D.O.C.-Agents 2: Gefährliche Spur - Mara Laue - E-Book

D.O.C.-Agents 2: Gefährliche Spur E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

In Portland wird alle paar Wochen ein Glückspilz über Nacht zum Lottomillionär – nur um wenig später einem tödlichen Unfall zum Opfer zu fallen. Außerdem ver- schwindet unmittelbar vor jedem Lottogewinn ein Ob- dachloser spurlos. Profane Verbrechen? Oder ist ein Teufelspakt am Werk? FBI-Agent Travis Halifax vom DOC – Department of Occult Crimes - schleust sich in die Obdachlosenszene ein. Dabei begegnet er der Privat- detektivin Ryanne MacKinlay, die unter den Obdachlosen einen der Vermissten sucht. Mit ihren hartnäckigen Nach- forschungen kommt sie nicht nur Travis in mehr als einer Hinsicht zu nahe, dessen charismatische Ausstrahlung und der Hauch des Mysteriösen, der ihn umgibt, sie un- widerstehlich anziehen. Hin und hergerissen zwischen Faszination und Misstrauen lässt sie sich auf ihn ein, um ihren Fall zu lösen. Doch das führt sie in gefährliche Abgründe, von denen sie gehofft hatte, ihnen für immer entkommen zu sein. Gefährliche Spur ist der zweite Band der Dark-Romance-Serie D.O.C.-Agents. Ebenfalls erschienen: Band 1 – Schattenspur Band 3 – Surmspur in Vorbereitung: Band 4 - Eisspur

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Seitenzahl: 381

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Mara Laue

D.O.C.-Agents 2: Gefährliche Spur

Vorspann

 

 

Gefährliche Spur

 

D.O.C. - Agents 02

 

 

Mara Laue

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Gefährliche Spur

DOC-Agents 02

Mara Laue

 

© 2018 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

Korrektorat: Hermann Schladt

 

 

www.vss-verlag.de

1

 

Portland, Maine, 2. April

 

Silas Petersen blickte aus dem Fenster des Pontiac Trans Sport auf die Bäume, die die Longwoods Road Richtung Cumberland säumten. Die Frühlingssonne strahlte, und obwohl es Anfang April in Maine noch lausig kalt war und stellenweise Schnee lag, hatte Silas das Gefühl, von Licht und Wärme eingehüllt zu sein. Nur teilweise eine Illusion, denn die Sonne schien ihm ins Gesicht, und die Heizung des Wagens sorgte für eine angenehme Temperatur. Dass es ihm heller und wärmer vorkam, als es war, lag an dem Glück, das er fühlte und das er schon seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte. Immer wieder sah er zum Fahrer des Wagens, um sich zu vergewissern, dass er immer noch da und vor allem real war.

Der Mann bemerkte seinen Blick und lächelte. „Keine Angst, Mr. Petersen, es ist alles echt.“

„Sorry, Sir. Aber das fällt mir schwer, zu glauben. Dass einer wie ich so viel Glück haben soll …“ Er schüttelte den Kopf.

Das Glück hatte Silas schon vor Jahren verlassen, als er seinen Job verloren hatte und die Hypotheken fürs Haus nicht mehr bezahlen konnte. Idiotischerweise hatte er versucht, das erforderliche Geld durch Glücksspiel hereinzubekommen, was die Abwärtsspirale noch beschleunigt hatte. Nun saß er auf der Straße, ohne Haus, Geld oder Zukunft, schlief in Hauseingängen und Hinterhöfen unter Pappkartons und alten Zeitungen und fürchtete jedes Jahr, dass er den Winter nicht überleben würde. Dass dieses Elend ein Ende haben sollte, war unfassbar.

„Glauben Sie es, Mr. Petersen, Sie haben das Glück. Leider können wir nicht alle Bedürftigen auf einen Schlag von der Straße holen und vermitteln. Aid for the Homeless ist eine noch recht junge Organisation. Sobald wir mehr Gelder bekommen, können wir in größerem Umfang tätig werden. Bis dahin müssen wir uns damit begnügen, der Reihe nach denen zu helfen, denen wir noch helfen können, indem wir sie in Obdach und Arbeit vermitteln.“

Silas dankte Gott, dass er sich noch nicht, wie viele andere Leidensgenossen, so weit aufgegeben hatte, dass er nur noch dahinvegetierte, sich die Hucke vollsoff und auf das unausweichliche Ende wartete. Er hatte immer wieder versucht, kleine Jobs zu bekommen. So war Morton Caine auf ihn aufmerksam geworden, der ihn engagiert hatte, seinen Wagen zu waschen. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Caine hatte ihm angeboten, ihn in das Programm von Aid for the Homeless zu bringen. Und nun, nur drei Tage später, war er auf dem Weg in eine sonnigere Zukunft.

„Wir bringen Sie erst mal bei einem unserer Sponsoren unter“, sagte Caine. „Dort bleiben Sie, bis Sie wieder vollständig in ein würdiges Leben zurückgekehrt sind und wir einen Job für Sie haben, der Ihren Fähigkeiten und Ihrer Ausbildung entspricht. Wird nicht lange dauern.“ Er lächelte.

„Ja, Sir. Danke, Sir.“

Caine deutete mit dem Daumen über die Schulter auf den Rücksitz, wo neben Silas’ dünnem Rucksack, der seine gesamten Habseligkeiten enthielt, ein Karton mit Lebensmitteln stand, in dem auch eine Thermosflasche steckte. „Trinken Sie einen Schluck Kaffee. Wird noch eine Weile dauern, bis wir da sind.“

Silas angelte die Flasche heraus, schraubte den Deckel ab, goss den Kaffee ein und hielt ihn Caine hin, der mit einem Kopfschütteln ablehnte. Silas wärmte eine Weile seine Hände an dem Becher, ehe er trank. Der Kaffee war stark gesüßt, aber das machte ihm nichts aus. Bald würde er wieder selbst Kaffee kochen können, soviel er wollte und ihn so trinken, wie er ihn mochte. Wahrscheinlich hatte Caine den Kaffee mit Süßstoff gesüßt, denn Silas schmeckte eine leicht bittere Note heraus, sodass er den Becher schnell austrank. Ihm wurde schwindlig. Das lag wahrscheinlich daran, dass er nicht gefrühstückt hatte. Starker Kaffee auf nüchternen Magen, der den Kreislauf zu schnell ankurbelte, hatte manchmal diese Wirkung auf ihn. Er lehnte sich gegen die Wagentür und atmete ein paar Mal tief durch. Doch statt dass es ihm dadurch besser ging, wurde ihm noch schwummriger. Er blickte Caine an und wollte ihn bitten, das Fenster herunterzulassen, damit er frische Luft bekam. Aber er brachte keinen Ton heraus. Ihm wurde schwarz vor Augen.

 

*

 

Morton Caine lächelte zufrieden, als er sah, dass der Mann neben ihm bewusstlos geworden war. Hervorragend. Hätte er den mit K.-o.-Tropfen versetzten Kaffee abgelehnt, hätte Morton ihn auf andere Weise aus dem Verkehr gezogen. So war es aber erheblich einfacher.

Er fuhr den Wagen an den Straßenrand und zog eine Ledermaske aus der Innentasche seines Mantels. Es handelte sich um die Art von Masken, die in der Sadomaso-Szene verwendet wurden und die wahren Konturen des Gesichts ihrer Träger nicht preisgaben. Anschließend setzte er sich einen breitkrempigen Hut auf, zog ihn tief in die Stirn und schlug den Mantelkragen hoch. Die Maske musste nicht gleich jeder sehen können, der ihm entgegenkam oder ihn überholte.

Er fuhr weiter, bog in die Harris Road ein und gleich darauf in die Brook Road, eine schmale, unbefestigte Sackgasse in den Wald hinein, an deren Ende ein Haus stand. Das Haus war jedoch weder das Ziel noch ein Hindernis; erst recht nicht um diese Tageszeit, zu der die Bewohner in Portland arbeiteten. Morton parkte den Wagen unter den Bäumen einer Ausweichbucht. Dort stand bereits ein anderer Wagen, in dem ein Mann wartete. Er stieg sofort aus, kaum dass Morton den Motor abgestellt hatte. Er zögerte jedoch, auf Morton zuzugehen und wartete, bis dieser ausstieg und zu ihm kam.

„Mr. Lawson, schön, dass Sie gekommen sind.“

Lawson starrte die Maske an. Obwohl er es zu verbergen versuchte, hatte er Angst. Morton sah es an dem Schweißfilm auf seinem Gesicht, an den geweiteten Augen und dem nervösen Schlucken.

Morton reichte ihm einen zusammengefalteten Ganzkörperanzug aus Plastik, Schuhüberzieher und Handschuhe. „Ziehen Sie das an, und dann folgen Sie mir. Und vergessen Sie nicht, die Kapuze aufzusetzen.“

Er wartete keine Antwort ab, sondern ging zu seinem Wagen zurück. Petersen war immer noch bewusstlos und würde das auch bis ans Ende seines nur noch sehr kurzen Lebens bleiben. Morton bedeckte Petersens Kopf mit einem quadratischen Schaltuch, dessen Gewebe dicht genug war, seine Gesichtszüge nicht erkennen zu lassen, aber dünn genug, dass er nicht erstickte, und knotete es um seinen Hals, damit es nicht herunterfiel. Petersen würde zwar gleich sterben, aber für das Ritual musste er noch lebendig sein.

Morton öffnete den Kofferraum, zog seinen Mantel aus und eine schwarze Robe an, die er in einem Secondhandladen für Halloweenkostüme gekauft hatte. Anschließend hängte er sich eine Schultertasche um, in der er die für das Ritual erforderlichen Utensilien aufbewahrte, und zerrte den bewusstlosen Petersen aus dem Wagen. Er hievte ihn sich über die Schulter und ging in den Wald hinein.

„Moment mal!“, protestierte Lawson, der sich inzwischen wie befohlen in den Ganzkörperanzug gezwängt hatte. „Als die Rede von einem Blutopfer war, dachte ich an ein Huhn oder ein Kaninchen, irgendein Tier, aber keinen Menschen! Ich bin doch kein Mörder!“

Morton maß ihn mit einem kalten Blick. Dieser Part war immer der schwierigste der ganzen Angelegenheit. Fast immer, denn er hatte auch schon Klienten gehabt, denen es egal war, ob sie für den immensen Vorteil, den Morton ihnen verschaffte, einen Menschen oder ein Tier töten mussten. Er deutete auf Petersens Körper, der schlaff über seiner Schulter hing. „Das ist ein Tier, Mr. Lawson. Es sieht nur zufällig aus wie ein Mensch. Ein Ungeziefer, das unsere Straßen mit seiner Anwesenheit verschmutzt, Passanten mit Betteleien belästigt, säuft und stiehlt und niemandem nützt. Es wird jetzt Ihnen nützen und damit wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich zu etwas taugen. Was wollen Sie, Mr. Lawson? Weiterhin nicht wissen, woher Sie die nächste Hypothekenrate nehmen sollen, oder für den Rest Ihres Lebens nie wieder finanzielle Sorgen haben und so reich werden, wie Sie es sich in Ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellen können? So reich wie zum Beispiel Ihr Freund Tyler Barrington, der mich Ihnen empfohlen hat.“

Dieses Argument hatte bisher jeden überzeugt. Es verfehlte auch bei Lawson seine Wirkung nicht. Er zögerte noch einen Moment, dann gab er nach.

„Okay. Bringen wir es hinter uns.“

Morton führte ihn tiefer in den Wald zu einer kleinen Lichtung, wo er Petersen ablegte. Er begann, die für das Ritual erforderlichen Dinge bereitzustellen und im Kreis um den Bewusstlosen zu verteilen, weit genug von dessen Körper entfernt, dass Lawson und ihm selbst genug Platz zum Agieren blieb, ohne die Gegenstände umzustoßen oder die Linie des Kreises zu überschreiten, den Morton mit einer dicken Schnur markierte. Er streute Räucherpulver in die sechs aufgestellten Aluminiumschalen, das er entzündete. Beißender Qualm stieg auf und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Anschließend reichte er Lawson den Opferdolch, der vor nicht allzu langer Zeit noch ein gewöhnliches Tranchiermesser gewesen war.

Lawson nahm es unsicher entgegen. „Wenn der Mann aufwacht …“

„Das Tier wacht nicht auf.“ Morton öffnete Petersens Mantel und schob den zerschlissenen Pullover und das schmutzige T-Shirt hoch, sodass dessen Brust entblößt war. Er zog einen Filzstift aus der Tasche und malte ein Kreuz auf Petersens Brust. „Hier.“ Er deutete auf die Mitte des Kreuzes. „Genau hier stechen Sie rein, wenn ich es Ihnen sage, dann ist es ganz schnell vorbei.“

Lawson kniete sich neben den Bewusstlosen. „Wird den keiner vermissen?“

Morton schüttelte den Kopf. „Garantiert nicht. Falls er seinen Kumpanen was erzählt haben sollte, wird er ihnen gesagt haben, dass ihm eine wohltätige Organisation hilft, in ein zivilisiertes Leben zurückzukehren, das heute beginnt. Die Leute werden davon ausgehen, dass das mit dem Neuanfang geklappt hat. Die Nummernschilder an meinem Wagen sind falsch, und“, er lächelte, „mein Name ist natürlich auch nicht echt. Also, Mr. Lawson, wenn Sie reich werden wollen, dann tun Sie, was zu tun ist.“

Lawson hielt das Messer unschlüssig in der Hand. Er blickte auf Petersens Körper. Das Tuch, das dessen Gesicht verdeckte, hatte ihm für die Augen seines Mörders Persönlichkeit und Identität genommen. Psychologische Taktik, damit es den Kandidaten leichtfiel, ihr Opfer zu töten.

„Keine Sorge. Das Tier wacht garantiert nicht auf. Es sei denn, Sie wollen bis morgen früh warten.“

Lawson packte das Messer fester. „Und das funktioniert tatsächlich?“, vergewisserte er sich.

Morton nickte. „Das hat Ihnen Mr. Barrington doch bestätigt. Nicht wahr?“

Lawson nickte. „Okay. Was muss ich tun?“

„Sie warten auf mein Zeichen, dann stechen Sie zu. Aber richtig. Wenn Sie das Tier nicht töten, funktioniert es nicht. Und bis ich Ihnen das Zeichen gebe, halten Sie den Mund. Kapiert?“

Lawson nickte. Morton nahm das letzte Utensil aus der Tasche: ein uraltes Buch, das gemessen an seinem gewichtigen Inhalt klein und dünn war. Er schlug es auf und begann, einen lateinischen Text daraus zu intonieren. Zwar hatte er, bevor er dieses Buch in die Hände bekam, noch nie etwas mit Latein zu tun gehabt, aber das machte nichts. Hauptsache, es wirkte spektakulär. Auch wenn Lawson ihn in diesem Moment für verrückt hielt, wie er an dessen Gesichtsausdruck erkannte. Der Zweck heiligte die Mittel, und Lawson würde sich noch wundern; wie alle seine Vorgänger.

Morton sprach den Text zu Ende, während Lawson abwechselnd auf ihn und auf Petersen blickte und heftig atmete. „Jetzt!“, befahl er Lawson. „Tun Sie’s!“, fügte er nachdrücklich hinzu, denn Lawson zögerte. „Sonst war alles umsonst.“

Lawson stach zu und traf zielsicher die Mitte des schwarzen Kreuzes auf Petersens Brust. Das Messer drang bis zum Heft ein. Lawson ließ es hastig los, als Petersens Körper unter der Gewalt des Einstiches zuckte und dann erschlaffte. Morton sprach ein letztes lateinisches Wort und klappte das Buch zu. Im selben Moment erlosch das stinkende Räucherwerk in den Schalen. Lawson hockte zitternd neben Petersens Leiche und starrte darauf, als befürchtete er, dass der Tote auferstehen und sich an ihm rächen würde. Er würgte, übergab sich aber nicht wie mancher seiner Vorgänger.

„I-ist es vorbei?“, fragte er schließlich flüsternd.

„Ja. Und es ist alles nach Plan verlaufen.“ Sogar in mehr als nur einer Hinsicht. „Gehen Sie ein paar Schritte weg, dann ziehen Sie den Anzug, die Überzieher und die Handschuhe aus, lassen alles hier und fahren in die Stadt zurück. Ich entsorge die Utensilien.“ Er deutete auf die Leiche. „Sie brauchen nur noch Ihr Lotterielos gut aufzubewahren und können bei der nächsten Ziehung Ihren Gewinn einstreichen. Das ist alles. Wir werden uns nie wiedersehen.“

Er sah Lawson an, dass ihm das mehr als recht war. Der Mann ging ein paar Schritte in die Richtung, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, zog hastig den Ganzkörperanzug mitsamt den Handschuhen und Schuhhüllen aus und ließ es liegen, wo es hinfiel.

„Vergessen Sie nicht, meinen Lohn in der Weise zu zahlen, wie wir es besprochen haben“, erinnerte Morton ihn, bevor Lawson flüchten konnte. „Falls doch, werden Sie diese Entscheidung mehr als bitter bereuen.“

Lawson starrte ihn an, ehe er knapp nickte und davoneilte. Morton wartete, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war. Anschließend machte er sich daran, die Leiche zu verscharren.

Als er damit fertig war, ging er zu einem Gebüsch, das vor einem Baum stand, bog die Zweige zur Seite und montierte die Kamera ab, die er dort angebracht hatte. Er prüfte, ob sie alles wunschgemäß aufgezeichnet hatte, und lächelte zufrieden. Diese Aufnahmen würde er als Druckmittel brauchen. Und in ein paar Wochen würde er durch sie um ein paar weitere Millionen reicher sein.

Ja, Lawson würde ein sehr reicher Mann sein bis ans Ende seines Lebens; wie Morton es ihm versprochen hatte. Jedoch würde dieser Rest nicht mehr allzu lange dauern.

 

*

 

Las Vegas, Nevada, 15. April

 

Travis Halifax starrte der Frau ihm gegenüber in die faszinierenden grünen Augen. Sie lächelte. Es wirkte siegessicher.

„Du bluffst, Bronwyn“, beschuldigte er sie.

Sie winkte mit den Karten in ihrer Hand, aber leider nicht so, dass er das Blatt hätte erkennen können. „Tue ich das?“

Eben darin war er sich absolut nicht sicher. Bronwyn Kelley war eine gewiefte Pokerspielerin. Ihre Taktik, ebenso wie die ihres Mannes Devlin Blake, war nicht das Pokerface, sondern die Täuschung. Man konnte bei den beiden nie wissen, ob das erfreute Lächeln beim Aufnehmen einer Karte bedeutete, dass sie ein tolles Blatt auf die Hand bekommen hatten, oder ob sie damit verschleierten, dass die Karten gar nicht zusammenpassten.

Devlin, der ebenso wie die drei anderen Mitspieler längst ausgestiegen war, grinste breit. Travis wandte sich an Wayne Scott, der mit seiner Frau Kianga ebenfalls Mitglied der illustren Pokerrunde war, die wöchentlich im privaten Separee des Devilish Luck No. 1 Casinos stattfand. „Lies doch mal ihre Gedanken, Wayne.“

Sein Freund schüttelte den Kopf. „Keine Chance.“

„Die hat er sowieso nicht“, erinnerte Devlin ihn. „Telepathie funktioniert bei uns nicht, wenn wir das nicht zulassen.“ Er kicherte wie die alte Hexe im Märchen.

Kia lachte herzlich. Wayne stimmte ein und legte liebevoll die Arme um die dunkelhäutige Schönheit. Devlin zwinkerte ihr zu. Gressyl, Devlins Halbbruder, grinste und blickte Travis wissend an. Bestimmt wusste er genau, wer die besseren Karten hatte.

Bronwyn sah Travis in die Augen. „Was ist nun? Steigst du aus?“

Er versuchte – wieder einmal – anhand ihrer Körpersprache und Mimik zu erkennen, ob sie bluffte. Er traf seine Entscheidung und schob seine Jetons in die Mitte des Tisches. „All in. Ich will sehen.“

Bronwyn schob ihre Jetons ebenfalls in die Mitte und machte eine Show daraus, jede ihrer Karten einzeln auf den Tisch zu legen. Pik-Zehn, Pik-Bube, die Pik-Dame. Travis deckte seine ersten drei Karten auf: Kreuz-Drei, Herz-Drei, Karo-Drei. Bronwyn deckte das Pik-As auf. Hatte sie auch den König zu einem Royal Flush auf der Hand? Travis legte die Kreuz-Sieben auf den Tisch. Die anderen beugten sich gespannt vor. Travis und Bronwyn hielten ihre letzte Karte hoch wie Duellanten ihre Waffen und legten sie gleichzeitig auf den Tisch.

„Scheiße!“, fluchte Travis.

Bronwyn hatte auch den Pik-König und somit einen Royal Flush. Er selbst hatte die Pik-Sieben und damit ein Full House, aber gegen einen Royal Flush kam selbst die beste Karte nicht an. Er deutete mit dem Finger auf sie. „Du hast Magie angewendet“, beschuldigte er sie, obwohl er sicher war, dass sie das nicht getan hatte.

Bronwyn grinste. „Klar. Ich brauche jeden Cent, den ich kriegen kann. Und deine Million Dollar, die du gerade an mich verloren hast, garantiert mir ein sorgenfreies Leben – für ungefähr drei Tage.“ Sie strich den Jackpot mit einer ausholenden Geste ein, umarmte den Haufen und deutete einen Kuss auf die Jetons an. „Kommt zu Mama, ihr Süßen.“

Alle lachten. Travis lehnte sich zurück, griff nach seinem Whiskeyglas und trank einen Schluck. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ Er blickte Gressyl anklagend an. „Du warst das mit der Magie.“

Der machte ein unschuldiges Gesicht. „Würde ich denn so etwas Unfaires tun?“

Travis nickte. „Ganz sicher. Du bist ein Dämon und bleibst das bis in alle Ewigkeit mit allen dämonischen Begleiterscheinungen.“

Gressyl grinste. „Zumindest einige meiner typisch dämonischen Eigenschaften werde ich bestimmt niemals freiwillig aufgeben. Sie garantieren mir ein bequemes Leben.“

Travis wurde sich bewusst, dass Gressyl seine Worte als Diskriminierung aufgefasst haben könnte. Er war zwar ein reinblütiger Dämon, aber in ihm steckte die Seele eines Menschen. Dadurch war er zu menschlichen Empfindungen fähig. „Nichts für ungut, Gress.“

Gressyl griff zu seinem Whiskeyglas und prostete Travis zu. „Kein Problem. Ich fühle mich durch solche Bemerkungen nicht beleidigt. Ich bin von meiner früheren ‚Chefin’ – sprich: meiner dämonischen Mutter – erheblich Schlimmeres gewohnt.“

„Ja, darin war sie unübertroffen“, bestätigte Devlin, der ein Sohn derselben Mutter war. „Ich hoffe, wir sehen sie nie wieder.“

„Ganz sicher nicht.“ Gressyl grinste boshaft. „Jemand hat sich ihrer erbarmt und sie in die Unterwelt zurückgeschickt. Belegt mit einem Bann, den sie nicht brechen kann und der es ihr unmöglich macht, jemals wieder diese Welt zu betreten. Was sie sowieso nicht will. Und darauf trinke ich.“ Er leerte sein Glas.

Travis genoss die Pokerpartien mit seinen Freunden und Kollegen. Bronwyn gehörte die Kette der Devilish Luck Casinos – insgesamt sechsundsechzig Etablissements weltweit –, von denen allein hier in Las Vegas acht Stück standen. Außerdem besaß sie eine Restaurantkette und eine Menge anderer Wertanlagen. Ihr Reichtum war ebenso exorbitant wie Devlins, dem unter anderem eine Hotelkette und eine Luxus-Kreuzfahrtflotte gehörten. Um Geld zu spielen hatten beide nicht nötig und taten es auch nicht. Obwohl sie hier mit echten Jetons spielten, benutzten sie diese nur als Spielgeld ohne realen Gegenwert. Andernfalls hätte sich Travis einen Einsatz von einer Million Dollar in hundert Jahren nicht leisten können.

Ihrer aller Chefin, Special Agent in Charge Cecilia O’Hara, hätte sie auf der Stelle gefeuert, wäre es anders gewesen. Schließlich waren FBI-Agents, die einer hochgeheimen Sondereinheit angehörten und trotzdem dem Glücksspiel frönten, für das Bureau nicht tragbar. Sie alle waren bis auf Gressyl Mitglieder des DOC – Department of Occult Crimes – und bearbeiteten Fälle, die einen okkulten Hintergrund hatten, mit echter Magie oder durch nichtmenschliche Wesen wie Dämonen begangen wurden, zu denen auch Devlin und Bronwyn gehört hatten. Zur Hälfte jedenfalls. Ihren Reichtum hatten sie von ihrem jeweiligen dämonischen Elternteil geerbt, der ihn über drei Jahrtausende gescheffelt hatte. Obwohl es ihnen gelungen war, den Dämonenanteil aus ihren Genen zu tilgen, waren ihre damit verbundenen Kräfte erhalten geblieben. Deshalb hatte das DOC sie angeworben.

Zunächst waren die beiden misstrauisch gewesen und hatten geleugnet, diese Kräfte noch zu besitzen. Ein paar Wochen später hatten sie dann doch das Angebot angenommen, für das DOC als Berater tätig zu sein. Erst als sie sich im Laufe ihrer Zusammenarbeit davon überzeugt hatten, dass sie Travis, Wayne und Kia ebenso wie SAC O’Hara vertrauen konnten, hatten sie ihnen offenbart, dass sie ihre Kräfte immer noch besaßen und ihre ehemaligen dämonischen Untertanen ihnen nach wie vor gehorchten. Gressyl bestand darauf, ihr Leibwächter zu sein und nahm diese Aufgabe sehr ernst, obwohl sie wahrlich keinen Bodyguard nötig hatten. Allerdings hatten sie mit einem Zauber dafür gesorgt, dass niemand von denen, die über sie Bescheid wussten, in der Lage war, das gegenüber einem Nichteingeweihten zu erwähnen. Nur wenn sie unter sich waren, konnten sie offen darüber sprechen.

Wayne war zwar durch und durch Mensch, aber telepathisch begabt, ebenso Kia, die zudem eine hochrangige Voodoopriesterin war. Travis war mit der Gabe der Retrospektion gesegnet, die es ihm ermöglichte, vergangene Ereignisse sehen zu können, sofern sie nicht länger als einen Tag zurücklagen. Während er und Wayne ständig für das FBI arbeiteten und nur von der Las Vegas Division abgezogen wurden, wenn das DOC einen Fall hereinbekam, der in seine Zuständigkeit fiel, waren Bronwyn, Devlin und Kia zwar auch inzwischen voll ausgebildete Agents, wurden aber ausschließlich im Bedarfsfall eingesetzt. Außerhalb solcher Fälle arbeitete Devlin unter dem Namen Darryn Blackthorne als erfolgreicher Maler, Bronwyn als freie Journalistin und Kia als Tänzerin für die Las Vegas Ballett Company.

Das Hauptquartier des DOC lag in New York, aber es gab ein paar Hotspots mit auffallender Häufung von okkulten Verbrechen und dem geballten Auftreten nichtmenschlicher Wesen wie Dämonen und anderer, weshalb das DOC entweder ein eigenes Field Bureau an solchen Orten unterhielt oder Agents in den dortigen normalen FBI Divisions stationierte. Cleveland war ein solcher Hotspot, an dem sich Werwölfe und Vampire ein Territorium teilten, in dem auch Feuervögel residierten. Denver war ein weiterer, aber dort kümmerte sich eine andere Organisation um die Ordnung. Las Vegas war einer der schwierigsten und gefährlichsten, weil wegen der unzähligen Spielcasinos und den nicht nur damit einhergehenden moralischen Verfehlungen Dämonen sich hier sauwohl fühlten. Doch die hatten Bronwyn und Devlin mithilfe ihrer eigenen dämonischen Gefolgsleute weitgehend im Griff, seit sie sich permanent in der Stadt niedergelassen hatten, sodass einigermaßen Ruhe eingekehrt war.

Devlin schnippte mit den Fingern. Eine Sekunde später lagen die Jetons nach Wert sortiert in gleicher Anzahl vor jedem von ihnen.

„Beneidenswert.“ Travis seufzte.

Bronwyn grinste. „Ja, Magie erleichtert einem das Leben manchmal außerordentlich. Spielen wir noch eine Runde?“

Das Klingeln von Travis’ Smartphone, dem eine Sekunde später das von Wayne und Kia folgte, beantwortete die Frage. Wenn ihre Phones gleichzeitig klingelten, kam die Nachricht vom Hauptquartier.

„Wir sollen unsere Sachen packen und nach New York starten, sobald der DOC-Jet eingetroffen ist, den O’Hara gleich losschickt“, sagte Travis, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. „Bin gespannt, wo es diesmal brennt.“

Devlin griff zu seinem Smartphone. „Mrs. O’Hara, falls der Jet für Kia, Wayne und Travis noch nicht gestartet ist … Ist er nicht. Gut. Lassen Sie ihn, wo er ist. Je nachdem, wie eilig es ist, können sie einen von meinen Jets nehmen oder wir teleportieren sie direkt nach New York.“

„Bist du wahnsinnig?“, zischte Travis ihm zu. „So eilig haben wir es nicht!“

Devlin schaltete den Lautsprecher des Phones ein.

„Sie mögen es nicht so eilig haben, Agent Halifax“, sagte O’Hara, die Travis’ Protest gehört hatte, „aber ich will Sie schnellstmöglich hier haben. Und bei der Gelegenheit können Sie, Mr. Blake und Mrs. Kelley, sich ebenfalls für einen Einsatz bereit machen und herkommen. Sie beide hätte ich als Nächste kontaktiert, denn für Sie habe ich auch eine Aufgabe. Seien Sie alle morgen früh um acht Uhr hier. Egal, auf welche Weise.“ O’Hara wartete die Antwort nicht ab, sondern unterbrach die Verbindung.

„Das hast du jetzt davon“, stellte Travis fest.

Devlin zuckte mit den Schultern. „Da die Reisemethode uns überlassen ist, können wir noch in aller Ruhe ein paar Runden spielen und ausschlafen. Wir holen euch dann morgen früh kurz vor acht ab und liefern euch O’Hara frei Haus direkt vor ihre Füße.“

„Ich hoffe, du meinst das nicht wörtlich.“ Travis blickte Devlin mahnend an, denn in dem steckte manchmal etwas von einem Kobold.

Devlin lächelte. „Du bringst mich auf eine Idee.“

Bronwyn gab ihm einen Rippenstoß. „Untersteh dich.“ Sie lächelte. „Ich glaube, ich muss dich auf andere Gedanken bringen.“

Sie legte die Arme um ihn und gab ihm einen tiefen Kuss, den er hingebungsvoll erwiderte. Kia folgte ihrem Beispiel und küsste Wayne nicht minder innig. Die Liebe der beiden Paare war fast körperlich spürbar. Travis schenkte sich einen Whiskey nach und reichte die Flasche an Gressyl weiter, der sich ebenfalls großzügig nachschenkte.

„Liebende sind ja so ätzend, oder?“, lästerte Travis gutmütig. „Demonstrieren uns armen Singles, was uns fehlt. Schrecklich!“

„Nur kein Neid, mein Freund“, beschied ihm Wayne. „Wie ich mich erinnere, tönst du doch immer am lautesten, dass du nicht der Typ für Beziehungen bist.“

Travis winkte ab. „Was ist mit dir, Gress? Hast du nicht mal Lust auf so eine richtig schöne – was auch immer?“ Er deutete auf Devlin und Bronwyn, die einander umarmt hielten.

„Nein, danke“, wehrte der Dämon ab und trank einen Schluck Whiskey. „Eine menschliche Seele macht mich nicht gleich zum Traummann des Jahres. Ich bin und bleibe Dämon. Jede Dauerpartnerin würde früher oder später herausfinden, was ich bin. Und welche Frau verliebt sich schon in einen Dämon?“

Oder hielt eine Beziehung zu einem Mann aufrecht, der sie über etliche Dinge seines Lebens belügen musste. Travis dachte daran, während er einen Schluck trank, dass seine letzte Affäre schon ewig her war. Sein Job ließ ihm wenig Zeit für feste Beziehungen, und die permanente strikte Geheimhaltung, zu der er verpflichtet war, erlaubte ihm nicht einmal, einer potenziellen Partnerin zu gestehen, dass er nicht nur einfacher FBI Field Agent war, sondern Mitglied einer Sondereinheit. Schon das wäre zu viel Information, selbst wenn er die Sondereinheit nicht spezifizierte.

Er hatte bei einigen Kollegen mitbekommen, wo das endete. Selbst die tolerantesten Partnerinnen und Partner ertrugen das Bewusstsein irgendwann nicht mehr, dass ihr Geliebter oder die Ehefrau Geheimnisse hatte, die ihn oder sie nur allzu oft in Lebensgefahr brachten und sie nie wussten, ob der geliebte Mensch jemals von einem Einsatz zurückkehrte. Und Beziehungen zwischen Kollegen gingen meistens noch schneller in die Brüche, weil sie wegen ihrer Beziehung in der Regel nicht mehr bei denselben Fällen eingesetzt werden durften und durch die unterschiedlichen Einsätze viel zu wenig Zeit miteinander verbringen konnten. Devlin und Bronwyn sowie Kia und Wayne waren Ausnahmen. Ganz besonders Letztere. Travis hatte hautnah mitbekommen, wie einsam Wayne früher gewesen war, weil die Frauen, mit denen er eine Beziehung versucht hatte, Hals über Kopf das Weite gesucht hatten, sobald sie erfahren hatten, dass er Telepath war und ihre Gedanken lesen konnte. Was würde eine Frau wohl zu seiner Gabe sagen, mit der er vierundzwanzig Stunden in die Vergangenheit sehen konnte? Theoretisch hätte er damit jederzeit prüfen können, ob sie tatsächlich zur Arbeit oder shoppen gegangen war oder sich mit einer Freundin getroffen hatte, wie sie behauptet hatte, oder ob sie etwas ganz anderes getan hatte. Nicht, dass er das jemals getan hätte; zumindest nicht ohne begründeten Verdacht. Sollte er jemals eine Beziehung eingehen, würde er seiner Partnerin vollkommen vertrauen. Solche Kontrollen vertrugen sich nicht mit Vertrauen. Aber auch in dem Punkt hatten Waynes Erfahrungen und auch Travis’ eigene ihm gezeigt, dass Vertrauen nicht davor schützte, hintergangen zu werden. Im Gegenteil.

Travis war nicht so vermessen zu glauben, dass ihm das Glück beschieden war, eine Partnerin zu finden, die klaglos die Nachteile ertrug, die sein Job mit sich brachte und vor allem keine Angst vor seiner Gabe hatte. Aber ihn aufzugeben, kam nicht infrage. Dazu war die Arbeit zu wichtig und gab es zu wenige qualifizierte Agents, die sie erledigen konnten. Also würde er weiterhin beziehungsmäßig à la carte leben und ansonsten genießen, dass er Freunde hatte, mit denen er pokern und abhängen konnte. Auch wenn einer von ihnen ein Dämon war.

 

*

 

Washington, District of Columbia, 16. April, 7:30 Uhr

 

Ryanne MacKinlay parkte ihren Wagen vor dem Büro der Detektei Your Eyes, Inc., 1201 New York Avenue North West.

Das Gebäude aus glattem, hellgrauem Stein wirkte wie eine Festung. Ein Eindruck, der durch die vier Säulen verstärkt wurde, die über dem Eingang der vier Stockwerke gebaut worden waren. Das Gebäude beherbergte eine Menge Geschäftsräume, unter anderem Bobby Van’s Grill, bei dem sie oft die leckeren Buffalo Chicken Wings gegessen oder sich ein Putenbrustsandwich gegönnt hatte. Die Preise waren nichts für schmale Geldbeutel, aber Rya konnte es sich leisten. Hatte sie sich leisten können, denn inzwischen musste sie mit jedem Cent rechnen. Umso dankbarer war sie Jason, dass er ihr endlich wieder einen Auftrag gegeben hatte.

Früher war sie hier täglich mehrmals ein und aus gegangen, kannte jede Stufe, jeden Aufzug und hatte sich in ihrem Büro mehr zu Hause gefühlt, als in ihrem Apartment. Jetzt kam ihr das Haus fremd vor; vielmehr fühlte sie sich darin fremd. Kein Wunder. Sie war über ein halbes Jahr fort gewesen. Wenigstens war Jason so großzügig gewesen und hatte ihr Büro nicht an jemand anderen gegeben, obwohl er einen Ersatz für Rya hatte einstellen müssen.

„Du wirst zurückkommen, wenn du so weit bist“, hatte er gesagt. „Was wäre ich für ein Boss, wenn ich nicht der besten Detektivin, die ich habe, den Platz frei halten würde?“

Aber nicht einmal er hatte ahnen können, dass Rya ein halbes Jahr brauchen würde, um wieder in der Lage zu sein, ihren Job zu machen. Dass sie keinen Monat länger hätte warten dürfen, bewies Jasons Reaktion auf ihren Anruf letzte Woche, mit dem sie angekündigt hatte, dass sie am Montag wieder zur Arbeit käme.

„Kannst noch ein paar Tage ausspannen, Rya“, hatte er gesagt. „Ich rufe dich an, sobald ich was für dich habe.“

Fast schon ein Rauswurf, denn selbst wenn ein Your-Eyes-Ermittler keinen aktuellen Auftrag bearbeitete, gab es immer etwas zu tun. Auch nach einem halben Jahr Pause.

Okay, sie konnte Jason verstehen. Nach allem, was passiert war, plus Ryas Zusammenbruch, war es ein Wunder, dass sie ihren Job überhaupt zurückbekam. Ihr war bewusst, dass sie diesen Umstand nur der Tatsache verdankte, dass Jason ein Mann war, der ein gegebenes Wort wie einen schriftlichen Vertrag betrachtete und es unter allen Umständen einhielt. Deshalb war ihr auch bewusst, dass sie nur diese eine Chance bekam. Wenn sie die vergeigte, wäre sie raus. Für immer. Denn eine Privatermittlerin, die rausgeworfen worden war, weil sie ihren Biss verloren hatte, konnte sich gleich im nächsten Diner als Küchenhilfe bewerben. Und um sich mit einer eigenen Detektei selbstständig zu machen, fehlten ihr die finanziellen Ressourcen.

Sie fand die Tür der Detektei unverschlossen. Klar, auch zu dieser frühen Stunde waren Ermittler im Einsatz. Your Eyes arbeitete rund um die Uhr. Rya hoffte, dass Jason noch nicht da war. Er hatte gesagt, dass er ihr den Fall auf ihren Schreibtisch legen würde. Das deutete an, dass er heute außer Haus war.

Sie trat ein und blieb abrupt stehen. Die Räume hatten sich verändert und glichen in nichts mehr dem vertrauten Anblick. Offenbar hatte Jason renoviert. Statt der warmen ockerfarbenen Wände mit den farblich darauf abgestimmten Schreibtischen und Sitzmöbeln ließen blütenweiße Wände sie frösteln und erweckten die überwiegend hellgrauen Möbel im nüchternen Officedesign sowie der hellgraue Fußbodenbelag den Eindruck von Sterilität. Steril wie …

Ein widerliches Gefühl von Angst kroch in ihr hoch. Rya fühlte ihren Mund trocken werden. Hastig wandte sie sich zur Seite und ging zu ihrem Büro. Doch dort, wo es früher gewesen war, befand es sich nicht mehr. Alles war umgestaltet worden. Die Wabenstruktur, die die durch Stellwände voneinander getrennten Bereiche gehabt hatten, war einer Rechteckstruktur gewichen, die sich entlang der Wände verteilte. Die Stellwände waren durch gemauerte Wände ersetzt worden. Hellgraue senkrecht aufgemalte Streifen deuteten bereits von außen an, wo die Trennwände dahinter verliefen. Versetzte Querstreifen in derselben Farbe gaben dem Ganzen die Wirkung von riesigen Mauersteinen. In der Mitte des Raums zwischen den sechs Stützpfeilern residierte der Empfangsbereich, an dem zwei unbekannte Frauen in Businesskostümen den Telefondienst versahen und Schreibarbeiten erledigten.

„Rya, hey!“

Sie zuckte zusammen. Ehe sie reagieren konnte, wurde sie von kräftigen Männerarmen umfangen, die sie an sich drückten, und hatte das Gefühl, ihr Blut würde zu Eis erstarren.

Gefesselt, ausgeliefert.

Sie unterdrückte den Impuls, um sich zu schlagen und zu schreien und rief sich nachdrücklich ins Gedächtnis, dass der Mann, der sie umarmte, Jason war. Ein vertrauter Freund, der ihr ganz sicher nichts antun wollte. Sie zwang sich, seine Umarmung zu erwidern und konnte doch seine Nähe kaum aushalten.

„Hey“, echote sie.

Er hielt sie auf Armeslänge und musterte sie. Sein Blick blieb länger als nötig an ihrer Narbe hängen, ehe er in ihre Augen sah.

„Du siehst toll aus.“

Sie sah beschissen aus. Das hatte ihr Spiegel ihr vorhin unmissverständlich mitgeteilt. Dünn, blass, wie ein Geist ihrer selbst. Und die Narbe, die sich der Länge nach über ihre Stirn, die Schläfe hinab bis zur Mitte der linken Wange schlängelte, wurde nur teilweise von ihrer Frisur verdeckt. Sie versuchte, sie permanent verborgen zu halten, indem sie den Kopf gesenkt hielt, sodass ihr Haar darüberfiel. Das hatte eine Körperhaltung zur Folge, die Schuldbewusstsein, Scham oder Angst ausdrückte, für manchen Betrachter sicherlich alles zusammen. Zumindest Scham und Angst trafen zu. Rya war eine Schönheit gewesen, bevor …

Jetzt sah sie nicht nur aus wie ein Schatten ihrer selbst, sie fühlte sich auch so. Sie hoffte, dass Jason das nicht merkte. Dass er ihre Narbe mit einem Ausdruck von Mitleid angesehen hatte, ehe er vermied, noch einmal einen Blick darauf zu werfen, sprach Bände. Er fand sie hässlich und überlegte garantiert, wie er Rya am besten loswerden konnte. Eine entstellte Detektivin war kein Aushängeschild für Your Eyes.

„Schmeichler“, antwortete sie verspätet auf sein Kompliment und erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er Lunte gerochen hatte und von ihrer angeblich vollständig zurückerlangten Arbeitsfähigkeit nicht überzeugt war. Ein weiterer Nagel zu dem Sarg, in dem er ihren Job beerdigen würde. Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Ich sehe, hier wurde renoviert.“

Er nickte. „War notwendig. Das alte Ambiente sah zu gemütlich aus für unsere Branche. Ein bisschen altbacken. Das neue zeigt Wirkung. Unsere Klientenzahl ist signifikant gestiegen.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Dein Büro ist da hinten.“

Er zog seine Hand zurück, denn ihm war nicht entgangen, dass Rya zusammengezuckt war. Sie seufzte leise. Dr. Milena Serkova hatte sie darauf vorbereitet, dass sie mit solchen Situationen konfrontiert werden würde, die ungewollt dazu geeignet waren, Menschen zu brüskieren, die sie vorher gekannt hatten und nun einer völlig veränderten Ryanne MacKinlay gegenüberstanden. Sie hatte Rya auch gewarnt, dass einige diese Veränderung nicht verkraften und sich deshalb zurückziehen würden. Leider hatte sie mit dieser Prognose nur allzu recht behalten, denn ihre Freunde hatten sich in den vergangenen sechs Monaten einer nach dem anderen in Luft aufgelöst. Jason war der Letzte, der ihr noch geblieben war. Wie lange noch?

Er führte sie in den hintersten Winkel des Raums zu einem Büro in der Ecke, das wie alles andere völlig neu eingerichtet worden war. Das einzig Vertraute war ihr altes Namensschild an der Tür. Alle anderen Türen hatten neue Schilder. Diese auch, aber das war leer. Ein weiteres Indiz, dass Rya auf Bewährung und schon halb entlassen war.

Jason hielt ihr höflich die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Rya musste sich zwingen einzutreten. Die weißen Wände schienen auf sie einzustürzen. Wenigstens bestanden sie nicht aus Kacheln, und die Decke war hoch genug, dass sie sich nicht wie in einem Sarg fühlte. Aber eingesperrt, eingezwängt, eingeengt, obwohl der Raum größer war, als … Zumindest gab es ein Fen­ster, durch das die Morgensonne hereinschien. Nur das Tageslicht befähigte Rya, die Schwelle zu überschreiten, ohne schreiend davonzurennen.

Auf dem Tisch in ebenfalls steriler Grau-Weiß-Optik lag eine dunkelrote Aktenmappe, der man ansah, dass sie schon mehrfach gebraucht worden war. Vor dem Hintergrund des restlichen Ambientes wirkte sie wie ein Anachronismus. Rya setzte sich und legte ihre Umhängetasche auf dem Seitentisch ab. Jason nahm im Sessel vor dem Schreibtisch Platz.

„Ein Vermisstenfall“, stellte sie fest, noch ehe sie die Mappe aufgeschlagen hatte.

Falls nicht auch das geändert worden war, bedeutete eine dunkelrote Mappe immer noch, dass es darum ging, eine Person zu suchen. Wobei vermisst nicht zwangsläufig hieß, dass dem Verschwinden ein Verbrechen zugrunde lag. Meistens handelte es sich um säumige Zahler, getürmte Ehemänner und am häufigsten um Erbschaftsangelegenheiten, bei denen Anwaltskanzleien einen entfernten Verwandten eines Verstorbenen suchten, um ihm sein unerwartetes Erbe zukommen zu lassen.

Jason nickte. „Unsere Klientin heißt Sharon Kirk. Sie vermisst ihren Bruder Marty Kirk. Afghanistan-Veteran, der nach seiner Rückkehr die Kurve ins Zivilleben nicht gekriegt hat und sang- und klanglos verschwunden ist. Da er seine Sachen mitgenommen hat, wollte er wohl keinen Selbstmord begehen.“

„Handy?“ Ryas Gehirn begann ermittlungsmäßig zu arbeiten.

„Hat er vergessen mitzunehmen oder absichtlich zurückgelassen. Da er sich nie wieder gemeldet hat, liegt Letzteres nahe.“

„Vorausgesetzt, er wurde nicht unmittelbar nach seinem Weggehen ermordet.“ Sie warf einen Blick auf das Protokoll, das Jason nach den Angaben der Klientin angefertigt hatte. „Vor anderthalb Jahren verschwunden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum will sie ihn erst jetzt suchen lassen?“

„Weil sie angeblich seine Entscheidung zu gehen respektiert hat.“ Jason schnitt eine Grimasse, die ausdrückte, dass er die Behauptung für eine Ausrede hielt. „Ein alter Kriegskamerad will ihn vor ein paar Monaten in Portland, Maine, gesehen haben, als Obdachlosen auf der Straße. Ms. Kirk will ihren Bruder aus dieser unsäglichen Situation rausholen. Leider ist der Kontakt zu dem Kameraden abgebrochen. Soll heißen, er hat sich nie wieder gemeldet. Ms. Kirk ist daraufhin selbst nach Portland geflogen, hat ihren Bruder aber nicht gefunden. Und da sie weder Privatermittlerin ist noch ihr Beruf ihr Zeit lässt, selbst nachzuforschen – sie ist Managerin eines Pharmakonzerns –, hat sie uns beauftragt.“ Jason sah ihr in die Augen. „Schaffst du das?“

„Selbstverständlich.“

Er gab sich damit nicht zufrieden. „Du weißt, dass ich das fragen muss, denn von der Qualität der Arbeit meiner Angestellten hängt das Renommee der Detektei ab, wie dir bestimmt noch bewusst ist. Du hast dich sehr verändert.“

Sie reagierte unangemessen gereizt. „Wenn du mich rauswerfen willst, warum tust du das nicht gleich und ersparst uns die Farce?“ Sie warf die Akte vor ihm auf den Tisch.

Jason blieb gelassen. „Das ist es, was ich meine. Früher hättest du mir versichert, und zwar überzeugend, vor allem aber ruhig, dass du wieder in Ordnung bist und du mir das beweisen wirst.“

Rya errötete. „Ich …“

„Was du durchgemacht hast, verändert einen Menschen nachhaltig. Ich habe dich ein paar Mal im Krankenhaus und in der Reha besucht, wie du dich erinnern wirst. Ich habe gesehen, was damals aus dir geworden war.“

Ein Wrack, ein zitterndes Häufchen Elend, das vor seinem eigenen Schatten erschreckte und die Farbe Weiß nicht mehr ertragen konnte.

„Du hast mir letzte Woche gesagt, dass du wieder einsatzbereit bist. Ich glaube dir. Allerdings ist mir bewusst, dass das nicht hundertprozentig stimmt. Eine mehr oder weniger große Sache, die dich an das erinnert, was dir passiert ist, und deine momentane Stabilität, die ich übrigens als schwach einschätze, ist dahin.“ Er hob die Hand, als sie protestieren wollte. „Wir wissen beide, dass das so ist. Ein Vermisstenfall ist harmlos genug, damit du wieder Fuß fassen kannst.“ Er stand auf und blickte auf sie herab. „Und glaube mir: Wenn ich der Meinung wäre, dass du nicht mehr für unseren Job taugst, hätte ich dich rausgeworfen.“ Er lächelte. „Mensch, Rya, ich will dir helfen und dir nicht das Leben schwer machen. Heute ist dein erster Tag. Wenn du noch nicht an einem Fall arbeiten willst oder kannst, dann sag es mir jetzt. Dann finde ich was anderes für dich, bis du dich wieder eingewöhnt hast.“

Sie senkte den Kopf, hob ihn aber gleich wieder. „Entschuldige, Jason. Ich war nur nicht auf diese totale Veränderung gefasst.“ Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Und nachdem alle möglichen Leute mich durch die Mangel gedreht haben und einige immer noch der Meinung sind, ich wäre eine eiskalte Mörderin, war ich nicht sicher, ob du nicht auch …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte es besser wissen müssen. Tut mir leid.“

Er klopfte ihr auf die Schulter. Rya brachte es fertig, nicht zusammenzuzucken. „Schon gut. Wenn du was brauchst, melde dich. Wenn du was zu schreiben hast, diktiere es. Das Diktiergerät liegt in der Schublade oben rechts. Jenny wird es später abtippen.“ Er nickte ihr zu und ließ sie allein.

Rya atmete durch. Sie schaltete den Computer ein, suchte im Internet ein farbenfrohes Bild und druckte das erstbeste in Plakatformat aus, das möglichst bunt war. Erst als sie es mit Klebstreifen an die weiße Wand über dem Bildschirm heftete, erkannte sie, dass es ein Gemälde von Boris Vallejo war, das eine halb nackte muskulöse Frau mit bunt gemusterten Schmetterlingsflügeln darstellte. Egal. Sie ertrug weiße Wände nicht mehr und würde sich schnellstmöglich eine farbige Schreibtischunterlage besorgen, um den größten Teil der hellgrauen Tischplatte zu überdecken. Fürs Erste genügte die dunkelrote Farbe der Aktenmappe als Kontrast.

Oben an den Klientenfragebogen war ein Foto von Marty Kirk gepinnt. Es zeigte einen etwa Dreißigjährigen in Militäruniform mit blonden, streichholzkurzen Haaren und blauen Augen. Ein sympathisches Gesicht, das einlud, seinen Besitzer näher kennenzulernen. Attraktiv. Wie mochte er heute aussehen, nach über einem Jahr Obdachlosigkeit? Vorausgesetzt, Marty Kirk lebte noch.

Rya scannte das Foto ein und veränderte es mit dem Bildbearbeitungsprogramm, machte die Haare länger und verpasste dem Gesicht einen Vollbart. Einen Dreitagebart, lange Haare bis zu den Schultern, machte das Gesicht schmaler. Wenn sie sich nicht täuschte, war ein Mann, der über ein Jahr auf der Straße gelebt hatte, bestimmt nicht mehr so fit und ordentlich ernährt wie der Soldat auf diesem Bild. Oder war von Alkohol aufgedunsen. Aus diesem Gedanken heraus veränderte sie das Gesicht entsprechend und druckte jede Variante aus.

Anschließend las sie, was seine Schwester zu Protokoll gegeben hatte. Marty Kirk war im Einsatz zweimal verwundet worden und hatte nach seiner Rückkehr in die Staaten das Purple Heart erhalten. Zunächst hatte er zu Hause seine letzte Verwundung auskuriert, aber es hatte sich bald gezeigt, dass er am Posttraumatischen Belastungssyndrom litt, was für seine Schwester, bei der er lebte, zunehmend zur Last geworden war. Eines Tages hatte er ein paar Sachen gepackt und war verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Sharon Kirk hatte für Ryas Begriffe ziemlich schnell aufgegeben, ihn zu suchen und war nach eigenen Aussagen davon ausgegangen, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebte, bis sein ehemaliger Kamerad sich bei ihr gemeldet hatte und ihn in Portland gesehen haben wollte. Allerdings war der Anruf merkwürdig gewesen. Angeblich hatte der Mann gehetzt geklungen, als hätte er Angst. Außerdem sei das Gespräch hastig unterbrochen worden. Danach hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Das machte keinen Unterschied, denn die Anhaltspunkte, die Rya hatte, genügten ihr. Sie checkte die offiziellen Polizeiberichte aus Portland, fand aber keinen, in dem Marty Kirk als Leiche auftauchte, aber auch keine Vermisstenanzeige über ihn. Letzteres konnte bedeuten, dass niemand ihn vermisste. Eine Überprüfung ergab, dass die Schwester Kirk ebenfalls nicht als vermisst gemeldet hatte. Seltsam.

Anrufe in Obdachlosenunterkünften in Portland ergaben auch keine Spur. So oder so, Rya hatte genug Gründe, einen Flug nach Portland zu rechtfertigten, um Marty Kirk zu suchen. Jason erteilte ihr ohne zu zögern die Genehmigung und händigte ihr eine auf die Detektei ausgestellte Kreditkarte aus.

„Du schaffst das, Rya“, versicherte er, als sie sich verabschiedete, um nach Hause zu fahren und ihre Sachen zu packen.

„Na klar“, stimmte sie zu.

Aber davon war sie absolut nicht überzeugt.

 

*

 

New York, DOC-Hauptquartier, 16. April, 8:00 Uhr

 

Devlin, Bronwyn und Gressyl hatten alle Mann zwar nicht vor O’Haras Füße teleportiert, aber sich einen Spaß daraus gemacht, direkt im Besprechungszimmer zu erscheinen. Devlin hatte obendrein O’Hara Punkt acht auf dem Smartphone angerufen, um zu fragen, wo sie denn bliebe, da man schon lange auf sie wartete.

„Sie sind umwerfend witzig, Mr. Blake“, beschied ihm O’Hara, als sie kaum eine Minute später schwungvoll den Raum betrat und ohne den Hauch eines Lächelns ihren Tablet auf den Tisch legte. „Mal sehen, ob Sie immer noch so witzig sind, wenn Sie erfahren, welche Aufgabe ich für Sie und Ihre Frau habe. Aber zunächst zu der Aufgabe, der Sie drei sich widmen werden.“ Sie nickte Travis, Wayne und Kia zu.

„Ihnen auch einen schönen guten Morgen, Ma’am“, sagte Devlin unbeeindruckt und schenkte O’Hara ein gewinnendes Lächeln, das jedoch seine Wirkung verfehlte.

In Situationen wie dieser merkte man ihm immer noch ein gewisses royales Selbstbewusstsein an. Als hofierter König einer Dämonendynastie geboren und umgeben von Untertanen, die sich sogar umgebracht hätten, wenn er nur mit den Fingern geschnippt hätte, beeindruckte ihn niemand. Außer Bronwyn.

O’Hara ließ sich wiederum nicht von ihm beeindrucken. Sie nahm Platz. „Wir haben eine Meldung aus Portland, Maine. Einer unserer Informanten aus Phase 1 von ‚Operation Spinnennetz’ ist auf eine Häufung von Lottogewinnen in exorbitanten Höhen gestoßen. Ein paar Tage vor den Gewinnen ist jedes Mal ein Obdachloser oder Tourist verschwunden, und spätestens drei Wochen nach dem jeweiligen Gewinn ist der Gewinner einem Unfall zum Opfer gefallen.“

Operation Spinnennetz war eine von O’Hara ins Leben gerufene Methode, um die Effizienz des DOC zu optimieren. Nach der Prämisse, dass man Feuer am besten mit Feuer bekämpft, hatten sie begonnen, Leute wie Bronwyn und Devlin zu rekrutieren, die entweder selbst paranormale Kräfte hatten oder in der okkulten Szene agierten oder zu den Anderswesen wie Dämonen, Werwölfen und Vampiren gehörten. Phase 1 bestand aus Informanten aus der Szene, die landesweit ihre Augen und Ohren offenhielten und dem DOC meldeten, wenn es irgendwo eine Häufung von Verbrechen gab, die einen okkulten Hintergrund haben könnten. Phase 2 band magisch Begabte und Anderswesen sowie Menschen mit paranormalen Fähigkeiten als Freelancer in das DOC ein, und in Phase 3 wurden solche Leute wie Bronwyn, Devlin und Kia zu Agents ausgebildet, die permanent oder auf Abruf für das DOC arbeiteten.

„Klingt nach einem Dämonenpakt“, vermutete Wayne.

O’Hara nickte. „Das denken unsere Spezialisten auch. Zumindest können sie sich keinen anderen Grund vorstellen, wie diese Ereignisse zusammenhängen könnten. Was nicht heißt, dass es keinen gibt. Und immer vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um einen Fall für unsere Division.“

„Es könnte Zufall sein“, wandte Travis ein. „Auch wenn mir das unwahrscheinlich vorkommt. Es gibt nun mal Idioten, die der Meinung sind, dass Obdachlose der Bodensatz der Gesellschaft und eine Schande für jede Stadt sind und deshalb ausgelöscht werden müssen. Theoretisch könnte sich eine Art Bürgerwehr gebildet haben, die ihre Stadt säubern will. Und Touristen werden immer wieder Opfer von Verbrechen. Wie ist die Quote?“