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Methoden der Spannungserzeugung für alle Genres
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Seitenzahl: 420
Mara Laue
Spannung,
zart kribbelnd bis mörderisch
Methoden der Spannungserzeugung für alle Genres
Impressum
Copyright: Autorentipps im vss-verlag
Jahr: 2021
ISBN: 979-8752547249
Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt
Covergestaltung: Hermann Schladt unter Verwendung eines Fotos von Pixabay
Verlagsportal: www.vss-verlag.de
Gedruckt in Deutschland
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Verfasserin unzulässig
Ich krieg dich!
Die Autorin schob ihren Kopf langsam um die Ecke. Da saß SIE! Mitten im Flur in einer Pose, als gehöre ihr nicht nur der, sondern das ganze Haus. Offenbar hatte sie auf die Autorin gewartet, denn sie grinste sie an und winkte ihr zu. Diese Gesten wirkten wie der pure Hohn, den sie garantiert damit ausdrücken wollte. Da sie die Autorin bereits gesehen hatte, konnte diese sie nicht mehr überraschen.
Sie trat in den Flur und blickte die Spannung unschlüssig an, die sich die Gestalt eines bunten Balls mit einziehbaren Armen und Beinen und einem pfiffigen Gesicht gegeben hatte. Seit Stunden versuchte die Autorin, die Spannung zu fangen, denn sie brauchte dringend ihre Hilfe, um ihren Roman zu schreiben. Der sollte das Lesepublikum schließlich fesseln, immer wieder von Neuem überraschen und sie jeden Satz atemlos verschlingen lassen. Doch die Spannung hatte nicht die geringste Lust, sie dabei mit Rat, geschweige denn Tat zu unterstützen. Stattdessen rannte, rollte und sprang sie ihr immer wieder davon.
„Ich krieg dich!“, schwor die Autorin zum unzähligsten Mal angesichts des siegessicheren Grinsens der Spannung.
Die Spannung kicherte boshaft. „Träum weiter! Deine Versuche mich zu fangen, sind einfach zu vorhersehbar.“ Sie verzog das Gesicht wedelte mit der Hand, als wollte sie einen üblen Geruch vertreiben. „Null-acht-fuffzehn. Hab ich alles schon tausend Mal gesehen, gelesen, erlebt.“ Erwartungsvoll blickte sie die Autorin an.
Recht hatte die Spannung. Leider. Die Autorin hatte versucht, sie mit einem Netz zu fangen; die Spannung hatte den Braten schon gerochen, als die Autorin mit dem hinter dem Rücken versteckten Netz und einem falschen Lächeln auf sie zu gegangen war. Sie hatte versucht, die Spannung mit ihrer Leibspeise, einem innovativen, interessanten Plot, zu locken.
Die Spannung hatte demonstrativ gegähnt. „Interessant? Innovativ? Was denn? Dieser Allerweltsmassenwarenplot etwa? – Also wirklich, Mädel! Mit dem Ding lockst du mich nicht hinterm Ofen vor und erst recht nicht an deinen Schreibtisch.“
Natürlich waren auch sämtliche Versuche gescheitert, die Spannung zu fangen, indem die Autorin hinter ihr her sprintete. Ebenso waren alle Bemühungen, ihr eine Falle zu stellen, in die sie doch garantiert reintappen musste, grandios fehlgeschlagen. Die Spannung hatte sich lachend auf dem Boden gewälzt und gesungen:
„Kenn ich alles,
weiß ich alles,
alles schon gesehen!
Den Kniff des Falls,
des Wortes Halls
musst du erst verstehen!“
Die Autorin griff zum letzten noch verbliebenen Mittel, zog eine goldene Kette aus ihrer Hosentasche und schwenkte sie. Die Kette klirrte leise und verführerisch wie das zarte Klingeln eines Glöckchens. „Schau mal, was ich für dich habe. Ist sie nicht schön? Und so wertvoll! Die schenke ich dir, wenn du mit mir kommst und mir bei meinem Roman hilfst.“
Ein hohntriefendes Kichern war die Antwort. „Pah! Wie plump! Das ist eine Der-Schein-trügt-Kette, die mit einem Spannungsfangzauber versehen ist. Du willst mich mit dem Ding fesseln und gefangen halten. Darauf falle ich nicht rein. Da musst du dir schon was Gescheiteres einfallen lassen!“
Die Autorin seufzte. Sie fühlte sich mutlos. Wie sollte sie ihren Roman schreiben, ihn überhaupt vollenden, ohne die Hilfe der Spannung? Unmöglich! Obendrein war sie mit ihren Ideen, wie sie sie einfangen könnte, am Ende angelangt. ‚Da musst du dir schon was Gescheiteres einfallen lassen!’ Leichter gesagt als getan, wo die Spannung ihr so virtuos entwischte, weil sie alle Tricks schon kannte und dadurch im Voraus wusste, was die Autorin plante. Alle Tricks, die ... Alle Tricks?
Der Autorin kam eine Idee. Sie lächelte, winkte der Spannung nonchalant zu, drehte sich um und ging.
***
Und wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle unbedingt wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht und darauf brennen zu erfahren, welche Idee der Autorin gekommen ist, dann ist es mir gelungen, in Ihnen Spannung zu erzeugen, und zwar durch die folgenden zwei Dinge. 1. Ich habe die Geschichte mitten in der Handlung auf einem Höhepunkt abgebrochen, statt die an dieser Stelle entstandene Spannung sofort aufzulösen und zu offenbaren, welche Idee die Autorin hat. (Diese Methode nennt man „Cliffhanger“.) 2. Die Geschichte ist so aufgebaut, dass Sie mit größter Wahrscheinlichkeit den Fortgang der Handlung nicht erahnen können. Sicherlich gehen Sie davon aus, dass es der Autorin gelingt, die Spannung doch noch einzufangen. Aber wie sie das schafft, dürften Sie nicht erraten können, wenn ich meinen „Job“ der Spannungserzeugung einigermaßen gut gemacht habe.
Diese kleine Geschichte sollte Sie aber nicht nur unterhalten und die erste Spannung in Ihnen erzeugen. Sie zeigt Ihnen darüber hinaus, wie schwierig es ist, dem Lesepublikum Spannung zu servieren. Die personifizierte Spannung in dieser Geschichte verkörpert nicht nur sich selbst, sondern auch die Lesenden. Leserinnen und Leser, besonders Viellesende, kennen unzählige Bücher und dadurch etliche Tricks der Spannungserzeugung. Benutzen die Autorinnen/Autoren ausschließlich die gängigsten Mittel dafür, die schon Tausende Schreibende vor ihnen verwendet haben, verfehlen einige ihre Wirkung, weil die Lesenden sie bereits sattsam kennen und wissen oder zumindest ahnen, wie die Geschichte weiter- oder ausgeht.
In diesem Buch lernen Sie nicht nur die Basis der Spannungserzeugung und ungewöhnliche Tricks der Spannungssteigerung kennen. Sie erfahren auch, wie die einzelnen Elemente zusammenspielen und wie Sie diese kombinieren können, um etwas Ungewöhnliches zu erzeugen, das Ihr Lesepublikum idealerweise nicht vorhersehen kann. Sie lernen die Theorie kennen und anhand vieler Beispieltexte, wie Sie diese umsetzen können.
Einige wenige Teile des Buches werden Ihnen möglicherweise „trocken“ und sehr theoretisch vorkommen. Ich bitte Sie, diese Teile dennoch zu lesen. Sie sind essenziell, um die Wirkungsweisen und Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Methoden zu verstehen, damit Sie am Ende auf der gesamten Klaviatur des Handwerkszeugs spielen können und Texte schreiben, in denen die Spannung die Lesenden erst zart kribbelnd einfängt, um sie danach mit mörderischer Raffinesse bis zur letzten Seite gefangen zu halten.
1. Spannung. Eine Definition
Spannung im literarischen Sinn ist ein dichterisches Mittel, um die Neugier und das Interesse der Lesenden in gesteigertem Maß zu wecken und zu erhalten. Dies trifft auf jede Art der belletristischen Literatur zu, nicht nur auf Krimis, Thriller und Abenteuerromane, die als Inbegriff der Spannungsliteratur gelten. Auch alle anderen Genres brauchen ein Mindestmaß an Spannung, um die Lesenden nachhaltig aus dem Alltag zu entführen. Sie erwarten eine Handlung, die sie idealerweise atemlos die Seiten verschlingen lässt in dem Bestreben, möglichst schnell zu erfahren, wie die Geschichte sich entwickelt und endet. Sie möchten mit den Hauptfiguren mitempfinden, mit ihnen leiden, hoffen, lachen, sich mit ihnen freuen.
Ohne eine wenigstens zart kribbelnde Spannung sind selbst humorvolle Geschichten langweilig. Und wenn in einem Liebesroman keine Spannung – positive (Anziehung) wie negative (Konflikte) – zwischen den beiden sich (künftig) Liebenden herrscht, wirkt die Geschichte bis zu dem Moment, wo sie sich „kriegen“ (und darüber hinaus), wie eine Schlaftablette. Schon Voltaire meinte: „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.“
Ein Teil des Publikumsinteresses wird bereits durch das Thema selbst geweckt und dadurch, wie originell und mitreißend es sich schon in den ersten Sätzen/Absätzen des Textes präsentiert. Jedoch, das sei hier vorab gesagt, liegt es „im Auge der Betrachtenden“, was als spannend oder langweilig empfunden wird. In „Moby Dick“ gibt es seitenlange Ausführungen über Wale, ihre Arten, ihre Gewohnheiten. (Heute würde man solche Passagen als unschönen „Infodump“ – siehe Glossar – streichen.) Manche Lesenden finden solche Informationen spannend, weil das Thema sie interessiert, andere sind davon zu Tode gelangweilt.
In Liebesromanen ist für viele Leserinnen (Leser eher weniger) interessant, welche Kleidung die Heldin trägt und von welcher Marke ihre Schuhe sind oder wie ihre Handtasche aussieht. Andere überspringen solche Passagen, weil sie sie belanglos und uninteressant finden. Wieder andere empfinden jede Handlung als langweilig, die nicht möglichst viel Action enthält und können selbst dem spannendst präsentierten psychologischen Konflikt nichts abgewinnen. Manche fühlen Spannung erst, wenn sie mörderisch zuschlägt und empfinden Langeweile, wenn sie nur zart kribbelt, weil sie diese zärtliche („cosy“) Variante der Spannung gar nicht wahrnehmen.
Unabhängig von solchen Vorlieben gibt es etliche Methoden zu garantieren, dass das gesamte „Gewebe“ der Geschichte – egal ob lang (Roman) oder kurz (Kurzgeschichte) – ein Grundmaß an Spannung enthält, das die Lesenden sie bis zum Ende verschlingen und sie hinterher zufrieden mit dem Gelesenen zurücklassen. Diese Methoden lernen Sie hier kennen.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen den folgenden Spannungsarten.
Konfliktspannung.
Alle Konflikte bestehen aus der Spannung, die durch die Differenzen erzeugt werden, welche die Hauptpersonen – Heldinnen/Helden mit ihren Feindinnen/Feinden oder mit sich selbst – beizulegen, zu lösen oder anderweitig auszutragen haben. Mehr dazu erfahren Sie in Kapitel 7. Ohne Konflikte (im weitesten Sinn) gibt es keine Spannung. Niemals.
Handlungsspannung.
Die Handlung ist als solche spannend oder die Spannung erwächst aus der Handlung, zum Beispiel das Entschärfen einer Bombe, die jeden Moment explodieren kann, eine Actionszene oder eine Verfolgungsjagd. Abenteuerromane und Actionthriller leben überwiegend von Handlungsspannung.
Situationsspannung.
Stehen sich die Hauptfigur und ihr Todfeind gegenüber, beide fest entschlossen, dass nur einer von ihnen die Begegnung überleben soll, so ist allein diese Konstellation spannungsgeladen, selbst wenn die beiden einander erst einmal nur anstarren. Das gilt auch für jede andere Situation, in der die positive und die negative Hauptperson aufeinandertreffen, auch wenn sie keine Todfeinde sind.
Entscheidungsspannung.
Jemand muss eine Entscheidung treffen. Je weitreichender, konsequenzreicher oder schwerwiegender diese Entscheidung ist, desto größer sind der Konflikt und die Last der Entscheidungsfindung. Die Lesenden fiebern mit, wofür die Person sich entscheiden wird und was die Konsequenzen sein werden. Besonders spannend wird es, wenn jede Lösungsmöglichkeit einen erheblichen Nachteil beinhaltet und die Entscheidung die sprichwörtliche Wahl zwischen Teufel und Beelzebub ist, vielleicht sogar Opfer fordert. Nur: Welche Wahl ist das kleinere Übel?
Erwartungsspannung.
Hierbei gibt es zwei Varianten. Entweder die Lesenden wollen wissen, wie die Handlung, die Geschichte, weitergeht, haben vielleicht sogar eine Vermutung und sind nun gespannt, ob sie sich erfüllt. Oder die Hauptfigur erwartet etwas Bestimmtes und will wissen, ob ihre Erwartung oder Befürchtung (Erwartung von etwas Negativem) zutrifft.
Überraschungsspannung.
Sie ist die andere „Seite“ der Erwartungsspannung. Indem Sie die Lesenden mit unerwarteten Handlungsverläufen und ebenso unerwarteten Wendepunkten überraschen, erzeugen Sie in ihnen Spannung. Der Grund: Wenn Sie sich an althergebrachte Erzählstrukturen, Konflikte, Figuren und bekannte Handlungen halten und diese in Ihre Romane und Storys einarbeiten, wissen die Lesenden bereits, was kommen wird (zumindest teilweise). Dieses Wissen verhindert aber das Aufkommen von Spannung. Haben Sie Ihr Publikum stattdessen mit Ungewöhnlichem, vielleicht sogar bis dahin Unbekanntem überrascht, können die Lesenden nicht mehr vorausahnen, wie sich die Handlung entwickelt und sind gespannt, wie sie wohl weitergeht. (In Kapitel 6 über die Originalität als Spannungsmittel erfahren Sie dazu mehr.)
Psychologische Spannung.
Diese greift nicht nur in ausgesprochenen Psychothrillern oder Kammerspielen (siehe Glossar), in denen sich zwei oder mehrere Leute ein Psychoduell liefern (hervorragendes Beispiel: das Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ von Edward Albee). Psychologische Spannung entsteht, wenn zwei grundverschiedene Überzeugungen, ethische Werte, Verhaltensweisen oder Absichten (unvereinbar) aufeinandertreffen. Banales Beispiel: Das Ermittlerteam hat den Entführer geschnappt, der aber ums Verrecken nicht preisgeben will, wo er das Entführungsopfer gefangen hält, denn ohne das Opfer, das mit dem Finger auf ihn als Täter zeigt, kann man ihm die Tat nicht beweisen. Nun muss das Team ihn „weichkochen“, um das Opfer zu retten, bevor es verhungert, verdurstet, erstickt oder anderweitig ums Leben kommt. Dadurch entwickelt sich ein (actionloses) höchst spannendes Katz-und-Maus-Spiel, um dem Entführer mit allen möglichen psychologischen Tricks diese Information zu entlocken, bei dem es bei jedem Manöver um die Frage geht: Welches ist der eine Trick, auf den er reinfällt? Und während die Ermittelnden darüber rätseln, tun das auch die Lesenden. Spannung pur!
Anderes Beispiel: Man hat dem jungen Mönch sein Leben lang beigebracht, dass alle Nichtchristen „böse“ und verdammt sind, die man entweder bekehren oder töten muss. Dann trifft er auf einen Anhänger Odins, der sich nicht bekehren lassen will, aber der verhält sich „christlicher“ (indem er den Mönch rettet und beschützt), als die meisten Christen. Töten kann und will er den Odin-Anhänger nicht (mehr), aber wie kann er ihn bekehren? Oder ist am Ende er selbst der „Bekehrte“ und sei es nur in der Form, dass er das Missionieren aufgibt?
Allerdings empfinden nicht alle Lesenden psychologische Spannung als interessant, denn es gibt durchaus Menschen, für die nur geballte Action Spannung bedeutet und alles andere langweilig ist.
Erklärungsspannung/Aufklärungsspannung.
Hierbei steht die Erklärung einer Handlung oder eines Verhaltens oder die Auflösung eines Rätsels (im weitesten Sinn) im Mittelpunkt. Diese Erklärung/Aufklärung wirkt jedoch – zusätzlich zur Art der Beschreibung – nur dann spannend, wenn sie erstens etwas offenbart, womit die Lesenden nicht gerechnet haben oder was sie nicht schon durch die vorangegangene Handlung wissen. War sich der Verliebte sicher, seine Freundin habe ihn wegen eines anderen Mannes verlassen, wäre eine Erklärung, die das bestätigt, gänzlich unspannend. Anders verhält es sich, wenn sie einen ganz anderen Grund hatte, vielleicht erpresst wurde. Zweitens: Zur Erzeugung von Spannung darf die Erklärung nicht „linear“ gegeben, nicht einfach der Reihe nach „aufzählend“ berichtet werden.
BEISPIEL:
Bleiben wir bei der Frau, die ihren Freund verlassen hat. Am Ende der Geschichte oder auch – je nach Aufbau – in der Mitte (als ein wichtiger Wendepunkt) treffen sie sich zufällig oder verabredet und der Freund verlangt eine Erklärung. Die lautet: „Ich habe dich nicht freiwillig verlassen. Ich wurde erpresst. Alex hat gedroht, meinen Bruder zu töten, wenn ich es nicht tue. Er wollte dadurch erreichen, dass du so sehr von der Rolle bist wegen der Trennung, dass du bei deinem Projekt Fehler machst, damit er selbst den Auftrag bekommen konnte. Es geht immerhin um Millionen.“
Diese Erklärung gibt zwar eine überraschende Begründung für den Freund und die Lesenden, wenn alles bisher wie ein böswilliges Verlassen von Seiten der Freundin ausgesehen hat, ist aber in ihrer Schilderung völlig spannungslos. Machen wir daraus eine spannende Erklärung.
„So lass dir doch erklären“, bat Ina.
„Du musst mir gar nichts erklären“, wehrte Ben schroff ab. „Du hast mich wegen eines anderen Kerls verlassen, schon klar. Ich frage mich nur, was der dir bieten kann, was ich dir nicht auch hätte bieten können.“ Wirklich wissen wollte er das allerdings nicht.
Hier entsteht Spannung dadurch, dass die Erklärung zu scheitern droht, weil Ben sie angeblich gar nicht wissen will. (Konfliktspannung: Ina will erklären, Ben will das nicht hören.)
Sie ballte die Fäuste. „Ja, ich habe dich wegen eines anderen Mannes verlassen, wenn du so willst. Nämlich wegen Oliver.“
Er runzelte die Stirn. „Oliver“, wiederholte er und schüttelte den Kopf. „Was hat denn dein Bruder damit zu tun?
Weitere Spannung entsteht, denn auch die Lesenden möchten wissen, was der Bruder mit der Sache zu tun hat, wo doch bisher alles darauf hindeutete, dass Ina in einen anderen Mann verliebt war. (Erwartungsspannung)
Erzähl mir nicht, er habe dich gezwungen, mir den Laufpass zu geben, weil er mich nicht leiden kann oder was auch immer für eine Scheiße dir einfällt. Er ist mein Freund. Schon länger als ich dich kenne.“
„Nein, er hat mich zu nichts gezwungen. Alex war das.“
Ben war sich sicher, dass sie ihn verarschen wollte, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Er sollte sie stehen lassen und seines Weges gehen.
Der nächste Spannungsschub: Geht Ben, denn dann bleibt die Sache an dieser Stelle noch unaufgeklärt (und die Lesenden schmoren im Saft ihrer Erwartung auf Inas Erklärung), oder bleibt er?
Aber er war unfreiwillig neugierig geworden. „Was hat denn Alex damit zu tun?“
„Er hat mich mit Olivers Leben erpresst und gedroht, ihn zu töten, wenn ich dich nicht verlasse.“
PENG! Hier ist ein kleines Bömbchen explodiert, denn mit dieser Erklärung haben die Lesenden nicht gerechnet. Aber ist das die Wahrheit? Wenn ja, warum? Neue Erwartungsspannung ist entstanden.
Sie verarschte ihn, kein Zweifel. Er musste sich beherrschen, um ihr nicht eine reinzuhauen. „Verdammt, Ina, behalte deine Lügen für dich und steh gefälligst zu deinen Entscheidungen, statt hier Horrorstorys zu erfinden.“
Sie funkelte ihn zornig an. „Das ist keine Story, du selbstgerechtes Arschloch, sondern die Wahrheit!“
„Ach nee!“ Er wurde langsam richtig wütend. „Und welchen gottverdammten Grund sollte Alex für so eine Intrige und kriminelle Handlung haben?“
Ja, warum, verdammt?, wollen die Lesenden nun unbedingt wissen und warten auf die Erklärung, die sie sich ebenso wenig zusammenreimen können wie Ben. (Erwartungsspannung)
„Das Projekt. Kannst du dir das nicht denken?“
Das hatte er sich zwar bis zu diesem Moment tatsächlich nicht denken können, aber falls das stimmte, ergab es durchaus einen Sinn.
Den die Lesenden aber nicht (er)kennen, ihn auch nicht erahnen können und unbedingt die Antwort erfahren wollen. (Erwartungsspannung)
Fragend sah er Ina an.
„Alex wusste, wie viel ich dir bedeute. Und er wusste oder ahnte zumindest, wie viel Kraft du aus unserer Beziehung schöpfst. Du hast mich ja mehr als einmal in aller Öffentlichkeit als deine Muse bezeichnet und dass ich der Mittelpunkt deines Lebens sei. Er hat sich gedacht, wenn ich nicht mehr da bin, bist du so von der Rolle, dass du das Projekt vernachlässigst oder Fehler machst, sodass er mit seiner eigenen Ausführung glänzen kann und dann den Auftrag bekommt. Und er war wohl überzeugt, dass dich eine Trennung erheblich mehr aus der Bahn werfen würde, als mein Tod. Das ist der einzige Grund, warum er mich nicht umgebracht, sondern mich mit Olivers Leben zur Trennung von dir erpresst hat.“
BUMM! Nun ist die dicke Bombe geplatzt und der Rest Spannung – vorerst! – damit abgeebbt.
Dieser Text berichtet inhaltlich dasselbe wie die oben beschriebene Kurzfassung. Sie ist aber deshalb erheblich spannender, weil Ina nicht sofort mit dem Grund für die Trennung „linear“ herausrückt, sondern sie Ben häppchenweise in Andeutungen serviert. Dadurch gibt sie ihm die Möglichkeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und hofft, dass er auf die richtige Begründung kommt. Die dämmert ihm aber erst, als Ina das Projekt erwähnt.
Die hier verwendete Methode, Andeutungen zu machen und sie (vorerst) unerklärt in der Luft hängen zu lassen, sodass sich die Figuren der Geschichte wie auch die Lesenden erst langsam an den Kern der Sache herantasten müssen, wirkt auch an anderen Stellen spannungssteigernd (siehe Kapitel 11.9).
Diese verschiedenen Arten der Spannung kann man alle oder nur einige in einem Roman oder einer Story verarbeiten.
2. Erzeugung der Grundspannung
Grundsätzlich wird die Spannungserzeugung in einem Roman/ einer Geschichte in drei Stufen eingeteilt:
a) Neue Konflikte tauchen zusätzlich zum Hauptkonflikt auf beziehungsweise Nebenkonflikte entwickeln sich aus dem Hauptkonflikt heraus als seine direkte Konsequenz. Dadurch muss die Hauptperson an mehreren „Fronten“ kämpfen. Man sollte nur nicht zu viele weitere Konflikte einbauen, die gleichzeitig zu bewältigen sind, sonst kann das schnell die Handlung überfrachten (abhängig vom Gesamtaufbau, dem geplanten Umfang des Romans und dem Genre).
b) Lösungsversuche für den Hauptkonflikt oder Möglichkeiten zur Konfliktvermeidung scheitern oder werden (mehrfach) verzögert.
c) Weitere Konflikte tauchen auf, die sich aus den Versuchen zur ursprünglichen Konfliktlösung ergeben.
Auflösung des Konflikts/der Konflikte:
„Showdown“.
Der Hauptkonflikt wird beendet, ebenso alle Nebenkonflikte. (Dies gilt nicht bei Fortsetzungen über mehrere Bände. Dort wird der Hauptkonflikt erst zum Schluss des letzten Bandes aufgelöst.) Die Auflösung muss nicht zwangsläufig glücklich für die Hauptperson enden, sofern das Genre kein Happy End vorschreibt, wie zum Beispiel bei Liebesgeschichten.
Dieser drei Stufen bilden den sogenannten Spannungsbogen (siehe Grafik Seite 22), der über die gesamte Handlung nicht abflachen oder gar einbrechen darf. Damit das nicht geschieht, kann man besonders die Taktik der Verwicklungen innerhalb eines Romans mehrfach anwenden.
Es gibt Romane, die nur einen einzigen Konflikt beinhalten, um dessen Lösung sich die gesamte Handlung dreht. (Bei Kurzgeschichten ist das fast immer der Fall.) Oft sind sie aber zugunsten der Spannung so aufgebaut, dass der erste (Haupt-)Konflikt durch seine positiven wie negativen Auswirkungen eine Reihe weiterer Konflikte nach sich zieht oder Nebenkonflikte die zügige Lösung des Hauptkonflikts erschweren.
Weiß der Kommissar nicht, wo ihm der Kopf steht, weil er einen Serienmörder fassen muss, der in immer kürzeren Abständen mordet, und seine Frau beschließt in dieser Situation, sich von ihm zu trennen, oder er stellt fest, dass seine Tochter drogensüchtig ist (oder beides), dann ist das ein zusätzlicher Konflikt. Der hat aber mit der Haupthandlung nichts zu tun. Trifft der Kommissar dagegen eine falsche Entscheidung bei den Ermittlungen, wodurch der Mörder entkommt und einen weiteren Menschen tötet, ergibt sich der zusätzliche Konflikt (schlechtes Gewissen, Ärger mit dem Ermittlungsteam und/oder den Vorgesetzten) direkt aus dem Hauptkonflikt.
Idealerweise beinhaltet jede Komplikation für die Hauptfigur das Potenzial, sie komplett scheitern zu lassen, sodass bis zum Schluss offen bleibt, ob sie Erfolg hat oder versagt.
Diese Grundspannung basiert auf den folgenden sieben Säulen.
3. Die sieben Säulen der Spannung
Alle Geschichten und besonders Romane bauen auf den folgenden sieben „Säulen“ auf, die das Grundgerüst liefern. Aus diesen ergibt sich der sich durch die gesamte Geschichte ziehende Spannungsbogen (dicke Bogenlinie). Auf diesem wiederum bauen sich weitere „Spannungsspitzen“ auf (gezackte Linie), die die Spannung zusätzlich steigern und „Spannungshighlights“ liefern.
Säule 1: Der Klappentext
Der Klappentext auf der Rückseite des Buches trägt erheblich zur Erzeugung von Spannung bei. Das erste Interesse der potenziellen Lesenden (und Buchkaufenden) wird durch das ins Auge fallende Coverbild und/oder den Titel geweckt. Eines von beiden, vielleicht auch beide lassen sie zum Buch greifen, um mehr über den Inhalt zu erfahren, und sie lesen den Klappentext. Dessen Aufbau und vor allem Inhalt entscheiden (eventuell zusätzlich zu einer Leseprobe), ob ein Buch gekauft wird oder nicht. Deshalb muss bereits der Klappentext spannend geschrieben sein, um die Neugier auf den Inhalt des Buches zu wecken (Erwartungsspannung).
Säule 2: Plot, Plotthema und Plotpoints
Der „Handlungsplan“ (Plot) einer Geschichte oder eines Romans sollte sorgfältig ausgearbeitet sein und idealerweise einige unerwartete Wendungen (Plotpoints) in der Handlung enthalten. Ohne möglichst überraschende Plotpoints, die der Handlung eine neue und idealerweise für Lesende unvorhersehbare Wendung geben, wird die Spannung allenfalls zart kribbeln oder sogar auf der Strecke bleiben. Ein Handlungsablauf, den man bereits vorhersehen kann oder der nur wenige, vielleicht gar keine Überraschungen bietet, ist langweilig. Und hat das Buch ein Thema, das die Lesenden grundsätzlich nicht oder nur wenig interessiert, werden sie die Handlung als eintönig empfinden, egal wie spannend sie verpackt ist.
Säule 3: Originalität
Handlungsabläufe, Persönlichkeiten, Schauplätze, Konfliktstrukturen und Themen, die die Lesenden bereits aus vielen anderen Büchern, Geschichten oder Filmen kennen, sind wegen dieser Vertrautheit nicht mehr oder nur noch wenig spannend, weil man sie eben deshalb vorhersehen kann. Kleine Veränderungen zum „Alltäglichen“ genügen oft schon, um aus Altbekanntem etwas Originelles und Interessantes zu machen. Auch der Titel sollte möglichst originell und unverwechselbar sein, denn auf ihn fällt – neben dem Titelbild – der Blick zuerst.
Säule 4: Konflikte
Konflikte sind das wichtigste Element der Spannung, denn ohne sie gibt es keine. Ob es sich um einen „großen“ Konflikt (zum Beispiel Feindschaft zwischen zwei Personen oder ganzen Völkern) oder einen „kleinen“ (zum Beispiel das Ringen um eine Entscheidung) handelt, Konflikte sind die Grundlage jeder guten (belletristischen) Geschichte, und zwar in allen Genres. (Bei reinen Humoresken gibt es manchmal Ausnahmen.)
Säule 5: Interessante Charaktere
Gute Storys sind, von reinen Abenteuerromanen/-geschichten abgesehen, um die Hauptperson herum aufgebaut, die im Mittelpunkt der jeweiligen Handlungen steht. Sie erzählen die Geschichte oder eine wichtige Episode aus dem Leben Ihrer Hauptfigur. Ist sie „nur“ ein durchschnittlicher Allerweltsmensch ohne erkennbares „Profil“, können sich die Lesenden nur schwer oder gar nicht mit ihr identifizieren. Die Identifikation der Lesenden mit der Hauptperson trägt aber maßgeblich zur Spannung bei. Ihre Hauptfiguren und deren Gegenparteien sollten immer etwas Besonderes haben, das sie von allen „Normalos“ oder zumindest den meisten unterscheidet.
Säule 6: Stringenz
Stringenz heißt „Bündigkeit“ und meint in Bezug auf das Erzählen/Schreiben von Geschichten nichts anderes, als dass die Geschichte ohne unnötige (!) Umschweife, ohne Nennung von für die Handlung unwichtigen Details/Ereignissen „kurz und bündig“ entwickelt wird. Dies kommt besonders, aber keineswegs nur, bei Actionszenen und Kurzgeschichten zum Tragen.
Säule 7: Lebendige Beschreibungen
„Zeigen, nicht erzählen!“, ist das wichtigste Grundwerkzeug des Schreibhandwerks. Wenn die Autorinnen/Autoren den Lesenden (nach)erzählen, was sich in einer Szene ereignet („Aufsatzstil“), statt sie das durch die Augen, das Empfinden, die Gedanken einer Person erleben und fühlen zu lassen, fließt die Handlung an den Lesenden vorbei. Sie können nicht in sie eintauchen, können sich auch nicht mit den Hauptfiguren oder einer anderen Person in der Szene identifizieren und empfinden aufgrund dieses Mangels die gesamte Szene als langweilig. Eine einzige oder ein paar wenige solche „erzählten“ Szenen verkraftet ein Text durchaus (bei Actionszenen sind sie manchmal sogar erforderlich), aber wenn der gesamte Roman, die gesamte Geschichte in dieser unpersönlichen Form erzählt wird, entsteht kaum Spannung.
***
Diese sieben Komponenten spielen direkt zusammen, greifen ineinander und bauen aufeinander auf. Ist der Klappentext unspannend oder „riecht“ nach einer Allerweltsgeschichte, wird das Buch gar nicht erst gekauft. Ist der Plot nach „08/15“ aufgebaut und deshalb vorhersehbar oder fehlen ihm überraschende Wendungen oder die Originalität, werden viele Lesende das Buch als langweilig empfinden, auch wenn die restlichen Säulen gut ausgearbeitet sind. Ist der Hauptkonflikt für die Heldinnen/Helden nicht schwerwiegend genug, wirkt die gesamte Geschichte nur wie eine nette Story, aber nicht spannend.
Sind die Charaktere der Geschichte zu „glatt“ ohne Ecken und Kanten (Fehler und Schwächen) oder handelt es sich um „Allerweltsfiguren“, an denen nichts Besonderes ist, oder sind sie Figuren, die man in (fast) jedem beliebigen Roman findet, fehlt ihnen das Spannungspotenzial. Man kann das Lesepublikum nicht mit Figuren hinter dem Ofen hervorlocken, die ein ganz gewöhnliches Durchschnittsleben führen, einen durchschnittlichen Charakter, unspektakuläre Berufe und/oder Hobbys und auch keine besonderen Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften besitzen oder gravierende Lebensbrüche erlitten haben, wodurch sie sich aus der Masse herausheben. Zumindest nicht, wenn sie die Hauptfiguren sein sollen. Als Nebenfiguren kann man sie einsetzen.
Grundsätzlich sollten Sie auch darauf verzichten, völlig durchschnittliche „Normalos“ in die Situation zu bringen, die Welt retten zu müssen (im weitesten Sinn). Aufgrund ihrer „Normalität“ fehlen ihnen die dazu erforderlichen Fähigkeiten, weshalb viele Lesende so eine Figur in einem solchen Szenario als unglaubwürdig empfinden. Ihre Hauptfigur muss mindestens eine wichtige Fähigkeit oder Stellung haben, die sie aus der Masse heraushebt und sie für die Rettung qualifiziert – und sei es „nur“, dass sie hervorragend alle möglichen elektrischen Geräte reparieren kann oder etwas anderes Passendes.
Was die letzten beiden Komponenten betrifft: Gleitet ein Text immer wieder in langatmige Beschreibungen, Erklärungen oder sogar für die Handlung unwichtige Details ab, tötet das die Spannung zu einem großen Teil und im schlimmsten Fall vollständig. Selbst wenn der Plot mit den interessantesten Charakteren und explosivsten Konflikten aufwartet, wird die dadurch erzeugte Spannung durch mangelnde Stringenz wieder ausgebremst.
Und wenn die Autorinnen/Autoren den Lesenden „nacherzählen“, was in der Szene geschieht, statt das durch die Augen der Hauptfiguren oder einer anderen Figur lebendig zu beschreiben und sie das nachfühlbar erleben zu lassen, wirkt der Text mehr wie ein Schulaufsatz, aber nicht wie eine interessante, geschweige denn spannend Geschichte.
Selbstverständlich kann man, wenn man die Spannungserzeugung beherrscht, einen ganzen Roman mit nur einigen wenigen dieser Zutaten plus zur Handlung passenden Methoden der Spannungssteigerung schreiben. Viele Bücher, darunter etliche Bestseller, beweisen das. Wenn Sie die restlichen „Säulen“ gut ausarbeiten, können Sie auf die Originalität verzichten, die Stringenz etwas vernachlässigen (bitte nicht zu sehr!), „blasse“ Figuren verwenden (das ist die gängige Besetzung für Abenteuerromane), mit nur einem einzigen (Haupt-)Konflikt arbeiten und Ihre Beschreibungen vergleichsweise nüchtern gestalten, ohne dass die Spannung darunter leidet.
Auf Konflikte und einen Plot mit mehreren (idealerweise unvorhersehbaren) Wendungen können Sie dagegen nicht verzichten. Außerdem braucht Ihre Hauptfigur mindestens eine Eigenschaft, ohne die sie den Konflikt nicht lösen könnte.
Wenn alle Komponenten miteinander verwoben sind (je nach Genre in unterschiedlicher Gewichtung), bleibt die Spannung bis zur letzten Seite erhalten.
In den folgenden Kapiteln lernen Sie die einzelnen Bausteine intensiv kennen.
4. Die Spannung im Klappentext
Unter Klappentext oder Covertext (manchmal auch „U4-Text“ genannt, weil er auf Umschlagseite 4 steht) versteht man die „Inhaltsangabe“ auf der Rückseite des Buches. Der Begriff „Klappentext“ bezieht sich auf Bücher mit abnehmbaren Schutzumschlägen, weil bei ihnen diese Inhaltsangabe meistens auf den beiden Innenklappen dieser Umschläge steht. Diese Inhaltsangabe umfasst nur relativ wenige Sätze. Da die Aufgabe des Klappentextes ist, die Lesenden zum Kauf zu verführen, sollte er besonders spannend geschrieben sein, aber er darf nie das Ende andeuten oder gar verraten.
Bei einigen wenigen Verlagen ist die Gestaltung des Klappentextes auch heute noch Sache von Fachleuten (früher war der Klappentext ausschließlich Verlagssache). Diese Leute lesen das Manuskript und konstruierten daraus einen appetitanregenden Text. In der heutigen schnelllebigen Zeit sparen sich die meisten Verlage diese Spezialistinnen und Spezialisten nicht nur, sie erwarten auch von uns Autorinnen/Autoren, dass wir unseren Klappentext selbst schreiben.
Das ist durchaus sinnvoll, denn wir kennen unseren Roman schließlich am besten. Außerdem wirbt der Verlag meistens schon (lange) vor der Veröffentlichung für ein neues Werk, in vielen Fällen sogar schon lange, bevor wir unseren Roman überhaupt fertiggeschrieben haben, und braucht dafür neben dem Coverbild den Klappentext. In dieser Phase wissen aber nur wir Autorinnen/Au-toren, was in der Geschichte Sache ist, weshalb nur wir in der Lage sind, einen zutreffenden Klappentext zu verfassen. Schon aus diesem Grund sollten wir lernen, gute Klappentexte zu schreiben. Dafür gibt es die folgenden Kriterien:
Ein Klappentext hat nicht mehr als 800 Anschläge, lieber so wenig wie möglich. Das sind, je nach Format des Buches und verwendeter Schriftgröße, 12 bis 15 Zeilen. (Es reißt Ihnen aber niemand den Kopf ab, wenn es doch mal ein paar Anschläge/ Zeilen mehr sein sollten.)
Er handelt nur von der Hauptfigur und dem zentralen Konflikt, den sie zu bewältigen hat. Eine (!) wichtige Nebenfigur (zum Beispiel Antagonistin/Antagonist) kann genannt werden, wenn sie für den Konflikt eine Rolle spielt. (Was damit gemeint ist, werden Sie an den unten stehenden Beispielen sehen.)
Verzichten Sie unter allen Umständen auf Erklärungen. Erklärungen sprengen nicht nur den Rahmen eines Klappentextes, sie lenken auch vom Wesentlichen ab und verzetteln die „geballte Ladung“ der Klappentextinformation. Denn ein Klappentext wirft immer nur ein Schlaglicht auf den wichtigsten Aspekt der Romanhandlung, auf den Kernpunkt. Jedoch können Sie, falls (!) es zum Verständnis des Kernpunktes erforderlich ist, in einem oder zwei Sätzen thematisieren, wie es zum Konflikt, um den es geht, gekommen ist.
ALLES, was Sie im Klappentext erwähnen, MUSS für die Romanhandlung wichtig sein, sonst ist es überflüssig. Und selbstverständlich muss es sich auch mit der Handlung decken. Behaupten Sie im Klappentext, die verschmähte Geliebte vergiftet aus Rache den Hund der Nebenbuhlerin, im Roman ist es aber deren Pferd, haben Sie die Lesenden aufs Glatteis geführt, was man Ihnen übel nehmen wird. Doch solche Fehler passieren manchmal, wenn sich die Geschichte im Verlauf der Arbeit ändert und der neue Verlauf nicht mehr dazu passt. Ist der Klappentext dann schon veröffentlicht, sollte man auf Änderungen dessen, was darin steht, verzichten, auch wenn es schwerfällt.
Und so wird’s gemacht:
Sie nehmen, wie schon erwähnt, den zentralen Konflikt und benennen ihn aus der Perspektive der Hauptfigur (oder der Gegenpartei, wenn er dadurch verständlicher, kompakter oder platzsparender wird).
Sie beschreiben den Konflikt und seine Konsequenzen so kurz und prägnant wie möglich.
Beenden Sie den Klappentext auf dem Höhepunkt des Konflikts und/oder deuten Sie eine (tödliche) Gefahr für die Hauptfigur an. Alternativ können Sie ein Rätsel thematisieren, dessen Lösung mit dem Konflikt verknüpft ist.
Sprachlich/stilistisch sollte der Klappentext so spannend geschrieben sein, dass er die Lesenden zum Kauf des Buches „zwingt“. Das heißt, kein einziges Wort darf überflüssig sein.
Nehmen wir an, im Roman geht es um den Tod einer Frau, die auf einer Party im Kreis ihrer Freundinnen und Freunde an einer Drogenüberdosis stirbt. Aber ihr Bruder Marc, der von ihrer Drogensucht nichts wusste, ist überzeugt, dass sie ermordet wurde. Außer sich vor Schmerz über ihren Verlust will er alle, die an der Party teilgenommen haben, umbringen und heuert zu dem Zweck einen Killer an, der ihm die Arbeit abnimmt, damit auf ihn selbst kein Verdacht fällt. Der Killer schreitet zur Tat und tötet einen nach dem anderen. Doch dann entdeckt Marc in den Sachen seiner toten Schwester den Beweis für ihre schon seit Längerem bestehende Sucht und dass sie ihren Tod tatsächlich selbst verschuldet hat. Die Freunde sind also unschuldig, aber inzwischen bis auf einen alle tot.
Marc ist wegen seines Irrtums verzweifelt, bereut seine Rache und versucht den Killer zurückzupfeifen, aber das klappt nicht. Was tun? Wenn Marc den Überlebenden warnt, gesteht er dadurch seine Schuld und verbringt den Rest des Lebens im Gefängnis (Anstiftung zum Mord wird in Deutschland genauso bestraft wie der Mord selbst). Tut er es nicht, bleibt er zwar juristisch unbehelligt, wird aber seines Lebens auch nicht mehr froh, weil sein schlechtes Gewissen ihm keine Ruhe lässt. Er beschließt, den Killer umzubringen, bevor der den Überlebenden erwischt. Und weil Marc die Hauptperson ist, können wir davon ausgehen, dass ihm das gelingt.
Das Ende des Romans in Form der Frage, ob Marc mit seinem schlechten Gewissen unbehelligt weiterlebt, alles zu vergessen versucht, sich der Polizei stellt oder beim Mord an dem Killer sogar erwischt wird (oder beide sterben), ist für den Klappentext unwichtig. Der könnte so aussehen:
Ria stirbt auf einer Party an einer Drogenüberdosis. Ihr Bruder Marc, der von ihrer Sucht nichts weiß, ist davon überzeugt, dass ihre Freunde ihr die Droge gegen ihren Willen verabreicht und sie dadurch ermordet haben. Weil die Polizei das nicht glaubt, nimmt Marc die Gerechtigkeit selbst in die Hand. Er heuert einen Killer an, der Rias Freunde der Reihe nach töten soll. Als er auf Hinweise stößt, dass Ria schon lange süchtig war und die die Unschuld ihrer Freunde beweisen, ist es zu spät, um den Killer noch zu stoppen. Von Schuldgefühlen zerfressen, fasst Marc einen verzweifelten Plan – mit fatalen Folgen. (614 Anschläge)
Analyse:
Die Ursache des Konflikts wird im zweiten Satz genannt: Weil Marc (Hauptperson) überzeugt ist, dass seine Schwester Ria freiwillig keine Drogen nahm, steht für ihn fest, dass man ihr die Droge, an der sie gestorben ist, gegen ihren Willen verabreicht hat, sie also dadurch „ermordet“ wurde. Der erste Konflikt: Die Polizei glaubt das nicht, was ein subtiler Hinweis ist, dass Marc sich irrt. Denn die modernen Ermittlungsmethoden sind so akkurat, dass man genau feststellen kann, ob jemand zum ersten Mal im Leben Drogen genommen hat oder das schon seit Längerem tut.
Alternative Möglichkeit: Jemand von den Freunden hat Beziehungen zur Polizei und vertuscht dadurch nach Marcs Überzeugung den Mord. Erste Spannung entsteht in den Lesenden, weil sie nicht wissen, welche Möglichkeit zutrifft. Weil aber fast jeder davon ausgeht, dass die Hauptfigur Recht hat mit dem Mordvorwurf, werden die Lesenden die Alternative für wahrscheinlicher halten und den möglichen Irrtum vielleicht von vorn herein gar nicht in Betracht ziehen – genau wie Marc.
Marc will Gerechtigkeit, die ihm die Justiz aber verweigert. Nächster Konflikt (mit der Justiz): Er schreitet zur Selbstjustiz und offenbart dabei eigene kriminelle Neigungen, denn er heuert einen Killer an, der die Drecksarbeit für ihn erledigen soll. Die Lesenden gehen davon aus: mit der Absicht, dadurch immer ein Alibi zu haben und deshalb ungeschoren davonzukommen.
Dann der Wendepunkt, der den Hauptkonflikt einleitet: Marc findet Beweise für die Unschuld von Rias Freunden und muss erkennen, dass er sich in diesem Punkt (und vielleicht nicht nur in diesem) eklatant geirrt hat. Die entsetzliche Erkenntnis (und auch ein Schock für die Lesenden): Die Freunde, die er umbringen ließ, sind unschuldig! Und der Killer kann nicht mehr gestoppt werden (dafür kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht). Es folgt der Höhepunkt des Klappentextes: Marc fasst einen Plan, um seinen Irrtum zu korrigieren (das wird durch die erwähnten Schuldgefühle angedeutet). Aber der hat fatale Folgen.
Der Schlusssatz ist bewusst vage gehalten, damit die Lesenden keine Rückschlüsse darauf ziehen können, was Marc konkret tut. Der Plan könnte alles Mögliche sein, die fatalen Folgen (für wen?) ebenfalls. Wer neugierig auf die Lösung dieses „Rätsels“ geworden ist, wird das Buch kaufen.
Ein paar weitere Beispiele spannender Klappentexte.
Krimi: Stein, Papier, Schere
Isabella, Svenja und Yasmin treffen sich jeden Freitagabend in einer Bar, um einen Mann abzuschleppen und losen mit dem Spiel „Stein, Papier, Schere“ aus, welche von ihnen die Verführerin sein darf. Als Svenja nach einer Nacht mit einem Fremden tot aufgefunden wird, glaubt Kommissar Gero Harmsen, es mit einer leicht zu klärenden Tat zu tun zu haben. Aber dann wird auch Isabella ermordet, und Yasmin fühlt sich zunehmend verfolgt. Als Harmsen begreift, dass „Stein, Papier, Schere“ noch eine ganz andere, hochbrisante Bedeutung hat, ist es beinahe zu spät, denn derMörder ist längst auch hinter ihm her. (606 Anschläge)
Analyse:
Der wichtige Ausgangspunkt der Story ist das erotische Freitagabendspiel der drei Freundinnen. Damit die Lesenden den Hintergrund verstehen, muss es genannt werden, aber auch, weil, wie sich später herausstellt, der Name des Losverfahrens noch eine andere Bedeutung hat. Hauptperson des Romans ist Kommissar Gero Harmsen. Er ermittelt in dem Mord an Svenja. Dann folgt die erste überraschende Wende: Was wie ein „leichter“ Fall aussieht, ist komplizierter, denn auch die zweite Freundin des Trios wird ermordet und Nummer drei ist offensichtlich ebenfalls in Gefahr.
Die nächste Überraschung: Der Name des Losspiels hat noch eine ganz andere Bedeutung (hier wird ein Rätsel angedeutet), die „hochbrisant“ ist. In den das Lesenden baut sich (zusätzliche) Spannung auf: Was mag sich hinter dem Namen verbergen? Das ist selbst bei bester Fantasie kaum zu erraten. Als Cliffhanger (Erklärung siehe Kapitel 11.3) folgt die Gefahr für die Hauptfigur Harmsen: Der Mörder hat es auch auf ihn abgesehen. Und man fragt sich, ob der Grund dafür wirklich nur darin liegt, dass der Kommissar das Geheimnis von „Stein, Papier, Schere“ gelüftet hat, oder ob noch etwas anderes dahintersteckt, denn er arbeitet schließlich nicht allein, sondern in einem Ermittlungsteam, das dieses Wissen ebenfalls besitzt. Und weil die Lesenden alle diese Fragen beantwortet haben möchten, werden sie das Buch kaufen.
Dark Romance: Rabenträume
Als Kopfgeldjägerin sorgt Raven Skysong dafür, dass flüchtige Verbrecher zu ihren Verhandlungen vor Gericht erscheinen. Doch ihr einziges Ziel ist, die Gang zu finden, die ihre Familie ermordet hat. Als sie Dylan Cutter als neuen Partner bekommt, merkt sie schnell, dass er etwas vor ihr verbirgt. Außerdem scheint er den Verbrecher, den sie gemeinsam jagen sollen, ziemlich gut zu kennen. Als Raven seinem Geheimnis auf die Spur kommt, wird Dylan nicht nur unversehens zu ihrem Feind, die Mörder ihrer Familie haben obendrein den Spieß umgedreht und die Jagd auf sie eröffnet. (577 Anschläge)
Analyse:
Die Heldin wird bereits im ersten Satz erwähnt: Raven Skysong. Ihr Name verrät, dass sie amerikanische Ureinwohnerin ist. Erstes ungewöhnliches „Accessoire“: Ihr Beruf als Kopfgeldjägerin. Der teilt den Lesenden mit, dass sie eine taffe, kampferprobte Frau mit detektivischem Gespür ist. (Und weil es sich um einen Liebesroman handelt, ist sie garantiert nicht hässlich.) Der Kernpunkt der Geschichte: Raven will die Mörder ihrer Familie finden.
Durch diese Feststellung werden den Lesenden gleich mehrere Informationen gegeben: Der Mord muss schon länger zurückliegen, mindestens ein paar Monate, weil die Polizei natürlich nicht untätig war und die Mörder gesucht, aber nicht gefunden hat und der Fall offensichtlich – und vermutlich mangels Spuren, die zu der Gang führen könnten – momentan für sie keine Priorität (mehr) genießt. Gerade bei einem Massenmord, dem eine ganze Familie zum Opfer fiel, gibt die Polizei nicht schon nach ein paar Tagen oder Wochen auf. Raven hat aufgrund ihres Berufes teilweise bessere Möglichkeiten und vor allem die Zeit, eigene Ermittlungen anzustellen. Was sie auch tut, denn die Gang zur Rechenschaft zu ziehen, ist „ihr einziges (wahres) Ziel“.
Nun folgt der Konflikt. Sie bekommt einen neuen Partner, der nicht ganz koscher ist, Geheimnisse hat, eventuell mit Verbrechern gemeinsame Sache macht. Da es sich um einen Liebesroman handelt, ist für die Lesenden dieses Textes klar, dass es zwischen den beiden funkt, was den Konflikt verschärft, weil Raven Dylan Cutter nicht traut und zwischen ihrer Zuneigung/Liebe und dem Misstrauen hin und her gerissen ist. Ihr Misstrauen entpuppt sich als gerechtfertigt, denn als sie seinem Geheimnis auf die Spur kommt, wird er zu ihrem Feind.
Die Lesenden ahnen, dass er etwas mit dem Mord an ihrer Familie zu tun haben könnte oder zumindest etwas darüber weiß, andernfalls ihre Suche nach den Mördern nicht im Klappentext hätte genannt werden müssen. Vielleicht ist er nur deswegen ihr Partner geworden, um sie auszuspionieren. Weil es eine Liebesgeschichte ist, die ein genretypisches Happy End voraussetzt, kann er letztendlich nicht zu den Bösen gehören, auch wenn es zunächst so scheint. Die Lesenden werden neugierig, was sein Geheimnis ist und wie das alles zusammenhängt.
Als „krönenden Abschluss“ nennt der Klappentext die Gefahr für die Heldin: Die Mörder ihrer Familie wollen sie töten und jagen sie. Weil das im selben Satz genannt wird wie Ravens Erkenntnis, dass Dylan Cutter ihr Feind ist, scheint nun nahezu festzustehen, dass er mit den Mördern ihrer Familie in Verbindung steht. Und die erfahrenen Fans von Liebesromanen wissen, dass sich in dieser Situation zeigen wird, aus welchem Holz Dylan wirklich geschnitzt ist und dass die Liebe der beiden zueinander sich beweisen muss. Aber wie? Spannend! Buch kaufen!
Thriller: Das Sekhmet-Projekt
Bei Ankunft in seiner einsamen Waldhütte findet Dr. Scott Willowby dort eine schwer verletzte Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat. Seine Nachforschungen ergeben, dass sie mit einem geheimen Projekt namens „Sekhmet“ zu tun hat, bei dem es um Genmanipulationen an Menschen geht. Doch als Scott erkennt, welche Rolle die Unbekannte bei diesem Projekt tatsächlich spielt, gerät nicht nur sein Leben in Gefahr, sondern auch seine gesamte berufliche und private Existenz, denn die Projektleitung will ihn nachhaltig zum Schweigen bringen. (534 Anschläge)
Analyse:
Die Hauptfigur wird im ersten Satz eingeführt: Scott Willowby. Sein Doktortitel besagt, dass er vermutlich Arzt oder Wissenschaftler ist, vielleicht beides. Kernpunkt der Geschichte: Er findet in seiner abgelegenen Waldhütte eine Frau ohne Gedächtnis, die schwer verletzt ist. (Die „Abgelegenheit“ wird garantiert eine wichtige Rolle im Roman spielen, andernfalls sie nicht im Klappentext betont werden müsste/würde.) Die Frage, wer die Frau verletzt hat und wie sie trotz ihrer schweren Verletzungen in die „einsame“ Gegend gekommen ist, stellt sich nicht nur (unausgesprochen) Dr. Willowby, sondern auch den Lesenden.
Weil er wahrscheinlich Arzt ist, ahnen die Lesenden, dass er die Frau in seiner Hütte gesund pflegt. Aber etwas muss mit ihr (von den genannten Dingen abgesehen) nicht stimmen, andernfalls er keine Nachforschungen anstellen würde und sie wohl auch schnurstracks ins nächste Krankenhaus gebracht hätte; spätestens nach der Erstversorgung ihrer Wunden. Es muss für ihn also einen gewichtigen Grund geben, das Nächstliegende (Transport ins Krankenhaus) nicht zu tun. Welcher mag das sein?
Dann kommt die Erkenntnis, dass die Frau mit einem Projekt zu tun hat, das (selbstverständlich illegale) Genmanipulationen an Menschen vornimmt. Man weiß dadurch, dass die Frau mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein „Opfer“ dieses Projekts ist und dass sie deshalb in Gefahr schwebt. Aber das trifft nun auch auf Willowby zu, weil er auf etwas gestoßen ist, das die Täter wohl unter allen Umständen geheimhalten wollen und müssen. Schlussfolgerung der Lesenden: Die gedächtnislose Frau sollte beseitigt werden, damit sie niemandem von dem Projekt erzählen kann.
Es folgt der zentrale Konflikt: Willowby findet heraus, welche Rolle die Frau tatsächlich in dem Projekt spielt, was seine gesamte Existenz in tödliche Gefahr bringt. Schlussfolgerung: Die Frau ist nicht so harmlos, wie sie zuerst erschienen ist und vermutlich nicht nur oder überhaupt (ein) Opfer, sondern gehört womöglich zu den Tätern. Damit ist sie eine noch größere Gefahr für Willowby.
Wer sich mit ägyptischer Mythologie auskennt, dem verrät der Name des Projekts noch ein Stück mehr: Sekhmet ist eine blutdürstige Kriegsgöttin und der Inbegriff von Furcht und Schrecken. Doch auch ohne diese Information ist den Lesenden klar, dass Dr. Willowby alle Hände voll zu tun hat, um mit dem Leben davonzukommen. Die Lesenden fragen sich: Ist die Unbekannte Freundin, Feindin oder gar beides abwechselnd (denn wer weiß, welche Genmanipulationen an ihr vorgenommen wurden und welche Folgen die haben)? Um das zu erfahren, werden sie das Buch kaufen.
Liebesroman: Schattenspiel des Glücks
Als Mitch Tanner nach dem Tod seiner Frau seinem einsamen Leben ein Ende bereiten will, begegnet ihm die junge Deutsche Claudia. Ihr zerplatzter Traum von einem Neuanfang in den USA hat sie obdachlos auf der Straße stranden lassen. Aus Mitleid nimmt Mitch sie bei sich auf. Durch das Zusammenleben mit ihr gewinnt er nicht nur neuen Lebensmut, er verliebt sich auch in sie. Aber Claudia verbirgt etwas vor ihm und bleibt halbe Nächte lang weg. Als Mitch fälschlich eines Betrugs beschuldigt wird, deutet alles darauf hin, dass Claudia hinter der Intrige steckt und ihn die ganze Zeit nur ausgenutzt hat. Doch sie leugnet. Tief enttäuscht von ihren Lügen setzt er alles daran, ihre Schuld zu beweisen. (700 Anschläge)
Analyse:
Schon die beiden ersten Sätze verraten: Hier begegnen sich zwei „verlorene Seelen“ – ein vor Verzweiflung und Trauer lebensmüder Witwer und eine desillusionierte Obdachlose mit zerplatzten Träumen. Das gegenseitige (Mit-)Leid verbindet beide, und sie schließen sich zusammen. Genre-Fans erwarten, dass sie sich selbstverständlich ineinander verlieben und gemeinsam neues Glück finden. So weit, so üblich das Szenario für einen Liebesroman. Was sich zu bestätigen scheint, denn Mitch blüht auf.
Erster Konflikt: Offenbar ist seine Liebe einseitig, weil Claudia sie nicht erwidert. Würde sie sonst nächtelang wegbleiben und Mitch verschweigen, wo sie sich während dieser Zeiten aufhält? Die Lesenden rätseln ebenso wie er: Wo treibt sie sich herum? Dann die scheinbare Aufklärung: Claudia hat nächtens ein Betrugsverbrechen ausgeheckt, um Mitch in die Pfanne zu hauen. Aber warum? Und selbstverständlich streitet sie jede Schuld ab.
Nun die Überraschung und der Hauptkonflikt: Wo normalerweise der Partner/die Partnerin versucht, die Unschuld des geliebten Menschen zu beweisen, will Mitch Claudia unbedingt ihre Schuld nachweisen. Dem liegt ein heftiges, wenn auch realistisches Gefühlsgewirr zugrunde. Weil alles darauf hindeutet, dass Claudia ihn ausgenutzt und verraten hat, als sie ihn wohl nicht mehr brauchte, ist er zutiefst verletzt. Aber das wird nicht direkt erwähnt, sondern steckt in seinem Entschluss, ihre Schuld zu beweisen.
Doch weil es sich um einen Liebesroman handelt und der Titel „Schattenspiel des Glücks“ lautet, ist für die Lesenden klar, dass Mitch sich irren muss und Claudia die Wahrheit sagt. Aber wie hängt alles zusammen? Und wenn Claudia unschuldig ist (wovon die Lesenden ausgehen, weil sie ein Happy End erwarten) – wer ist dann der wahre Täter und was sind seine (ihre?) Motive? Vor allem aber auch: Geht Claudia vielleicht fremd, geht sie kriminellen Machenschaften nach oder wird sie erpresst? Alles ist möglich. Und schon vor dem Kauf des Buches fiebern die Lesenden mit Mitch, was er wohl am Ende seines Schuldbeweisversuches entdecken wird.
Fantasy: „Das Schwert der Zentauren“
Die Tigani-Kriegerin Tana und ihre Leute werden verdächtigt, ein heiliges Schwert der Zentauren gestohlen zu haben. Um ihrer aller Leben zu retten, muss Tana das Schwert zurückbringen. Zusammen mit dem Greif Namak und dem Zentaurenhäuptling Elmon begibt sie sich auf die gefahrvolle Suche. Aber um die Zauberin der Blutgilde zu besiegen, die es gestohlen hat, muss Tana den mächtigsten Hexenmeister von Dáskarun aus dem Reich der Toten befreien. Doch der König der Toten verlangt dafür einen ungewöhnlichen Preis. (513 Anschläge)
Analyse:
Auch hier wird die Heldin im ersten Satz genannt: Tana, eine Tigani-Kriegerin. Weil „Tigani“ kein „Allerweltsbegriff“ im Fantasygenre ist, werden sich die Lesenden fragen, was das sein mag, ihn aber wahrscheinlich für einen Stammesnamen halten. Der aber für die Handlung wichtig sein muss, sonst hätte es genügt, nur „die Kriegerin Tana“ zu schreiben. Im Roman offenbart sich: Die Tigani sind keine Menschen, sondern ein katzenähnliches Volk, das die Fähigkeit besitzt, unsichtbar durch Wände zu gehen. Dieser Umstand ist der Grund, weshalb Tana und ihre Leute in den Verdacht geraten, die Diebe des Schwertes zu sein.
Im selben Satz wird offenbart, worum es geht: Tana oder einer ihrer Leute soll den Zentauren ein heiliges Schwert gestohlen haben. Schon im nächsten Satz wird der erste Konflikt thematisiert: Die Zentauren erpressen Tana mit dem Leben ihrer Leute, das Schwert zurückzugeben, sonst wäre es nicht nötig, „ihrer aller Leben zu retten“. Weil sie die Heldin ist, ist den Lesenden sofort klar, dass sie unschuldig ist. Ihre Leute ebenfalls, weil sie sonst wohl kaum mit ihnen befreundet wäre. Für Tana steht also sehr viel auf dem Spiel.
Als Nächstes folgt etwas Ungewöhnliches: Ein Greif begleitet sie. Hier wird zusammen mit den Zentauren und den unbekannten Tigani den Lesenden etwas Besonderes geboten, denn solche Figuren kommen in der großen Mehrheit aller Fantasygeschichten und -romane nicht oder nur selten vor. Schon dieses Ungewöhnliche verspricht zusätzliche Spannung, weil die Lesenden aufgrund dessen die Handlung nicht wie bei zum Beispiel Elfen, Drachen, Trollen et cetera voraussehen können.
Es folgt ein Cliffhanger mit einem neuen Konflikt als Abschluss: Der König der Toten fordert von Tana „einen ungewöhnlichen Preis“ dafür, dass er den Hexenmeister gehen lässt. Was mag das sein? Das können sich selbst erfahrene Fantasy-Fans nicht ohne Weiteres denken. Wenn sie die Antwort bekommen möchten, müssen sie das Buch lesen.
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Sie sehen an diesen Beispielen nicht nur, wie Klappentexte zur ersten Erweckung von Spannung und somit Interesse (Neugier) in den Lesenden beitragen, sondern durch die Analysen auch, wie viel von der Handlung des jeweils dahinter steckenden Romans schon „zwischen den Zeilen“ genannt wird. Außerdem zeigen sie, wie wichtig unverbrauchte Plots und/oder außergewöhnliche Wendungen und/oder Figuren sind. Selbst bei Plots, die sich weitgehend an die Anforderungen hinsichtlich des „Strickmusters“ ihres jeweiligen Genres halten (zum Beispiel Liebesromane), bringen die untypischen und/oder überraschenden Varianten genau das Besondere in die Handlung, das sich viele Lesende wünschen.