihrer Tochter Schritt zu halten. Alison lief zu ihrer Tasche und stülpte sie auf der Suche nach dem Handy um.

Die Nachricht war von Ruby. Alison las den Tweet und runzelte die Stirn. So egoistisch konnte Ruby doch nicht sein?

«Muss weg und allein sein. Hätte man mich mehr geliebt, wäre ich geblieben … Rx»

Doch. Ruby hatte mit ihnen gebrochen. Und Alison war klar, dass es keinen Weg zurück gab.

7

Nachdem er den Tweet losgeschickt hatte, schaltete er das Handy aus und verstaute es in seiner Jackentasche. Erneut sah er sich nach allen Seiten um, aber die Vorsicht war unnötig: So tief kam niemand in den Wald.

Langsam bahnte er sich einen Weg durch das Unterholz und gab acht, nicht an Dornen oder Zweigen hängen zu bleiben. Die Synthetikkleidung ließ wahrscheinlich keine Fasern zurück, aber man konnte nie vorsichtig genug sein.

Er erreichte eine kleine Lichtung. Hier war das Gebüsch weniger dicht, der Boden sandig und trocken. Perfekt für das, was er vorhatte. Er legte ein Stück Erde frei, holte ein Bündel Stöcke aus seinem Rucksack, aus denen er schnell einen Stapel errichtete. Mit einer kleinen Schaufel hob er ringsherum einen flachen Graben aus. Der würde fliegende Funken aufhalten – ein Waldbrand wäre eine Katastrophe. Sicherheit ging vor. Immer.

Noch ein paar Krümel Feueranzünder. Das war natürlich riskanter als Zeitungspapier, aber Zeitungen könnten einem halbwegs intelligenten Polizisten Hinweise liefern, daher war Paraffin besser. Die Hitze der Flammen fühlte sich an einem so warmen Samstagnachmittag seltsam an, aber ihm blieb keine Wahl. Sollte jemand den Rauch bemerken, würde man es für ein Lagerfeuer von Urlaubern halten, die waren um diese Jahreszeit überall unterwegs. Außerdem wäre er lange weg, bevor jemand herkam …

Die Angst, entdeckt zu werden, auch wenn sie unsinnig war, trieb ihn an. Er zog Rubys Schlafanzug aus dem Rucksack und legte ihn aufs Feuer. Sah zu, wie er brannte, und war von dem Anblick fasziniert. Zuerst leistete das Gewebe Widerstand, aber dann fingen die Fasern Feuer und ergaben sich dem Unausweichlichen.

Es war albern, solche Freude daran zu empfinden. Aber er konnte nicht anders. Das Flackern der Flammen, die rote Glut und die weiche Asche waren wunderschön. Der Anblick bewegte ihn, er wusste um die Bedeutung des Moments. Das Ende von Ruby. Sie war jetzt tot, aber aus dem Feuer, aus der Asche würde etwas Neues und Schönes entstehen.

8

Die junge Frau lag leblos auf dem kalten Metalltisch. Nachdem der Sand, der sie so lange begraben hatte, Korn für Korn abgewischt und zur Analyse geschickt worden war, wirkte die Leiche seltsam sauber. Durch ihre Nacktheit bot sie einen noch mitleiderregenderen Anblick. Sie war mager – skelettartig, so hatte Jim Grieves, der Pathologe, es am Telefon ausgedrückt. Helen wurde beim Anblick des Körpers plötzlich übel. Diese junge Frau war einmal voller Leben gewesen, doch jetzt waren ihre Lippen aufgesprungen, und gräuliche Haut spannte sich über den Knochen. Sie tat Helen unendlich leid.

Helen hatte im Police National Computer nachgeforscht und wie üblich die Vermisstenanzeigen durchgesehen, aber nichts gefunden. Also war sie zu Jim Grieves gefahren, um zu hören, ob er vielleicht Licht ins Dunkel um die Identität und das Schicksal der jungen Frau bringen konnte.

«Sie ist verhungert», lautete sein Begrüßungssatz. Er war durchaus des Mitgefühls fähig, aber etliche Dienstjahre und Hunderte von Leichen hatten sein Bedürfnis nach Plaudereien erschöpft, und er kam direkt zum Punkt. «Ihr Magen ist auf die Größe einer Orange zusammengeschrumpft, die Knochendichte ist verringert, und in ihrem Verdauungstrakt habe ich Spuren nicht essbarer Objekte gefunden: Holz, Baumwolle, sogar Metall.»

Helen nickte.

«Ich muss noch ein paar Untersuchungen machen, aber bisher habe ich keine andere offensichtliche Todesursache gefunden. Genick und Wirbelsäule sind intakt, es gibt keine Schuss- oder Stichwunden, auch keine Anzeichen für Strangulation. Wir können also erst mal davon ausgehen, dass sie verhungert ist.»

«Herrgott.»

«Das würde auch zu anderen Beobachtungen passen. Ihre Haut ist selbst an den Stellen, wo sie gut erhalten ist, grau und ledrig, und die Augen haben stark gelitten. Vermutlich war sie am Ende so gut wie blind. Die Blutuntersuchungen haben ergeben, dass überhaupt kein Vitamin D mehr vorhanden war.»

«Was bedeutet?»

«Dass sie die letzten Wochen oder sogar Monate ihres Lebens in völliger Dunkelheit verbracht hat.»

Helen fehlten die Worte. War die junge Frau in einer lichtlosen Hölle verhungert?

«Noch irgendwas?», fragte sie.

«Die Tätowierung da auf der rechten Schulter, eine Nachtigall, wurde in den letzten drei bis fünf Jahren gestochen. Und die Knötchen im Intimbereich deuten auf eine Geschlechtskrankheit hin. Ich tippe auf Molluscum contagiosum, kann das aber erst später bestätigen.»

«Wie lange war sie vergraben?»

«Schwer zu sagen. Wie du siehst, hat die Verwesung eingesetzt. Das Skelett ist zu etwa dreißig Prozent freigelegt, aber es ist noch viel Haut verblieben, und das Haar ist fast vollständig erhalten. Hitze beschleunigt Verwesung, Kälte verlangsamt sie, und da unten war es ziemlich kühl. Zwei bis vier Jahre, würde ich vermuten.»

Helen atmete aus. Diese Schätzung war für ihren Geschmack viel zu grob.

«Aber ich hab noch was, das helfen könnte», setzte Jim hinzu. Er wandte sich um und hielt Helen eine Metallschüssel hin. Darin lag ein kleines elektronisches Gerät.

«Dein Opfer hatte Herzprobleme. Das ist ihr Schrittmacher», erklärte Jim und wischte Rost und getrocknetes Blut von dem Gerät, «inklusive Herstellerangabe und Seriennummer.»

Helen brachte ein halbes Lächeln zustande: endlich gute Neuigkeiten.

«Überprüfe die Seriennummer», riet Jim, «dann kennst du dein Opfer.»

9

Schweren Herzens näherte sich Detective Constable Sanderson der Wohnung in Millbrook. Immer öfter schien es ihr Schicksal zu sein, die Aufgaben abzukriegen, die niemand sonst übernehmen wollte. Helen, Lloyd und die meisten anderen aus dem Team waren draußen in Carsholt und kümmerten sich um die interessanten Dinge. Und was war für sie geblieben? Ein Vermisstenfall. Helen machte sie keine Vorwürfe, die hatte sie als Kollegin immer fair behandelt und unterstützt. Nein, Lloyd Fortune war schuld, der ihrer Meinung nach die neuen DCs bevorzugte. Das war nicht fair, schließlich verfügte sie über mehr Erfahrung und kannte Southampton besser als die Neuankömmlinge, aber die Seilschaften im Polizeirevier änderten sich häufig.

Das Innere der Wohnung hob ihre Laune auch nicht. Es war unglaublich, womit Vermieter dieser Tage durchkommen konnten, da kaum noch jemand genug Geld hatte, sich Eigentum zu leisten. Die Einzimmerwohnung war vollgestellt und hässlich. An der Decke breitete sich Feuchtigkeit aus, die Fenster schlossen nicht richtig, und ganz sicher lebten hinter den Fußleisten irgendwelche Viecher. Oder waren dort gestorben. Es stank nach Verfall.

Trotzdem hatte hier jemand gewohnt, und die Mieterin – Ruby Sprackling – war die Tochter einer Mutter gewesen: Alison und ihr besorgter Ehemann Jonathan liefen aufgelöst durch die Wohnung. Bald würden Tränen fließen, und Sanderson wollte schnell möglichst viele Informationen abfragen.

«Wir hatten in den letzten Jahren … viele Probleme, aber sie würde nicht einfach so verschwinden», sagte Alison. «Sie sollte nächste Woche wieder bei uns einziehen, wir haben monatelang darüber gesprochen und alles vorbereitet …»

«Könnte sie Angst bekommen haben?»

«Nein», war die schnelle Antwort, aber Sanderson vernahm den Hauch eines Zweifels. Und sie fragte sich, warum der Ehemann nur ein versteinertes Gesicht machte und kein Wort sagte.

«Sie meinten, dass sie in letzter Zeit Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hatte?»

«Nicht in letzter Zeit, aber hin und wieder in den vergangenen beiden Jahren.» Über dieses Thema redete Rubys Vater gern. «Sie war ein schlechter Einfluss. Ruby hat Drogen genommen, die Schule geschwänzt und Ärger mit der Polizei gehabt. Wegen dieser verdammten Frau hat sie ihren Schulabschluss völlig in den Sand gesetzt.»

Ein scharfer Blick von Alison führte dazu, dass er seine Wut zügelte. Aber Jonathan bereute seine Worte nicht. Er hielt rein gar nichts von Shanelle Harvey und würde seine Meinung auch nicht mehr ändern. Seine vielversprechende Tochter war im letzten Jahr völlig aus der Bahn geraten, was haarsträubende Streitereien und Vorwürfe in der Familie zur Folge gehabt hatte. Und alles nur wegen des unschuldigen und gut gemeinten Wunsches, eine Bindung zu ihrer leiblichen Mutter aufzubauen.

Sanderson hörte sich seine Beschreibung an und gewann den Eindruck, Ruby hätte besser daran getan, zu bleiben, wo sie war. Shanelle Harvey hatte sich als Hehlerin, Diebin und Dealerin mit fragwürdigen Hobbys und noch fragwürdigeren Liebhabern herausgestellt. Ganz und gar nicht die couragierte, aber arme Mutter, die Ruby vielleicht zu finden gehofft hatte.

«Sie sagen, zuerst haben Sie sich keine großen Sorgen gemacht, aber jetzt …» Sanderson lenkte das Gespräch wieder in andere Bahnen.

«Hab ich auch nicht», stimmte Alison zu. «Ruby kann manchmal unzuverlässig und impulsiv sein, es ist durchaus möglich, dass ihr irgendwas gegen den Strich gegangen und sie für eine Weile untergetaucht ist. Aber seit gestern Abend hat sie erst einen Tweet abgesetzt, und glauben Sie mir, das ist ganz und gar untypisch. Ihr Handy ist abgeschaltet, ich hab’s dutzende Male probiert …»

«Was ist mit ihren Schlüsseln? Dem Portemonnaie?»

«Sieht aus, als hätte sie die Sachen mitgenommen», gab Alison zu.

«Sie hat also eine Tasche gepackt?»

«Ihr Rucksack ist weg. Und es stimmt, sie hat die meisten ihrer Klamotten mitgenommen.»

«Gab es irgendwelche Einbruchsspuren?»

«Nein, das Schloss ist neu und ziemlich stabil, und die Fenster sahen okay aus, aber trotzdem …»

Sanderson stellte innerlich auf Durchzug und hakte Alison als überbesorgte Mutter ab, zwang sich dann aber wieder zur Konzentration. Helen Grace räumte Vermisstenfällen hohe Priorität ein – sie konnten in ihren Augen Trittbretter hin zu Mord- oder Vergewaltigungsfällen sein – und würde von ihr erwarten, das Unterste zuoberst zu kehren.

«Ihr Inhalator.»

Jetzt hatte Alison Sandersons ganze Aufmerksamkeit.

«Sie hat Asthma?»

«Von Geburt an. Als Kind hatte sie mehrere schwere Anfälle. War zwei Mal im Krankenhaus. Ihren Inhalator trägt sie immer bei sich. Ihr Mantra, wenn sie aus dem Haus geht, lautet: ‹Schlüssel, Portemonnaie, Inhalator›. Ohne ihn würde sie nirgendwo hingehen.»

«Und?»

«Ich habe ihn neben dem Bett gefunden. Er muss vom Nachttisch gefallen sein. Selbst wenn sie es eilig gehabt hätte, selbst wenn sie nur noch wegwollte, ohne Inhalator wäre sie nie gegangen.»

«Und wenn sie ihn vergessen hat?»

«Dann wäre sie auf jeden Fall zurückgekommen», sagte Jonathan bestimmt und, wie es schien, trotz der schwierigen Beziehung zu seiner Adoptivtochter ebenfalls besorgt.

Sanderson stellte noch ein paar Fragen und verabschiedete sich dann. Der Vermisstenfall hatte gerade eine bedrohliche Wendung genommen. Zwar bemühte sie sich, Alison und Jonathan zu beruhigen, doch der gefundene Inhalator machte Sanderson Sorgen. Als Asthmatikerin würde Ruby ihn nicht zurücklassen. Was die Frage aufwarf: War Ruby wirklich abgehauen? Oder war hier ein Dritter im Spiel?

10

Manchmal war es nicht leicht, Mutter zu sein. Ach was, es war nie leicht, Mutter zu sein. Detective Superintendent Ceri Harwood stieg düster gestimmt die Treppe in den dritten Stock ihres teuer erstandenen Stadthauses hinauf. Seit fast einer Stunde versuchte sie jetzt, die Kinder ins Bett zu bekommen, die hartnäckig Widerstand leisteten und endlose Ausreden erfanden. Der Tag war lang gewesen, und Ceri wollte wirklich nicht die halbe Nacht die Treppe hoch- und runterlaufen, sondern sich viel lieber mit einem Glas Wein aufs Sofa setzen.

«Wenn ihr nicht innerhalb von zwei Minuten im Bett liegt und ruhig seid, bleibt die PS4 eine Woche lang im Schrank.»

Ein gutes Gefühl, gleich mit einer Woche zu kommen – das hatte sie noch nie angedroht. Und es hatte den gewünschten Effekt. Schritte huschten, Lampen wurden ausgeknipst, dann war es mucksmäuschenstill, und Ruhe kehrte ein. Harwood wartete ein paar Minuten, schlich dann erneut hinauf und steckte den Kopf durch die Tür.

Beide Mädchen schliefen fest, und Ceri, auch wenn sie genervt und müde war, musste lächeln. Natürlich waren die Kinder nach Schule, Schwimmtraining und Musikunterricht erledigt, trotzdem war ihre Fähigkeit, innerhalb von Sekunden einzuschlafen, bewundernswert. Ceri war das nicht vergönnt, Stress und zahllose über den Tag verteilte Tassen Kaffee hielten sie oft bis in die frühen Morgenstunden wach.

Es war ein schwieriges Jahr gewesen. Tag für Tag hatte sie Helen Graces Heldenstatus und Beliebtheit schlucken müssen. Grace hatte bereits zwei Serienmörder zur Strecke gebracht und genoss bei den Kollegen einen legendären Ruf. Draußen in der realen Welt war es kaum besser: Helen Grace war oft Thema bei Dinnerpartys, und Harwood wurde von anderen Gästen mit Fragen nach dem Charakter und den Talenten ihrer Untergebenen gelöchert. Immer ging es nur um Helen, Helen, Helen.

Im beruflichen Umfeld hatte sich Harwood einwandfrei verhalten. Sie hatte Helen auf die Schulter geklopft, ihr zu ihrer offiziellen Belobigung gratuliert und dafür gesorgt, dass ihr alle erforderlichen Ressourcen zur Verfügung standen. Schließlich färbte Helens Glanz auch auf sie ab, aber besser fühlte sie sich deswegen nicht. Sie erinnerte sich noch gut an Helens vernichtendes Urteil über ihren Charakter, als sie im Laufe der Ella-Matthews-Ermittlung aneinandergeraten waren. Helen war wütend gewesen über – wie sie es sah – Ceris Versuche, sie aus dem Job zu drängen, und hatte ihre Chefin als reine Machtpolitikerin abgekanzelt, die es nicht verdient hätte, einen Dienstausweis zu tragen. Helen hatte den Streit nie wieder erwähnt, aber Harwood erinnerte sich an jedes Wort.

Immerhin, es gab ein paar Dinge, die Ceri Helen voraushatte. Den höheren Rang. Einen liebenden Ehemann. Zwei wunderbare Töchter. Sie betrachtete die Mädchen, und ihre Niedergeschlagenheit verflog. Sie war immer eine Kämpfernatur gewesen, und auch wenn sie schon so lange in Helens Schatten stand, wo Leben war, gab es auch Hoffnung.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer beschloss sie, es Helen heimzuzahlen. Schon bald würde sie die Rechnung begleichen. Die Schlacht mochte sie verloren haben. Den Krieg nicht.

11

Im siebten Stock war es still wie im Grab. Das Büro war verwaist, das Ermittlungsteam nach Hause gegangen, einzig Helen war noch da. Wie geplant. Bei dem, was sie vorhatte, konnte sie kein Publikum gebrauchen.

Nachdem sie sich noch einmal versichert hatte, dass niemand auf dem Flur herumlungerte, setzte sie sich vor einen der Computer. Einen fremden PC zu benutzen war ein mieser Trick, aber notwendig: Es war streng verboten, den PNC aus persönlichen Gründen anzuzapfen.

Schnell gab sie «Robert Stonehill» ins System ein. Während die Suche nach dem Namen im Zusammenhang mit Delikten oder Vorfällen lief, bemühte sich Helen, ihre schwach aufflackernde Hoffnung zu unterdrücken. Ihr Neffe war jetzt seit fast zwölf Monaten untergetaucht, hatte keinerlei Kontakt zu seinen Adoptiveltern oder Freunden gehabt, und Helens regelmäßige Nachforschungen waren ergebnislos geblieben. Ihre Fehde mit der Lokaljournalistin Emilia Garanita hatte dazu geführt, dass Robert in der Zeitung als leiblicher Sohn von Helens Schwester Marianne bloßgestellt worden war. Als er von den schrecklichen Verbrechen seiner Mutter erfuhr und die Presse das Haus seiner Adoptiveltern belagerte, war der Junge durchgedreht und geflohen, um die Meute abzulenken. Helen hatte angenommen, wenn das Interesse abflaute, würde er wieder auftauchen, aber dem war nicht so. Robert wollte unerkannt bleiben.

Sein Verschwinden war für Helen ein harter Schlag. Er war das einzige Familienmitglied, das ihr geblieben war, und in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft hatte sie sich und Robert versprochen, sein Schutzengel zu sein. Ihn vor der dunklen Welt zu bewahren, die das Leben seiner Mutter vernichtet und ihres geschädigt hatte. Aber sie hatte auf ganzer Linie versagt und ihn für immer verloren.

Die Suche brachte kein Ergebnis. Wie immer. Helen verdrängte die aufkommende Traurigkeit, schaltete den Computer aus und verließ das Büro.

 

Auf der kurzen Fahrt zu Charlie hoben sich ihre Lebensgeister wieder. Charlie und sie hatten gemeinsam so viel durchgestanden, Gutes und Schlechtes, und Helen fühlte sich bei ihr immer willkommen. Charlie und Steves Heim war nicht groß, aber glücklich. Ganz besonders jetzt, kurz vor der Geburt einer kleinen Tochter.

«Gut siehst du aus», sagte Helen zu Charlie, als sie im Wohnzimmer saßen.

«Riesig, meinst du wohl?», konterte Charlie.

«Nein. Es steht dir.»

«Aufgedunsene Fußgelenke und Schwangerschaftsstreifen – das trägt man heute», erwiderte Charlie und betrachtete neidisch Helens schlanke Gestalt. «Hoffen wir, dass es die Runde macht.»

«Wie kommt ihr klar, Steve und du?»

«Äußerlich gut. Innerlich sind wir in Panik.»

«Alles wird gut. Ihr seid beide Naturtalente.»

«Vielleicht. Wenn wir in zwölf Monaten noch verheiratet sind, dann haben wir das Schlimmste wohl hinter uns.»

Helen lächelte und nippte an ihrem Tee. Da sie nie Alkohol trank, war sie für eine werdende Mutter gute Gesellschaft.

«Und wie geht es dir? McAndrew hat mir von der Leiche am Strand erzählt», fuhr Charlie fort. «Klingt … ungewöhnlich.»

Helen hörte Charlie an, dass ihr die Polizeiarbeit jetzt schon fehlte. Steve hatte darauf bestanden, dass sie den Dienst nach den Ereignissen mit Marianne quittierte, und Charlie hatte zugestimmt. Aber die Schwangerschaft hatte ihr ein Hintertürchen geöffnet, sie nahm erst einen Schreibtischjob, ging dann ein Jahr in den Mutterschaftsschutz und war damit erst einmal aus der Schusslinie. Helen würde es nie laut sagen, aber sie hoffte, Charlie würde irgendwann nach Southampton Central zurückkommen.

«Ist es auch. Da steckt Planung dahinter, und der Mord ist schon eine Weile her. Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen –»

«Was er seitdem angestellt hat?», vollendete Charlie den Satz.

Helen nickte.

«Und wie rauft sich das Team ohne mich zusammen?»

«Es ist noch dabei», erwiderte Helen diplomatisch.

«Und Lloyd, wie macht der sich?»

Helen spürte, dass es das war, was Charlie wirklich wissen wollte. Die plötzliche Beförderung des talentierten, aber unerfahrenen Beamten zum Detective Sergeant hatte Charlie gewurmt. Sie führte sie gleichermaßen auf Detective Superintendent Harwoods Misstrauen ihr selber gegenüber wie auf Lloyds Verdienste zurück. Nichts ist schlimmer, als sich in Seilschaften zu verheddern, und Helen ahnte, dass Charlie bei aller Großherzigkeit hoffte, dass Lloyd sich nicht mit Ruhm bekleckern würde.

«Lässt sich noch nicht sagen», erwiderte Helen mit neutraler Miene. Was immer sie selbst denken mochte, sie würde ihre Sorgen um den Zustand ihres neuen Teams nie durchblicken lassen.

Wenig später machte sie sich wieder auf den Weg, wünschte Charlie viel Glück und versprach, vor dem großen Tag noch einmal vorbeizuschauen. Als sie zu ihrem Motorrad ging, klingelte ihr Handy. Es war DC Grounds.

«Entschuldigen Sie die späte Störung, Ma’am, aber wir haben einen Treffer für den Herzschrittmacher.»

Helen blieb stehen.

«Die Tote heißt Pippa Briers. Sie wäre jetzt fünfundzwanzig. Der nächste Verwandte ist ihr Vater, Daniel Briers. Wir haben eine Adresse und Telefonnummer in Reading. Soll ich dort anrufen?»

«Nein, das übernehme ich. Schicken Sie mir die Nummer.»

Helen legte auf. Kurz darauf traf die SMS von DC Grounds ein. Helen wappnete sich für das Kommende. Der Anruf ließ sich nicht hinauszögern, das war sie Daniel und Pippa Briers schuldig. Doch einen kurzen Moment lang wartete sie noch und sammelte sich. Auch mit den Jahren wurde es nie einfacher, einem Elternteil mitzuteilen, dass sein geliebtes Kind tot war.

12

Ruby schlug die Augen auf und war im ersten Moment ängstlich und desorientiert. Sie hatte wachsam bleiben wollen, war aber irgendwann eingedöst. Hastig sah sie sich um, sie war allein.

Wie spät war es? Sie hatte keine Armbanduhr, und die Wanduhr war auf Viertel nach zwölf stehengeblieben. Ruby hatte keine Ahnung, ob sie fünf Minuten oder fünf Stunden geschlafen hatte, was sie zutiefst beunruhigte. Sie kam sich hier unten wie Dornröschen vor, wie tot und lebendig zugleich. Nur dass wohl kein Prinz sie retten würde.

Sie zitterte, ihr Körper war taub vor Kälte. Vermutlich war inzwischen Nacht geworden, denn die Zimmertemperatur war deutlich gesunken. Die feuchte Kälte fuhr einem in Lungen und Kopf. Ruby ahnte, dass sie bald krank werden würde. Oder schlimmer. Und immer wieder fragte sie sich: Warum ich?

Sie hatte versucht, ihren Entführer zu identifizieren. Er war groß, dünn, ziemlich seltsam und kam ihr außerdem irgendwie bekannt vor. Lag es an seinem Gesicht? Oder am Geruch? Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, wo sie ihm schon einmal begegnet war. Wenn sie wüsste, wer er war, dann hätte sie einen Ansatzpunkt, könnte ihm vielleicht klarmachen, welchen Schaden er anrichtete. Aber sie kam nicht darauf und wurde immer mutloser.

Warum? Warum? Warum?

Warum war sie hier? Was hatte sie getan?

Am Anfang war sie davon ausgegangen, er würde sie umbringen. Oder schlimmer. Aber er hatte sie nicht angerührt. Dann hatte sie vermutet, dass er Geld wollte. Aber nein. Er wollte sie. Dieses seltsame Zimmer mit seiner falschen Gemütlichkeit – die eingefrorene Uhr, die leeren Regale, die frischgewaschene Bettwäsche – sollte ein Zuhause sein, kein Gefängnis.

Woher kannte er sie so gut? Hatte sie irgendetwas getan, das ihre Entführung provoziert hatte? War sie auf irgendeine Art schuld?

In Kälte und Dunkelheit eingesperrt, erschien ihr diese Erklärung am plausibelsten. Sie war eine schreckliche Tochter und eine miserable Freundin gewesen. Alison und Jonathan hatten sie adoptiert und ihr Sicherheit und Geborgenheit gegeben. Rubys leibliche Mutter hatte sie nach der Geburt verstoßen, und sie hätte leicht auf die schiefe Bahn geraten können, aber dank der Güte und Liebe ihrer Adoptiveltern hatte sie im Leben alle Chancen bekommen. Und ihnen alles vor die Füße geworfen. Wenn auch ohne böse Absicht. Das Wissen, von ihrer leiblichen Mutter verlassen worden zu sein, hatte sie immer gequält, und sie hatte unbedingt herausfinden wollen, ob ihre Mutter nach all den Jahren doch etwas für ihr Kind empfand.

Wen hatte sie gefunden? Eine berechnende, manipulative Kriminelle, die ihre Tochter nur ausnutzen wollte. Ruby verfluchte sich dafür, dieser Frau vertraut zu haben. Sie hatte sich verzweifelt nach ihrer Zuwendung gesehnt, alle Lügen geschluckt und dabei die einzigen Menschen, die sie je geliebt hatten, vor den Kopf gestoßen. Und als die ihr Verhalten nicht länger hinnehmen wollten, hatte sie ihnen Hass und Ablehnung entgegengeschleudert, sie wüst beschimpft und wild um sich geschlagen. Zwar war sie dabei wie von Sinnen gewesen, aber das war keine Entschuldigung. Sie hatte auf die eingeprügelt, die es am wenigsten verdienten.

Plötzlich meinte Ruby zu verstehen. Sie hatte schreckliche Dinge getan. Sie war ein grauenhafter Mensch.

Und musste dafür büßen.

13

Helen stand regungslos vor der St.-Barnabas-Kirche. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, Daniel Briers vom Revier aus anzurufen, aber es war schon spät, und sie durfte das Überbringen der schrecklichen Nachricht nicht länger hinauszögern. Also hatte sie den Anruf gleich gemacht. Im Laufe des Gesprächs hatte sie immer wieder bedrückende Pausen mit Einzelheiten und beruhigenden Bemerkungen überbrücken müssen, dafür nach einem ruhigen Ort gesucht und war schließlich auf diesem verlassenen Kirchhof gelandet.

Der Anruf war wie alle dieser Art aufwühlend gewesen. Daniel Briers hatte seine Tochter nicht als vermisst gemeldet und keine Ahnung gehabt, dass ihr etwas zugestoßen war. Sie hatten sich vor einigen Jahren zerstritten, danach war sie weggezogen, aber sie hatten über soziale Medien in unregelmäßigem Kontakt gestanden. Erst an diesem Morgen hatte er eine SMS von ihr erhalten, daher war die Nachricht ihres Todes mehr als nur ein Schock. Helen spürte, dass er ihr nicht glaubte. Sie hatte ihm so viel wie möglich erzählt und sich mit ihm für den folgenden Tag in Southampton verabredet. Vielleicht würde die Realität dann zu ihm durchdringen.

Helen zitterte. Die Stille nach dem Gespräch war verstörend, erst recht in dieser Umgebung. Und sie musste an den Menschen am anderen Ende der Leitung denken. Was machte er jetzt? Erzählte er seiner Frau, dass Pippa tot war? Weinte er? Übergab er sich? Das passierte häufig nach so einem Schock. Es war schrecklich, die Überbringerin einer Todesnachricht zu sein.

 

Eine halbe Stunde später stand Helen vor Jakes Tür und klingelte schnell hintereinander drei Mal – ihr Zeichen. Der Türöffner summte, Helen trat ein und lief die Treppe hoch.

Warum ließ ihr Gewissen ihr keine Ruhe? Sie hatte das Richtige getan und schnellstmöglich angerufen. Doch jetzt plagten sie dunkle Gedanken, sie sah sich als unbarmherzige Leidensbringerin, die alles und jeden mit Schmerz überzog.

Der erste Schlag schreckte Helen aus ihrer Grübelei. Ihre Haut färbte sich wie zum Protest dunkelrosa, Schmerz durchfuhr ihren Körper, Helen schloss die Augen und wartete auf die erhoffte Erleichterung. Langsam zogen sich ihre Dämonen zurück, von Jakes Schlägen vertrieben.

Danach sah er ihr beim Anziehen zu. Helen nahm Jakes Dienste nun schon seit einigen Jahren in Anspruch, und sie waren lange über den Punkt der Scham hinaus. Einmal hatten sie sogar eine Nacht zusammen verbracht, und hätte Helen es nicht mit der Angst bekommen, wäre daraus vielleicht mehr geworden. Aber Jake als Dominator war eine Sache. Jake als Liebhaber war etwas ganz anderes. Über ein Jahr war das jetzt her, und Jake schien seine Enttäuschung verwunden und die Rückkehr zum Status quo akzeptiert zu haben.

Doch als Helen ihr Portemonnaie zückte, wehrte er ab.

«Nicht.» Er klang emotional.

«Komm schon, Jake, du hast es dir verdient.»

«Geht diesmal aufs Haus.» Er lächelte verlegen.

Helen sah ihn an. War das eine echte Ausnahme – ein Freundschaftsdienst –, oder hatte er versteckte Absichten? Helen wusste nicht, was diesen Sinneswandel herbeigeführt hatte, aber er gefiel ihr nicht.

«Ich bestehe darauf», entgegnete sie und drückte Jake das Geld in die Hand.

«Helen …»

«Bitte, Jake, es war ein langer Tag. Nimm es.»

Sie wandte sich um und ging. Sie hatte keine Kraft für einen Streit. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren extrem hart gewesen, doch Helen ahnte, dass ihr und dem Team das Schlimmste noch bevorstand. Die Sturmwolken zogen sich zusammen, und aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass sie nicht an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen konnte. Also ging sie, ohne sich umzusehen, zu ihrem Motorrad zurück. Doch sie wusste, dass Jake vom Fenster aus jeden ihrer Schritte beobachtete.

14

DC